Michael Georg Conrad
Majestät
Michael Georg Conrad

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Der Briefwechsel zwischen dem König und seinem Meister-Freund in der Schweiz hatte bis zum Frühling eine solche sehnsüchtige Spannung in der Brust der Getrennten bewirkt, daß nur ein rasches Wiedersehen und mündliches Aussprechen die Nerven beruhigen konnte. Der Geburtstag des Meisters nahte, ein Weihetag im Mai. Was hielt ihn zurück? Der König entschloß sich von heut auf morgen zur Reise, und in einer schönen Frühlingsnacht fuhr er mit der gewohnten Heimlichkeit davon.

Wie neugeboren kehrte er von dem Besuche Wagners aus der Schweiz zurück. Seinen nächsten Kurier bestellte er nach Schloß Berg an den Starnberger See. Der politische Himmel sollte nach den Aussagen der Wetterkundigen mit den unheimlichsten Dingen behaftet sein, also daß zu jeder Stunde das letzte Restchen friedlichen Frühlingsblaus verschwinden und die dunkelsten Ereignisse auf die deutschen Erdbewohner niederprasseln konnten wie Wolkenbruch und Hagelschlag. Der gewissenhafte König hatte sich während seiner Abwesenheit von der Residenz täglich den Bericht seiner diplomatischen Meteorologen bestellt. Gewisses erfuhr er daraus zwar auch nicht, aber er hatte seiner Pflicht genügt. Daß alle Zukunft noch in tiefes Dunkel gehüllt lag, dazu bedurfte es keiner schriftlichen Versicherung seiner Minister und Gesandten. In die letzten Absichten Preußens, Österreichs und des verschlagenen Napoleon waren sie so wenig eingeweiht wie er selber. Niemand ließ sich in die Karten blicken. Der König war geneigt, eine friedliche Ordnung der verfahrenen deutschen Geschichte noch für möglich zu halten. Vor dem Kriege graute ihm – zumal vor einem deutschen Bruderkriege. Aber was liegt dem harten Lenker der Geschicke an unserem Grauen?

Im Schloß Berg erwartete ihn eine umfangreiche Sendung. Er arbeitete sie durch, nachdem er kaum den Staub der Reise abgeschüttelt. Der diplomatische Bericht lautete etwas optimistischer, doch konnte er die Bemerkung nicht unterdrücken: In Berlin scheine man sorgsam die Bataillone zu zählen, die zur Verfügung standen – nach dem Glauben des alten Fritz ist ja Gott im Kriege stets auf der Seite der stärkeren Bataillone! – und an Machtmitteln bereitzustellen, was irgend aufzutreiben, materielle und moralische.

Das stand für den König felsenfest. Wahrung der deutschen Interessen, keine ängstliche Hauspolitik! Der König von Preußen war sein Oheim, die Kaiserin von Österreich seine Kusine – verwandtschaftlich war er beiden Reichen verbunden. Aber das war kein Grund für ihn, auch nur eine Sekunde lang den Gedanken einer bayerischen Neutralität im Kriegsfall zwischen Preußen und Österreich ernstlich zu erwägen. Kam's zum Bruch, dann konnte Bayern nicht den müßigen Zuschauer spielen. Soweit war's klare Realpolitik: Partei ergreifen – und wird losgeschlagen, mitschlagen!

Aber sofort meldete sich der politische Vererbungszug, der romantische Glaube Maximilians II. an die historische Weihe und Mission des Deutschen Bundes: Für den Bund, mit und durch den Bund! Zertrümmert Preußen den Bund, dann mit Österreich gegen Preußen!

So sehr sich Ludwig zusammennahm, realpolitisch zu denken, über diesen mystischen Abgrund war nicht wegzukommen. Auch das gab dem romantischen Gefühl keinen ehrlichen Ausweg, kaum einen anständigen Notausgang: Wie, wenn Preußen nicht den Krieg erklärte, sondern die Sache so führte, daß in Frankfurt der Bundeskrieg gegen Preußen erklärt werden müßte, so daß der Bund der Friedensbrecher wäre? Auch in diesem Falle wäre der Neutralitätsgedanke von Bayern abzuweisen? Auch in diesem – in jedem Falle. Das war die unverrückbare Überzeugung des Königs, sie wurde von seinen Räten, sie wurde von seinem Lande geteilt. Also war im Grunde alles klar, über das einzuschlagende Verhalten war kein Zweifel möglich. Und der mutmaßliche Ausgang, wenn's zum Kampfe kam? Hier mußte der militärische Sachverständige mit seinem Rechenexempel einsetzen – in Ludwigs Natur war der Militärsmann niemals zur Entwickelung gekommen, die soldatische Welt war niemals seine Welt gewesen. Er mußte sich begnügen, mit seinem Herzen und seinen Gedanken dem bayerischen Heere zu folgen.

Das wußte er. Für den Ernstfall war ihm das kein tröstliches Wissen: Im kriegerischen Ringkampf der Völker konnte er nicht seinen Mann stellen, als König nur symbolisch an erster Stelle stehen, als oberster Kriegsherr mußte er sich die Repräsentationsrolle gefallen lassen. Drum klammerte sich nicht nur sein gutes, menschenfreundliches Herz, sondern auch sein königlicher Stolz an den Anker trügerischer Friedenshoffnung.

Und er blickte auf die Roseninsel hinüber, die wie ein Frühlingszauberidyll aus dem leicht gekräuselten See auftauchte. Wie lange hatte er seine geliebte Rosenwildnis nicht mehr gesehen mit dem kleinen Einsiedlerhaus! Wann hatte er dort zum letztenmal seine duftige Veilchenbowle getrunken – wie lange ist's doch schon? Und in jener seeumrauschten Inselenge –

In ungemessenen Räumen
Ein überseliges Träumen!

Er befahl ein Boot und Ruderer zur Roseninsel. Die Fahrt ging an Possenhofen vorüber, wo, hinter hohen Buchen und Eichen versteckt, auf abflachender Halde das Schloß seines Vetters Herzog Max zur Einkehr lud. Wie lange ist er dieser Einladung nicht mehr gefolgt! Er sann. Richtig, damals war er zu Gast gekommen, als er der jungen Base Herzogin Sophie die Grüße ihrer Schwester, der Kaiserin Elisabeth, überbrachte. War das nicht Jahre her? Lag nicht eine ganze Welt von Ereignissen zwischen damals und heute? Die Schweizerreise hat sein Herz so voll gemacht, daß er wirklich Lust verspürte, von all dem Guten und Frohen, das in ihm lebte, einen Teil als Gastgeschenk seinen Verwandten zu spenden, ihnen die Hand zu drücken und »Grüß Gott« zuzurufen. Heute konnte er sich ja Rechenschaft geben über die eigentlich sehr geringe Herzlichkeit in den Beziehungen zu seiner Verwandtschaft. Die Schuld, daß das Bedürfnis nach Annäherung und Aussprache zwischen beiden Teilen so karg war, lag weniger in seiner einsiedlerischen Natur, als vielmehr in der klösterlich kalten und engen Jugenderziehung, die seinem Hange zur Einsamkeit überreichliche Nahrung gab, statt für ein starkes Gegengewicht in freundschaftlichem Verkehr mit guten Nachbarn zu sorgen. Keine einzige Jugendfreundschaft, nicht die mit dem Prinzen Wilhelm von Hessen, nicht die mit dem Fürsten von Thurn und Taxis, wurde so zur Blüte entwickelt, daß sie auch dem reifenden Manne noch Frucht und Labe geboten hätte. Und wo kam er der holden Weiblichkeit nahe? Aus der Ferne sah er in fast furchtsamer Verehrung zu der edlen Kaiserin Elisabeth, zu der hochsinnigen und gelehrten Prinzessin Therese auf, in ihrer Art Einsamkeitssucher und stille Höhengeister wie er. Aber in seinem Herzen hatte er die Gewißheit, daß ihm beide Frauen in ihrer Schlichtheit und Vornehmheit innigst zugetan bleiben und ihm ihre Sympathie bewahren würden bis ans Ende, durch alle Wechsel und Strudel des Lebens hindurch.

