Michael Georg Conrad
Majestät
Michael Georg Conrad

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Überall walteten neue Kräfte. Allmählich war mit allem Abgenutzten und Unzuverlässigen in den wichtigeren Ämtern aufgeräumt worden. Die Umgestaltung des Heerwesens nach preußischem Muster nahm rüstigen Fortgang. In der Justiz, im Schulwesen wurden auch Neuerungen erwogen. Das päpstliche Konzil, das im Vatikan vorbereitet und durch die Verkündigung der Unfehlbarkeitslehre dem geistlichen Rom, nachdem das weltliche in die Brüche gegangen, neue Grundsäulen mauern sollte, heischte nicht mindere Aufmerksamkeit von den Staatsmännern wie die diplomatischen Umtriebe, die von Westen und Osten die friedliche Entwicklung Deutschlands zu einem einheitlichen Staatsgebilde bedrohten. Der König hatte das Zutrauen zu Bismarck, daß alles Zweckmäßige mit voller Kraft und Umsicht geschehe, aus dem werdenden Reichsbau ein starkes Gefäß zu formen, worin alle Ströme deutscher Kultur Platz fänden. Eine Kriegsakademie wurde für Bayern gegründet, ein besserer Kriegsbereitschaftsplan eingeführt, regelmäßige größere Truppenübungen veranstaltet, damit das bayerische Schwert zu Schutz und Trutz tauglich sei in alter Schärfe. Harte Arbeit war's zunächst, aber König und Volk waren überzeugt, daß sie nicht ungesegnet bleibe. Die alten Münchener, die unverbesserlichen, saßen im Hofbräuhaus und im Spaten, im Augustiner und im Sternecker, im Franziskaner und im Hacker und tranken immer noch eine Maß und räsonierten und politisierten – und wenn die Rede auf den König kam – sie kam immer darauf – verzogen sich die Mienen, als wäre plötzlich der edle Trunk um einen Grad schlechter geworden, und die Worte kamen mühsamer und heiserer heraus, wie aus einem geärgerten Dudelsack eine verstimmte Melodie.

»Rätselhaft! Es spukt überall!«

»Und der Wagner soll auch wieder umgehen!«

»Und was der König in München nicht bauen darf, das will er jetzt auswärts probieren.«

»Jetzt, wo der Krieg erst einen solchen Stumpen Geld gekostet hat, ein halbes Hundert Millionen, schlecht gerechnet! Und was jetzt die neuen Geschichten kosten, seit der Bismarck Trumpf ist! Da könnte einem doch die Wagnerei vergehen, sollte man meinen!«

Und ein Wichterich von einem entgleisten Kunstgelehrten, mit den Ellbogen auf dem Tisch und die Ärmel in den Biertümpeln: »München ist halt die Grotte der Kalypso geworden, wo Tag und Nacht Musik tönt, aber nicht mehr eure liebliche Bockmusik, sondern Wagala-Weiala-Zukunftsmusik –«

Das ärgerte wieder den ungelehrten Stammgast, und er wehrte grob und höhnisch ab: »Hören S' auf mit Ihrer Kalypso und trinken S' Ihre Maß und danken S' Gott, daß Sie in der Grotte sitzen. Prost!«

Trotz aller Heimlichkeit, mit der die Vorbereitungen im Theater betrieben wurden, war es doch zur Maibocksaison schon öffentliches Geheimnis: »Die neue Wagneroper ›Die Meistersinger‹ soll zuerst in München aufgeführt werden, im Sommer, der Bülow dirigiert, und der Wagner kommt extra zu der Gaudi aus der Schweiz wieder her!«

Und dann die andere Neuigkeit, die die Banausen nicht weniger erregte: »Die königliche Exbraut hat sich wieder getröstet, sie hat sich mit einem Franzosen verlobt, mit einem gewissen Alençon, einem Grafen oder Herzog in Paris.« Damit wurde zugleich wieder die widersinnige Litanei abgeleiert, wie sehr die »Launen« des Königs das Münchener Geschäftsleben schädigten: »Keine Hochzeit! Keine Feste! Keine Ausfahrten! Kein Hofleben! – Merkt denn ein Mensch, daß man noch in einer Residenzstadt mit einer königlichen Hofhaltung wohnt? München ist schon das reinste Feldmoching, so still ist's! Auf dem Pflaster vor der Residenz wird bald das Gras wachsen. Aber die Wagnerei, die ein wahnsinniges Geld kostet, die muß wieder blühen. Möcht' man da nicht närrisch werden?«

So die Unverbesserlichen, die Vielzuvielen. Und mit ihnen die Nichtwenigen, die sich durch die neue Ordnung der Dinge tief gekränkt fühlten und aus allen Schmollwinkeln ihren Ärger in die Luft gröhlten. Die Einsichtigen und Verständigen verhielten sich abwartend. Sie verzichteten, in der Volks- und Massenstimme gehört zu werden. Trotz der vielen gebildeten und kunstsinnigen Elemente gab es in München keinen festen Kern für die höhere Kultur, es kristallisierte sich keine moderne Partei, vornehm und doch auch kühn genug, die Führung an sich zu reißen und den Ton anzugeben. Man sprach von der Königsstadt, man sprach von der Kunststadt, aber vornehmlich sprach man von der Bierstadt – es waren getrennte Welten. München schien in der Tat nicht bloß symbolisch ein »Kindl« im Wappen zu führen. Es wollte als Kulturzentrum die Kinderschuhe nicht austreten, es wollte nicht reif, nicht männlich werden. Eine große Sache groß und aus der Höhe zu nehmen und mit stolzem Gemeinsinn zu verfechten, aus der lebendigen Freude an allem Seltenen und Überragenden heraus, das schien dem »Kindl« nicht zu liegen.

