Joseph Conrad
Gaspar Ruiz
Joseph Conrad

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VII

General Santierra hatte mit seiner Vermutung bezüglich des Beistandes recht, der Gaspar Ruiz, dem Bauern und Bauernsohn, von der royalistischen Familie gewährt worden war, deren Tochter die Tür ihres kümmerlichen Heims vor seinem völligen Elend geöffnet hatte. Ihre finstere Entschlossenheit gab ihr die Herrschaft über den Irrsinn des Vaters und die sprachlose Verwirrung der Mutter.

Sie hatte den fremden Mann auf der Schwelle gefragt: »Wer hat dich verwundet?«

»Die Soldaten, Señora«, hatte Gaspar Ruiz mit schwacher Stimme geantwortet.

»Patrioten?«

»Si

»Warum?«

»Deserteur«, keuchte er und lehnte sich an die Mauer, während ihre schwarzen Augen forschend auf ihm ruhten. »Man ließ mich für tot da oben liegen.«

Sie führte ihn durch das Haus zu einer kleinen Hütte aus Lehm und Schilf, ganz verborgen in dem hohen Gras des verwilderten Obstgartens. Er sank auf einen Haufen Maisstroh in einem Winkel und seufzte tief.

»Hier wird dich niemand suchen«, sagte sie und blickte auf ihn herunter. »Niemand kommt in unsere Nähe. Auch uns hat man für tot liegenlassen – hier.«

Er drehte sich verlegen auf dem schmutzigen Strohhaufen, und der Schmerz in seinem Nacken erpreßte ihm fiebriges Stöhnen.

»Ich will es Estaban eines Tages schon zeigen, daß ich noch lebe«, murmelte er.

Er nahm ihre Pflege schweigend an, und die vielen Schmerzenstage gingen vorüber. Ihr Erscheinen in der Hütte brachte ihm Erleichterung und verknüpfte sich mit den Fieberträumen von Engeln, die sein Lager besuchten; denn Gaspar Ruiz war in die Wunderlehre seiner Religion eingeweiht und hatte sogar von dem Priester seines Dorfes ein wenig Schreiben und Lesen gelernt. Er erwartete sie mit Ungeduld und sah sie mit wildem Schmerz aus der dunklen Hütte hinaustreten und im blendenden Sonnenschein verschwinden. Während er dalag und sich so ganz schwach fühlte, machte er die Entdeckung, daß er sich ihr Bild ungemein deutlich vergegenwärtigen konnte, wenn er nur die Augen schloß. Und diese neu entdeckte Fähigkeit versüßte ihm die langen einsamen Stunden seiner Genesung. Später, als seine Kräfte wieder zurückzukehren begannen, kroch er um die Dämmerstunde zum Hause und saß auf der Schwelle der Gartentür.

In einem der Zimmer schritt der verrückte Vater auf und ab, führte murmelnde Selbstgespräche und lachte zwischendurch plötzlich auf. Am Gange saß die Mutter auf einem Stuhl, seufzte und stöhnte. Die Tochter, in rauher abgetragener Kleidung, das weiße, magere Gesicht halb verborgen unter einer groben Manta, stand gegen den Türpfosten gelehnt. Gaspar Ruiz hielt die Ellbogen auf die Knie, den Kopf in die Hände gestützt und sprach leise zu den beiden Frauen.

Das gemeinsame Elend der Geächteten hätte ein Unterstreichen der sozialen Unterschiede als blutigen Hohn erscheinen lassen. Gaspar Ruiz in seiner Einfalt verstand das. Durch seine Gefangenschaft unter den Royalisten war er in der Lage, ihnen Nachricht zu geben von Leuten, die sie kannten. Er beschrieb ihr Aussehen; und wenn er die Geschichte der Schlacht erzählte, in der er abermals gefangengenommen worden war, da bejammerten die beiden Frauen die Niederlage ihrer Partei und den Ruin ihrer geheimen Hoffnungen.

Sein Gefühl drängte ihn nach keiner der beiden Seiten. Doch er empfand eine tiefe Ergebenheit für das junge Mädchen. In dem Bestreben, sich ihrer Herablassung würdig zu erweisen, rühmte er sich ein wenig seiner Körperkraft. Er hatte nichts sonst, dessen er sich hätte rühmen können. Ebendieser Eigenschaft wegen behandelten ihn seine Kameraden ganz mit der Ehrerbietung, erklärte er, als wäre er ein Sergeant gewesen, im Lager sowohl wie auch im Felde.

