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2. Kapitel.
Was Joseph Bodger las.

Die Weststraße Londons grenzt zwar an einen wohlhabenden Stadtteil, gehört aber selbst keineswegs zu dieser vornehmen Nachbarschaft. Während die Kirchenglocken zum Früh-Gottesdienst rufen, zieht die Musikbande der Heilsarmee mit klingendem Spiele vorüber; verwahrlost aussehende Kinder tragen Milchkrüge über die Gassen und nur wenige Läden sind geöffnet.

Aus dem schmalen, dunklen Hauseingang einer der zahllosen Mietskasernen, kam an diesem Morgen, wohl frühzeitig durch das Glockengeläute geweckt, Joseph Bodger zum Vorschein, und schlug den Weg nach der unweit der Straßenecke gelegenen Barbierstube ein. Der untere Teil der Ladenfenster war weiß übertüncht, um den unbefugten Einblick in das Innere zu verhindern, an der Thür hing ein Schild mit folgender Inschrift:

Vertrau' dein Haar Jones' Sorgfalt an
Denn besser kann's kein andrer Mann!

Dieser vertrauenerweckenden Einladung folgend, trat Joseph ein, setzte sich auf einen leeren Stuhl, legte den Kopf zurück, und sein sachliches Kinn wurde alsbald mit warmem Seifenschaume bearbeitet.

»Gut' Morgen, Joseph!« sagte Herr Jones, dem sein eigenes glänzendschwarzes Haar und der gekräuselte Bart als bestes Aushängeschild dienten. »Ein rechter Stoppelbart,« fuhr er geringschätzig fort, während er das Messer, vor Beginn der Arbeit, in gefährlicher Nähe von Josephs Nase abzog. »Um Sie, mein Freund, zu rasieren, bedarf es einer kräftigen Hand. Nun, wie ist's jetzt?« schloß er nach vollendetem Geschäfte, sich vertraulich vornüber lehnend, – »hab' ich's recht gemacht?«

Joseph stand, äußerlich ein verwandelter Mann, vom Sessel auf. So nützlich wird ein Penny selten angewendet – er gab sogar noch einen zweiten aus, kaufte sich die Sonntag-Morgenzeitung und schlenderte mit dieser in der Tasche nach dem Hyde-Park. Dort streckte er sich in der Nähe des Marmorbogens ins Gras und begann den Polizeibericht zu lesen. Kaum hatte er das Blatt geöffnet, so war auch seine ganze Aufmerksamkeit durch folgenden Artikel gefesselt:

Ein spurlos verschwundener Dichter.

»Herr Derwent, der wohlbekannte Verfasser zahlreicher, reizender Dichtungen und volkstümlicher Erzählungen für die Kinderwelt, ist kürzlich unter höchst geheimnisvollen Umständen aus seinem Hause verschwunden. Des Dichters Gattin, an der er mit inniger, ja leidenschaftlicher Liebe hing, war nach langer, schmerzhafter Krankheit gestorben und wurde am 4. dieses Monats, Dienstag Nachmittag, zu ihrer letzten Ruhestätte gebracht.

Herr Derwent, der mit seiner einzigen Tochter den herben Verlust beweinte, folgte dem Sarge nach dem Gottesacker, sah die teuere Leiche in die Gruft senken und kehrte hierauf nach seinem Heim zurück, dem am Rande des freundlichen Dorfes Rookfield gelegenen, von ihm selbst ›das Krähennest‹ benannten Landhause.

Wiewohl schwer gebeugt und in traurigster Gemütsstimmung, ob des erlittenen Schicksalsschlages, schien Herr Derwent sowohl geistig als körperlich vollkommen gesund. Nachdem er gespeist und mit seiner Tochter den Abend verbracht hatte, wobei nichts in seinem Benehmen den leisesten Verdacht irgend einer geheimen Absicht aufkommen ließ, zog er sich zur Nachtruhe in sein eigenes Zimmer zurück.

