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26. Kapitel.
Verlassen.

Wieder war es Arnold, der am Mittwoch Abend die Nachricht von Wachtmeister Cadmans Rückkehr zum ›Lorbeerhofe‹ trug. »Cadman ist wieder da!« rief er, die Thür des Speisezimmers stürmisch aufreißend. »Ich wollte es euch gleich melden! Frau Cawdrey ist ihm entkommen – wahrhaftig kein Wunder!«

»Wo ist Inspektor Holt?« fragte Doktor Viret.

»Weiß Gott, wo! Cadman sah ihn zuletzt in Southampton. Ich muß gestehen, mir ist der Ausgang ganz recht. Man soll schlafende Hunde nicht wecken! Auch ist es ganz unnötig, daß die traurige Geschichte abermals die Runde durch alle Zeitungen macht – was meinen Sie, Herr Doktor?«

»Seien Sie überzeugt,« sprach Doktor Viret bestimmt, »der Mörder wird seiner Strafe nicht entgehen.«

»Sie glauben, wegen des bösen Gewissens? Das ist doch nichts als leere Redensart!«

Als Arnold fort war, trat Viret zu Florence. »Herr Doktor,« sagte das Mädchen, und sah forschend zu ihm auf, »verraten Sie mir doch einmal Ihre Gedanken – teilen Sie die Ueberzeugung, daß Frau Fairford den Mörder meines Vaters kennt?«

»Ich habe Ihnen diese Frage wohl schon ein dutzendmal beantwortet,« erwiederte Viret, »wer kann es wissen? Vielleicht hat sie ihn gesehen, vielleicht auch nicht.«

»Wenn Frau Fairford nicht Zeugin des Verbrechens war, dann erfahre ich niemals die Wahrheit.«

»Sie sagten erst gestern, Sie hofften, Holt würde sie nicht einholen.«

»Ja, ja, ich wünschte es sogar. Ach, ich bin so unbeständig geworden, oft ist's mir, als müßte ich um jeden Preis der Wahrheit auf den Grund gehen und dann ...«

»Mein teueres Kind,« versetzte Viret, »über den Tod Ihrer Eltern besteht unglücklicherweise kein Zweifel mehr – keine Gewalt der Erde vermag sie ins Leben zurückzurufen; es liegt nicht in Ihrem Charakter, nach nutzloser Rache zu dürsten; was könnte es Ihnen helfen, wenn ein armer Teufel sein Verbrechen am Galgen büßt.«

»O nein, darnach verlange ich nicht,« antwortete Florence, »ich möchte nur erfahren, wohin man den Leichnam meiner armen Mutter gebracht hat, und selbst auf diese Enthüllung wollte ich eher verzichten, als Frau Fairford durch Inspektor Holt verhaftet zu wissen.«

»Florence!« sprach Viret entschieden, »nehmen Sie mein Wort darauf, Sie werden Fairford niemals wiedersehen. Ich halte es in allen Lebenslagen für das Beste, dem Schlimmsten gefaßt ins Antlitz zu schauen und hoffe zu seinem, zu Ihrem und auch zu meinem Wohle – denn ich möchte Sie endlich frei von Sorge wissen – daß Sie allmählich aufhören werden, über diese traurige Angelegenheit nachzugrübeln.«

Allein die Schatten wichen nicht so leicht aus Florencens Seele; immer wieder überdachte sie das Erlebte und weilte gern bei dem einzigen Lichtpunkte des trüben Wirrsales, bei der Erinnerung an das edle Opfer, welches Owen gebracht hatte. Sie kannte seine stolze, leicht verwundbare Natur und vermochte daher zu ermessen, welche harte Prüfung er in den verflossenen sechs Jahren durchgemacht. Wie viel hatte er erdulden müssen und alles um keines anderen Lohnes willen, als das Bewußtsein treu erfüllter Pflicht! Ohne ein Wort des Lebewohls war er gegangen und hatte sie vereinsamter denn je zurückgelassen – sie trauerte ihm nach, wie einem Menschen, den sie geliebt und verloren hatte.

