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6. Kapitel.
Doktor Viret.

Von Anfang an war Doktor Virets Laufbahn glänzend gewesen. Schon als junger Mann galt er für einen berühmten Chirurgen; mit 40 Jahren vermählte er sich mit einem schönen Mädchen, das zwanzig Jahre jünger war als er, und im Alter von kaum 50, besaß er Ansehen und Stellung, ein reichliches Einkommen, so wie eine reizende, blondhaarige Tochter, die Wonne und das Entzücken seines Lebens.

Er stand auf dem Höhepunkte seines Glückes, nun verließ es ihn treulos. Frau Viret erkrankte. Auf Anraten der Aerzte sollte sie vor Anbruch der kalten Jahreszeit England verlassen, und den Winter in Madeira zubringen. Zuerst verweigerte sie bestimmt jede Trennung von ihrer Familie; nur auf Dr. Virets Versprechen, ihr 10jähriges Töchterchen Else dürfe sie begleiten, fügte sie sich seinem Willen. So schloß er denn an einem milden Oktober-Nachmittage Weib und Kind zum letztenmal in die Arme und stand thränenfeuchten Auges auf dem Quai von Southampton, während die ›Prussia‹ in die offene See hinausdampfte.

Zwei Tage später, als er beim einsamen Frühstück saß, fiel sein Blick auf die großen fettgedruckten Anfangszeilen eines Berichtes im neuesten Morgenblatte:

»Entsetzlicher Unglücksfall an der Küste von Portugal.
Die Prussia ein Wrack.
Mehr als 300 Personen tot.«

Das Frühstück blieb unberührt; die zahlreichen Kranken im Vorzimmer hatten umsonst gewartet. Dr. Viret reiste Tag und Nacht nach Lissabon, um von dort die meerumschäumte, felsige Küste zu erreichen, an welcher die Prussia gestrandet war.

Als das Schiff auf die Klippen lief, befanden sich die meisten Passagiere in ihren Kabinen. Getäuscht durch den Nebel und die starke Strömung, glaubte sich der Kapitän 30 Seemeilen vom Lande entfernt. Als er des warnenden Lichtes ansichtig wurde, war es bereits zu spät. Viele ertranken, bevor sie das Deck erreichten, und unter den Wenigen, welche sich durch die brandenden Wellen gerettet hatten, fand Dr. Viret einen Mann, der ihm Bericht über die letzten Lebensmomente seiner Teueren erstatten konnte. Dieser, ein kühner, geschickter Schwimmer, hatte den Kampf mit dem tosenden Elemente aufgenommen, als er Mutter und Kind, die einander fest umschlungen hielten, auf sich zutreiben sah. Von dem Vertrauen beseelt, auch mit einer Bürde belastet die Küste zu gewinnen, wollte er auf Frau Virets Flehen, nur ihr Kind zu retten, das ohnmächtige Mädchen aus den Armen der Mutter lösen, als ein schaumbedeckter Wellenberg die hilflosen Frauen von ihrem Beschützer losriß. Dem Manne selbst schwanden die Sinne. Aus kurzer Betäubung erwacht, schwamm er allein auf hoher See, bis er endlich, nach einer letzten verzweifelten Anstrengung ans Land geworfen, mit dem nackten Leben davonkam.

Nach Verlauf einiger Tage der qualvollsten Bemühungen, gelang es Dr. Viret, auf einem Felsenriffe die angeschwemmten Leichen von Frau und Kind zu entdecken. Es blieb ihm nichts mehr zu thun übrig, als beide im zunächst gelegenen katholischen Friedhofe zu bestatten, worauf er, ein gebrochener, freudloser Mann, nach London zurückkehrte.