Das prägte sich auch in seiner Presse aus. Das einzige Münchener Journal, das über das Weichbild der Stadt und weit über das bayerische Land das Banner seiner Eigenart zu entfalten und in aller Welt Leser an sich zu fesseln vermochte, waren die »Fliegenden Blätter«, die zwar künstlerisch tadellose Bilder und drolligen Ulktext, aber selten einen Beitrag brachten, der auf die Förderung höherer Kulturziele gerichtet war. Ihr Hauptwitz war im Grunde auch nur bierselige Kindlichkeit und philiströses Behagen am Ewiggestrigen – ihr bester Geist Geschäftsgeist, der die Besitzer ihre Million runden ließ. Alle Versuche, für die königlichen Kulturpläne und die neue deutsche Kunst im Sinne Wagners ein durchgreifendes Organ zu schaffen, waren bis jetzt gescheitert.

Der König hatte es sich schon lange abgewöhnt, ein Münchener Blatt in die Hand zu nehmen. Die Unterstützung seiner hochfliegenden Pläne suchte er nicht mehr in den bedruckten Papierbogen, aus denen der Hofbräuhäusler hinterm Maßkruge seine geistige Nahrung sog. Im Streite um die Wagnersche Kunst mochten die Blätter schreiben, was ihnen an Unverstand und Böswilligkeit beliebte, er und der Meister würden sich dadurch so wenig beirren lassen, wie seine Politiker durch die häßlichen Hetzereien der partikularistischen Presse sich hindern ließen, in Bayern deutsche und preußenfreundliche Politik zu treiben. Die Ästhetik der Zeitungsschreiber war für ihn so wenig verbindlich wie ihre Staatsweisheit. Er hatte nicht nötig, sich von ihnen über die Situation des heutigen Geschmacks in allen Angelegenheiten des höheren Lebens belehren zu lassen. Mochten sie also ihrem Leibpublikum dienen wie sie wollten, als Kulturfaktor kam die Presse für den König nicht mehr in Betracht.

Wie sich Krähwinkel auch ereifern und sich zur Verteidigung seiner durch Wagner aufs neue bedrohten heiligsten Gefühle erdreisten mochte, im königlichem Hoftheater am Max-Joseph-Platz in München, so recht in der Mitte zwischen Kappler und Hofbräuhaus, fand im Juni 1868 die erste Aufführung der »Meistersinger von Nürnberg« statt. Aus Frankreich, England und Amerika waren die Anhänger der neuen Kunst herbeigeeilt wie zu einem hohen Feste, die größte Journale der Welt hatten eigene Berichterstatter abgeordnet, um dem Ereignisse beizuwohnen.

Die Vorstellung verlief glänzend. Der König sah und hörte nur seinen Meister-Freund und sein grandioses Werk. Der Beifallslärm des Publikums tat ihm förmlich weh und weckte nur die alte Bitternis in seinem Gemüt. Unbewegt saß er in der großen Mittelloge, der Musik und dem Lebensbild auf der Bühne mit ganzer Seele hingegeben. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hatte der Dichterkomponist an seiner Seite Platz genommen. Nach den ersten Akten wurde Wagner stürmisch gerufen. Er blickte auf den König, verstand sein geheimes Zeichen und blieb sitzen. Als die Vorstellung zu Ende ging, wuchs die Verzauberung des Publikums in der gewaltigen Schlußszene bis zur Entrücktheit. Je gebannter die Zuhörer lauschten, desto düsterer sah der König drein, der ganze Schmerz über die ausgestandenen Leiden mit seinem Kunststadtvolke malte sich auf seinem bleichen Antlitz.

»Verachtet mir die Meister nicht
Und ehrt mir ihre Kunst! – –
Habt acht. Uns drohen üble Streich':
Verfällt erst deutsches Volk und Reich,
In falscher, welscher Majestät
Kein Fürst dann mehr sein Volk versteht. –
Was deutsch und echt wüßt' keiner mehr,
Lebt's nicht in deutscher Meister Ehr'.
        Drum sag' ich euch.
        Ehrt eure deutschen Meister,
        Daran bannt ihr gute Geister!«

Als mit der Hans-Sachs-Huldigung der Jubel des Nürnberger Volkes verklungen und der Vorhang niedergegangen war, brach der Beifall im Zuschauerraum mit erneuter Wucht los. Die Gegner wagten sich nicht zum Worte zu melden. Der Enthusiasmus der Beglückten verlangte stürmisch nach dem Schöpfer – Wagner wartete auf ein Zeichen seines königlichen Freundes. Erst auf dessen Befehl erhob er sich und verbeugte sich von der Königsloge aus gegen das Publikum.

Das war der Haken, an dem die Eingesessenen ihre persönliche Nörgelkritik anbringen und höfischer als die Höflinge sich aufspielen konnten: Wagners unerhörte Anmaßung und Formlosigkeit, sich von der Königsloge aus für den Beifall zu bedanken!

Die Beckmesser der zünftigen Meistersingerei stürzten sich mit heißen Köpfen in die Redaktionsstuben, um das neue Werk nach allen Regeln ihrer Kunst als eitle Stümperei und größenwahnsinnige Impotenz zu vernichten. So war das Vaterland wieder gerettet und alles »Schöne, Gute und Wahre« dazu.

