Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierundvierzigstes Kapitel

Als Mountjoy in London angekommen war, begab er sich sofort in das Institut der Krankenpflegerinnen und fragte nach Mrs. Vimpany.

Sie war wieder außer dem Hause mit der Pflege eines Kranken beschäftigt. Die Adresse des Hauses war nur der Vorsteherin bekannt und sollte auch in diesem Fall keinem der Freunde der Mrs. Vimpany, der sich etwa darnach erkundigen würde, mitgeteilt werden. Ein schwerer Fall von Scharlachfieber befand sich unter ihrer Pflege, und die Gefahr der Ansteckung lag zu nahe, als daß man hätte leichtsinnig verfahren können.

Die Ereignisse, welche Mrs. Vimpany zu ihrer gegenwärtigen Beschäftigung geführt, hatten nicht den gewöhnlichen Verlauf gehabt.

Eine Pflegerin, die erst kürzlich in das Institut eingetreten war, sollte in diesem Fall zum erstenmale in Thätigkeit treten und zwar auf den ausdrücklichen Wunsch des Kranken, welcher, wie man sagte, mit dem jungen Mädchen entfernt verwandt war. An demselben Morgen jedoch, an welchem sie sich auf den Schauplatz ihrer zukünftigen Thätigkeit begeben sollte, erhielt sie die Nachricht, daß ihre Mutter schwer erkrankt sei. Mrs. Vimpany, welche gerade zu der Zeit nicht beschäftigt war und freundschaftliche Teilnahme für ihre junge Kollegin fühlte, erbot sich freiwillig, an ihre Stelle zu treten. Darauf hin wurde von seiten des Kranken eine neue Bitte an die Vorsteherin gerichtet; er wünschte zu wissen, ob die neue Krankenpflegerin eine Irländerin sei. Als er hörte, daß sie eine Engländerin war, nahm er sofort ihre Dienste an. Das Merkwürdige und Geheimnisvolle an der Sache lag darin, daß er selbst ein Irländer war.

Vermöge ihrer englischen Vorurteile nahm die Vorsteherin sofort an, daß in dem Leben des Mannes irgend ein dunkler Punkt vorhanden sei, der der Gegenstand einer ärgerlichen Bloßstellung werden könnte, wenn er von einer Landsmännin gepflegt würde. Sie gab daher auch Mrs. Vimpany den Rat, nicht zu dem Kranken zu gehen; die Krankenpflegerin sagte jedoch, daß sie versprochen habe, ihn zu pflegen, und ihr Versprechen halten wolle.

Mountjoy verließ das Institut, nachdem er vergeblich versucht hatte, die Adresse von Mrs. Vimpany zu erlangen. Das einzige Zugeständnis, welches ihm die Vorsteherin machte, bestand darin, daß sie sich bereit erklärte, einen Brief von ihm durch die Post an die richtige Adresse zu schicken, wenn er mit diesem Auskunftsmittel einverstanden wäre.

Nach kurzer Ueberlegung beschloß Hugh, den Brief zu schreiben.

Rasche Benützung der Zeit konnte von Wichtigkeit sein. Hugh gab daher in seinem Brief den Namen an, welchen ihm Iris aufgeschrieben hatte, und fragte Mrs. Vimpany, ob er ihr bekannt wäre als der Name einer Person, mit der sie verkehrt hätte. Er versicherte sie, daß eine schleunige Unterredung in Betreff dieser Sache zwischen ihnen durchaus notwendig sei im Interesse von Iris. In einer Nachschrift fügte er noch hinzu, daß er vollkommen gesund sei und nicht die geringste Furcht vor Ansteckung habe. Dann schickte er seinen Brief an die Vorsteherin, damit diese ihn weiter befördere.