Er erinnerte sich, wie er jetzt über den grünen, leise im Winde grollenden Starnberger See dahinschaukelte, an einen Spruch der Edda, der die Freunde ermahnt, fleißig zueinander zu gehen, damit der Weg zwischen ihnen sich nicht mit Gestrüpp und Unkraut bedecke.

»Zu Seiner Königlichen Hoheit Herzog Max!« rief er laut und ließ die Ruderer den Kurs nach Possenhofen nehmen.

Auf dem grünen Plan des ausgedehnten Parkes sah er lichte Kleider schimmern. Wie große bunte Schmetterlinge dünkten ihn die lieblichen Mädchengestalten, die sich zwischen Baum und Strauch im Spiele zu haschen suchten. Es war die Herzogin Sophie mit ihren Gespielinnen.

»Der König!« hörte er eine erschreckt rufen. Und im Nu jagten sie stracks über die Wiese, um im Schlosse zu verschwinden.

Die Herzogin Max war leidend. Sie ließ sich entschuldigen. Der Herzog, auf einem Jagdgang, würde erst gegen Abend aus dem Walde zurückkehren. Schon wollte der König unverrichteter Dinge das Schloß verlassen, als Kusine Sophie, noch glühend vom Spiel und mit fliegenden Zöpfen, auf ihn zutrat: »Grüß Gott, Vetter! Mußt schon mit mir vorliebnehmen, die Eltern können dich nicht empfangen.«

Fast schüchtern bat der König um Nachsicht für seinen Einbruch.

Ohne Förmlichkeit führte Herzogin Sophie in lustigem Geplauder den König in den Garten. »Dort liegt die Zither noch auf dem Tisch, ich habe heute schon fleißig geübt, nicht bloß Sprünge gemacht.« Sie eilte auf dem schmalen Kiespfad voraus: »Wollen wir uns ein wenig setzen?«

Das Märchenherz des Königs empfand sie wie ein schönes Stück Natur, zum Frühling gehörig wie die Wiesenblumen, wie der prangende Busch. Ihre Ähnlichkeit mit der kaiserlichen Schwester Elisabeth fiel ihm in diesem Gartenzauber gar nicht auf, sie erschien ihm wie eine Dryade, die ihn necken wollte. Zögernd folgte er ihr, in Schauen verloren.

»Komm doch! Soll ich dir vorspielen?« Schon zirpten die Saiten unter ihren schlanken Fingern.

»Ah, Musik!«

»Du liebst sie doch?«

Der König: »Du errätst nicht, woher ich komme. Geradeswegs aus der Schweiz, von Richard Wagner.«

Leise ließ sie die ersten Takte eines lustigen Ländlers erklingen: »O, Wagner! Was macht er Neues?« Dabei modulierte sie in einen Jodler hinüber, frisch, schnalzend, und betrachtete mit ihren schelmischen Blauaugen den Vetter von der Seite.

Der König begann begeistert wie für sich selber zu erzählen, in welcher köstlichen Trosteinsamkeit der Meister am Vierwaldstätter See hause, wie er in unversieglicher Kraft an seinen Nibelungen schaffe, dazwischen hinein die Meistersinger von Nürnberg für die Bühne fertig mache, so daß ihre erste Aufführung schon nächstes Jahr in München stattfinden könne. So räche sich der große Künstler an den Münchenern, indem er ihnen ein neues Göttergeschenk zum Genusse biete.

Sie unterbrach ihn, ruhig weiterspielend: »Wenn dein großer Künstler nur einen rechtschaffenen Walzer für meine Zither machen wollte! Sag's ihm doch. Hör mal, das ist ein Reißer, ein herzfrischer, ganz neu!« Und sie sang und spielte drauf los – eine närrische, wilde Gebirglerweise.

Jäh brach sie ab und schob die Zither weg: »Ist's wahr, es gibt Krieg?«

Der König verwundert: »Wieso Krieg?« Es fröstelte ihn mitten im Sonnenglanz. »Wie kommst du auf den schrecklichen Gedanken?«

»Papa sagt's. Die Preußen wollen keine Ruhe geben. Für die Leutnants wär's gut, die wollen avancieren. Ich kenn' einen, der kann's schon gar nicht mehr erwarten.«

Der König erhob sich.

»Du hast ja meinen neuen Hund noch nicht gesehen, den Boxl.« Sie tat einen gellen Pfiff. Boxl kam angerast über Stock und Stein und sprang an seiner Herrin hinauf. »Aber Boxl, Mordskerl, du ruinierst mein schönes Kleid!«

Während sie sich mit dem Hund zu schaffen machte, blickte der König zerstreut in den Garten. Wolkenschatten strichen über ein helles Lilienbeet, als lege sich feiner, grauer Flor über die ragenden Blütenstengel.

Die Herzogin folgte seinem Blick. »Lilien sind meine Lieblingsblumen, es sind auch die deinigen?«

Der König nickte. Er schien in tiefen Gedanken. Er umschritt schweigend das Lilienbeet. Die Herzogin blieb still auf der anderen Seite stehen. Wie er das Gesicht zu ihr hob, erschien ihm ihre lichte Gestalt wie eine Madonna in Lilien.

»Behüt' Gott!« rief er freundlich. »Wir sehen uns bald wieder. Ich muß auf die Roseninsel.«

Das kleine Eiland lag wie im Traum in seinem Gürtel von grünem Schilf. Eine Duftwolke hob sich darüber wie von Opferschalen. Ein süßer Rausch umfing ihn in all der Herrlichkeit. Spiegelglatt lag jetzt der weite See, vom zartblauen Himmel überspannt. Drüben auf freier Halde sein weißes Schlößchen Berg. Rings ansteigende Ufer im lichten Sammetgrün frisch belaubter Wälder, dazwischen hellfarbige Tupfen verstreuter Landhäuser, im Süden die gewaltigen Linien des Hochgebirges mit leuchtendem Schnee in den Klüften. Kein Lärm, kein Menschenlaut. Eine Welt friedvoller Schönheit in Andacht. Eine bräutliche Welt, wie in Schleier und Myrtenkranz dem heißen Segenskusse des Sommers entgegenharrend.

Ergriffen schloß der König die Augen. Eine Vision erhob sich aus der Rosenwildnis. Madonna in den Lilien. Und er hörte eine Stimme. Ganz anders klang ihm jetzt die Frage. »Ist's wahr, es gibt Krieg?« Die Madonna zerrinnt wie ein Nebelbild, und an ihrer Stelle erscheint eine furchtbare Gestalt: ein Furienantlitz über Rosen und Lilien. Wie Flammen schlägt's aus den Rosen und wie Blut tropft's aus den Kelchen der Lilien. Eine Welt friedvoller Schönheit versinkt – Krieg! Krieg!

Von Schaudern geschüttelt, seufzte der König: »Wer rettet meine Lilien!«

Wieder der Furienruf. »Krieg! Krieg!« Ein wildes Sterbelied aller Menschenhoffnungen – –

Der König ließ sich über den See nach Ammerland rudern.

Von einer Eingebung geführt, lief er in den Wald. Weit hinein. Aus dem geheimnisvollen Föhrendämmer löste sich eine Lichtung. Domartig. Die dunklen Stämme rings wie Säulen. Ein Waldheiligtum, des Priesters wartend. Langsam ging er weiter. Es war ein sanftes Gleiten auf dem weichen Nadelbett. Er achtete nicht auf die Richtung. Er blieb stehen. Ein uralter Stamm mit mächtiger Krone in gebietender Höhe fesselte ihn. Er legte die Hand an seine warme Rinde und streichelte sie wie die Wange eines alten Freundes. Ein Patriarch des Waldes im weiten Kreis der Seinigen, die ihn traut und dicht umscharten. Ein Fürsichsein in guter Zuversicht. Keine Straße störenden Lebens führt da herein. Ein hehres Abseits.