Noch einmal erneute sich Florencens Seelenkampf, als Inspektor Holt am nächsten Freitag dem ›Lorbeerhofe‹ einen Besuch abstattete. Auf seinem Gesichte stand die erlittene Niederlage geschrieben. Nach einigen Fragen von seiten Doktor Virets, während welcher Florence die stürmischen Schläge ihres Herzens zählte, berichtete der Inspektor folgendes: »Ich gestehe, daß ich fürs erste den kürzeren gezogen habe. Fairford scheint den Entschluß zur Flucht sofort nach Ihrem nächtlichen Besuche gefaßt zu haben, Herr Doktor. Er reiste mit dem Frühzuge nach London, erteilte dort seinen Sachwaltern die nötigen Aufträge in betreff des Hauses und ordnete an, daß ein Teil der Möbel verbrannt werden müsse. Durch Vermittlung derselben Anwälte trat er in telegraphische Verbindung mit dem berühmten Schiffsbauer Lancaster zu Cowes wegen des Ankaufes einer Jacht, und bevor er Montag Nachmittag nach Rookfield zurückkehrte, war er schon im Besitze des Dampfers ›Enid,‹ der bis Mittwoch morgens bemannt und fertig gestellt sein sollte.«

»Unglaublich rasches, entschlossenes Vorgehen!« rief Doktor Viret mit einem Tone der Bewunderung, welcher ihm Florencens ganzes Herz gewann.

»Wer über genügende Geldmittel verfügt,« fuhr Inspektor Holt fort, »kann alles im Umsehen erledigen. Fairford bezahlte an Lancaster, den ich selbst in Cowes sprach, ein bedeutendes Angeld, um die Yacht über den Kopf eines zweiten Bewerbers hinweg zu erobern. Nachdem dieses Geschäft geordnet war, begab er sich in einen Mietstall und kaufte einen alten Reisewagen. Die Bezahlung spielte auch hier keine Rolle, so daß der Wagen noch in derselben Stunde, mit ein paar kräftigen Pferden bespannt, nach Rookfield abgesandt wurde. Gleichzeitig sorgte man für den Wechsel der Pferde unterwegs. Herr und Frau Fairford verließen die ›Waldaussicht‹ Montag gegen neun Uhr abends, um in der vorbereiteten Weise die Fahrt nach Southampton anzutreten. Am Hafendamm, nahe der Stelle, wo die Dampfschiffe aus Cowes zu ankern pflegen, stiegen sie Dienstag Abend mit einbrechender Dunkelheit aus dem Wagen, fanden ein Boot bereits ihrer wartend und schifften unverzüglich nach der Yacht ›Enid‹ hinüber. Des anderen Tages um sieben Uhr, während Cadman noch im tiefen Schlafe lag, brachte dasselbe Boot Frau Cawdrey an Bord, worauf die ›Enid‹ die Anker lichtete und Gott weiß nach welcher Himmelsgegend abdampfte.«

»Demnach,« flüsterte Florence, »ist keine Möglichkeit vorhanden, zu erfahren ...«

Holt bemerkte, wie das Mädchen erblaßte und sich umsonst bemühte, ihre Frage in passende Worte zu kleiden. Er kam der sichtlich Befangenen zu Hilfe. »Selbstverständlich,« sagte er, »wird man über kurz oder lang hören, was aus der ›Enid‹ geworden ist, doch, wenn ich auch nicht gezaudert hätte, Frau Fairford auf englischem Boden zu verhaften, so liegt kein genügender Beweis gegen sie vor, um sie über die Grenzen unseres Landes hinaus zu verfolgen und gewaltsam zurückzubringen.«

»Haben Sie auch Erkundigungen über meinen Vetter eingezogen,« fragte Florence, als der Inspektor seinen Hut vom Tische nahm.

»Ja so,« erwiderte Holt, »indem er aufmerksam das Futter seiner Kopfbedeckung betrachtete, »Herr Arnold Derwent kam in der That mit dem ›Radnor‹ an ...«

»Gott sei Dank!« rief Florence, in Thränen ausbrechend.

»Allein,« ergänzte Inspektor Holt, »es fehlt uns noch immer der Beweis, ob er nicht trotzdem Ende Februar mit dem ›Stirling-Castle‹ gelandet und später mit einem anderen Schiffe nach Teneriffa gefahren ist – darüber können wir erst bestimmte Auskunft erlangen, wenn der ›Stirling-Castle‹ wieder im Hafen einläuft.«

Entrüstet sah Florence den Beamten an. »Wie ungerecht,« rief sie lebhaft. – »Es ist nun erwiesen, daß mein Vetter die Wahrheit gesagt hat, und daran wollen wir uns genügen lassen.«

