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Siebenundsechzigstes Kapitel

Drei Tage später fuhr ein Londoner Cab bei der sehr angesehenen Rechtsanwaltsfirma vor, welche die Geschäfte der Familie Norland führte. Sie waren außerdem noch die Sachwalter von zwei oder drei anderen Familien und verdienten trotz des landwirtschaftlichen Niedergangs viel Geld mit ihren bequemen Geschäften. In dem Cab saß eine Dame in tiefer Trauer.

Lady Harry Norland erwartete nichts anderes, als daß sie mit Kälte und Argwohn empfangen werden würde. Ihr Gatte hatte, wie sie nur zu gut wußte, nicht das Leben geführt, welches man in unseren Tagen von einem jüngeren Sohn einer vornehmen Familie erwartet. Ebensowenig war die Erinnerung, welche sein älterer Bruder, das Haupt der Familie, von ihm hatte, eine derartige, daß sie ihn bei diesem hätte besonders wert machen können. Weitere Gründe zur Furcht lagen in ihrem Schuldbewußtsein als Mitwisserin gewisser Dinge, welche leicht durch einen Zufall herauskommen konnten. Ueberdies hatte Iris noch niemals mit Rechtsanwälten zu thun gehabt und kannte daher deren Art und Weise nicht.

Anstatt daß sie indessen empfangen wurde von einem Herrn mit der feierlichen Miene eines Mitglieds des Kanzleigerichtes oder dem drohenden Blick eines Mitgliedes des Assisenhofes, fand sie einen älteren Herrn von väterlich freundlichem Benehmen, der ihre beiden Hände festhielt und aussah, als hätte er über den schweren Verlust, den sie erlitten, geweint. Durch lange Praxis verstand es dieser würdige Mann, immer zur rechten Zeit den Schein anzunehmen, als ob er mit seinen Klienten weinte und wehklagte.

»Meine teure Lady,« sprach er mit leiser, trauervoller Stimme, »meine teure Lady, dies ist eine schwere Zeit für Sie.«

Sie sah ihn erschreckt an, denn sie fürchtete, daß schon etwas herausgekommen.

»Gerade jetzt, wo Sie kaum den schmerzlichen Verlust erlitten haben, schon an Geschäfte denken zu müssen!«

»Ich bringe Ihnen,« antwortete sie kurz, »meines Gatten – meines verstorbenen Gatten letzten Willen.«

»Ich danke Ihnen. Mit Ihrer Erlaubnis – es wird Sie allerdings etwas aufhalten – werde ich ihn sogleich durchlesen. Aha, der ist ja sehr kurz und bündig und klar. Dieses Testament wird uns wenig Mühe und Arbeit machen. Leider muß ich indessen die Befürchtung aussprechen, daß Sie, Mylady, außer der Versicherungssumme nicht sehr viel erhalten werden.«

»Ich weiß das. Es wird gar nichts sein. Mein Gatte war stets ein armer Mann, wie Sie ja auch selbst wissen werden. Zur Zeit seines Todes verfügte er nur über sehr wenig bares Geld. Ich bin daher wirklich in großer Verlegenheit.«

»Das sollen Sie nicht länger sein, Mylady; Sie brauchen sich nur auf uns zu berufen. Was Lord Harrys Tod anbetrifft, so sind wir davon schon durch Doktor Vimpany benachrichtigt, der sein Freund sowohl als sein ärztlicher Berater gewesen zu sein scheint.«

»Doktor Vimpany hat eine Zeit lang mit meinem Gatten zusammengelebt.«

»Er hat uns geschrieben, daß die Krankheit Ihres Gatten einen sehr schnellen Verlauf gehabt.«

»Ich war gerade fern von meinem Gatten, als er starb. Ich befand mich in Geschäftsangelegenheiten schon eine Zeit lang vor seinem Tod hier in London. Ich wußte es nicht einmal, daß sein Zustand gefährlich war. Als ich zurück nach Passy eilte, kam ich zu spät. Mein Gatte war schon – war schon beerdigt.«

»Das traf sich sehr unglücklich. Und außerdem die Thatsache, daß Seine Lordschaft nicht auf freundschaftlichem Fuß mit den Mitgliedern seiner Familie lebte, – bitte, mißverstehen Sie mich nicht, Mylady, ich will durchaus nicht irgend eine Meinung über diese Verhältnisse aussprechen – aber diese Thatsache hat jedenfalls sein Ende noch unglücklicher gemacht.«

»Er hatte Doktor Vimpany,« sagte Iris in einem Ton, welcher Mißtrauen gegen den Rechtsanwalt oder Mißfallen gegen den Doktor ausdrückte.