Seit diesem erschütternden Ereignisse hatte Dr. Viret nie mehr die ärztliche Kunst geübt. Er entsagte jedem weltlichen Ehrgeize, löste seinen Hausstand in der Residenz auf, kaufte, nach längerem, ziellosem Umherschweifen, in Rookfield ein kleines, unter dem Namen ›der Lorbeerhof‹ bekanntes Besitztum, baute dem vernachlässigten Hause einen Flügel an und widmete sich ausschließlich wissenschaftlicher Forschung. Fast gegen seinen Willen erhöhten die Resultate dieser Arbeiten seinen Ruf noch bedeutend, und bereicherten die medizinische Wissenschaft mit den wertvollsten Entdeckungen, so daß sein eigener unermeßlicher Verlust zum Segen und Gewinn für die Menschheit wurde.

Lange hatte er bereits dies Einsiedlerleben geführt, als er eines Tages, bei einem Besuche im Pfarrhause, mit einigen ihm bisher fremden Personen zusammentraf, unter anderen mit Fräulein Askew, einer strengen, energischen, ältlichen Dame, Mitglied zahlreicher Vereine, deren Benennungen sich sämtlich durch die Vorsilbe ›Anti‹ kennzeichneten. Sie war Anhängerin des Anti-Impfvereins, unterstützte eine Anti-Tabakgenossenschaft mit werkthätiger Hilfe und arbeitete mit besonderer Begeisterung im Dienste der Anti-Vivisektion.

Während einer Pause des Gesprächs holte Fräulein Askew aus ihrer weiten Tasche eine mächtige Rolle hervor, entfaltete sie vor dem neben ihr sitzenden Gelehrten und bat ihn ohne weitere Einleitung, seinen Namen eintragen zu wollen.

Pfarrer Daubney, nicht minder feurig der guten Sache ergeben, zog seinen Sessel erwartungsvoll näher.

»Wozu wünschen Sie meine Beihilfe?« fragte Dr. Viret argwöhnisch.

»Wir wollen eine Petition einbringen, um der unnötigen, grausamen Mißhandlung wehrloser Tiere ein Ziel zu setzen,« erklärte Fräulein Askew. »Ich bin überzeugt, Sie werden zu diesem edlen Zwecke ihre Unterschrift nicht verweigern.«

Was sich hierauf ereignete, läßt sich mit wenigen Worten berichten. Augenzeugen versichern, daß der Doktor einen derben Fluch ausstieß, erzürnt aufsprang und das Haus verließ, ohne dem Gastgeber Lebewohl zu sagen.

Von diesem Zwischenfalle an brach Dr. Viret jede gesellige Verbindung ab, während Pfarrer Daubney, um seinem Unwillen Luft zu machen, des Gelehrten Haus fortan stets ›die Metzgerbude‹ nannte.

Es war zwar richtig, daß Dr. Viret zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung häufig Vivisektionen vornahm, wozu er durch einen amtlichen Erlaubnisschein ermächtigt war, doch zeigte er sich andrerseits als ausgesprochener Freund der Tierwelt. Seine Pferde genossen die sorgsamste Pflege und führten ein weitaus bequemeres Dasein als er selbst. Tiger, der zottige, schwarzbraune Bernhardiner, folgte seinem Herrn überall hin, nur nicht ins Laboratorium, das niemand, auch nicht des Doktors Lieblingshund, betreten durfte.