Noch an demselben Tag empfing er spät abends die Antwort. Sie war von einer ihm unbekannten Hand geschrieben und lautete folgendermaßen:

»Lieber Mr. Mountjoy! Ich kann es unmöglich zugeben, daß Sie sich einer so großen Gefahr aussetzen, indem Sie mich besuchen, so lange ich mich in meiner gegenwärtigen Stellung befinde. Die Gefahr der Ansteckung ist beim Scharlachfieber so naheliegend, daß ich nicht einmal eigenhändig an Sie schreiben und kein Briefpapier benützt werden darf, das im Krankenzimmer gelegen hat. Das ist nicht etwa eine leere Einbildung von mir; der den Kranken behandelnde Doktor kennt einen Fall, in welchem ein kleines Stückchen infizirter Leinwand nach Verlauf von nicht weniger als einem Jahre die Krankheit weiter verbreitete. Ich muß Ihrem gesunden Menschenverstand vertrauen, daß Sie die Notwendigkeit eines Aufschubs unserer Besprechung einsehen, bis ich Sie empfangen kann ohne irgendwelche Furcht vor etwaigen, für Sie verhängnisvollen Folgen. Indessen kann ich Ihre Anfrage beantworten in Betreff des Namens, den Sie mir in Ihrem Brief mitgeteilt haben. Ich kannte den Mann früher, den Sie erwähnen; wir wurden durch Lord Harry mit einander bekannt, und ich traf auch später noch bei mehr als einer Gelegenheit mit ihm zusammen.«

Hugh las diese kluge und wohlüberlegte Antwort mit heftiger Erregung. Wenn Mrs. Vimpany überredet werden konnte, an ihren Freund zu schreiben, so war dies die denkbar günstigste Gelegenheit, den heißblütigen jungen Ehemann zur Ruhe und Unthätigkeit zu verdammen dadurch, daß er ohne weitere Nachrichten über den Mörder Arthur Mountjoys blieb. Und unter diesen ermutigenden Umständen sollte die vorgeschlagene Unterredung, welche vielleicht zu einem solch ausgezeichneten Ergebnis hätte führen können, aufgeschoben werden dank der verächtlichen Furcht vor Ansteckung, hervorgerufen durch die Geschichte von einem lumpigen Stück Leinwand!

Hugh hob den unglücklichen Brief, der auf den Boden gefallen war, auf, um ihn in Stücke zu zerreißen und ihn in den Papierkorb zu werfen, aber er hielt plötzlich inne. Seine zitternde Hand hatte nämlich das Papier so aufgehoben, daß die unbeschriebene Seite nach oben zu liegen kam. Auf dieser Seite entdeckte er zwei kleine Druckzeilen, welche in der gewöhnlichen Form die Adresse des Hauses enthielten, in welchem der Brief geschrieben war! Der Schreiber hatte jedenfalls, als er den Briefbogen aus der Briefmappe nahm, ihn mit der falschen Seite auf den Schreibtisch gelegt und hatte dann entweder es nicht für nötig gehalten, ihn noch einmal abzuschreiben, als er seinen Irrtum bemerkte, oder er hatte den Irrtum überhaupt nicht bemerkt.

Diese Entdeckung gab Hugh seine ruhige Fassung wieder und er beschloß, Mrs. Vimpany am nächsten Tag mit seinem Besuch zu überraschen. Dieser Besuch sollte die Ansteckungstheorie entkräften und zugleich Iris einen wertvollen Dienst in ihrer gegenwärtigen kritischen Lage erweisen.

Da er im Lauf des Tages genug Zeit hatte, um sich alles genau zu überlegen, so konnte es nicht ausbleiben, daß er ein großes Hindernis für die Ausführung seines Planes entdeckte. Ob er nun seinen Namen nannte oder ihn verschwieg, wenn er am nächsten Morgen an der Hausthür nach Mrs. Vimpany fragte, sie würde auf jeden Fall seinen Besuch ablehnen. Die einzige zuverlässige Person, die er in diesem schwierigen Fall um Rat fragen konnte, war sein alter, treuer Diener.

Dieser erfahrene Mann, der früher zu verschiedenen Zeiten in der Armee, bei der Polizei und an einer öffentlichen Schule angestellt war, wurde von ihm beauftragt, am folgenden Morgen zunächst einige vorbereitende Erkundigungen einzuziehen.