Es war das letztemal gewesen, daß die Münchener Gelegenheit hatten, den König und den Künstler öffentlich Seite an Seite zu sehen. Den sie das nächste Mal, drei Jahre später, an des Königs Seite im Hoftheater erblickten, war ein hohenzollernscher Fürst und Kriegsmann, der Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, nach dem Einzuge der vom französischen Kriege heimgekehrten Truppen. Den König bekamen sie dann überhaupt nicht mehr im Theater zu seihen, er feierte fortan seine künstlerischen Feste in erhabener Einsamkeit. –

Der Vatikanismus und der Napoleonismus waren das neue Zeichen, unter dem sich das streitbar Deutschland zu frischen Kämpfen zu rüsten hatte. Der bayerische Ministerpräsident Fürst von Hohenlohe hatte an die Kabinette Deutschlands und der befreundeten Staaten ein geheimes Erkundigungsschreiben gerichtet, wie sie sich zu verhalten gedächten, wenn sich von dem vatikanischen Konzil Eingriffe in staatliche Rechte befürchten lassen sollten. Hervorragende bayerische Theologen, an ihrer Spitze Stiftspropst von Döllinger, bezogen bereits ihre gegnerische Stellung gegen die Anhänger der Unfehlbarkeitslehre, die in Rom zum Glaubenssatze erhoben werden sollte. Wie päpstlicherseits von Rom aus, so bonapartistischerseits von Frankreich aus schienen dem germanischen Geist in der Ordnung seiner häuslichen Angelegenheiten mächtige Widersacher zu entstehen.

Der König, gereizt durch die ewigen Feindseligkeiten, die dem freien Aufblühen der vaterländischen Kultur Licht und Luft entzogen, wollte als wahrhaft frommer Schirmherr alles befehdeten Edelmenschlichen keine Minute versäumen, den Glaubensgenossen seine treue Waffenbrüderschaft im Kampfe gegen die Übergriffe des Romanismus fühlen zu lassen. Anläßlich des Geburtstages des Stiftspropstes von Döllinger sandte er dem großen katholischen Gelehrten und Geschichtschreiber folgenden Brief:

»Ich hatte die Absicht, Sie heute zu besuchen, ward aber leider durch Unwohlsein verhindert, mein Vorhaben auszuführen, Ihnen persönlich zu Ihrem heutigen Geburtsfeste meine herzlichsten Glück- und Segenswünsche auszusprechen; ich sende sie daher auf diesem Wege. Ich hoffe zu Gott, er möge Ihnen noch viele Jahre in ungetrübter Frische des Geistes und der Gesundheit verleihen, auf daß Sie den zu Ehren der Religion und der Wissenschaft unternommenen Kampf zur wahren Wohltat der Kirche und des Staates glorreich zu Ende führen können. Ermüden Sie nicht in diesem so ernsten und folgenschweren Kampfe und mögen Sie stets von dem Bewußtsein getragen werden, daß Millionen vertrauensvoll zu Ihnen als Vorkämpfer und Hort der Wahrheit emporschauen und der sicheren Hoffnung sich hingeben, es werde Ihnen und Ihren unerschrockenen Mitstreitern gelingen, die jesuitischen Umtriebe zuschanden zu machen und dadurch den Sieg des Lichtes über die menschliche Bosheit und Finsternis zu erringen. Das walte Gott, und darum will ich ihn bitten aus Grund der Seele. Unter Erneuerung meiner aufrichtigen und innigen Wünsche für Ihr Heil und Wohlergehen sende ich Ihnen, mein lieber Stiftspropst von Döllinger, meine freundlichsten Grüße und bleibe mit den Gefühlen des steten Wohlwollens und unerschütterlichen Vertrauens stets

Ihr sehr geneigter König Ludwig.

München, am 28. Februar 1870.«

In dieser Zeit litt der König oft an Schmerzen im Hinterkopf. Seine Zähne fingen an zu kranken. Er hatte kein großes Vertrauen zu den Medizinmännern und scheute davor, sich von ihnen berühren zu lassen. Sein Kopfweh nahm bisweilen sonderbare Formen an, als kröchen Schlangen um sein Haupt oder lange Spinnen in seine Ohren, die ihn zwickten. Er betrachtete sich im Spiegel: das war er ja gar nicht mehr, das war ein ganz anderer! Angstanfälle peinigten ihn. War er im Gebirge, schwang er sich in den Sattel und jagte tollkühn über Stock und Block, das half ihm gegen die Übel des Sitzens und Brütens im eingeschlossenen Raum. Fuhr er im Wagen, so tat's ihm wohl, das Gefährt dahinsausen zu lassen wie eine Windsbraut. Um die Pferde zu schonen, ließ er von Strecke zu Strecke Umspannstationen errichten, seine Lieblinge durften nicht übermüdet werden.

Neue Familientrauer war über ihn gekommen, ohne ihn sonderlich zu erschüttern: König Ludwig I., sein Großvater – von dem Goethe zu Eckermann gesagt: »Da sehen sie einen Monarchen, der neben der königlichen Majestät seine angeborene Menschennatur gerettet hat« – war in Nizza eines sanften Todes gestorben. Was ihn wahrhaft ergriff und bis in Herz und Nieren erschütterte, und ihn oft so müde machte, daß er sich selbst den Tod wünschte, das war der hartnäckige Widerstand der Lebendigen gegen seine königlichen Pläne, das war die meuchlerische Bosheit im Kampfe gegen seine besten Absichten. Aller politische und religiöse Hader war ihm verhaßt. Er liebte in allen Streitfragen offene Aussprache und männlich-ritterlichen Entscheid. Die streitbare Geistlichkeit und ihre blindgläubigen Anhänger, die im bayerischen Landtage immer systematischer die politischen Fragen mit konfessionellen verquickten und die klarsten Wasser trübten, um im Trüben ihre Angelkünste besser spielen lassen zu können, bereiteten ihm den tiefsten Verdruß. Mutig verteidigte der König seine Minister und Räte gegen die Angriffe der Klerikalen, die sich mit Emphase als Patrioten auftrumpften. Aber der ewige Kampf gegen das Ewigkleinliche ermüdete ihn mehr und mehr, so daß er keine Siegerfreude mehr erhoffte.