Doktor Viret schien im Begriff das Wort zu nehmen, änderte jedoch seine Absicht und schwieg. Holt zuckte unmerklich die Achseln und wandte sich der Thür zu. »Ich glaube, meine Anwesenheit in Rookfield würde nunmehr keinen weiteren Nutzen haben,« sagte er, »doch können Sie überzeugt sein, Fräulein Derwent, daß ich den Fall stets im Gedächtnis behalten werde.«

Mit der Abreise des Inspektors kehrte tiefe Stille in Rookfield ein. Der Beamte kam in der That nicht mehr zurück, wiewohl Florence gehofft hatte, er werde seine Nachforschungen von neuem aufnehmen. Langsam und traurig schlich die Zeit dahin, und das Geheimnis blieb nach wie vor in Dunkel gehüllt.

Ueberzeugt, daß sie Arnold unrecht gethan hatte, schämte sich Florence jetzt des Verdachts, der in ihrer Seele aufgekeimt war. Sie kehrte zu ihrem alten freundschaftlichen Verhältnisse mit ihrem Vetter zurück und trachtete, sein selbstsüchtiges Benehmen, seine am Tage von Annens Begräbnis bewiesene Herzenskälte so viel als möglich zu vergessen.

Arnold zögerte nicht, diese günstige Veränderung zu seinem Vorteile auszubeuten – er ließ kaum einen Tag vorübergehen, ohne im ›Lorbeerhofe‹ vorzusprechen. Gegen Ende des Sommers überraschte Doktor Viret Florence mit dem Vorschlage, eine Reise nach Schottland zu unternehmen. Für gewöhnlich verließ er sein Heim nur, um in Portugal das Grab seiner Frau und Tochter zu besuchen; Florence empfand es somit doppelt dankbar, daß er dies ihr zu Liebe verschob, um ihr Zerstreuung und Erholung zu gönnen.

Sie sollten Rookfield am ersten September verlassen. Je näher der Tag der Abreise heranrückte, desto häufiger deutete Arnold an, auch er bedürfe dringend eines Aufenthalts in anderer Luft. Als ihm jedoch keinerlei Aufmunterung zu Teil wurde, verlor er die Geduld, kam eines Nachmittags zu Florence und hielt in aller Form um die Hand seiner schönen Base an.

»Es thut mir recht leid, Arnold,« sagte Florence ruhig, nachdem er seine Liebeserklärung zu Ende gebracht hatte, »aber daraus kann niemals etwas werden!«

»Warum nicht, Flora?«

»Weil ich dich nicht liebe – das heißt nicht auf die Weise, wie du es wünschest. Du stehst meinem Herzen fast so nahe wie ein Bruder, aber mehr kannst du niemals für mich sein.«

Betroffen blickte Arnold Florence ins Gesicht – aller Frohsinn schien von ihm gewichen. »Flora!« sagte er gedrückt, »wenn du mich von dir weisest, gehe ich zum Teufel. Das bißchen Gute in mir verdanke ich deinem Einflusse. Wenn du mein Weib würdest – ich schwöre, du solltest es niemals bereuen! Um des Himmels willen, laß' mich nicht ohne Hoffnung von dir scheiden!«

Florence erhob sich, um der peinlichen Unterredung ein Ende zu machen – warum sie verlängern, da ihren Entschluß nichts zu ändern vermochte! »Höre auf, mich zu quälen!« bat sie sanft, »du verschwendest deine Worte – ich kann niemals deine Gattin werden.«

»Viret hat dich gegen mich eingenommen!« rief Arnold gereizt.

»Doktor Viret hat deinen Namen seit Wochen nicht genannt.«

»Dann ist es dieser verwünschte Fairford, der mir überall im Wege steht! Gut, wenn du nicht willst, so läßt sich's nicht ändern. Ich werde das ›Krähennest‹ verkaufen und Rookfield verlassen, denn ohne dich möchte ich keine Stunde in diesem trostlosen Loch leben. Meiner Treu', das thue ich! Ich gehe auf und davon und treibe mich ein wenig in der Welt umher.«

Nachdem Arnold fort war, überdachte Florence nochmals das Geschehene. Daß sie ihren Vetter abgewiesen, bedauerte sie keinen Augenblick, wenn sie auch nicht ohne Wehmut an ihre fröhliche, zusammen verlebte Jugend denken konnte. Doktor Viret trat jetzt ins Zimmer, ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt in der Hand. »Wie!« rief er aus, »in Thränen, Florence! Was ist geschehen?«

Zuerst schüttelte sie verneinend das Haupt, allein auf sein zärtliches Drängen gab sie endlich nach und erzählte ihm von Arnolds Werbung.