Der Diener machte dabei zwei wichtige Entdeckungen. Erstens befand sich Mrs. Vimpany in dem Hause, in dem der Brief an seinen Herrn geschrieben worden war. Zweitens war dort ein junger Bursche angestellt, welcher sich der Bestechung durch ein Geschenk zugänglich zeigte. Dieser Bursche wollte um zwei Uhr an demselben Tag auf Mr. Mountjoy warten und ihm zeigen, wo er Mrs. Vimpany finden könnte, nämlich in dem Zimmer neben dem Kranken, in welchem sie ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegte.

Hugh handelte nach diesen Angaben; er fand den Burschen auf ihn wartend und wurde von ihm heimlich in das Haus eingelassen. Der Bursche führte ihn dann noch die Treppen hinauf und zeigte im zweiten Stock mit der einen Hand auf eine Thür, während er die andere Hand ausstreckte, um seine Belohnung in Empfang zu nehmen. Dann steckte er das Geld rasch in die Tasche und verschwand. Mountjoy aber öffnete die Thür.

Mrs. Vimpany saß an dem Tisch und wartete auf ihr Essen. Als Mountjoy in dem Zimmer erschien, sprang sie mit einem Schreckensruf auf.

»Sind Sie denn toll?« rief sie aus. »Wie kommen Sie hieher? Was wollen Sie hier? – Kommen Sie mir nicht zu nahe!«

Sie versuchte, an Hugh vorbeizuschlüpfen, um aus dem Zimmer zu eilen; er ergriff sie jedoch am Arm, führte sie auf ihren Stuhl zurück und zwang sie, sich wieder darauf niederzulassen.

»Iris ist in Gefahr!« sagte er eindringlich. »Sie können ihr helfen.«

»Das Fieber!« schrie sie, ohne auf das zu achten, was er gesagt hatte. »Bleiben Sie fern von mir – das Fieber!«

Zum zweitenmal versuchte sie aus dem Zimmer zu entfliehen. Zum zweitenmal hinderte sie Hugh daran.

»Fieber oder kein Fieber!« antwortete er bestimmt. »Ich muß mit Ihnen sprechen; in zwei Minuten werde ich das Nötige gesagt haben, und dann will ich wieder gehen.«

Mit so wenigen Worten wie möglich beschrieb er Iris' Lage gegenüber ihrem eifersüchtigen Ehemann. Mrs. Vimpany unterbrach ihn heftig.

»Sie laufen einer so schrecklichen Gefahr in die Arme,« rief sie, »obgleich Sie mir nichts anderes zu sagen haben als das, was ich schon lange weiß! – Ihr Gatte eifersüchtig auf Sie? – Natürlich ist er eifersüchtig auf Sie! Verlassen Sie mich sofort, oder ich klingle nach dem Diener!«

»Klingeln Sie, wenn es Ihnen Vergnügen macht,« antwortete Hugh, »aber hören Sie dies erst. Mein Brief an Sie sprach von einer Beratung zwischen uns, welche im Interesse von Iris notwendig sein könnte. Stellen Sie sich doch nur ihre Lage einmal vor, wenn es Ihnen möglich ist! Der Mörder von Arthur Mountjoy soll sich in London aufhalten, und Lord Harry hat davon gehört.«

Mrs. Vimpany blickte ihn mit erschreckten Augen an.

»Barmherziger Gott,« rief sie, »der Mann befindet sich hier in meiner Pflege. Ich gehöre nicht mit zu der Verschwörung und brauche den Schurken nicht zu verbergen. Ich wußte damals, als ich mich erbot, ihn zu pflegen, nichts weiter von ihm, als was Sie von ihm wissen. Die Namen, die ihm in seinen Fieberphantasien entschlüpft sind, haben mir erst die Wahrheit verraten.«

Während sie sprach, wurde eine zweite Thür des Zimmers geöffnet. Eine alte Frau erschien für einen Augenblick, vor Schreck zitternd.

»Er hat wieder einen Anfall, Schwester, helfen Sie mir, ihn zu halten.«

Mrs. Vimpany folgte der alten Frau sofort in das Schlafzimmer.

