Joseph Conrad
Gaspar Ruiz
Joseph Conrad

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XII

»Doch Gaspar Ruiz atmete noch. Ich ließ ihn in seinem Poncho in den Schutz einiger Büsche tragen, auf ebenden Felsen, von dem aus er so starr auf das Fort geblickt hatte, während ungesehen der Tod bereits sein Haupt umwehte.

Unsere Truppen hatten rings um das Fort biwakiert. Ich war nicht überrascht, als ich gegen Tagesanbruch erfuhr, daß ich zum Kommandanten einer Eskorte ausersehen sei, die einen Gefangenen sofort nach Santiago hinunterbringen sollte. Natürlich war dieser Gefangene Gaspar Ruiz' Weib.

›Ich habe Sie gewählt mit Rücksicht auf ihre Gefühle‹, bemerkte General Robles, ›obwohl man ja eigentlich die Frau für alles, was sie der Republik angetan hat, erschießen sollte.‹

Und als ich eine Bewegung entrüsteten Widerspruchs machte, fuhr er fort:

›Nun, da er so gut wie tot ist, hat sie keine Bedeutung mehr, niemand wird wissen, was mit ihr anfangen. Immerhin, die Regierung will sie haben.‹ Er zuckte die Schultern. ›Ich denke, er muß große Mengen seiner Beute an Plätzen verborgen haben, die nur sie allein kennt.‹

Im Morgengrauen sah ich sie den Felsen heraufkommen, von zwei Soldaten bewacht, ihr Kind auf dem Arm.

Ich schritt ihr entgegen.

›Lebt er noch?‹ fragte sie und wandte mir das weiße, teilnahmslose Gesicht zu, zu dem er mit solcher Anbetung aufzublicken pflegte.

Ich beugte den Kopf und führte sie wortlos um eine Buschgruppe herum. Seine Augen waren offen. Er atmete schwer und sprach mit großer Anstrengung ihren Namen aus.

›Erminia!‹

Sie kniete ihm zu Häupten nieder. Das kleine Mädchen, unbekümmert um ihn, sah mit großen Augen umher und begann plötzlich mit froher, heller Stimme zu plappern. Sie wies mit den Fingerchen auf die rosigen Gluten des Sonnenaufgangs hinter den schwarzen Formen der Grate. Und während dieses Kinderlallen, unverständlich und lieblich, fortwährte, blieben die beiden, der sterbende Mann und die kniende Frau, in Schweigen versunken, sahen einander in die Augen und lauschten dem zarten Klang. Dann verstummte das Plaudern. Das Kind legte den Kopf an die Brust der Mutter und war still.

›Es war für dich‹, begann er. ›Vergib.‹ Die Stimme brach ihm. Dann hörte ich ein Flüstern und erhaschte die Worte: ›Nicht stark genug.‹ Sie sah ihn tief eindringlich an. Er versuchte zu lächeln und wiederholte unterwürfig: ›Vergib. Ich verlasse dich . . .

Sie beugte sich nieder, tränenlos, und sagte mit fester Stimme: ›Auf der ganzen Welt habe ich nichts geliebt als dich, Gaspar!‹

Sein Kopf bewegte sich, seine Augen lebten auf. ›Endlich!‹ seufzte er. Dann ängstlich: ›Doch ist das wahr . . ., ist das wahr?‹

›So wahr, wie es keine Gnade und Gerechtigkeit in dieser Welt gibt‹, antwortete sie leidenschaftlich. Sie beugte sich über sein Gesicht. Er versuchte den Kopf zu heben, doch er sank zurück, und als sie seine Lippen küßte, war er schon tot. Seine gebrochenen Augen starrten zum Himmel auf, an dem, ganz hoch, rosige Wolken hintrieben. Und ich sah, wie die Augenlider des Kindes, das an der Mutter Brust geschmiegt war, sich langsam senkten und schlossen. Es war eingeschlafen.

Die Witwe von Gaspar Ruiz, dem starken Mann, erlaubte mir sie fortzuführen, ohne eine Träne zu vergießen.

Für die Reise hatten wir für sie einen Reitsattel hergerichtet, fast wie ein Sessel, mit einem Trittbrett für die Füße. Den ersten Tag über ritt sie, ohne ein Wort zu sprechen; kaum, daß sie einen Moment lang die Augen von dem kleinen Mädchen abwandte, das sie auf den Knien hielt. An unserem ersten Lagerplatz sah ich sie während der Nacht umherwandern; sie wiegte das Kind in den Armen und blickte im Mondlicht darauf hinab. Nach dem Aufbruch zu unserem zweiten Tagmarsch fragte sie mich, wann wir zum ersten Dorf des bewohnten Landes kommen würden.

Ich sagte ihr, daß wir um Mittag dort sein würden.

›Und werden Frauen dort sein?‹ erkundigte sie sich.

Ich sagte ihr, daß es ein großes Dorf sei. ›Es werden Männer und Frauen dort sein, Señora‹, sagte ich, ›deren Herzen froh werden sollen bei der Nachricht, daß es nun vorbei ist mit Unruhe und Krieg.‹

›Ja, es ist jetzt alles vorbei‹, wiederholte sie. Dann nach einer Pause: ›Señor Offizier, was wird Eure Regierung mit mir tun?‹

›Ich weiß es nicht, Señora‹, gab ich zurück. ›Man wird Euch zweifellos gut behandeln. Wir Republikaner sind keine Wilden und rächen uns nicht an Frauen.‹

Bei dem Wort ›Republikaner‹ warf sie mir einen Blick zu, der mir voll unauslöschlichen Hasses schien. Doch als wir etwa eine Stunde später anhielten, um die Gepäcktiere auf einem engen Weg vorauszulassen, der sich längs eines Felssturzes hinzog, da wandte sie mir ein so weißes, verstörtes Gesicht zu, daß ich starkes Mitleid mit ihr fühlte.