Aus der Seele des Königs löste sich eine Dichtung. Von dem Bewohner eines fernen Sterns, der die Menschen sehen wollte. Ein Engel geleitete ihn auf die Erde. Sie kamen in den Wald. »Sind das Menschen?« Nein, das sind Bäume. »Sie neigen sich einander und flüstern sich zu –« Das ist der Wind in ihren Wipfeln. – Sie kamen auf eine Wiese. Weidende Pferde und Rinder. »Sind das Menschen?« Nein, das sind Tiere. »Sie halten sich friedlich zueinander und von ihren Leibern strahlen sie freundliche Farben –« Das ist Geduld im Sonnenschein. – Sie kamen an die große Stadt. Hohe Schlote mit schweren Rauchwolken. Enge Straßen voll Staub und Dunst zwischen erdrückenden Steinmassen. Wie in Schlünden und Abgründen ein Gewürge von lärmenden Wesen, schmutzig und kummervoll. »Das sind Menschen!« sprach der Engel. Entsetzt sagte der Bewohner des fernen Sterns. »Das ist furchtbar, das ertrage ich nicht. Laß uns zu den Tieren und Bäumen gehen.« Und sie kehrten eilends um. –

Der König grüßte den Patriarchen des Waldes und lenkte seine Schritte weiter. Plötzlich stand er wieder vor der Lichtung. Die dunklen Stämme rings wie Säulen, domartig, feierlich.

»Hier mein Waldheiligtum. Ihm will ich meine Lilien anvertrauen.«

Und er beschloß, diesen Grund anzukaufen und hier seinen Liliengarten zu bauen – sein Waldsanktuarium von Ammerland. Seiner Friedenssehnsucht eine neue Zuflucht in den drohenden Stürmen.

»Ach, dieses diplomatische Ränke- und Räuberspiel!« schrie es aus der Tiefe seines reinen Gemütes, als der Minister gegangen war. Preußen trieb also zum kriegerischen Entscheid: Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Der seitherige Zustand war ja nicht mehr auszuhalten. Wer hatte denn die ehernen Nerven, monatelang in dieser furchtbaren Ungewißheit mitzuschwingen, ohne vom Lebensekel überwältigt zu werden?

Die Waffen hoch! Anders waren die deutschen Wirren nicht zu lösen. Reden, Kammerdebatten, Bundestagsbeschlüsse – nichtiges Blödsinnsgeklapper der alten, morschen Mühle, die längst kein gesundes Korn mehr zu mahlen hatte. Auf dem politischen Acker wuchs überhaupt kein gesundes Korn mehr, der Boden war verrottet. Er mußte mit dem Schwerte gepflügt, mit Blut gedüngt werden. Das war's. Die ganze alte Wirtschaft taugte nichts mehr, darum versagte die Erde ihren Segen. Erfolg der hirnlosen Reaktion der Jahrzehnte nach 48.

Die Zeichen, daß die Entscheidung nahe, mehrten sich. Österreich und Sachsen rüsteten. Preußen berief seine Landwehr ein. So sollte denn auch in Bayern mobil gemacht und der Landtag noch in elfter Stunde in München versammelt werden.

Die Landtagsmänner schwatzten so klug, wie es in ihren Kräften stand. Die gebildeteren unter ihnen, die eine wissenschaftliche Erziehung genossen hatten, sahen als das Idealbild eines vollkommenen Deutschen natürlich den stillen Gelehrten an, dem der Mensch als ein abstraktes Wesen galt, das man mit Logik und Moral lenken könne. Sie donnerten noch einmal ihren Spießbürgerjammer in die Welt, es habe leider den Anschein, daß am letzten Mai 1866 »in Deutschland die Fundamentalsätze der Volksfreiheit und des öffentlichen Rechts noch immer nicht festgewurzelt und vor gewaltsamer Anfechtung sicher gestellt sind«. Dann kamen die alten rührenden Bier- und Schulbankneuigkeiten: »Nicht immer ist der Friede das höchste Gut« – »Reform des Bundes ist die einzig dauernde Friedensbürgschaft« – »Bundesverfassung auf Grundlage des Repräsentativsystems«. Dann bekam die »frivole Politik Preußens« ihre moralische Lektion, und den »Absichten Österreichs« wurde das Zeugnis angeheftet, daß sie kein Vertrauen einflößen. Summa: der übliche schöne, gemischte Phrasensalat der parlamentarischen Parteiberedsamkeit.

Das wirkliche Weltübel wurde aber niemals damit kuriert, daß man den Patienten mit Phrasensalat füttert. Die Wirkung der landtäglichen Beredsamkeit war gleich Null. Der König bemühte sich, den Reden in den stenographischen Berichten zu folgen. Er fand aber seiner Liebe Mühe übel belohnt, das Zeug war zu schlecht stilisiert, ohne künstlerische Farbe. So gab er den Versuch auf, aus dem Wischiwaschi der Herren Landesvertreter und Parteihäuptlinge politische Weisheit, originelle Geschichtsauffassung, kühne, fruchtbare Gedanken zu schöpfen. Hauptsache blieb, daß die Herren von der Mitte, von der Linken und der Rechten einstimmig das nötige Geld zum Kriegführen bewilligten. Das taten sie denn auch mit patriotischer Bravour. Keiner hielt mit seinem Ja zurück. Alle, alle waren gefügig. Selbst die am bockbeinigsten gegen die Wagnerei und des Königs Kunst- und Kulturpläne ausgeschlagen und für diesen »Luxus« keinen Groschen übrig hatten, griffen jetzt heroisch und opfermütig in des Volkes Säckel und stellten der martialischen Exzellenz vom Kriegsfach bare einunddreißig Millionen Gulden zur Verfügung. Mit dieser Summe, glaubten sie, ließen sich einstweilen die ersten Siege erfechten. Daß das schöne Geld flöten gehen könnte ohne jeden positiven Sieg, das kam nicht in ihre Träume.

Die Grundstimmung des Königs ging in diesen Tagen aus dem Tieftragischen oft ins Humoristische, ja Satirische und Schadenfrohe. Die Philisterangst, die eifrig kalkulierte, was bei dem Bruderkrieg gewonnen oder verloren werden könnte; die Kleinbürgerverschlagenheit, die nach blutigen Profiten schielte; die Parteiranküne, die Gelegenheiten erlauerte, dem dummen Volke eins auszuwischen: alle diese menschlichen Erscheinungen waren dem Könige seit seinen Erlebnissen im Wagnerkrawall ein verständliches Schauspiel geworden. Er genoß die politische Tragikomödie zugleich als Künstler und als Moralist, wenn er sich auch streng innerhalb des Pflichtenbereichs hielt, den ihm seine Krone umzirkte. In seinem Auftreten zeigte er sich als Herrscher hoheitsvoll und von dem Ernst der Lage durchdrungen.

Endlich! Der Tanz begann!

Am 14. Juni wurde in Frankfurt der deutsche Bundeskrieg gegen Preußen erklärt. An dem nämlichen Tage wurde der Militärvertrag zwischen Bayern und Österreich abgeschlossen. Der König begab sich auf vierundzwanzig Stunden nach Bamberg in das Hauptquartier der bayerischen Armee, die vom Prinzen Karl, der den Oberbefehl über den größeren Teil der bundestreuen Truppen erhielt, geführt werden sollte. Was in den bevorstehenden Kämpfen an Ruhmestaten vollbracht werden konnte, sicherte also nicht dem König, sondern dem Oberbefehlshaber den Lorbeer. Dafür durften die Sünden der Strategie und Taktik nicht dem König zur Last gelegt werden. An dem Ausgange des Kriegsspiels war er persönlich unbeteiligt.

Hauptverantwortlicher vor der Geschichte konnte nur einer sein: der Vielköpfige als oberste Behörde des aus den Fugen gegangenen alten Reiches, der durchlauchtigste deutsche Bundesrat zu Frankfurt am Main.