»Es bleibt uns jetzt nur noch übrig,« sagte der Anwalt, »das Testament eröffnen zu lassen und Ihre Forderung an die Lebensversicherungsgesellschaft geltend zu machen. Ich habe die Police hier. Lord Harry hatte sein Leben bei der Royal Unicorn Insurance Company für die Summe von fünfzehntausend Pfund versichert. Wir können nun nicht erwarten, daß diese große Forderung sogleich befriedigt wird. Vielleicht wird die Gesellschaft drei Monate für die Auszahlung verlangen. Aber Mylady können sich inzwischen, wie ich Ihnen schon sagte, auf uns berufen.«

»Sind Sie auch sicher, daß die Gesellschaft zahlen wird?«

»Ganz sicher. Warum nicht? Sie muß zahlen.«

»Ich dachte nur, daß vielleicht eine so große Summe –«

»Meine liebe gnädige Frau,« – der Mann, der so große Vermögen verwaltete, mußte unwillkürlich lächeln – »fünfzehntausend Pfund sind für uns keine große Summe. Wenn eine Versicherungsgesellschaft die Auszahlung einer gesetzlich anerkannten Forderung verweigern würde, so würde sie sich dadurch selbst eine Grube graben, denn ihre ganze Existenz hängt nur einzig und allein davon ab, daß sie alle gerechten und gesetzlich anerkannten Forderungen befriedigt. Wenn der Tod eines Menschen amtlich beglaubigt worden ist, dann bleibt der Versicherungsgesellschaft nichts anderes übrig, als die Versicherungssumme der Person auszuzahlen, welche zum Empfang des Geldes berechtigt ist. In diesem Fall bin ich diese Person als Ihr Stellvertreter.«

»Ja, ich verstehe; aber ich dachte nur, daß sich vielleicht einige Schwierigkeiten ergeben würden, weil mein Gatte im Ausland gestorben ist.«

»Schwierigkeiten könnten allerdings vorhanden sein, wenn Lord Harry in Zentralafrika gestorben wäre. Aber er starb in einer Vorstadt von Paris, und das französische Gesetz ist in solchen Fällen noch viel sorgfältiger und genauer als unser eigenes. Wir haben die offiziellen Papiere und die Beglaubigung des Doktors. Wir haben außerdem eine Photographie des unglücklichen jungen Edelmanns, wie er auf seinem Totenbett liegt. Sie ist von wunderbarer Aehnlichkeit, und die Sonne kann nicht lügen; es war das ein ausgezeichneter Gedanke von dem Doktor, den Toten zu photographiren. Wir haben ferner auch eine Photographie von dem erst kürzlich errichteten Grabstein. Zweifel? Meine teure Lady, man könnte ebensowenig einen Zweifel an der Richtigkeit der Sachlage haben, wenn Ihr Gatte in dem Familienerbbegräbnis bestattet wäre. Wenn irgend etwas einen Grund an Zweifeln entfernen kann, so ist es die Thatsache, daß die einzige Person, welche aus Lord Harrys Tod einen Vorteil zieht, Sie selbst sind. Wenn er dagegen in den Händen von Leuten gewesen wäre, welche Grund hätten, seinen Tod zu wünschen, dann könnten allerdings Zweifel entstehen. Das wäre aber Sache der Polizei und nicht der Versicherungsgesellschaft.«

»O, wie bin ich froh, zu hören, daß die Angelegenheit keinen Anstand weiter hat. Ich verstehe so gar nichts von Geschäften und glaubte daher –«

»Nein, nein, Mylady, Sie brauchen keinen solchen Gedanken zu haben. Da ich ja voraussehen konnte, daß Sie mich aufsuchen würden, so habe ich schon vorher an den Geschäftsleiter der Versicherungsgesellschaft geschrieben. Er drückte allerdings seine lebhafte Verwunderung über die Ursache des Todes aus, denn in der Familie Ihres Gatten war noch kein Fall von Auszehrung vorgekommen. Aber Lord Harry hat auch, wenn ich mich so ausdrücken darf, sehr große Anforderungen an seine Gesundheit gestellt. Ja, ja, etwas zu starke, so habe ich es wenigstens der Gesellschaft erklärt.«