Mittwoch morgens fand eine Dienerin die Thür der Eingangshalle unverriegelt, ein Umstand, der keinerlei Befremden hervorrief, da Herr Derwent vor dem Frühstück häufig spazieren zu gehen pflegte.

Die Frühstücksstunde kam, doch nicht der Hausherr. Sein Bett war unberührt, und er ist seither nicht wieder gesehen worden. Der hochgeschätzte Schriftsteller, der nicht nur von allen geliebt wurde, die ihn kannten, sondern auch wegen seiner gemütvollen, geistreichen Werke, die Gunst des großen Publikums im hohen Maße genoß, blieb für die Seinen und die um ihn trauernden Freunde spurlos verschwunden.

Das sonst so stille, friedliche Dorf war überdies während der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, in welcher der unglückliche Dichter einem dunkeln Schicksal zum Opfer fiel, der Schauplatz einer zweiten Missethat. In dem von Oberst Askew bewohnten Herrenhause, das einige hundert Meter vom Krähenneste entfernt liegt, wurde zur selben Zeit ein Einbruchsdiebstahl verübt und eine beträchtliche Menge Silbergeräte entwendet.

Von dem Wunsche beseelt, unseren Lesern die genauesten Einzelheiten des ebenso traurigen als geheimnisvollen Vorganges zu bieten, sandten wir gestern einen besonderen Berichterstatter nach Rookfield. Fräulein Derwent wollte ihm zuerst keine Unterredung gewähren, als man ihr jedoch bedeutete, daß die Veröffentlichung aller Nebenumstände durch ein soviel gelesenes Blatt, wie das unsere, zweifellos die Entdeckung erleichtern würde, willigte sie endlich ein, unseren Berichterstatter zu empfangen.

Die Unterredung unseres Berichterstatters mit der Tochter des vermißten Dichters.

Das ›Krähennest‹ kann ohne Uebertreibung als ein ideales Dichterheim bezeichnet werden. Am Ausgang eines malerisch gelegenen Dorfes erbaut, anderthalb Meilen von der nächsten Eisenbahnstation entfernt, bietet es den genußreichsten Fernblick über den sanftgewellten Forst von Rookfield.

Das Haus ist nicht hoch, doch geräumig, von einem ausgedehnten Garten umgeben, in dem der gelbe Frühlingssaffran bereits die saftigen Knospen sprengt. Schlingpflanzen umranken die Fenster und auf den frisch hergerichteten Blumenbeeten, die das Haus von der wenig befahrenen Landstraße trennen, wird bald der purpurne Rhododendron in Blüte prangen.

Fräulein Derwent empfing unseren Berichterstatter in einem entzückenden, altertümlichen Gemache, dessen Wände unten mit Eichenholz getäfelt, oben durch engbestellte Bücher-Regale gänzlich verdeckt sind.

Fräulein Florence Derwent ist eine reizende, junge Dame von 19 Jahren, groß, vornehm und schön, in tiefe Trauer gekleidet. Trotz ihrer offenbaren Selbstbeherrschung genügte ein zufälliges Wort, eine flüchtige Anspielung, um ihre sanfte Stimme zu erschüttern, ihre grauen Augen mit einem Thränenflore zu verschleiern.

›Dies war also des Dichters Zimmer,‹ begann unser Reporter. ›Die Geburtsstätte edler Gedanken, die von hier aus die Welt durchwanderten.‹

›Es war meines Vaters Studierzimmer,‹ bestätigte Fräulein Derwent. ›Jeden Morgen, soweit meine Erinnerung zurückgreift, saß er an diesem Tische – unfaßbar scheint es mir, ihn nie mehr hier zu sehen!‹

›Sollte dies wirklich außer jeder Möglichkeit liegen, verehrtes Fräulein?‹

›Die Hoffnung ist gering!‹ rief sie erregt. ›Wenn er noch lebt, warum kehrt er nicht zurück? Dienstag Abend sah ich ihn zum letztenmal – heute haben wir Samstag und kein Wort, kein Zeichen von ihm hat uns erreicht. Er hatte keinen Feind auf Erden – alle liebten und schätzten ihn – wer konnte diesem Mann ein Unrecht zufügen?‹