Mit dem Schwerte in der Faust brachte jetzt Moltke die Beweisführung zum Abschluß, die Bismarck mit der Feder des Staatsmanns längst eingeleitet hatte: der durchlauchtigste deutsche Bundesrat war seiner Aufgabe weder im Frieden noch im Kriege gewachsen – er konnte vom Schauplatze abtreten, verurteilt von allen starken und rechtschaffenen Geistern. Preußens Politik hatte dafür gesorgt, daß der Abgang des durchlauchtigsten Bundesstümpers und Nichtskönners mit einem solchen energischen Fußtritte begleitet wurde, daß eine Rückkehr in erdenklichen Zeiten ausgeschlossen war.

Der Bund war zerschmettert, und alte, die zu ihm gehalten in romantischer Verblendung, waren geschlagen und konnten sich ihre blutige Niederlage besehen. Auch Bayern.

Was war nun noch lange zu fackeln? Bayern zahlte einige Dutzende schöner Millionen als Kriegsschulden, trat einiges fränkische Gebiet ab und reichte dem bösen preußischen Bruder, der so schneidig gesiegt hatte, die friedesuchende Hand.

Prinz Karl, des Königs Großoheim, der in diesem ersten und letzten Bundeskriege den Oberbefehlshaber gemacht und keine Lorbeeren geerntet hatte, zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Der einzige bayerische Prinz, dem es vergönnt gewesen, in diesem Kriege sich eine ehrenvolle Wunde zu erwerben, war Ludwig, der älteste Sohn von des Königs Oheim Prinz Luitpold. Der König zeichnete den tapferen Vetter durch Verleihung eines der besten bayerischen Regimenter aus.

Wenn der König die blutigen Ereignisse überblickte und damit zusammenhielt, was er an historisch-politischen Erkenntnissen bei ihrem Beginne miteinzusetzen hatte, so fühlte er sich trotz aller Unschuld doch auch als Mitgeschlagener. Der erste schmählich verlorene Krieg unter seiner jungen Herrschaft! Das Bewußtsein von Preußens entschiedener Überlegenheit in allem Zeit- und Zweckgemäßen der großen Politik! Bismarcks Genie, das er instinktiv empfunden, als neuer Stern über dem frisch zu ordnenden politischen Deutschland, das heute wie eine wüste Baustelle aussah, in blutiger Pracht aufgestiegen! Held war fortan der Mann von Blut und Eisen!

Eine Genugtuung jedoch durfte der König empfinden: sein beharrlicher Widerwille gegen Napoleons Ränke und alle Verlockungen zur Neutralität entsprang seinem eigensten Wesen – er hatte in diesem wichtigsten Punkte mit seiner Gefühlspolitik recht behalten. Bismarck selbst konnte ihm die aktenmäßige Bestätigung liefern, indem er dem Könige die Rechnung zeigte, die Napoleon im Neutralitätsfalle Bayern präsentiert haben würde.

Im Gefühle dieser innersten Genugtuung war es dem Könige möglich, ohne Scham und Gram mit Preußen Frieden zu schließen und das neue Schutz- und Trutzbündnis, das ihn an Bismarcks Politik fesselte, zu unterzeichnen.

Ein neuer Weg war damit beschritten. Mußte sich in seinem Verfolg der König seiner intimsten Lebensideale als Künstler begeben? Mußte er auch als Idealpolitiker im Bereiche der Kultur, die die leuchtenden Spuren seines genialen Meister-Freundes trug, sich verpreußen lassen? Wird der Stern Bismarcks den Stern Wagners jemals überstrahlen oder durch seinen harten Gegensatz erst der Welt in seiner vollen Reinheit, Schönheit und Milde offenbar werden lassen?

Für die geistige Freiheit und eine edlere Lebensführung des deutschen Volkes war durch den Krieg zunächst nichts gewonnen, davon war der König schmerzlich überzeugt. Die Kräfte, die durch den preußischen Sieg entbunden wurden, konnten nur wieder in den Dienst der rauhen Gewalten des Militarismus und der massenbändigenden Politik gezwungen, aber nicht für die planmäßige Verfeinerung der Kultur nutzbar gemacht werden. Die unausbleibliche Folge des inneren Krieges, das konnte man sich an den Fingern abzählen, mußte bald ein Krieg nach außen sein, zumal Frankreichs Kaiser dafür halten würde, im Interesse seines wenig gefestigten Thrones, die durch Bismarcks plötzlich offenbar gewordene Überlegenheit erlittene Schlappe rasch und gründlich gutzumachen. Die französischen Chauvinistenblätter brüllten jetzt schon über den Rhein: »Rache für Sadowa!« und es beruhigte sie keineswegs, daß man die preußischen Waffensiege über Österreich und seine Verbündeten als einfache Schulmeistersiege, sozusagen als Schulprämien für die entwickeltere norddeutsche Intelligenz, den Pariser Neidbolden annehmbarer zu machen versuchte. Die Lawine war im Rollen. Das einzige Hindernis, das ihr im Augenblick die elementare Bewegungsfreiheit nahm und ihre Gewalt lähmte, war die Rücksicht der Franzosen auf ihre große Weltausstellung, die für das nächste Jahr vorbereitet war. Diese Völkerkirmes war ein riesiges Geschäft, das man sich nicht durch voreiliges Kriegsgeschrei verderben wollte. Napoleon war also gezwungen, so lange den Friedfertigen zu spielen, bis seine kleinen Pariser die Kirmesgäste aus aller Welt ordentlich amüsiert und gerupft hatten.

Diese und ähnliche Gedankenreihen pflegte der König zu Papier zu bringen und öfter zu überlesen, um sich an die harten Tatsachen des wirklichen Weltlaufs zu gewöhnen. Gegen seine Umgebung wurde er noch einsilbiger. Es peinigte ihn die Furcht, durch die kriegerische Niederlage nicht bloß an politischer Macht, sondern auch an persönlichem Ansehen eingebüßt zu haben. Nach außen bemühte er sich doppelt, an der Friedfertigung des Südens mit dem Norden zu arbeiten und die erregten Gemüter seines Landes zu besänftigen.

Sofort nach dem Friedensschluß suchte er der neubegründeten Freundschaft mit Preußen einen symbolischen Ausdruck zu geben. Er bat den König Wilhelm in einem herzlichen Schreiben, sich als Mitbesitzer der ehrwürdigen Burg seiner Ahnen in Nürnberg zu betrachten und von ihrer Zinne neben dem Wittelsbacher auch das Banner der Hohenzollern wehen zu lassen. Zugleich sprach er den stolzen Gedanken aus, daß man in diesem Symbol erkennen möge, daß hinfort Preußen und Bayern gemeinsam und einträchtig über Deutschlands Zukunft wachen.

Die von dem Kriege heimgesuchten fränkischen Provinzen sollten ein besonderes Zeichen seiner königlichen Huld und Teilnahme erhalten. Trotz des beginnenden Winters hatte er ihnen einen langen persönlichen Besuch zugedacht, wobei keine größere Stadt übergangen werden sollte. Daß er seinem einsiedlerischen Sinn dieses Opfer abzwang, beweist, wie sehr ihm daran gelegen war, den Schatz von Volkstümlichkeit nicht vermindert zu sehen, den ihm seine Vorfahren vererbt hatten.

»Wir reisen!« rief er seinen Leuten zu.

Und er befahl, nichts zu versäumen, daß die Reise glanzvoll werde.