»Ich bin überzeugt, mein teueres Kind,« sprach Viret ruhig, »Sie haben ganz recht gethan. Ich könnte weder Neigung noch Vertrauen zu Ihrem Vetter fassen – nicht einmal mein Pferd möchte ich in seinen Händen wissen. Sehen Sie her,« fuhr er fort, ihr das Zeitungsblatt reichend, »das Gerichtsverfahren gegen Fairfords Diener hat bereits stattgefunden. Der Einbruch bei Askew ist gar nicht erwähnt und doch ist der Mann zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt.«

»Wundern Sie sich nicht, lieber Freund,« fragte Florence, »daß wir gar nichts mehr von Inspektor Holt gehört haben?«

»Nicht daß ich wüßte – es ist mir auch recht lieb. Am besten, wir lassen die Sache unberührt, und suchen sie zu vergessen.«

»Der Inspektor wird sich wohl nun selbst überzeugt haben, daß sein Verdacht gegen Arnold völlig grundlos war.«

»Jawohl; er war ganz aus der Luft gegriffen.«

»Ich meine aber,« fuhr Florence fort, »es wäre des Inspektors Pflicht gewesen, seinen Irrtum auch wirklich einzugestehen.«

Florence sah ihren Vetter nicht mehr vor ihrer Abreise, und als sie in der zweiten Woche des Oktober zurückkam, fiel ihr am Gartenthor des ›Krähennestes‹ die Ankündigung auf, das Haus sei zu verkaufen oder zu vermieten. Die beiden verschlossenen Häuser am Ende des Dorfes boten ein gar unheimliches Bild der Oede und Verlassenheit.

Florence fühlte sich nach ihrer Rückkehr aus Schottland zwar körperlich gekräftigt, aber im Herzen trug sie nach wie vor ihre stille, unbesiegbare Trauer. Ihre alten Freunde suchten sie wieder auf und Doktor Viret widmete ihr die liebevollste Sorgfalt. Auch den leisesten Wunsch trachtete er ihr zu erfüllen; nur was ihr Herz in heißer Sehnsucht bewegte, mußte selbst diesem treuen Freunde verborgen bleiben.

Weihnachten ging vorbei, die ersten Anzeichen des Frühlings verkündeten das nahende Erwachen der Natur. Es jährte sich Derwents Todestag, welcher in Florencens Leben einen so traurigen Wendepunkt bezeichnete. Bittere Erinnerungen bestürmten das Mädchen, und gleichzeitig der erneute Wunsch, ein Geheimnis zu enträtseln, auf dessen Lösung sie bereits zu verzichten begann. Inspektor Holt schien den Fall ganz vergessen zu haben; auch von Arnold hörte Florence nichts mehr, seit sie seinen Antrag abgelehnt hatte. Auf die endliche Aufklärung der furchtbaren Ereignisse des verflossenen Jahres war kaum mehr zu hoffen.

An einem sonnigen Aprilmorgen erschien Florence später als gewöhnlich im Speisezimmer. Doktor Viret hatte sein Frühstück noch nicht begonnen – er stand an den Kamin gelehnt und starrte auf einige Briefe, die offen vor ihm auf dem Tische lagen. »Florence!« begann er, »ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, welche Sie einigermaßen überraschen wird.«

Noch ruhte die Hand, die sie ihm zum Morgengruße gereicht hatte, in der seinen, – rasch blickte Florence zu ihm auf.

»Ich werde demnächst verreisen,« fuhr Viret fort.

»Für lange?« fragte das Mädchen.

»O nein, nur für einige Tage. Sie sind ja gar nicht erstaunt darüber?«

Florence wußte, daß Viret schon im vorigen Herbste die Fahrt nach Portugal verschoben hatte, um ihr das Vergnügen einer Erholungsreise durch Schottland zu verschaffen; sie schloß daher, er beabsichtige das Versäumte nachzuholen und war zu zartfühlend, um ihn mit neugierigen Fragen zu bestürmen. »Wann werden Sie abreisen?«

Er dachte eine Weile nach, als gälte es den Zeitpunkt seiner Reise zu berechnen. » Sagen wir übermorgen – Donnerstag« – erwiderte er.