›Man stellt die Vermutung auf, er habe möglicherweise sich selbst ein Leid angethan.‹

›Diese Erklärung ist für jeden, der seinen Charakter und seine Lebensweise kennt, ausgeschlossen,‹ antwortete sie lebhaft, ›selbst Inspektor Holt glaubt nicht an seinen Tod; wie aber könnte er leben und mich in dieser Ungewißheit lassen!‹

›Inspektor Holt scheint demnach die Annahme nicht zu verwerfen, Herr Derwent sei in die Hände von Räubern gefallen?‹ warf unser Berichterstatter ein.

›Was hätte einen Dieb oder Räuber an meinem Vater verlocken sollen? Er trug niemals Wertsachen bei sich, nur eine Uhr, die ohne Kette in seiner Tasche steckte. Wenn er, wie ich annehmen muß, nach dem Kirchhofe ging, um der Mutter Grab zu besuchen, so verfolgte er die gewohnte Straße, die in geringen Zwischenräumen mit Häusern besetzt ist; auch war er ein starker Mann – er hätte kräftigen Widerstand geleistet und durch seinen Hilferuf die Nachbarschaft aus dem Schlafe geweckt.‹

›Wenn Sie, mein Fräulein, eine Sie vielleicht peinlich berührende Frage entschuldigen wollen – bemerkten Sie Dienstag Abend nichts Außergewöhnliches in Ihres Vaters Benehmen?‹

›Nicht das geringste,‹ lautete die entschiedene Antwort. ›Dr. Viret, der ihn nach Hause begleitete, als das Begräbnis vorüber war, kann bezeugen, daß niemand zurechnungsfähiger sein konnte, als der arme Vermißte.‹

›Dr. Viret? meinen Sie den berühmten Pathologen?‹

›Denselben – er übt keine Praxis, da aber unser Hausarzt in dem fünf Meilen entfernten Wisborough wohnt, und die Krankheit meiner Mutter oft schleunige Hilfe, selbst bei Nacht, erheischte, so nahm sich Dr. Viret auf die Bitte seines Berufsgenossen ausnahmsweise dieses Falles an.‹

›Darf ich fragen, welcher Art die Krankheit Ihrer Mutter gewesen?‹

›Ihr Tod wurde durch ein Zusammentreffen mannigfacher Leiden herbeigeführt – ursprünglich jedoch litt sie am Wangenkrebs.‹

›Ich glaube, Dr. Viret ist Spezialist für Krebsleiden?‹

›Er zeigte in der That wissenschaftliches Interesse für meiner Mutter Krankheit – besondere Erscheinungen, die ich nicht imstande bin, Ihnen näher zu erklären, begleiteten den Verlauf des Leidens. Schließlich übernahm Dr. Viret, der in unserer nächsten Nähe wohnt, die alleinige Behandlung – Dr. Brown sprach nur gelegentlich vor – und ich konnte seither seine Güte und Sorgfalt für unsere teuere Kranke nicht dankbar genug anerkennen.‹

Nach einem weiteren, höchst anregenden Gespräche über des Dichters letzte Arbeiten, bat unser Gewährsmann um die Erlaubnis, das Zimmer sehen zu dürfen, in dem Herr Derwent sich zuletzt aufgehalten. Erst nach sichtlichem Zögern geleitete ihn Fräulein Derwent die Treppe zum ersten Stockwerke hinauf nach einem kleinen einfachen Schlafgemach. Einige ausgewählte Kupferstiche schmückten die Wände, auf dem Ankleidetische lag eine vielgelesene Bibel, und neben dem altertümlichen Ofen stand ein mit Kattun überzogener Lehnstuhl.