In Wirklichkeit hatte jedoch dieser würdige Mann die Erklärung in ganz anderen Worten gegeben. Was er wirklich gesagt hatte, lautete folgendermaßen: »Lord Harry Norland, Sir, war ein Teufel. Es gab nichts, was er nicht gethan hatte; ich wundere mich nur darüber, daß er überhaupt noch so lange gelebt hat. Wenn man mir gesagt hätte, daß er an allen Krankheiten zusammen gestorben wäre, so würde ich darüber nicht im mindesten erstaunt gewesen sein. Die gewöhnliche galoppirende Schwindsucht war viel zu einfach für solch einen Mann.«

Iris nannte dem Rechtsanwalt ihre Londoner Adresse und ließ sich von ihm zum voraus hundert Pfund geben, wovon sie die Hälfte an William Linville in Louvain schickte. Dann begab sie sich nach Hause, um dort zu warten. Sie mußte jetzt so lange in London bleiben, bis die Forderung ausgezahlt wurde.

Sie wartete sechs Wochen. Am Ende dieser Zeit erfuhr sie durch ihren Rechtsanwalt, daß die Versicherungsgesellschaft die Sache in Ordnung gebracht und daß er als ihr Rechtsanwalt bei ihrem Bankier die Summe von fünfzehntausend Pfund als vollen Betrag der Versicherungssumme eingezahlt habe.

In Uebereinstimmung mit den Anordnungen ihres Gatten suchte sie sich dann ein anderes Bankhaus und eröffnete bei diesem ein Konto für einen gewissen William Linville, einen Edelmann, der im Ausland lebte. Sie ließ eine Probe der eigenhändigen Namensunterschrift William Linvilles zurück und zahlte auf dieses Konto eine Anweisung von achttausend Pfund ein. Dann sprach sie mit dem Geschäftsführer ihrer eigenen Bank und erklärte ihm, daß sie diese Summe für eine sichere Kapitalanlage brauche, und bat ihn außerdem noch um zweitausend Pfund in Banknoten, die sie für einen andern Zweck benötige. Der Bankier glaubte, sie beabsichtige irgend eine wohlthätige Stiftung damit zu machen – vielleicht ein Sühnopfer für die Ausschreitungen ihres verstorbenen Gatten.

Dann schrieb Iris sofort an Mr. Vimpany, der sich in Paris aufhielt, und verabredete eine Zusammenkunft mit ihm.

»Es hat nicht die mindeste Mühe gemacht,« schrieb sie, nachdem das alles besorgt war, an ihren Gatten, »und wird auch in Zukunft keine weitere verursachen. Die Lebensversicherungsgesellschaft hat meine Forderung schon berichtigt. Von dem erhaltenen Geld habe ich achttausend Pfund auf das Konto von William Linville eingezahlt. Mein eigener Bankier, der meinen Vater kennt, glaubt, daß das Geld zu einer Kapitalanlage verwendet wird, und ich glaube, mein lieber Harry, daß, wenn nicht der Doktor uns wieder zu quälen anfängt, – und er wird dies sicher thun, sobald er sein Geld durchgebracht hat – vor uns ein ebener Weg liegt. Laß uns, wie ich Dich schon einmal gebeten habe, geradenwegs nach einem entlegenen Teil von Amerika gehen, wo wir sicher sind, nicht erkannt zu werden. Du kannst Dein Haar färben und Deinen Bart wachsen lassen, um uns vor jeder Entdeckung zu schützen. Laß uns weit weg gehen von jedem Ort und von jeder Person, die uns an die Vergangenheit erinnern kann. Dann werden wir vielleicht etwas von dem alten Frieden wiederfinden und, wenn das jemals noch möglich ist, die alte Selbstachtung.«

Es sollten ihr indessen doch noch Mühen und Unannehmlichkeiten erwachsen und zwar derartige, die sie wenig erwartet hatte, und vor denen sie sich auch nicht schützen konnte, und diese Unannehmlichkeiten wurden durch Iris' eigene Handlungsweise hervorgerufen.


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