Joseph Conrad
Gaspar Ruiz
Joseph Conrad

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IX

Mit mechanisch sorgsamen Bewegungen und zerstreutem Ausdruck zündete sich General Santierra eine dicke und lange Zigarre an.

»Es vergingen mehrere Stunden, bevor wir eine Patrouille zu der Schlucht zurücksenden konnten«, sagte er zu seinen Gästen. »Wir hatten ein Drittel der Stadt eingestürzt gefunden, das übrige durchschüttert und die Einwohner, reiche und arme, waren durch das allgemeine Unglück gleicherweise in Aufregung geraten. Der gemachten Zuversicht der einen widersprach die Verzweiflung anderer. In der allgemeinen Verwirrung tauchten ein paar kühne Diebe auf, ohne Furcht vor Gott und den Menschen, und wurden denen gefährlich, die aus dem Einsturz ihrer Häuser ein paar Wertsachen gerettet hatten. Bei jedem Erdstoß schrien diese Schufte ›Misericordia‹, lauter als die andern, schlugen sich mit der einen Hand auf die Brust, beraubten mit der andern irgendwelche Unglücklichen und scheuten selbst vor Mord nicht zurück.

Die Division des Generals Robles hatte vollauf damit zu tun, die zerstörten Stadtviertel vor den Räubereien dieser Unmenschen zu schützen. Mich nahm meine Pflicht als Ordonnanzoffizier in Anspruch, und so konnte ich mich erst um die Morgenstunde davon überzeugen, daß meine eigene Familie in Sicherheit war. Meine Mutter und meine Schwester hatten aus dem Ballsaal, wo ich sie früh am Abend verlassen hatte, das nackte Leben gerettet. Ich sehe noch diese beiden prachtvollen jungen Frauen vor mir – Gott laß sie in Frieden ruhen –, als wäre es heute gewesen, wie sie, bleich, aber tätig, im Garten unseres zerstörten Hauses einigen unserer armen Nachbarn beistanden, in ihren zerfetzten Ballkleidern und den Staub eingestürzter Wände im Haar. Meine Mutter hatte die Seele einer Stoikerin in ihrem zarten Körper. Halb bedeckt mit einem kostbaren Schal, lag sie auf einer Gartenbank zur Seite eines Zierbrunnens, dessen Fontäne in dieser Nacht für immer zu spielen aufgehört hatte.

Ich hatte kaum Zeit gefunden, sie alle in blinder Freude zu umarmen, als schon mein Chef daherkam und mich mit ein paar Soldaten zur Schlucht hinausschickte, um meinen starken Mann, wie er ihn nannte, und das bleiche Mädel einzubringen.

Doch es war niemand da, den wir hätten einbringen können. Ein Erdrutsch hatte die Ruinen des Hauses verschüttet; das Ganze glich einem großen Erdhügel; nur da und dort sahen ein paar Balkenenden heraus – sonst nichts.

So war dem Leid des alten Royalistenpaares ein Ende gemacht. Ein ungeheueres und ungeweihtes Grab hatte sie lebend verschlungen samt ihrem hartnäckigen Widerstand gegen den Willen eines Volkes, das frei sein wollte. Und ihre Tochter war fort.

Daß Gaspar Ruiz sie fortgeführt hatte, verstand ich sehr wohl. Da der Fall aber nicht vorgesehen war, so hatte ich keinen Befehl, sie zu verfolgen; und außerdem hatte ich auch keine Lust dazu. Ich hatte das Zutrauen zu meinen Einmischungen verloren. Sie waren nie von Erfolg begleitet gewesen und hatten oft sogar den Schein gegen sich gehabt. Er war fort. Gut. Laß ihn gehen. Und hatte das Royalistenmädel mitgenommen. Nichts besser als das. Vaya con Dios. Es war nicht der Augenblick, sich wegen eines Deserteurs aufzuregen, der mit oder ohne Recht hätte tot sein sollen, und wegen des Mädchens, für das es besser gewesen, wenn es nie geboren worden wäre.

So marschierte ich mit meinen Leuten zur Stadt zurück.

Nach einigen Tagen war die Ordnung wiederhergestellt, und die ersten Familien, einschließlich meiner eigenen, reisten nach Santiago. Dort hatten wir ein schönes Haus. Zur gleichen Zeit bezog die Division Robles neue Kantonnements in der Nähe der Hauptstadt. Dieser Wechsel paßte mir ausgezeichnet wegen meiner häuslichen und verliebten Gefühle.