›Señor Offizier‹, sagte sie. ›Ich bin schwach, ich zittere. Es ist eine sinnlose Furcht.‹ Und in der Tat, ihre Lippen zitterten, während sie zu lächeln versuchte und auf den Beginn der engen Wegstelle blickte, die schließlich nicht so gefährlich war. ›Ich habe Angst, daß ich das Kind fallen lasse. Gaspar hat Euch das Leben gerettet, denkt daran . . . Nehmt es mir ab.‹

Ich nahm das Kind aus ihren ausgestreckten Armen. ›Schließt die Augen, Señora, und vertraut Eurem Maultier‹, empfahl ich ihr.

Das tat sie – und ihre Blässe und das verwüstete, magere Gesicht gaben ihr das Aussehen einer Toten. Bei der Wegbiegung, wo ein Felsvorsprung aus dunkelrotem Porphyr den Ausblick auf das Tiefland hemmt, sah ich sie die Augen öffnen. Ich ritt knapp hinter ihr und hielt im rechten Arm das kleine Mädchen. ›Dem Kind geht es gut‹, rief ich ermutigend.

›Ja‹, antwortete sie schwach; und dann sah ich, zu meinem namenlosen Entsetzen, wie sie sich auf das Trittbrett stellte, mit grauenhaft stierem Blick, und sich vorwärts in den Abgrund zu unserer Rechten stürzte.

Ich kann Ihnen die plötzliche, kriechende Angst nicht beschreiben, die mich bei diesem furchtbaren Anblick befiel. Es war Angst vor dem Abgrund, vor den Klippen, die nach mir zu greifen schienen. Der Kopf schwindelte mir. Ich preßte das Kind an mich und verhielt mein Pferd. Ich war sprachlos und fror am ganzen Leibe. Ihr Maultier strauchelte, drückte sich seitwärts an den Felsen und ging dann weiter. Mein Pferd richtete nur mit kurzem Schnauben die Ohren auf. Mein Herz stand still, und das Tosen der Steine aus den Tiefen des Abgrunds, im Bett des Wildbachs, machte mich fast verrückt.

Im nächsten Augenblick waren wir um den Vorsprung herum, auf einem breiten, grasigen Hang. Und dann schrie ich. Meine Leute kamen in höchster Aufregung zu mir zurückgerannt. Es scheint, daß ich zunächst nur brüllte: ›Sie hat das Kind in meine Hände gegeben! Sie hat das Kind in meine Hände gegeben!‹ Die Eskorte dachte, ich sei irrsinnig geworden.«

General Santierra brach ab und stand vom Tisch auf. »Und das ist alles, Señores«, schloß er mit einem höflichen Blick auf die Gäste, die sich erhoben.

»Doch was ist aus dem Kind geworden, General?« fragten wir.

»Ah, das Kind, das Kind.«

Er schritt zu einem der Fenster, die nach seinem herrlichen Garten gingen, der Zuflucht seiner alten Tage.

Der Garten war berühmt im Land. Er hielt uns mit ausgestrecktem Arm zurück, rief hinaus »Erminia! Erminia!« und wartete. Dann sank sein abwehrender Arm nieder, und wir drängten uns ans Fenster.

Unter einer Baumgruppe hervor war eine Frau auf den breiten, mit Blumen eingefaßten Weg getreten. Wir konnten das Rauschen ihrer gestärkten Röcke hören und sahen die altmodisch gebauschte schwarzseidene Schürze. Sie blickte auf, und als sie all die vielen Augen auf sich gerichtet fühlte, hielt sie an, runzelte die Stirn, lächelte und drohte dem General, der sich vor Lachen schüttelte, mit dem Finger; dann zog sie das schwarze Spitzentuch über den Kopf, um wenigstens teilweise ihr hoheitsvolles Profil zu verdecken, und entschwand mit steifer Würde unseren Blicken.

»Nun haben Sie den Schutzengel des alten Mannes gesehen – sie, der alles zu verdanken ist, was mein Heim hübsch und bequem macht. Ich habe nie geheiratet, Señores. Ich weiß nicht wieso, denn die Flamme der Liebe wurde frühzeitig in meiner Brust entzündet. Und vielleicht sind deswegen die Funken des heiligen Feuers hier noch nicht erstorben.« Er schlug sich auf die breite Brust. »Noch lebendig, noch lebendig«, sagte er mit komisch ernstem Pathos. »Doch nun werde ich nicht mehr heiraten. Sie ist General Santierras Adoptivtochter und Erbin.«

Einer der andern Gäste, ein junger Seeoffizier, beschrieb sie später als eine ›kurze, gedrungene, alte Jungfer um die Vierzig‹. Wir alle hatten bemerkt, daß ihr Haar ergraut war und daß sie wunderschöne schwarze Augen hatte.

»Und«, fuhr General Santierra fort, »auch sie wollte nie davon hören, jemand zu heiraten. Ein rechtes Unglück! Gut, geduldig, mir altem Mann ergeben. Eine einfache Seele. Doch ich wollte keinem von Ihnen raten, um ihre Hand zu bitten, denn wenn sie sie in die ihre nähme, so wäre es nur, um Ihnen die Knochen zu zerdrücken. Ah! Darin versteht sie keinen Spaß. Und sie ist die rechte Tochter ihres Vaters, des starken Mannes, der an seiner eigenen Stärke zugrunde ging: an der Stärke seines Leibes, seiner Einfalt – seiner Liebe!«

 


 


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