Die Aussichten in der inneren und äußeren Politik hatten sich für die Gemäßigten und Friedfertigen zusehends verschlimmert. Im bayerischen Landtage hatte die klerikal-patriotisch-partikularistische Partei die Mehrheit gewonnen. Sie wetterte gegen die neue Ordnung der Dinge, weil ihr in Preußens Führung der deutschen Geschäfte der Protestantismus der schmerzende Stachel war. Jedes ruhige Zusammenarbeiten war unmöglich geworden. Die Kammermehrheit beschloß eine Adresse an den König, worin sie dem Ministerium Hohenlohe jede Vertrauenswürdigkeit rund und barsch absprach. Die Kammer der Reichsräte, in welcher die Prinzen, der hohe Adel, die Spitzen der sozialen und intellektuellen Machtschichten ihre parlamentarische Arbeit am sausenden Webstuhl der Zeit verrichten, stimmte dieser Adresse mit ihrem Mißtrauensspruch einmütig zu.

Der König erklärte, daß für ihn die Annahme der Adresse ausgeschlossen sei. Sie entspreche nicht dem Geiste der Versöhnung, den er in seiner Thronrede der Landesvertretung entgegengebracht habe. Sie sei auch durch keine greifbare Tatsache gesetzlich begründet. Es seien nur theoretische Angriffe, die ihn als König nicht überzeugten und zu nichts verpflichteten. Trotzdem –

Ach, dieses »Trotzdem!« In der Politik, in der Kunst, in allen Angelegenheiten der höheren Kultur – dieses fatale »Trotzdem«! Die Majestät selbst, nicht überzeugt und darum aus sich nicht verpflichtet, muß sich diesem »Trotzdem« unterwerfen, denn es hat die mechanische Wirkung der Mehrheit, der größeren Zahl für sich. Wer da automatisch mit der überlegenen Faust dreinfahren könnte, weil sie zugleich das überlegene Gehirn und das höhere Ideal vertritt! Und dann? Selbst des Königs sanftmütiger Vater Maximilian II. hatte einmal, als ihn die Halsstarrigkeit der Regierten zur Verzweiflung zu bringen drohte, autokratische Anwandlungen. Ja, aber dann? Hieße das nicht beschworene Verträge brechen und sich mit dem ganzen Lande in unübersehbare Kämpfe stürzen? Ist Politik nicht die Geschicklichkeit, das Zweckmäßige mit dem Möglichen zu verbinden? »Trotzdem«! –

Nach einer durchwachten Nacht hörte der König eine heilige Messe, dann besprach er sich mit dem mißliebigen Ministerpräsidenten Fürst von Hohenlohe, den er zur Tafel lud, stundenlang über die Lage. Gegenseitige Verständigung führte dazu, daß der Fürst sofort sein Entlassungsgesuch einreichte, dessen Annahme der König noch am Abende dem Präsidenten der Reichsratskammer anzeigte. Doktor Johannes von Lutz wurde noch nicht Ministerpräsident. Er wurde für die baldige nächste Vakanz ausgespart. An die Stelle des Fürsten trat der Graf Bray-Steinburg, ein anderer Name für einen wenig veränderten Inhalt, aber der oppositionellen Mehrheit war ihr Wille geschehen: Hohenlohe, der entschiedene Deutsch-Politiker, war gestürzt, der König hat vor der klerikal-partikularistisch-patriotischen Mehrheit die Waffen gestreckt. Das war der Vorfrühling des schicksalsschwangeren Jahres 1870.

Gegen Ende April, die Welt schien plötzlich so frisch und farbig, fuhr der König über Ettal nach Oberammergau. Der Weg über den Ettaler Berg mit dem Ausflug ins Werdenfelser Land und auf die Zugspitze gehörte zu seinen Lieblingsfahrten. An den heiter-feierlichen Klosterbauten, die wie ein lustiges Eskurial – im Gegensatz zu dem düsteren spanischen – zwischen den Bergen bequem gebettet lagen, sauste der königliche Wagen vorüber nach dem Dorfe der Passionsspiele. Der König wohnte einer Aufführung bei und war von der schlichten Darstellung des Leidens Christi so bewegt, daß er in der Nähe des Ortes einen Hügel bestimmte, die Osterhalde, wo zur Erinnerung an seinen Besuch eine Kolossalgruppe der Kreuzigung des Erlösers mit der Mutter Maria und dem Jünger Johannes aufgestellt werden sollte. »Mutter, siehe, das ist dein Sohn!« und der fanatische Volksschrei: »Kreuzige ihn!« hatten ihn bis zu Tränen bewegt, Tränen des Mitleids und des Zornes. Wenn Gott selbst der Canaille in die Hände fällt, dann gibt's ein doppelt bitteres Sterben. Die schreckliche Symbolik des zu Tode gemarterten Gottessohnes und Welterlösers war dem König nie so nahe gegangen, als in dem Spiel dieser frommen Bildschnitzer- und Hirtengemeinde von Oberammergau. Aber ein zweites Mal begehrte er das grauenvolle Schauspiel nicht zu schauen.

Wenige Monate später, als im Vatikan unter Blitz und Donner das römische Unfehlbarkeitsdogma der Welt verkündet wurde – der Welt? welchem Bruchteil des Planeten Erde? – da machte von Paris aus eine andere Botschaft die Runde um die Erde: Krieg! Krieg des Franzosenkaisers gegen den Preußenkönig und seine deutschen Verbündeten! Wird das Papsttum, seines christlichen Statthalteramtes und des Evangeliums eingedenk, seine neue Unfehlbarkeit in einem Friedenswerke erproben und dem Franzmann zurufen: »Die Waffen nieder!«?