Eines Nachts wurde ich ziemlich spät zu meinem Chef gerufen. Ich fand General Robles in seinem Quartier, ganz bequem, ohne Uniform; er trank reinen Brandy aus einem großen Glas – als Vorsichtsmaßregel, wie er sagte, gegen die Schlaflosigkeit, die ihm die Moskitostiche verursachten. Er war ein guter Soldat und lehrte mich die Kunst und Praxis des Krieges. Gott war sicher seiner Seele gnädig; denn seine Beweggründe waren nie anders als patriotisch, wenn er auch jähzornig war. Den Gebrauch von Moskitonetzen hielt er für weibisch, schandbar, eines Soldaten unwürdig.

Ich bemerkte auf den ersten Blick, daß sein schon sehr rotes Gesicht den Ausdruck bester Laune zeigte.

›Ah ha! Señor tenienta‹, schrie er laut, als ich an der Tür salutierte. ›Passen Sie auf! Ihr starker Mann ist wieder aufgetaucht!‹

Er reichte mir einen zusammengefalteten Brief, der an den ›Oberbefehlshaber der republikanischen Armeen‹ adressiert war.

›Das‹, fuhr General Robles mit seiner lauten Stimme fort, ›wurde von einem Buben einem Posten beim Hauptquartier in die Hand gedrückt, während der Kerl dastand und wohl an sein Mädel dachte, – denn bevor er noch seine fünf Sinne beisammen hatte, war der Junge unter den Marktleuten verschwunden, und er schwört, daß er ihn nicht wiedererkennen könnte, und wenn's seinen Kopf gälte.‹

Mein Chef sagte mir weiter, daß der Soldat den Brief dem Sergeanten gegeben und daß er endlich den Weg zu unserem Generalissimus gefunden hatte. Seine Exzellenz hatten geruht, mit eigenen Augen davon Kenntnis zu nehmen. Hierauf hatte er die Angelegenheit General Robles anvertraut.

An den Brief, Señores, kann ich mich jetzt nicht mehr wörtlich erinnern. Ich sah die Unterschrift: Gaspar Ruiz. Er war ein kühner Bursche. Er hatte sich aus einem Weltaufruhr heraus eine Seele gerettet, und nun war es diese Seele, die ihm diesen Brief eingab. Der Ton war ziemlich selbstbewußt. Ich erinnere mich, daß er mir damals den Eindruck von Adel und Würde machte. Es war ganz zweifellos ihr Brief. Heute schaudere ich bei dem Gedanken an die abgrundtiefe Zweideutigkeit. Gaspar Ruiz beklagte sich über die Ungerechtigkeit, deren Opfer er gewesen war. Er erinnerte an seine früher bewährte Treue und an seinen Mut. Nachdem er durch das wunderbare Eingreifen der Vorsehung vom Tode errettet worden sei, bleibe ihm nur der Gedanke, seine Ehre reinzuwaschen. Das, schrieb er, könne er nicht hoffen, in der Truppe zu erreichen, als Verrufener, an dem noch immer ein Verdacht hafte. Er habe die Möglichkeit, einen offensichtlichen Beweis seiner Treue zu erbringen. Und er schloß mit dem Vorschlag, der Oberbefehlshaber möge ihm um Mitternacht auf der Plaza vor der Münze eine Zusammenkunft bewilligen. Das Zeichen sollte ein dreimaliges Feuerschlagen mit Stahl und Stein sein. Das war nicht zu auffallend und doch deutlich genug zum Erkennen.

San Martin, der große Befreier, liebte Männer von Kühnheit und Mut. Außerdem war er gerecht und mitleidig. Ich sagte ihm alles, was ich von des Mannes Geschichte wußte, und erhielt den Befehl, ihn in der bestimmten Nacht zu begleiten. Die Zeichen wurden richtig ausgetauscht. Es war Mitternacht, und die ganze Stadt lag dunkel und schweigend da. Die verhüllten Gestalten der beiden kamen im Mittelpunkt der weiten Plaza zusammen; ich hielt mich diskret abseits und lauschte eine Stunde oder mehr ihren murmelnden Stimmen. Dann winkte mir der General, näher zu kommen, und als ich das tat, hörte ich, wie San Martin, der gegen hoch und niedrig gleich höflich war, Gaspar Ruiz für diese Nacht die Gastfreundschaft des Hauptquartiers anbot. Doch der Soldat lehnte ab mit dem Bemerken, daß er dieser Ehre nicht würdig sei, bevor er irgend etwas getan habe.