»Warten Sie und hören Sie zu!« sagte sie zu Mountjoy und ließ die Thüre offen stehen.

Die raschen, heftigen und dumpfen Laute eines in Fieberphantasien liegenden Mannes ließen sich jetzt erschreckend vernehmen. Sein krankes Gehirn erinnerte sich der früheren Ereignisse seines traurigen Lebens. Er stellte Fragen an sich selbst und antwortete selbst. »Wer zog das Los, den Verräter zu töten? – Ich zog es! Ich zog es! Wer schoß ihn nieder auf der Straße, bevor er den Wald erreichen konnte? – Ich habe es gethan! Ich habe es gethan! ›Arthur Mountjoy, Verräter an Irland!‹ Schreibt das auf seinen Grabstein zur ewigen Schande für ihn! Hört, ihr Jungens, hört! Ein Patriot ist unter euch! Ich bin der Patriot, beschützt von der dankbaren Vorsehung! Ha, mein Lord Harry, durchsuche nur die Erde, durchsuche nur das Meer, der Patriot ist außer Deinem Bereich! Wärterin, was hat der Doktor von mir gesagt? Das Fieber wird ihn töten? – Gut, was thut's, so lange nur Lord Harry mich nicht tötet! Oeffnen Sie die Thüren, und lassen Sie es jedermann hören: Ich sterbe den Tod eines Heiligen – ich, der größte von allen Heiligen – ich, der Heilige, welcher Arthur Mountjoy erschoß. O mein Kopf, mein armer Kopf, o mein Kopf, wie das brennt und hämmert!«

Der schrecklich gequälte Kranke brach in ein furchtbares Wut- und Schmerzensgeschrei aus. Das war mehr, als Hugh ertragen konnte; er eilte aus dem Hause.

*

Zehn Tage vergingen. Iris erhielt in Passy einen Brief, von einer ihr unbekannten Hand geschrieben.

Der erste Teil des Briefes handelte von dem irischen Desperado, welchen Mrs. Vimpany während seiner Krankheit gepflegt hatte.

So lange sie ihn nur als einen leidenden Mitmenschen kannte, hatte sie versprochen, seine Pflegerin zu sein. Rechtfertigte nun die Entdeckung, daß er ein Mörder war, ihren Weggang, oder würde sie sogar eine Vernachlässigung entschuldigen? – Nein! Das Amt eines Pflegers ist wie das Amt eines Arztes ein Akt des Wohlthuns, in sich selbst wesentlich zu edel, als daß es darnach fragte, ob der Kranke die Hilfe verdiene oder nicht. All die Erfahrung, all die Einsicht, all die Sorge, die sie bieten konnte, widmete die Pflegerin dem Mann, dessen Hand sie niemals berühren würde, sobald sie ihm das Leben gerettet hatte.

Eine Zeit war gekommen, wo das Fieber drohte, die Rache, welche Lord Harry üben wollte, seinen Händen zu entwinden. Dann nahte die Krisis der Krankheit. Schon unter dem Schatten des Todes, überstand sie der Leidende doch, dank seiner kräftigen Natur und dank der Geschicklichkeit und Furchtlosigkeit der Frau, welche ihn pflegte. Als er sich wieder auf dem Weg der Genesung befand, erschienen einige Freunde aus Irland in dem Hause in Begleitung eines Arztes ihrer eigenen Wahl und fragten nach ihm unter dem Namen, unter dem er hier bekannt war, Carrigeen. Unter Anwendung aller möglichen Sorgfalt wurde er fortgeschafft; wohin, ist niemals entdeckt worden; seit der Zeit war alle Spur von ihm verloren.

Schreckliche Nachrichten folgten auf der nächsten Seite des Briefes.

Die geheimnisvolle Gewalt der Ansteckung der Krankheit hatte sich an dem armen Sterblichen gerächt, der ihr Trotz geboten. Hugh Mountjoy lag, von demselben Mann, der seinen Bruder getötet, angesteckt, an einem heftigen Scharlachfieber darnieder.

Aber die Krankenpflegerin wachte bei ihm Tag und Nacht.


 << zurück weiter >>