Kein Mensch glaubte mehr an den Traum christlicher Friedensseligkeit auf Erden – aber jeder deutsche Mensch war überzeugt, daß es diesmal ein Ringen zwischen Germanismus und Romanismus galt, dessen Ausgang auf lange hinaus der Weltgeschichte eine neue Richtung weisen mußte. Während bei der Kriegserklärung in der französischen Kammer der Pariser Mob sich jetzt schon siegestrunken mit dem Gebrüll: »à Berlin! à Berlin!« durch die Straßen wälzte, prüften die deutschen Männer voll tiefen Ernstes die Schärfe ihrer Wehr und die Bündnistüchtigkeit ihrer Fürsten.

Der König lag leidend in seinem Schlößchen Berg. Für ihn war der Bündnisfall keinen Augenblick zweifelhaft gewesen. Als der Kabinettssekretär in aller Frühe nach Berg kam, dem Könige das Neueste mitzuteilen, traf er diesen noch im Bette. Der gute Beamte machte sofort seinem Herzen in dieser schicksalsschweren Stunde Luft und hielt dem mit leidender Miene geduldig zuhörenden Könige einen langen Vortrag voll schwunghafter Beredsamkeit, wie jetzt der Moment gekommen sei, daß Bayern sein Preußen gegebenes Wort einlöse und trotz aller Widerhaarigkeit der klerikal-partikularistisch-patriotischen Kammerhelden gegen Frankreich marschiere. Die bonapartistische Herausforderung sei der Gipfel der Ruchlosigkeit – und so weiter.

Endlich hatte sich der König satt gehört an dem ihm freundlich gewidmeten Prunkstück deutsch-biederer Beredsamkeit: »Aber wozu ereifern Sie sich denn, lieber Herr? Das ist wirklich nicht nötig. Sie sehen, Ihr König ist leidend. Aber selbst als Leidender hat er noch genügend Einsicht und Entschlußfähigkeit, daß er das Rechte auch ohne langes Vorpredigen trifft.« Lächelnd reichte er dem Beamten die Hand: »Sie können ganz beruhigt sein, ich denke genau wie Sie über die Sache. Nun lassen Sie mich aufstehen, bis Mittag bin ich in München.«

»Ich erhalte also den Befehl zur Kriegsbereitschaft gleich mit, Majestät?«

»Den unterzeichne ich Ihnen kurzerhand. Hier! Adieu!«

Der Beamte flog nach München, die Brust von Siegesgefühl geschwellt. Es war halt doch seiner Beredsamkeit zu danken, daß der König ohne Zaudern zur Feder gegriffen! Und die brave Seele erlag fast der Last ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung in diesem ewig denkwürdigen Augenblick. Atemloses Stürzen zum Kriegsminister: »Exzellenz, ich hab's! Hier ist's! Eine Stunde hab ich gesprochen, dann hat der König unterzeichnet. Es ist erreicht: Wir können losschlagen! Majestät kommt nach!« –

An Stelle des nicht kriegsgewohnten Königs von Bayern übernahm der König von Preußen das Kommando über die bayerische Armee und überwies sie im Feld dem Oberbefehl des Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Alle waffenfähigen deutschen Männer hatten sich in diesem großen Kriege dem Vaterland mit Leib und Leben angeboten, alle Prinzen und Fürsten waren mit ausgezogen, bei dem blutigen Kampfe wenigstens in der Nähe zu sein und die Kugeln sausen zu hören.

Ludwig war weder im ernsten noch im repräsentativen Sinne des heldenspielenden aristokratischen Sports kriegstüchtig. Seine Nerven ertrugen die barbarische Blutarbeit nicht einmal als lebendes Bild. Nichts, was aus Töten und Zerstören ging, hat in seinem Herzen jemals ein anderes Gefühl ausgelöst, als das der Abneigung, des Abscheus. Als Knabe sollte er im Fischen und Jagen unterwiesen werden, er entzog sich der Tortur, wo er konnte. Selbständig geworden, mied er alle grausamen Dinge. Die Nimrode verachtete er. Im Weidwerk sah er nur die Befriedigung eines raffinierten Mordgelüstes und sprach unverhohlen seinen Widerwillen gegen allen Jagdsport aus. Ihn beseelte die höchste Ehrfurcht vor allem Lebendigen in der Natur. Als er seine Unterschrift zur Marschbereitschaft der Truppen gegeben hatte, kam ihm nachts eine Vision, als hätte er tausend Bluturteile vollzogen – – mit einem Federstrich.

Er sandte dem preußischen Kronprinzen nach den ersten Siegen den höchsten bayerischen Militärorden aufs Schlachtfeld, er begrüßte telegraphisch den König von Preußen nach der Übergabe von Metz als Wilhelm den Siegreichen – er folgte, wie jeder gute Deutsche, der daheim geblieben, dem furchtbaren Kampfe in Frankreich mit bebendem Herzen. Der Gott, der jetzt über die zwei größten Kulturvölker des christlichen Europas regierte – der schreckliche Mars – war nicht sein Gott. Während seiner blutigen Herrschaft gab's für den König Ludwig weder Tätigkeit noch Sabbatstille. Je mehr sich der Krieg in die Länge zog, desto unerträglicher mußte ihm seine Verdammung zur Untätigkeit werden. Jeder Siegesjubel fuhr ihm wie Vorwurf in die Seele: Was geht's dich an? Bist du dabei gewesen? Hast du nicht andere an deiner Stelle hingeschickt? Ihnen die Fanfaren und Ruhmeskränze, nicht dir! So mußte er von seiner Zeit und was sie im tiefsten erfüllte, durch immer erweiterte Abgründe sich getrennt fühlen.