Während der beiden folgenden Tage beschäftigte sich Florence mit der Besorgung seines Gepäckes und sparte keine Mühe und Sorgfalt, um ihm so viel sie konnte ihre wahrhaft töchterliche Anhänglichkeit zu beweisen. Am Tage der Abreise lehnte er ihre Begleitung zum Bahnhofe ab. Als der Wagen vorfuhr, der Koffer aufgeladen wurde, und Florence vom Fenster des Wohnzimmers den letzten Vorbereitungen zusah, trat Viret vollständig gerüstet ein, um Abschied von ihr zu nehmen.

»Können Sie mir nicht sagen, wann ich Sie zurückerwarten darf?« fragte Florence; ihr Blick begegnete dem seinen – es fiel ihr auf, wie müde und angegriffen er aussah.

»Gott weiß wann!« erwiderte Viret tonlos – er faßte ihre Hand und drückte sie wiederholt auf das zärtlichste. »Leben Sie wohl, Florence!« sprach er hastig mit stockender Stimme.

An der Thüre wandte er sich nochmals um: »Sind Sie glücklich gewesen in meinem Hause?« fragte er, zu Florence zurückkehrend.

»Gewiß, sehr glücklich!« antwortete sie, betroffen über sein sonderbares Benehmen.

»Florence!« fuhr er fort, »zuerst liebte ich Sie in der Erinnerung an meine verlorene Elsa, jetzt liebe ich Sie noch weit mehr um Ihrer selbst willen. Leben Sie wohl, teueres Kind, Gott segne Sie!«

Er beugte sich vor, um ihre Stirn zu küssen, that einen Schritt nach der Thür hin, und als er nochmals zurückblickte, rollten zwei große Thränen über seine eingefallenen Wangen.

Tiefe Einsamkeit lastete auf dem stillen Hause. Staunend bemerkte Florence, welchen bedeutenden Platz Doktor Viret in ihrem Leben eingenommen hatte. Tiger schloß sich in doppelter Anhänglichkeit an die Zurückgebliebene, und teils zu ihrer eigenen Zerstreuung, teils dem prächtigen Tiere zuliebe, verließ Florence am Tage nach Doktor Virets Abreise das Haus, um in der frischen, frostigen Morgenluft einen Gang durch den Rookfielder Forst zu machen.

Noch trug sie Trauerkleidung; nur ein lila Band hatte sie um Hut und Hals geknüpft. Sie sah liebreizender aus als je, wie sie leichten Schrittes dem Walde zuwanderte, während Tiger in mächtigen Sätzen ihr voraneilte.

Kein Ort auf Erden besaß für Florence größeren Reiz als der Wald von Rookfield. Ueberall begleitete sie dort die Erinnerung an vergangene Tage – wie oft war sie hier mit ihrem Vater gewesen, und einmal auch zu denkwürdiger Stunde mit Owen Fairford! Wohin ihre Gedanken sich nur wandten, begegneten sie wehmütigen Bildern, und wie geringes Glück schien ihr die Zukunft zu verheißen! Glücklich, in gewissem Sinne, hatte sie sich nur während der letzten Monate bei Doktor Viret gefühlt, doch, sollte das Dasein wirklichen Wert für sie besitzen, so mußte es ein Leben an Owens Seite sein.

Obwohl sie seinen Namen niemals erwähnte, konnte Florence sich doch nicht über ihre Empfindungen täuschen. Müßte sie auch einst ins Grab sinken, ohne ihn jemals wiedergesehen, ohne von ihm jemals gehört zu haben – er blieb trotzdem ihr Ideal, ihr Held, ihr Geliebter!

Sinnend wandelte sie dahin, die Sonne glänzte über ihrem Haupte, der goldene Ginster stand in voller Blüte und Tiger sprang mutwillig um sie her. Ihre Gedanken aber schweiften zurück zu dem Tage, wo sie, fast genau vor einem Jahre, Owen hier begegnet war. Sie erinnerte sich deutlich, daß ein Geräusch hinter ihr damals seine Gegenwart verraten hatte und sie, sich umschauend, ihn nur wenige Schritte entfernt im Schatten der Bäume stehen sah. Unwillkürlich wandte Florence auch jetzt den Kopf, und – das Herz drohte ihr plötzlich stille zu stehen, denn über das Heidekraut kam Owen rüstig dahergeschritten, den sie tausend Meilen entfernt geglaubt hatte.


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