Ein in Serpentinen angelegter Fahrweg führte vom Hauptkreuzungspunkte der Dorfstraße aus nach dem niedlichen epheuumsponnenen Häuschen; die Stallungen, welche dazu gehörten, lagen abgesondert im Hofe. Das hinter dem Wohngebäude angebrachte, mit Oberlicht versehene Laboratorium, verriet sich sofort durch den ihm entströmenden, durchdringenden Chloroformgeruch. Ein Operationstisch nahm die Mitte des Raumes ein, zahlreiche Diplome und Auszeichnungen gelehrter Gesellschaften bildeten die Ausstattung der sonst kahlen Wände. Unter ihnen in Manneshöhe standen auf breiten von Ecke zu Ecke laufenden Gestellen Käfige mit langohrigen Kaninchen, Mäusen, Ratten und Meerschweinchen, einige munter, in bester Gesundheit, andere anscheinend bereits tot. Streifen weißen Papiers, an der Außenseite der Käfige angebracht, verzeichneten in flüchtig hingeworfenen Bleistiftnotizen den jeweiligen Fortschritt des Experiments. Luftpumpen, mit Glasstöpseln versehene Flaschen, Linsen, Mikroskope, Instrumente verschiedenster Form, viele nach Doktor Virets Erfindung, vollendeten die Einrichtung des Gemachs, in welchem der Gelehrte an demselben Mittwoch Morgen, gegen elf Uhr, als Joseph Bodger sich bei Owen Fairford verdingte, ein Skalpell in der Hand, am Operationstische, über ein todmattes Meerschweinchen gebeugt, seiner Arbeit oblag.

Wenn er aufrecht stand – obwohl die letzten Jahre ihn stark gealtert hatten – kam er an Größe Owen Fairford fast gleich. Seine Gestalt war mager und eckig, die Bewegungen linkisch, wie es bei scheuen, einsam lebenden Menschen zumeist der Fall ist. Das Hinterhaupt war kahl, doch stand ein Büschel rötlichen, steifen Haares über seiner hohen Stirn, während ihm der dichte Backenbart bis über den Kragen herabhing. Was in einem schönen Gesicht lang zu sein pflegt war bei ihm kurz, und was kurz sein sollte langgestreckt. Dazu kam noch eine dicke, formlose Nase und eine weitvorstehende Oberlippe. Ob schlechtes oder gutes Wetter, er trug stets den gleichen, unzugeknöpften, abgeschabten schwarzen Ueberrock, den er niemals mit einem neuen zu vertauschen schien. Gegen plötzlichen Temperaturwechsel schützte er sich durch ein Flanellhemd von grauer Farbe, nach Sitte des einfachen Arbeiters, und die grobe Weste reichte, hoch geschlossen, bis zum Halse hinauf. Fügt man zu diesem anspruchslosen Anzuge Schuhe, nach einer von ihm selbst gelieferten Zeichnung, die nicht der schönen Form, nur der Bequemlichkeit huldigten, einen auffallend breiten Hut, fest in die Stirn gedrückt, und einen knorrigen Eichenstock, so hat man das vollendete Bild Doktor Virets, wie er auf seinen gewohnten Gängen durch das Dorf jedem Bewohner zur wohlbekannten Erscheinung geworden war.

Alle zwei Jahre reiste er nach dem Grabe seiner Frau und seines Kindes. Monatelang nachher blieb er die Beute eines bis zu gefährlichem Trübsinn gesteigerten, oft sogar verzweifelten Seelenzustandes.

Als Dr. Brown ihn bat, die Behandlung Frau Derwents zu übernehmen, willigte er aus doppelten Gründen ein: fürs erste, weil des Arztes Bericht über die Krankheit und deren Verlauf sein wissenschaftliches Interesse erregte, hauptsächlich jedoch, weil die Leidende Florencens Mutter war.

Gar manches an dem anmutigen Mädchen, ihre Schönheit, das goldige Haar, der frische heitere Sinn, der ungetrübt aus den glänzenden Augen lachte, so lange der Schmerz ihr holdes Haupt noch nicht gestreift, vor allem jedoch das gleiche Alter, mahnte Dr. Viret an seinen verlorenen Liebling. Im selben Jugendreize würde das Töchterchen jetzt an seiner Seite stehen, hätte ein grausames Schicksal es nicht vorzeitig dem Vater entrissen.

Jahr um Jahr versuchte er sich des Kindes Gestalt vorzustellen, wie sie emporgewachsen, sich entwickelt hätte. Florence Derwent, die im gleichen Monate geboren war, erschien ihm wie Elsas Zwillingsschwester, in ihr bewunderte er der eigenen Tochter Aufblühen und begleitete sie vom Kindesalter zur Schwelle knospender Jugendblüte, bis sie einen bevorzugten, wenn nicht den ersten Platz in seinem Herzen einnahm.