›Euer Exzellenz kann nicht einen gemeinen Deserteur zu Gast haben,‹ meinte er mit leisem Lachen, trat zurück und verschwand langsam in der Nacht.

Der Oberbefehlshaber sagte zu mir, während wir weggingen: ›Er hatte jemand bei sich, unser Freund Ruiz. Ich sah einen Augenblick lang zwei Gestalten. Es war ein unauffälliger Kumpan.‹

Auch ich hatte gesehen, wie sich eine zweite Gestalt zu Gaspar Ruiz gesellte, anscheinend ein kleiner Kerl, in einem Poncho und einem großen Hut. Und ich dachte noch in dummem Staunen darüber nach, wen er wohl in sein Vertrauen gezogen haben mochte. Ich hätte mir wohl denken können, daß es niemand sonst gewesen sein konnte als dieses Unglücksmädel.

Wo er sie versteckt hielt, das weiß ich nicht. Er hatte – das wurde nachher bekannt – einen Onkel, den Bruder seiner Mutter, einen kleinen Krämer, in Santiago. Vielleicht fand sie dort Nahrung und Obdach. Doch was immer sie auch fand, es war armselig genug, um ihren Stolz zur Verzweiflung zu bringen und ihren Ärger und Haß lebendig zu erhalten. Sicher ist, daß sie ihn bei dem Handstreich begleitete, den er zunächst auf sich genommen hatte. Es handelte sich um nichts weniger als um die Zerstörung eines Magazins voll Kriegsmaterial, das die spanischen Behörden im Süden heimlich angelegt hatten, in einer Stadt namens Linares. Man hatte Gaspar Ruiz nur einen kleinen Trupp anvertraut. Doch sie zeigten sich des Vertrauens würdig, das San Martin in sie gesetzt hatte. Die Jahreszeit war nicht günstig. Sie mußten hochgehende Flüsse durchschwimmen. Es scheint, daß sie Tag und Nacht durchgaloppierten, um vor der Nachricht ihres Einfalls einen Vorsprung zu erhalten, kerzengerade auf die Stadt los, ungefähr hundert Meilen in Feindesland, bis sie endlich bei Tagesanbruch mit dem Säbel in der Hand einrückten und die kleine Garnison überraschten. Diese floh ohne standzuhalten und ließ die meisten ihrer Offiziere in Gaspar Ruiz' Händen.

Eine große Pulverexplosion räumte mit den Magazinen auf, die die Plünderer sofort in Brand gesetzt hatten. In weniger als sechs Stunden ritten sie schon in dem gleichen verrückten Tempo zurück, ohne einen Mann verloren zu haben. Wenn es auch gute Leute waren, so gelingt so ein Streich doch nicht ohne eine noch bessere Führung.

Ich war eben im Hauptquartier beim Abendessen, als Gaspar Ruiz selbst die Nachricht von seinem Erfolg brachte. Und es war ein böser Schlag für die königlichen Truppen. Zum Beweis entfaltete er vor uns die Flagge der Garnison. Er nahm sie unter seinem Poncho heraus und warf sie auf den Tisch. Der Mann war umgewandelt. Aus seinem Gesicht sprach Triumph und etwas wie Drohung. Er stand hinter General San Martins Stuhl und sah uns alle stolz an. Er hatte eine runde blaue Kappe, mit Silberborten verbrämt, auf dem Kopf, und wir alle konnten auf dem Ansatz seines sonnverbrannten Nackens eine breite weiße Narbe sehen.

Irgend jemand fragte ihn, was er mit den gefangenen spanischen Offizieren getan habe.

Er zuckte verächtlich die Schultern: ›Komische Frage! In einem Kleinkrieg lädt man sich doch nicht Gefangene auf den Hals. Ich ließ sie laufen – und hier sind ihre Säbelquasten.‹

Er warf ein Bündel davon auf den Tisch über die Fahne. Dann sagte General Robles, mit dem ich gekommen war, mit seiner lauten, polternden Stimme. ›Tatest du das! Dann, mein guter Freund, weißt du noch nicht, wie ein Krieg wie der unsere geführt sein will. Du hättest es anders machen müssen – so!‹ Und er fuhr mit der Kante seiner Hand über die eigene Kehle.