Er ließ die bayerischen Minister ins Hauptquartier nach Versailles gehen, um die neuen Verträge zur Begründung des Deutschen Reiches vorbereiten zu helfen. Einen Augenblick dachte er daran, sich selbst zur Reise zu zwingen über Schlachtfelder hinweg und durch zerstörte Dörfer und Städte, um wenigstens dem Ausgange des großen Krieges mit den ungeheuren geschichtlichen Ergebnissen seine persönliche Anwesenheit nicht zu entziehen. In Trianon wurde schon für ihn und seinen Marstall Quartier gemacht. Nein – er vermochte es nicht. Er blieb in Hohenschwangau, im Banne seiner eigenen Welt, verzaubert von seinen Berggeistern.

Wilhelm von Preußen, seine Paladine und Heerscharen erstrahlten in der Glorie beispielloser Siege. Ihr Glanz ging über die Erde. Die Titelfrage wurde aufgeworfen: Wie soll der erste und mächtigste Fürst des neuerstandenen Reiches sich nennen? Kaiser? Wessen Hände sollen ihm die Kaiserkrone reichen?

Bismarck entschied, daß dies durch den Herrscher des zweitgrößten deutschen Reichsstaates, durch den König von Bayern geschehen solle.

Ludwig zögerte, er wußte nicht gleich die schickliche Form dafür zu finden. Er spann sich in seine Roseninsel im Starnberger See ein und ließ die Tage verstreichen in stummem Alleinsein, während in Versailles alles auf seine Antwort wartete. Was wollte die fremde Welt von ihm? Bismarck sandte Brief auf Brief, dem Zaudernden den Entschluß zu erleichtern. Er wußte, daß es nicht böser Wille, nicht Mangel an deutscher Empfindung war, was dem König Zunge und Hand lähmte.

Mit aufgewühlter Seele las der König wiederholt die letzten Zeilen Bismarcks. Der prachtvolle Stil des großen Staatsmannes erfüllte ihn mit ästhetischer Lust:

»Mein Gefühl der Dankbarkeit gegen Eure Majestät hat einen tieferen und breiteren Grund als den persönlichen in der amtlichen Stellung, in welcher ich die hochherzigen Entschließungen zu würdigen berufen bin, durch welche Eure Majestät bei dem Beginn und bei dem bevorstehenden Ende dieses großen Nationalkrieges der Einigkeit und der Macht Deutschlands den Abschluß gegeben haben. Aber es ist nicht meine, es ist die Aufgabe des deutschen Volkes und seiner Geschichte, dem durchlauchtigen bayerischen Hause für Eurer Majestät deutsche Politik und für den Heldenmut ihres Heeres zu danken. Ich kann nur versichern, daß ich, solange ich lebe, Eurer Majestät in ehrfurchtsvoller Dankbarkeit anhänglich und ergeben sein und mich jederzeit glücklich schätzen werde, wenn es mir vergönnt wird, Eurer Majestät zu Diensten sein zu können.

»Bezüglich der deutschen Kaiserkrone ist es nach meinem ehrfurchtsvollen Ermessen vor allem wichtig, daß deren Anregung von keiner anderen Seite wie von Eurer Majestät, und namentlich nicht von der Volksvertretung, zuerst ausgehe. Die Stellung würde gefälscht werden, wenn sie ihren Ursprung nicht der freien und wohlerwogenen Initiative des mächtigsten der beigetretenen Fürsten verdankt.

»Ich habe mir erlaubt, dem Grafen Holnstein den Entwurf einer etwa an meinen allergnädigsten König und, mit den nötigen Änderungen der Fassung, an die anderen Verbündeten zu richtenden Erklärung auf seinen Wunsch zu übergeben. Demselben liegt der Gedanke zugrunde – –«

Der König hielt an dieser Stelle jedesmal inne: »Graf Holnstein? Mein Oberststallmeister, ja, das ist ein handsamer Diener, eine treue Seele.« Und beruhigt las er weiter:

»Demselben liegt der Gedanke zugrunde, welcher in der Tat die deutschen Stämme erfüllt: Der deutsche Kaiser ist ihr Landsmann, der König von Preußen ihr Nachbar; nur der deutsche Titel bekundet, daß die damit verbundenen Rechte aus freier Übertragung der deutschen Fürsten und Stämme hervorgehen. Daß die großen Fürstenhäuser Deutschlands, das preußische eingeschlossen, durch das Vorhandensein eines von ihnen gewählten deutschen Kaisers in ihrer hohen europäischen Stellung nicht beeinträchtigt wurden, lehrt die Geschichte.

»In tiefer Ehrfurcht ersterbe ich Eurer Majestät untertänigster treugehorsamster Diener

v. Bismarck.«

Das waren Gesichtspunkte und Erwägungen, die dem Könige wie eine kameradschaftliche Handreichung in die Höhe stolzer Entschlüsse halfen. In dieser vom genialen Staatsmanne entwickelten Auffassung fühlte der einsame König sein und seines Hausen Schicksal wieder eingeflochten in die volltönende Harmonie der deutschen Geschichte. Die Beklemmung war gewichen, seine Souveränität auf die Linie des Vasallentum herabgedrückt zu sehen. Ludwig der Bayer zugleich Ludwig der Deutsche – das gab einen starken herzhaften Klang in der Geschichte vaterländischen Aufschwungs! Dem bevorrechteten Herrscher an der Spitze des Reiches, dem er selbst den Kaisertitel angetragen, konnte er ohne Demütigung ein willfähriger Bundesgenosse sein!

Mit Dank für den hohen Geist Bismarcks machte er dessen Entwurf zu dem seinigen und schrieb dem König von Preußen sofort den Kaiserbrief: Wort für Wort nach der Bismarckschen Vorlage.