›Ich sagte meinem Vater unten in seiner Studierstube gute Nacht,‹ erzählte Fräulein Derwent; ›kaum war ich nach meinem hier oben gelegenen Zimmer gegangen, als ich seine Stimme hörte. O, wie erschütternd ist es, Zeuge des tiefsten Seelenschmerzens eines starken Mannes zu sein! Mein Vater stand am Fuße der Stiege, blickte aufwärts und rief in thränenerstickten, herzzerreißenden Tönen den Namen meiner Mutter: ›Alice! Alice!‹ Wir hatten sie erst am Nachmittag zu Grabe getragen. Ich eilte hinab, nahm zärtlich seine Hand und führte ihn hieher in sein Schlafzimmer, wo ich ihn nochmals küßte, um ihn nach einiger Zeit, scheinbar beruhigt, zu verlassen. Als ich ihn zum letzten Mal sah, saß er in diesem Lehnstuhl – kurz darauf schlug es 11 Uhr – seither ist jede Spur von ihm verschwunden.‹«

»Doch nicht so ganz,« flüsterte Joseph Bodger, seine Lektüre unterbrechend. »Einer hat ihn noch später gesehen – und das bin ich! Schwören möchte ich, daß er es war, als ob ich es hier schwarz auf weiß gelesen hätte.«

Das Zeitungsblatt zusammenfaltend, überblickte Joseph die erste Seite und fand gleich obenan die folgende Anzeige:

» 1000 Pfund Belohnung!

Roderich Derwent ist in der Nacht vom 4. auf den 5. März aus seinem Hause verschwunden. Der Vermißte ist 55 Jahre alt, 5 Fuß 4½ Zoll groß, breitschulterig gebaut, hat lichtbraune, gekrauste, etwas mit grau gemischte Haare, dünnen Schnurr- und Backenbart, breites blühendes Gesicht, war mit schwarzem Ueberrock und Filzhut bekleidet, wurde zuletzt im ›Krähennest,‹ Rookfield, Sussex, gesehen.

Die obengenannte Belohnung wird demjenigen ausbezahlt, welcher imstande ist Angaben zu machen, die entweder zur Auffindung des Vermißten, oder, falls sein Tod sich bestätigt, zur Entdeckung des Mörders führen.

Nähere Auskunft bei Edwards Sohn und Mathews, Rechtsanwälte, No. –, Old Jewry, E. C.«

»Ich wette, das paßt in meinen Kram,« murmelte Joseph, sich aus dem Grase erhebend. Hatte er den hier beschriebenen Mann doch später als alle andern zu Gesicht bekommen, und obendrein ein Weib, das ihm unmittelbar folgte! »Da gibt's Geld zu verdienen,« dachte er weiter, indem er seinen Platz beim Marmorbogen verließ, »diese 1000 Pfund sollen mein werden.«

Bei näherer Ueberlegung erschien ihm Inspektor Holts Teilnahme an der Sache als ein seine Pläne erschwerender Umstand. Joseph kannte den Inspektor und wußte, daß dieser auch ihn nicht vergessen hatte; sie hegten gegenseitige Achtung für einander, wie sie dem Sachverständigen in seinem Beruf gebührt. Leider konnte Joseph nicht geradeswegs zum Inspektor gehen und von ihm, auf Grund seiner Angaben, die ausgeschriebene Belohnung fordern. Das war ein Unglück, doch, wenn er zwischen zwei Uebeln zu wählen hatte, so wollte er lieber die Zwecke der Gerechtigkeit vereiteln, als der ihm feindlich gesinnten Macht zu einem Erfolge verhelfen.

»Auf jeden Fall,« wiederholte er nochmals »gibt's Geld zu verdienen, und ich will nicht säumen mir meinen Anteil zu holen.«

Er war nicht nur der Letzte, der Herrn Derwent gesehen, er war auch der Einzige, der von dem Dasein der geheimnisvollen Frau Kenntnis hatte; folglich durfte er keine Zeit verlieren, um vor allem die nähere Spur dieser für ihn hochwichtigen Person zu entdecken.


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