Ach ja, Señores! es war leider nur zu wahr, daß auf beiden Seiten dieser Kampf, der im Grunde so heldenhaft war, durch Grausamkeiten geschändet wurde. In dem Gemurmel, das sich bei General Robles' Worten erhob, klang durchaus nicht einstimmiger Widerspruch mit. Doch der vornehme und tapfere San Martin lobte die menschliche Tat und wies Ruiz einen Platz zu seiner Rechten an. Dann erhob er sich mit einem vollen Glas in der Hand und schlug einen Toast vor: ›Caballeros und Waffengefährten, wir wollen auf das Wohl das Kapitäns Gaspar Ruiz trinken!‹ Und als wir unsere Gläser geleert hatten, fuhr der Oberbefehlshaber fort: ›Ich beabsichtige, ihm die Bewachung unserer Südgrenze anzuvertrauen, während wir fortgehen, um unsere Brüder in Peru zu befreien. Die Feinde konnten nicht verhindern, daß er ihnen mitten im eigenen Land eine schwere Schlappe beibrachte; um so besser wird er es verstehen, die friedliche Bevölkerung zu schützen, die wir hinter uns lassen, um unserer heiligen Aufgabe nachzugehen.‹ Und er umarmte den schweigsamen Gaspar Ruiz an seiner Seite.

Später, als wir uns alle vom Tisch erhoben, näherte ich mich dem letzternannten Offizier der Armee mit meinen Glückwünschen. ›Und, Kapitän Ruiz‹, fügte ich hinzu, ›vielleicht möchten Sie einem Mann, der immer an die Fleckenlosigkeit Ihres Charakters geglaubt hat, verraten, was in jener Nacht aus Doña Erminia wurde?‹

Bei dieser freundlichen Frage änderte sich sein Gesicht. Er sah mich unter den dichten Brauen mit dem scheuen stumpfen Blick eines Guasso an – eines Bauern. ›Señor tenienta‹, sagte er steif und augenscheinlich gedrückt, ›fragen Sie nicht nach der Señorita, denn ich denke lieber nicht an sie, während ich unter Ihnen bin.‹

Dabei sah er mit gerunzelter Stirn durch den Raum voller rauchender und plaudernder Offiziere. Natürlich drang ich nicht weiter in ihn.

Das, Señores, waren die letzten Worte, die ich für lange, lange Zeit von ihm hören sollte. Gleich am nächsten Tag brachen wir zu unserm kühnen Zug nach Peru auf und hörten von Gaspar Ruiz' Taten nur mitten zwischen unsern eigenen Kämpfen. Er war zum Militärgouverneur unserer Südprovinz ernannt worden. Er sammelte eine Partida. Doch seine Milde gegen die unterworfenen Feinde mißfiel dem Zivilgouverneur, der ein förmlicher, unbequemer Herr voller Mißtrauen war. Er sandte an die Oberste Statthalterei Berichte ein, die Gaspar Ruiz feindlich waren; einer davon ging dahin, daß er öffentlich mit großem Pomp eine Frau von königstreuer Gesinnung geheiratet habe. Zwischen diesen beiden Männern von so ganz verschiedenem Charakter konnten Zwistigkeiten nicht ausbleiben. Schließlich begann sich der Zivilgouverneur über seine Untätigkeit zu beklagen und auf Verrat anzuspielen, der ja, wie er schrieb, bei einem Mann von solchem Vorleben nicht überraschend wäre. Gaspar Ruiz hörte davon. Seine Wut loderte auf, und die Frau an seiner Seite wußte sie wohl mit den rechten Worten zu schüren. Ich weiß nicht, ob wirklich der Oberste Statthalter Befehl gab, ihn gefangenzusetzen – worüber er sich später beschwerte. Sicher scheint es, daß der Zivilgouverneur mit seinen Offizieren zu intrigieren begann und daß Gaspar Ruiz dahinterkam.

Eines Abends, als der Gouverneur eine Tertulia gab, erschien Gaspar Ruiz in der Stadt, von sechs Leuten gefolgt, auf die er sich verlassen konnte, ritt vor die Tür des Gouverneursgebäudes und betrat die Sala bewaffnet, den Hut auf dem Kopf. Als der Gouverneur ihm unwillig entgegentrat, da faßte er den kümmerlichen Mann um den Leib, trug ihn aus der Mitte der Geladenen fort wie ein Kind und warf ihn über die Außentreppe auf die Straße hinunter. Ein ärgerlicher Stoß von Gaspar Ruiz genügte, um aus einem Riesen das Leben herauszubeuteln; doch zum Überfluß feuerten Gaspar Ruiz' Reiter noch ihre Pistolen auf den Leib des Gouverneurs ab, der leblos am Fuß der Treppe lag.«

 


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