Die berufsmäßigen Nörgler fanden es natürlich durchaus stilwidrig, in dieser schweren Zeit mit Prunk und Pracht in den Provinzen herumzufahren, die eben erst die Bitternisse des Krieges gekostet. Diesmal fand der Kleinsinn der Griesgrämigen jedoch keinen Zugang zum Herzen des Königs. Auch die üble Rede, daß er um die Liebe der fränkischen »Mußbayern« buhle, die ebenso gern Preußen geworden wären, wenn Bismarck mit dem König Wilhelm beim Friedensschluß diese Provinzen nicht mehr herausgegeben hätte, drang glücklicherweise nicht bis zum Ohr des Königs. Seine Freude an der Reise wäre ihm arg verleidet worden. Alle bayerischen Könige hielten auf den fränkischen Volksstamm große Stücke. Im Blute des temperamentvollen Frankentums lebte eine weit ältere und sonnigere Kultur als bei den Altbayern. In der Politik hatten die Franken ja niemals eine große Meisterschaft bewiesen, solange sie noch Herren im eigenen Hause waren. Von Jahrhundert zu Jahrhundert wurden ihre alten Besitztümer zerstückelt und als Spieleinsätze auf dem Brett aller erdenklichen Herrscher hin und her geschoben. Die fränkischen Landesteile, die vor fünfzig Jahren an die bayerische Krone kamen, hatten damals politisch vollständig abgehaust. In dem neuen Königreiche fanden sie erst wieder den größeren Rahmen, ihre langen, lustigen Beine auf breiteren Grund zu stellen. Sie lernten ausschreiten und höhere Ziele ins Auge fassen. Der Zwang, sich mit den verschlossenen selbstbewußten und derben Altbayern zu vertragen, gab ihrem Humor neue Schwungkraft und brachte ihren anschlägigen Sinn auf allerlei Pfiffigkeit, um ihre alte ketzerische Kulturüberlegenheit zu beweisen. Die Altbayern wurden durch den fränkischen Zusatz handlicher, genießbarer, moderner. Das Ausblühen der heiteren Frankenstädte, allen voran Nürnbergs, in allen neuen Industrien und Handelschaften, stachelte die schwerblütigen Bajuwaren, sich zu einem rascheren Tempo zu entschließen und ihrem Unternehmungsgeiste beweglichere Sinne bereit zu stellen. Natürlich waren die rückständigen Elemente nicht faul, über Verletzung der Parität Zetermordio zu schreien, als sie merkten, wie sich die strebsamen Franken, und besonders die Protestanten unter ihnen, in allen Zweigen der Landesverwaltung und der höheren Staatsdienstes festsetzten und für verstärkten landsmannschaftlichen Zuzug sorgten. Als zünftige Partikularisten hatten die Altbayern heute noch ihre liebe Not, mit dem herrschenden Frankengeiste Schritt zu halten und ihm seine modernen Fixigkeiten abzulernen. Drum schimpften sie, wenn ihnen der Atem ausging. –

Überall, in Ober-, Mittel- und Unterfranken, fand der König den begeistertsten Empfang. In den Städten Bayreuth, Bamberg, Hof, Schweinfurt, Kissingen, Aschaffenburg, Würzburg und Nürnberg, wo es ein sorgfältig vorbereitetes und umfängliches Festprogramm durchzukosten galt, wurde der junge Monarch überschwenglich gefeiert, und die kleinsten Nester, die der königliche Zug im Fluge berührte, ließen sich's nicht nehmen, mit der singenden Schuljugend und der tutenden Dorfmusik die Straße zu besetzen und in Schnee und Eis, unter Böllergekrach und Fahnenschwenken den vorübersausenden König anzujubeln. Ganz närrisch war des Frankenvolkes schönere Hälfte, eine besonders aufregsame und lebensgierige Frauensorte von kraftvoll heißem Geblüt und romantischer Eigenwilligkeit. Die blendende Schönheit des jungen Königs mit der dunklen Augen- und Lockenpracht ließ sie erschauern vor Wonne. Der Liebreiz seiner Mienen berauschte sie. Auf den Festbällen hatte der König nicht genug Arme, all die verzückten Weiblichkeiten zu umfassen, nicht genug Beine, sie im Tanze zu schwingen. Stundenlang tanzte er Abend für Abend mit seinen fränkischen Landestöchtern und unterhielt sich mit Frauen von allen Altersgraden – es war ein Delirium. Einen Ballgast von solcher Huld und Aufopferungsfähigkeit hatten sich die Fränkinnen in ihren kühnsten Phantasien nicht geträumt.

In Nürnberg fühlte sich der König endlich doch ermüdet, und er ließ eiligst seinen Bruder, den Prinzen Wildfang, aus München kommen, daß er die Lust und Strapaze des fränkischen Jubellebens mit ihm teile. Willkommeneres konnte dem blonden Prinzen nicht befohlen werden. Mitten in der Lektion warf er das Buch fort und ließ seinen Professor verdutzt sitzen.

»Das ist unbeschreiblich lieb von dir!« rief er seinem königlichen Bruder zu und sprang ihm an den Hals, als sie allein waren. »Aber du hüstelst ja? Gelt, das ging über deine Kraft? Das kann ein einziger nicht machen. Ich will dir ordentlich helfen.«

Der König streichelte ihm die seidenweichen blonden Locken und sah ihm forschend in die Augen.

Der Prinz schmunzelte. »Ja, ich weiß, du bist mir wieder ganz gut. Vergeben und vergessen. Es war ja albern, dir so – griechisch zu kommen. Sehe ich aus wie ein Faun, wie ein Satyr, wie ein schlimmes Wald- und Wiesengöttchen? Nun also!«

Der König lächelte und sagte nichts. Er war wirklich ein wenig angegriffen. Trotzdem befand er sich in so aufgeräumter Laune, daß er nicht alte Ärgerlichkeiten ausgraben mochte. Und wie frisch und brav sah dieser Schelm von einem Bruder aus! Er drückte ihm fest und innig die Hand.

Nun teilte sich das Brüderpaar in die Bewunderung und Freude der Nürnberger. Aber der König und sein Bruder wollten nicht selbst bewundert sein, sie hatten ein noch kräftigeres Vergnügen daran, ebenfalls bewundern und die reichen Schönheiten der berühmten Stadt auf ihre noch niemals übersättigten Sinne wirken lassen zu können. Nürnberg – die Heimat der biederen Meistersinger! Wagners wundervolle Dichtung umschwebte den König wie ein holder Frühlingstraum mitten im Winter. Dem Hans-Sachs-Häuschen galten mehrere Besuche. Das altertümliche, bescheidene Bauwerk lag ganz in Schnee versteckt. Von der Burgterrasse herab, über die hohen Giebeldächer der Stadt hin rezitierte der König seinem Bruder die Wagnerschen Verse aus Hans Sachs' Wahnmonolog.

»Wie friedsam treuer Sitten,
Getrost in Tat und Werk,
Liegt nicht in Deutschlands Mitten
Mein liebes Nürenberg.«

Und dann in die Kirchen, ins germanische Museum, in einige Patrizierhäuser, ins Albrecht-Dürer-Haus, ins Bratwurstglöckle – vorüber an dem stattlichen Dürer-Denkmal, das des Königs Großvater dem genialen Meister errichten ließ – es war ja eine kaum zu bewältigende Fülle von Sehenswertem auf Schritt und Tritt. Das Schneewetter erleichterte es den hohen Gästen, wenig beachtet mitten im Flockenwirbel durch Gassen und Gäßchen streifen zu können, da einen Brunnen, dort einen Erker, hier ein Skulpturwerk in der Mauer mit kunstgeübtem Auge in sich aufzunehmen. Aber auch dem neuen Nürnberg, das den Ruhm der bayerischen Industrie, wie einst der alte »Nürnberger Tand«, in die weite Welt getragen, sollte sein Recht werden. Dem blonden Prinzen gewährte das Neue offenbar die größere Lust. Das Lebendige, unter seinen Augen Wachsende reizte ihn weit mächtiger als die mittelalterlichen Gegenstände. Der Aufenthalt wurde verlängert, damit man die wichtigsten Eisengießereien, Maschinenwerkstätten, Bleistift- und Lebkuchen- und Spielwarenfabriken, Gewerbehallen und Kunstgewerbeschulen in Ruhe beschauen konnte. Der blonde Prinz ließ sich lachend mit frischgebackenen Lebkuchen und Zuckerherzen, mit Puppen und Hampelmännern beschenken.