»Ich konnte immer so viele ich nur wollte dazu bewegen, mir überallhin zu folgen, Señorita. Eigentlich hätte man mich zum Offizier machen müssen, denn ich kann lesen und schreiben.«

Hinter ihm seufzte die schweigsame alte Dame von Zeit zu Zeit schwer auf; der Vater murmelte irr vor sich hin und durchmaß die sala; und Gaspar Ruiz erhob dann und wann die Augen und blickte die Tochter dieser Leute an.

In seinem Blick lag Neugier, weil sie lebte, und doch auch jenes Gefühl von Vertrautheit und Ehrfurcht, mit dem er in Kirchen die unbeseelten und machtvollen Statuen der Heiligen betrachtet hatte, deren Fürsprache man in Gefahren und Nöten erfleht. Und seine Not war groß.

Er konnte sich nicht immer und ewig in einem Obstgarten verborgen halten. Er wußte auch sehr gut, daß er keinen halben Tag weit in irgendeiner Richtung gehen konnte, ohne von einer der Kavalleriepatrouillen, die das ganze Land durchstreiften, aufgegriffen und in ein oder das andere Lager gebracht zu werden, wo die Patriotenarmee, die Peru befreien sollte, versammelt war. Dort würde man ihn dann als Gaspar Ruiz – der zu den Royalisten desertiert war – erkennen und diesmal zweifellos ganz gründlich erschießen. Auf der ganzen Welt schien für den unschuldigen Gaspar Ruiz nirgends ein Platz zu sein. Bei diesem Gedanken ergab sich seine einfache Seele einer düsteren Verbitterung, schwarz wie die Nacht.

Sie hatten ihn mit Gewalt zum Soldaten gemacht. Er hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, Soldat zu sein. Und er war ein guter Soldat gewesen, ebenso wie er ein guter Sohn gewesen war, wegen seiner Folgsamkeit und Stärke. Doch nun hatte er für beides keine Verwendung. Man hatte ihn von seinen Eltern weggenommen, und er konnte auch nicht länger Soldat sein – kein guter Soldat wenigstens. Niemand würde seine Erklärungen anhören wollen. Was für eine Ungerechtigkeit das war! Welche Ungerechtigkeit!

Und mit betrübtem Murmeln brachte er die Geschichte seiner ersten und zweiten Gefangennahme zum zwanzigstenmal vor. Dann erhob er den Blick zu dem schweigenden Mädchen im Türrahmen und sagte wohl mit einem tiefen Seufzer: »Si, Señorita, die Ungerechtigkeit hat den armen Atem in meiner Brust ganz wertlos gemacht. Für mich und alle andern. Mir ist es gleich, wer mir ihn raubt.«

Eines Abends, als er so dem Kummer seiner wunden Seele Ausdruck gab, ließ sie sich zu der Bemerkung herbei, daß sie, wenn sie ein Mann wäre, kein Leben für wertlos erachten wolle, das noch die Möglichkeit der Rache in sich schlösse.

Sie schien zu sich selbst zu sprechen. Ihre Stimme klang leise. Er trank die zarten, verträumten Laute mit dem Gefühl unerhörter Entzückung ein, als durchwärmten sie seine Brust wie ein Schluck edlen Weins.

»Es ist wahr, Señorita«, sagte er und wandte langsam sein Gesicht dem ihren zu. »Da ist Estaban, dem ich zeigen muß, daß ich doch nicht tot bin.«

Das Murmeln des irren Vaters hatte langsam aufgehört; die seufzende Mutter hatte sich in irgendeines der leeren Zimmer zurückgezogen. Innen und ringsum war alles gleich still, im taghellen Mondlicht, das über dem verwilderten Garten und seinen tintigen Schatten lag. Gaspar Ruiz sah, daß Doña Erminias schwarze Augen auf ihn gerichtet waren.

»Ach, der Sergeant!« murmelte sie geringschätzig.

»Warum? Er hat mich mit dem Säbel verwundet«, widersprach er, verblüfft durch die Verachtung, die ihr bleiches Gesicht auszudrücken schien.

Sie duckte ihn mit dem Blick. Die Macht ihres Willens, verstanden zu werden, war so groß, daß sie in ihm die Fähigkeit weckte, unausgesprochene Dinge zu erfassen.

»Was erwarten Sie sonst von mir?« rief er, als sei er plötzlich zur Verzweiflung getrieben. »Kann ich denn mehr tun? Bin ich ein General mit einer Armee hinter mir? – Armer Sünder, der ich bin, daß auch Sie mich noch verachten müssen.«

 


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