Aber wieder kam eine böse Verzagtheit über ihn, er schickte den Brief nicht sofort ab. Übergab ihn seinem Kabinettschef mit der Weisung, das Geeignete zu veranlassen. Dieser eilte mit dem wichtigen Schriftstück zu dem Ministerpräsidenten Doktor von Lutz. Unverzüglich sandte Lutz den Grafen Holnstein mit dem bedeutsamen Dokument nach Versailles zum König von Preußen. Allen war ein Stein vom Herzen, die Kaiserproklamation in der Spiegelgalerie des Schlosses zu Versailles konnte den programmgemäßen Verlauf nehmen.

Über die Lösung der Frage in dieser großzügigen Diplomatenweise war der König so erfreut, daß er seinem lächelnden Kabinettschef das Originalschreiben Bismarcks zum Geschenke machte. »Bewahren Sie diese Zeilen in Ihrer Familie auf, sie sind ein wertvolles Stück deutscher Diplomatenliteratur.« –

Und der Meister-Freund in der Schweiz, wie stellte er sich zu den Ereignissen?

Der außerordentlichen Bewegung Herr zu werden, in die seine vulkanische Natur bei den großen Siegesnachrichten und der furchtbaren Katastrophe der Franzosen von Sedan geriet, mühte er sich zunächst, das Kriegsschauspiel von einer kleinen humoristischen Seite zu nehmen. Er verfaßte eine Posse »Die Kapitulation« von wenig Gewicht, aber stark genug, sich selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ein Purzelbaum, um auf die Beine und in ruhige Haltung zu kommen. Nachdem der Meister dem Lächerlichen seinen Tribut gezollt, fand er auch den Ton für das Erhabene. Er schrieb nach der Kaiserproklamation einen »Kaisermarsch«, der sich aus Elementen des großen Lutherliedes wie ein frommer Choral von ungeheuren Dimensionen aufbaut, ein »Heil dem Kaiser!« wie es in dieser schlichten Innigkeit und volkstümlichen Erhabenheit kaum jemals erklungen. Es war wie ein Schwenken aller Hoffnungsfahnen deutscher Idealität über das neuerstandene Reich, eine brausende Bekräftigung aus Millionen Seelen: Großes ist geschehen! Größeres wird folgen!

Freilich, mit dem Beifalle seines königlichen Freundes hatte er noch nicht den Beifall des jetzigen deutschen Volkes, am wenigsten der neuen Reichshauptstädter gewonnen. Wagner hoffte, bei dem Siegeseinzug des Kaisers und seiner Heerscharen in Berlin werde unter dem Geläute der Glocken von allen Türmen, in einer einzigen jubelnden Erhebung aller Seelen sein Kaisermarsch, angestimmt von sämtlichen Militärkapellen, begleitet vom Gesang des Volkes, zugleich den Siegeseinzug der Zukunftsmusik ins neue Deutsche Reich verkünden. Das war Täuschung. Bei den militärischen Truppeneinzügen dachte nirgends ein Gewaltiger an den fernen deutschen Meister am Vierwaldstätter See noch an seinen Kaisermarsch. Neben der »Wacht am Rhein« erklang irgendein beliebter Militärmarsch und damit war dem künstlerischen Bedürfnisse der Massen Genüge getan. Das ideale Kulturwerk, das der Meister und sein königlicher Freund im Traume erblickten, war noch nicht zur Stelle. Den Sieg der Waffen zu einem Siege der Kultur erhöht zu schauen, war ihnen nicht vergönnt. Das heißeste Sehnen ihres Herzens blieb ungestillt. Noch war die Zeit der Vorbereitung, nicht der Erfüllung.

Auch die bayerische Königsstadt feierte den Frieden und die Heimkehr der Sieger mit großem militärischen Pomp. Der deutsche Kronprinz, strahlend im frischen Glanze seines Feldherrnruhmes, führte dem stillen Könige von Bayern sein eichenlaubbekränztes Heer nach München zurück. Das ganze Land war herbeigeströmt, Franken, Schwaben, Pfälzer. Zum letztenmal umbrauste den König der Jubel seines Volkes, als er hoch zu Roß, den Helm auf dem Lockenhaupt, an der Spitze der Generalität und den deutschen Kronprinzen und Kaiserkronerben an der Seite, dem Einzuge der Truppen beiwohnte. Er hatte kein Ohr mehr für Massenhurra und Hochrufe, denn sie stammten nicht aus der Höhe, aus welcher seine Ideale wohnten in ewiger Götterschönheit. Teilnahmlos blickte sein Auge auf das militärische Gepränge wie auf eine kalte Maskerade, an der seine Seele niemals teilgenommen. Selbst für die verwundeten Kämpfer auf der Tribüne am Odeon hatte er kaum ein Wort. Sein eigenes Herz war wund, gepeinigt von tausend Schmerzen, für die er keine Teilnahme unter seinem Volke wußte.

In jähem Zorne zuckte es in ihm auf: Was ist seine Majestät, wenn ein Stärkerer über sie gekommen, ein Unerbittlicher, dem die Kriegsgeschichte seine Überlegenheit besiegelt? Es war ihm wie dem Jüngling, der das Bild von Sais entschleiert. Wo bleibt der reine Glanz der Krone, wenn sie durch alle Geschäfte und Kniffe der Diplomaten gezerrt wird? Wo bleibt die unantastbare Souveränität, wenn sie sich um ihren alten Bestand wehren und mühsame Reservatrechte zubilligen lassen muß? Ist alles nur Geschäft in dieser Welt mit ihrer gottverlassenen großen Politik? Und wenn alles nur Handelschaft, ist dann nicht auch eine Zeit zu denken, wo brutale Besitzgier die Ideale der höheren Kulturmenschheit mit blutiger Hand zerreißt, als wären es verstaubte Spinngewebe über einem Kehrichthaufen?