Erst auf der Heimfahrt fand der König Zeit, seinem Bruder aus den ersten Teilen der Frankenreise bedeutsame Eindrücke mitzuteilen. Bayreuth spielte darin eine große Rolle. Schon die überraschend malerische Lage der stillen Stadt am roten Main mit dem Hintergrund einer anmutigen Gebirgslandschaft! Dann die Schlösser und Gärten aus der Markgrafenzeit, wie verwunschene Schönheiten in die Gegenwart hereinträumend! Der verwittere Sonnentempel der Eremitage in einer unglaublichen Pracht von alten Waldbäumen! Alles so versteckt, in Ruhe gehütet wie ein Schatz!

In Schweinfurt erfuhr er, was er noch in keiner Literaturgeschichte gelesen: Schiller, der revolutionäre, flüchtig von Ort zu Ort irrende Dichter der Räuber, von den biederen Reichsstädtern eingeladen, sich um den erledigten Bürgermeisterposten bei ihnen zu bewerben! Das Schreiben kam, wegen Unsicherheit der Adresse, dem Dichter zu spät in die Hand, sonst wäre er, statt Professor in Jena und Hofrat in Weimar, wohlbestallter Bürgermeister von Schweinfurt geworden –

»Und hätte eine rotbackige Schweinfurterin zur Frau genommen!« fiel der Prinz ein.

»Das wohl auch,« sagte der König, »es war sogar Bedingung.«

»Na, zu gönnen wär's ihm gewesen. Diese schlanken, lustigen Frankenmädle scheinen mir ein ausgezeichneter Schlag. Und wie war es in Aschaffenburg, hast Du das Pompejanum unseres Großvaters besucht?«

»Dies und noch viel anderes. Das Schloß ist so schön wie das Heidelberger, und der Main nimmt's mit dem Neckar auf. Es fehlt uns nur noch ein fränkischer Scheffel, der das den Leuten in die Ohren singt, bis ihnen die Augen aufgehen.«

»Von Würzburg hast du mir noch nichts gesagt,« mahnte der Prinz den plötzlich zögernden König.

»Ja, davon. Würzburg, diese Perle, dieses schimmernde Juwel des Maingaus. Im Kranz der Rebenberge, wo die edelsten deutschen Trauben reifen. Welch ein Blick zu Berg und Tal, wenn man auf der Mainbrücke steht, mit ihren munteren Winden! Ich sehe noch alles vor mir und kann's nie vergessen. Aber davon reden! Dann darf ich auch nicht verschweigen, was ich von den Spuren des Krieges gesehen. Die Opfer, die dort und in Kissingen und bei Aschaffenburg für uns gefallen. Du, das ist furchtbar. Als wär's gestern geschehen. Ich hörte noch in meiner Seele die entsetzlichen Not- und Todesschreie der vielen Helden, die für immer ihre Augen schlossen, jung wie du und ich. Die Soldatengräber besuchte ich – ganze Leichenfelder. Es roch nach Pulver, Brand, Blut und tausendfältigem Elend in der Luft. In Würzburg zeigte man mir die Verwüstungen, die die feindlichen Kugeln angerichtet. Ein Glück, daß Schloß und Dom unversehrt geblieben und andere unersetzliche Bauwerke. Dort sah ich auch das Grabmal Walters von der Vogelweide. Hat er je solche Greuel erlebt: Deutsche gegen die nächsten Nachbarn in heller Mordwut? Ich ließ mir viele Brave vorstellen, die sich der Verwundeten angenommen. Fast überall, wo Gefechte stattgefunden, ließ ich mich hinführen und mir die Kämpfe erklären. Grauenhaft, du kannst mir's glauben. Deutsche gegen Deutsche! Warum? Weil man nicht mehr aus der Sackgasse heraus konnte. Das ist das ungeheuer Tragische dieses Krieges: keiner hatte dem andern je vorher ein Leid angetan, bis zum Anbruch des blutigen Ringens waren eigentlich alle Teile im Recht, alle wollte für Deutschland das Beste. Nur jeder in seiner Weise. Das sehen wir jetzt. Das haben mir die Eindrücke der Frankenreise bestätigt.«

Der König schwieg. Seine Stimme war immer leiser geworden, seine Augen schimmerten feucht.

Bescheiden äußerte der Prinz: »Das ist vielleicht das gute Ergebnis des Krieges, daß die Deutschen sich besser verstehen. Daß sie einander aufmerksam zusehen und sich zurufen, wenn einer einen verkehrten Schritt macht: Holla, aufgepaßt, da geht's in die Irre!«

»Ich sage dir,« fuhr der König fort, »wenn ich von einem solchen Gang auf die Schlachtfelder zurückkehrte und sah das Festgepränge, wurde mir ganz übel. Ich mußte mich zusammennehmen. Einmal konnte ich wirklich nicht mehr. Ich ließ die Festoper absagen. Aber so stark ist das Leben, so unbezwinglich: Von der Freude der Menschen ging es wie ein mitreißender Strom aus, ich mußte mich mit forttreiben lassen und ihre Lust teilen, obgleich ich lieber geflohen wäre in die tiefste Einsamkeit.«

Aus die Dauer fand der blonde Prinz dieses Thema zu grau und traurig. Ihn verlangte nach dem farbigen Leben zurück. Seine Erinnerungen liebten den vollen Pulsschlag des Genusses. Ohne Übergang, ganz Harmlosigkeit, fing er an: »Sag du, nicht wahr, diese fränkische Weiblichkeit!«

»Wieso? Schöne Gestalten, ja, und überaus liebenswürdig.«

»Und wie alles in ihnen spricht, nicht bloß der Mund, auch die Augen, die Hände, der ganze Leib –« der Prinz atmete tief.

»Ist das etwas so ganz Besonderes? Mir fiel's nicht auf.«

»Wirklich nicht? Das find' ich nun sonderbar –«

Der König: »Alles in allem, es war sehr anstrengend.«

»Alles in allem,« bemerkte der Prinz mit seinem klugen Lächeln, »es hat dir gut getan – und mir war's eine himmlische Abwechslung. Ich danke dir, unendlich dank' ich dir!« –

Nach der Ankunft in der Residenz, wo man die Heimkehrenden mit Ehrenpforten, Bürgermeistersprüchen und Vivats empfing, war's dem König, als hätte er einen merkwürdigen Traum geträumt, ja. als träume er ihn noch in den hellen Tag hinein. Ein großer Brief vom Meister-Freund, ein kurzes Billett von Egeria halfen ihm in den wachen Zustand zurück. Das Atmen im rosigen Licht fordert die Tat. Die Politik, die Kunst – alles ewige Ketten von Taten, nicht von Traumbildern. Ständig Geburt und Wiedergeburt, Auslese des Kraftvollsten: Anfang und Ende und Höhepunkt – die Tat!

Mit männlicher Hand griff der König zu. Der Abkömmling einer alten fränkischen Fürstenfamilie und bewährter Gegner alles partikularistischen Kleinkrams wurde zum Minister des Auswärtigen und des königlichen Hauses ernannt: Chlodwig von Hohenlohe-Schillingsfürst. Dieser Name war für die neue bayerische Politik mehr als ein verzierender Schnörkel, er war ein Programm. Auch sonst sorgte der König für wirksame Blutauffrischung in den hohen Amtskreisen. Da gab's manche Überraschung, daß den alten Auguren das Lächeln verging.

Die stärkste Überraschung bereitete der König sich selbst und dem Lande: ohne Vorrede proklamierte er plötzlich seine Verlobung mit der Herzogin Sophie von Bayern, Schwester der Kaiserin von Österreich und der entthronten Königin von Neapel.

Der König verlobt!

Das Bild des bräutlichen Paares flatterte in tausend und abertausend Photographien hinaus.

»Dem schönsten König die schönste Braut!« Festmärsche, Festgedichte, untertäniger Jubel, landauf, landab, Glückwünsche, Leitartikel. Im Hoftheater Festoper, in der Königsloge der hohe Bräutigam an der Seite seiner Braut.

Der Verlobung sollte bald die Vermählung folgen. Alles in dem Tempo, das der König liebte. Die Geschäftsleute flogen, daß ihnen keine Bestellung entginge. Im Handumdrehen erklärten sie jeden Auftrag auszuführen. Der Hochzeitswagen, ein Wunder in Gold, war nach einem berühmten Meisterentwurfe in Arbeit. Er durfte eine bare Million Gulden kosten. Hundert der geschicktesten Näherinnen und Stickerinnen opferten ihre Augen der Herstellung der Brautausstattung.

So vergingen Wochen. So vergingen Monate.

Der König konnte sich nicht rühmen, daß er seiner Eigenschaft als Bräutigam eine außerordentliche Pflege widme. An seiner gewohnten amtlichen und privaten Beschäftigung ließ er sich nicht das geringste abzwacken. Ja, zuzeiten nahmen ihn seine Baupläne für Neuschwanstein und für das gleichzeitig in seiner Phantasie keimende Buen-Retiro Linderhof so von der Oberfläche alles Lebens und Verkehrs weg, daß er in seine Studien versank wie ein Einsiedler in mystische Betrachtungen. Nur daß die Arbeiten des Königs gar nichts Mystisches und Beschauliches mehr hatten. Sie waren bereits zu festen Entwürfen und Berechnungen gediehen. In Neuschwanstein war schon der Bauplatz umhegt.

Mit einem Male stieg er wie aus der Versenkung in einer Feerie empor.

Er überhäufte seine Braut mit Geschenken. Er besuchte sie am See, er besuchte sie in der Stadt. Sie spielte, sang, tanzte vor ihm. Sie kleidete sich in seine Lieblingsfarben. Sie entzückte ihn in der Tracht der großen Damen aus der Zeit des französischen Sonnenkönigs, sie entzückte ihn in der Tracht einer feschen Gebirglerin. Er führte sie auf die Roseninsel, er zeigte ihr sein Waldsanktuarium mit den Lilien von Ammerland. Er sprach ihr begeistert von allem Hohen, das je durch seine Sinne gegangen, seine Seele erfüllte. Er enthüllte ihr den heiligen Schrein, der die Pläne einer idealen Zukunftskultur barg. Nur von einem sprach er ihr nicht: von der Hochzeit, nur eins enthüllte er ihr nicht: die Bestimmung des festlichen Tages, der ihr als seligster Frau die Königskrone über dem Myrtenkranze erschimmern lassen sollte.

Die bräutliche Herzogin wurde vor ihm immer stiller und verzagter. Und wenn er die feurigsten Verse Romeos wie ein Meister-Rezitator ihr vordeklamierte, sie vermochte sich nicht in die Rolle der Julia zu finden, und das Wort, das er erwartete in poetischer Berauschung, erstarb ihr auf der Zunge. Schwärmte er aber von Parsifal, konnte sie kaum das Lachen verbeißen.

Die Verwandten der Braut blickten sich fragend an, aber sie sprachen laut weder Wünsche noch Sorgen aus, sie harrten in Ehrfurcht der Entschlüsse des impulsiven Königs. Im Wesen und Benehmen des Königs schien sich eigentlich nichts verändert zu haben, nur seine Besuche bei der Braut wurden seltener. Sein königliches Amt, seine stets sich häufenden Studien und Pläne, die Politik, die Kunst – es ließ sich ja erklären, es genügte ein Blick zu den Höhen, auf denen sein Geist wandelte.

Plötzlich reiste er mit seinem Bruder Otto nach Eisenach, um die Wartburg zu besichtigen. Er wollte sich über die Wirkung gewisser architektonischer Motive durch den Augenschein unterrichten.

Der Sängersaal des Thüringer Landgrafen sollte in dem Königsschloß in den Alpen eine Nachbildung erfahren, wie sie ein Poet der Baukunst in seinen Träumen nicht lieblicher und anheimelnder schauen konnte. Freilich, Sängerfeste und musische Wettkämpfe wie zur Landgrafenzeit wird es auf Neuschwanstein zunächst nicht geben. Dazu war die Gegenwart zu wenig poetisch und ritterlich und der König ihrem Menschentum mit dem konfusen und rohen Treiben zu abhold. Zumal wenn er Gegenwart und Volk an seinem höchsten Ideale maß. Aber es genügte vorerst, daß der Bau entstand und der Phantasie des Bauherrn eine schöne, reiche Weide bot.

Er kehrte zurück und erzählte seiner Braut Wunderdinge von den Eindrücken, die er auf diesem eiligen Ausflug empfangen. Dann verabschiedete er sich herzlich von ihr und rüstete sich zu einer ebenso eiligen Reise nach Paris zur Weltausstellung.

»Wen nimmst du dahin mit? Auch Otto?« fragte sie leise.

Unbefangen erwiderte er: »Nein, ich reise allein, inkognito als Graf von Berg, mit kleinem Gefolge, ein paar Menschen für das Nötigste. Es ist eine Studienfahrt. Ich werde dir schreiben.«

Und er schrieb ihr aus Paris eingehende Schilderungen von den Tuilerien, von seinem Verkehr mit dem Kaiser Napoleon (die Kaiserin Eugenie war abwesend), den er wenig nach seinem Geschmacke fand, bei weitem nicht heranreichend an die strahlenden historischen Größen aus der goldenen Epoche des französischen Königtums. Er debattierte kulturgeschichtliche Fragen. Wie die deutsche Entwicklung im siebzehnten Jahrhundert ihre schönste und aussichtsreichste Spitze im blutigen Religionskriege abgebrochen habe, der Deutschland ökonomisch und kulturell verarmen ließ, während Frankreich hochstieg durch seine unvergleichlichen Könige, Staatsmänner und Künstler. Die Schönheit habe den Weg aus dem verwüsteten Deutschland nach dem blühenden Frankreich genommen, so daß Frankreich zugleich die Fortsetzung von Deutschland geworden.

Die Herzogin-Braut antwortete dankend, daß sie mit dergleichen fragwürdigen Dingen sich zu beschäftigen noch wenig Anlaß gehabt habe, also nicht mitreden könne, daß es aber ihrem Boxl recht gut gehe.

Der König schrieb ihr weiter von den Schlössern Compiègne und Pierrefonds und deren entzückenden Ritterromantik, von einer kaiserlichen Festtafel, an der er mit dem König von Portugal, dem Fürsten Anton von Hohenzollern-Sigmaringen und dessen Sohn, dem Erbprinzen Leopold, teilgenommen. Die Stimmung sei dabei sehr eigentümlich gewesen. Napoleon habe eine seltsame Weise, unter seinen geschwollenen Augenlidern hervor die Gäste prüfend anzuzwinkern. Von Politik sei natürlich nicht gesprochen worden, aber viel von Literatur und von der Weltausstellung und ihren Prachtstücken. Einige bescheidene Proben davon würde er mitbringen. Ein nächster Brief würde bald folgen.

Von der Herzogin-Braut empfing er umgehend ein kurzes, förmliches Dankbillett, dem die Abschrift eines Gedichtes beigelegt war mit der Überschrift: »Sonett auf ein Gemälde in Pompeji, Venus und Adonis, in Beziehung auf Ludwig II. und seine Braut Sophie, Herzogin von Bayern.« Das Gedicht war verfaßt von dem Großvater des Bräutigams, König Ludwig I., während einer Eisenbahnfahrt von Neapel nach Rom. Das Gedicht, als Gratulation gedacht, endete mit den wehmütigen Versen:

»Nie werde durch die Welt Dein Glück verdorben,
Nie heiße es: die Liebe ist gestorben!«

Der königliche Bräutigam fand nicht mehr Zeit, aus Paris auf diese Sendung zu antworten. Eine Todesnachricht rief den König plötzlich heim: sein Oheim Otto, der ehemalige König von Griechenland, war gestorben. Auf seiner Frankenreise hatte er ihn zum letztenmal in Bamberg gesehen. Das Ereignis kam dem Reisenden unerwünscht. Er liebte nicht Trauerflöre im Hochsommer. Es schmerzte ihn tief, das heitere Paris mit seinen sprudelnden Lebensquellen verlassen zu müssen, um an eine Bahre zu eilen. Der thronlose Griechenkönig war lange leidend gewesen und blickte trübe in ein zukunftsloses Dasein – ihm war der Tod Erlösung. Der jäh zerronnene Traum seines hellenischen Königtums hatte seine Lebensenergie gebrochen. Der gute, gefällige Mensch und gehorsame Sohn war ein Opfer des Philhellenismus seines Vaters geworden.