In der Nacht fuhr er seinen Kammerdiener an: »Ein Mensch, der niedrig denkt, ist nicht wert, daß ihm die Sonne ins Gesicht scheint.«

Der dienstbare Geist begriff nicht: »Majestät befehlen?«

Der König, als spielte er eine Rolle in einem unglaublichen Stück: »Was ist große Politik, Mensch?«

Wie in plötzlicher Erleuchtung der Kammerdiener: »Nichts Kleines zu machen, Majestät.«

»Wer ist der stärkste Mann?«

Der Kammerdiener ohne Besinnen: »Der Mann von Eisen.«

»Von Blut und Eisen heißt das Stichwort. Nicht gestümpert!« herrschte ihn der König an. »Wer ist ein Narr?«

»Wer anders ist als die anderen – wer –« stotterte der Kammerdiener in wachsender Angst.

»Genügt. Kann ein redlicher Mensch anders sein, als er ist?«

»Ich weiß nicht, Majestät. Ich hab's noch nicht probiert.« Damit war er mit seinem Latein zu Ende.

»Probier's!«

Der Kammerdiener ließ stumm den Kopf hängen.

Der König winkte ihm, zu gehen.

Der König setzte sich an den Schreibtisch. Mit fliegender Hand entwarf er einen Brief an seinen Gastfreund, an den deutschen Kronprinzen: Er erwarte und hoffe, daß bei dem definitiven Friedensschlusse die Selbständigkeit Bayerns gewahrt werde. Dazu machte er für sich die ausdrückliche Notiz: Dieser Brief ist dem Kronprinzen von Preußen bei seiner Abreise von München zu übergeben – es ist mein königlicher Wille!

Als er die Papiere aus dem Tische ordnete, fiel ihm das Konzept des zweiten Briefes in die Hand, den er vor Monaten an den Stiftspropst und Reichsrat von Döllinger geschrieben.

»Nachtgespenster!« rief er und las das Blatt. Die wichtigsten Stellen sagte er sich laut vor . »Gleich dem Lande bin ich stolz, Sie den Unsrigen nennen zu können und hege die frohe Zuversicht, daß Sie wie bisher als Zierde der Wissenschaft und in erprobter Anhänglichkeit an den Thron noch lange Ihr ruhmreiches Wirken zum Besten des Staates und der Kirche betätigen werden. Kaum habe ich nötig, hervorzuheben, wie hoch mich Ihre so entschiedene Haltung in der Unfehlbarkeitsfrage erfreut. Sehr peinlich berührt mich dagegen, daß Abt Haneberg seiner inneren richtigen Überzeugung zum Trotz sich blindlings unterworfen hat. Er tat es, wie ich vermuten darf, aus Demut. Dies ist meiner Ansicht nach eine sehr falsch verstandene Demut; es ist eine niedrige Heuchelei, offiziell sich zu unterwerfen und nach außen eine andere Überzeugung zur Schau zu tragen als jene, von welcher das Innere erfüllt ist. Ich freue mich, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe; ich habe es immer gesagt, daß Sie mein Bossuet sind, er mein Fénelon ist. Jammervoll und wahrhaft mitleiderregend ist die Haltung des Erzbischofs Scherr, der so bald schon in seinem Elan nachließ. Sein Fleisch ist eben stark und sein Geist ist schwach, wie er aus Versehen einst selbst in einem seiner Hirtenbriefe verkündet hat. Sonderbare Ironie des Zufalls! Stolz bin ich dagegen auf Sie, wahrer Fels der Kirche, nach welchem die im Sinne des Stifters unserer heiligen Religion denkenden Katholiken in unerschütterlichem Vertrauen mit hoher Verehrung blicken dürfen –«

Der König legte mit stolzer Befriedigung das Blatt aus der Hand. Es hatte ihm wieder Haltung gegeben.

»Ja, der Döllinger, der ist musterhaft.«

Er eilte in sein Bibliothekzimmer, trat an die Bücherei, wo die sämtlichen Schriften Döllingers in lückenloser Folge standen. Er nahm jeden Band einzeln heraus und liebkoste ihn mit den Händen. Neben Döllinger stand Leopold von Ranke mit seinen sämtlichen Werken. Auch diesem Geschichtschreiber warf er einen zärtlich dankbaren Blick zu.

»Das sind Säulen der Wahrheit,« sagte er, »siehst du, meine Seele, Säulen, die kein Zweifel und kein Jesuitismus erschüttern kann.«

Im Ranke wußte er so gründlich Bescheid wie im Döllinger.

Bevor der König zur Ruhe ging, warf er sich an seinem Betschemel auf die Knie. Im Namen der ewigen Majestät Gottes wollte er alles von sich abschütteln, was ihn verzagt machte, weil es ihn noch an diese Welt der niedrigen Komödie knüpfe. Er hatte die Gewißheit, unumstößlich, daß nur im Höhenreich der Wahrheit und Schönheit der Mensch seine gottgeborene Natur zu bewahren vermag. Gleich dem Ewigen, der keinen Teil hat am Frevel und Schwindel der Irdischen, die wie Eintagsfliegen vergehen, soll der höhere Mensch in edelkühnen Schöpfungen seine Kraft und Herrlichkeit erweisen, darin seine Seele Trost und Ruhe findet. Amen.

Mit diesem Abendsegen begab sich der König zu Bett.

In den Straßen der Residenzstadt verhallten die letzten Hochrufe berauschter Festbummler im Schweigen der Mitternacht.


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