»Und der zähe alte Herr hat ihn überlebt und schwärmt heute noch wie in seiner Jugend für alles Hellenische, für Venus und Adonis, und läßt sich von verblichenen pompejanischen Wandgemälden mittelmäßiger Pinseler zu einem rührseligen Hochzeitscarmen anregen,« dachte der König. Er wollte sich's nicht gestehen, aber es wurmte ihn doch, daß seine Braut ihm gerade jetzt mit diesem antikisierenden Sonett gekommen. Er empfand es wie Mahnung und Vorwurf. Und er wollte nicht gemahnt sein und sich nichts vorgeworfen sehen, am wenigsten von einem jungfräulich-bräutlichen Wesen, das er sich als lilienkeusche Zartheit und goldigste Rücksicht poetisiert hatte. Je länger er sich den Fall besah, desto kritischer schaute sein Auge. Es kam ihm die sonderbare Frage: »Bei wem habe ich um ihre Hand geworben? Bei ihr selbst? Nein! Die Herzogin-Mutter hat die Sache eingefädelt, durch ihre Vermittlung kam die Brautschaft zustande. Also stehen zwischen meiner Braut und mir dritte, deren Einmischung ich auch für die Zukunft zu gewärtigen hätte?« Eine drückende Sorge stieg in ihm auf: »Nie werde ich vor diesen dritten Ruhe haben! Nie werde ich mich ihrer Überwachung entziehen können! In allem werde ich ihre Hand spüren, und ihr Blick wird mich überallhin verfolgen!« Alle Schrecken, seine Selbstherrlichkeit bis in die intimsten künstlerischen Lebensinteressen hinein angetastet und geschmälert zu sehen, überfielen ihn aufs neue. Zwang, Zwang, überall Zwang, wohin er sah. Auf Zwang reimte sich auch seines Meister-Freundes Wahnmonolog:

»Wahn, Wahn!
Überall Wahn!
Wohin ich forschend blick'
In Stadt- und Weltchronik,
Den Grund mir aufzufinden,
Warum gar bis aufs Blut
Die Leut' sich quälen und schinden
In unnütz toller Wut!«

Wahn und Zwang! Und die Majestät und ihr hehres Recht? – Mit diesem Fragezeichen brach er zunächst diese Betrachtung ab. In der Tiefe des Unbewußten spann sich das Thema weiter.

In München angekommen, ordnete er einen Vertreter zu den Leichenfeierlichkeiten seines königlichen Oheims ab und eilte wieder von dannen – nach Landshut, auf die alte Burg Trausnitz. Der Gegensatz zu dem Weltstadtlärm von Paris tat ihm wohl. Er beschloß, die arg verfallene Burg wieder instandsetzen und für sich eine Flucht von Zimmern wohnlich ausstatten zu lassen. Eine Legende erzählt, Tannhäuser sei nach dem unglückseligen Sängerkampf auf der Wartburg auf dem Wege nach Rom in der Burg Trausnitz eingekehrt und habe im Büßergewand bei Otto dem Erlauchten gastliche Aufnahme gefunden. Tannhäuser! Nach den Wonnen und Schrecken des Venusberges hier leibhaftig auf dieser Burg! Dem König war's in der Nacht, als sähe er das Gespenst des sündigen Pilgers vor sich mit traurig warnender Miene – –

Er versuchte, die Minnesängertrübsal mit Meistersingerfröhlichkeit fortzuspotten:

»Ein Glühwurm fand sein Weibchen nicht:
Das hat den Schaden angericht't!«

Aber es half ihm wenig, er kam aus allerlei wehleidigen Gedankenwirrnissen nicht heraus. Er rief den Priester und ließ sich eine heilige Messe in der Burgkapelle lesen. Der fromme Raum erschien ihm arm und kalt. Er gab sofort Auftrag, ihn mit einem schönen farbigen Schnitzwerk zu verzieren: die glückselige Gottesmutter mit dem Kinde in Lebensgröße . Und er, der König selbst, wollte auf dem Holzbilde in ganzer Figur angebracht sein, in fürstlichem Ornate. barhäuptig, kniend, die Segenshand des Erlösers schützend über seinem Haupte!

Mit diesem Stiftungswerke nahm er von der Burg Abschied und eilte nach München zurück.

Er hatte eine lange Unterredung mit dem Vorstande seines geheimen Kabinetts. Der war noch nicht lange im Amte. Ein feiner, anschlägiger Kopf, ein hervorragend geschulter Jurist, ein Mann von besten Manieren. Auch ein Franke. Eines Schullehrers Sohn aus einem unterfränkischen Städtchen. Nach der Unterredung fand der dankbare König, daß sein gewandter Kabinettschef reif sei zum Minister. Er gab dem Ministerpräsidenten einen Wink, daß der Berufung seines Kabinettschefs an die Spitze des Justizministeriums nichts im Wege stehe. Doktor Johannes Lutz war zu großen Aufgaben ausersehen. –

Der König erschien im Theater. Niemand an seiner Seite. Wo war die Braut? Was war geschehen? Woher die überraschende Trennung? Die Sentimentalen vergossen Tränen, die Klatschsüchtigen munkelten, die Geschäftspatrioten waren bestürzt – keine Hochzeit? Die Politiker streckten ihre Fühler bis in die nächste Umgebung des schweigsamen Königs: »Wird eine andere –?« Achselzucken: »Es scheint, daß Majestät geruhen, vorerst unvermählt zu bleiben – Gewisses weiß man nicht.« Also wußten auch die Lakaien das erlösende Wort nicht. Man stieg eine Stufe tiefer, zu den Allwissenden alles geheimen Skandals.

Der Übertritt der Königin-Mutter vom evangelischen zum römisch-katholischen Bekenntnis war erst in dieser Zeit allgemein bekannt geworden. Der Protestantismus im Lande war verschnupft über diesen Religionswechsel in der königlichen Familie. Als der König eine Katholikin zur Braut erwählte, waren die protestantischen Kreise geneigt, darin einen am Königshofe bedenklich wachsenden Einfluß des Klerikalismus zu sehen: für sie war die Entlobung eine Art konfessioneller Revanche. Sicheres wußten auch sie nicht.

Der Vater der Braut, Herzog Maximilian, ein gemütlicher, aber forscher Herr, des unheimlichen Zauderspiels müde, drängte endlich zur Entscheidung. Er mahnte den König, entweder Ernst zu machen oder sein Wort zurückzugeben. Der König empfand die Einmischung als einen Eingriff in seine persönliche Willenssphäre und gab dem Mahner sofort das Wort zurück. Das Verlöbnis war gelöst.

Nun wußte es die Welt. Von den Lakaien durfte sie noch dies erfahren: Am gleichen Tage flog eine Büste durch das Fenster des Königs in den Hof. Es war eine weibliche Büste, sie zeigte die Züge der Herzogin Sophie. Die Büste flog, geworfen von des Königs eigener Hand –

So machte er in titanischem Zorn reinen Tisch in titanischer Kraft. Er schämte sich dieser wütenden Wallung nicht. Seine eingeborene Sondernatur zu retten und unter allen Umständen zum Ausdruck zu bringen, entsprach durchaus dem hohen Begriff, den er von der persönlichen Würde und von der ererbten Majestät hatte. Dieser Hinauswurf war ihm kein disharmonischer Exzeß, er war ihm ein harmonischer Abschluß. Ganz in der Tonart seines innersten Wesens.

Was die Welt zu all dem sagen würde? Was ging ihn die Welt an, wo es sich um sein Höchstes, sein reines Selbst handelte! In Treue fest, heißt das nicht zuerst und zuletzt sich selbst die Treue halten?

Nach langer Zeit erquickte ihn wieder tiefer, gesunder Schlaf. Er füllte sich von keinem Gewissensbiß gepeinigt.


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