Trotzdem hatte er jahrelang in Rookfield gelebt, ohne Florence gesprochen zu haben, ohne durch das geringste Zeichen den Anteil zu verraten, den er für sie hegte; erst als die vorher erwähnten Umstände zu unmittelbarer Berührung mit der Familie Derwent führten, kamen, ihm selbst unbewußt, die lang verborgenen Empfindungen zum Durchbruche, um schließlich zur einzig lebensvollen Regung seiner vom Leide abgestumpften Seele zu erwachsen.

Um 12 Uhr betrat er an jenem Morgen Derwents Studierzimmer.

»Selbstverständlich keine weiteren Nachrichten?« fragte er, Florencens Hand erfassend.

»Keine! Werden wir überhaupt je etwas erfahren?« gab sie zurück. »Inspektor Holt ermutigt mich zu hoffen, aber mein Herz ist viel zu schwer bedrückt, um an eine tröstliche Aussicht zu glauben.«

»Es wäre auch nutzlos, mein teueres Kind – nutzlos und gefährlich. Jeder begeht Unrecht, der falsche Hoffnung in einer trauernden Menschenseele weckt – am besten ist's, das Aergste anzunehmen und dem Schicksal gefaßt ins Auge zu blicken.«

»Es ist zu entsetzlich, lieber Doktor,« stöhnte das Mädchen; »selbst an einen Strohhalm möchte ich mich klammern – ich kann nicht hoffen und will doch der Hoffnung nicht entsagen. Den ganzen langen Tag zergrüble ich mein Gehirn, um irgend einen vernünftigen Anhaltspunkt für Trost und Zuversicht zu entdecken.«

»Gerade das sollten Sie vermeiden! Ich weiß, es ist traurig, wie es trauriger für Sie nicht kommen konnte – nur die Zeit legt Balsam auf solche Wunden – auch der bitterste Schmerz schläft langsam ein. Trachten Sie zu vergessen, mit dem Vergessen kommt wohlthätige Stumpfheit über uns. Großer Gott!« rief er erregt, »Sie wissen, was ich gelitten habe! Wenn mein süßes Mädchen lebte, sie stünde jetzt schön und lieblich gleich Ihnen vor mir; doch Elsa mußte sterben; für Sie aber, geliebtes Kind, hoffe ich noch immer auf ein glückliches, zufriedenes Leben.«

»Vorläufig könnte ich es kaum erträglich nennen,« flüsterte Florence unter Thränen.

»Es muß unerträglich bleiben, so lange Sie ausschließlich Ihrem Unglücke nachhängen – doch, ich wollte nicht von Empfindung sprechen, sondern von praktischen Dingen – auch will ich mich nicht in Ihre Angelegenheiten mengen, denn ich selbst hasse nichts mehr, als die Einmischung fremder Personen. Je besser die Leute es meinen, desto schwerer wird man sie los. Da ich nun aber einmal durch Edwards Ihre Verhältnisse genau kenne, muß ich gestehen, daß ich nicht begreife, wie ein Mann, der so viele Bücher geschrieben, (gelesen habe ich noch keines,) dessen Name ein geradezu berühmter war, so wenig oder gar kein Kapital daraus schlagen konnte. Uebrigens, auch Ihres Vaters wollte ich nicht erwähnen, sondern Ihnen einfach sagen, daß für Sie nichts übrig geblieben ist.«

»O doch,« antwortete Florence, »es soll eine geringe Summe vorhanden sein.«

»Verteufelt wenig!«

»Ich kann mir ja etwas dazu verdienen.«

»Wie wollten Sie dies, in des Himmels Namen?«

»Ich kann arbeiten.«

»Unsinn! Sie wissen nicht, was Sie reden.«

Flehend hob Florence die sanften, grauen Augen zu ihm empor. »Bitte, lieber Doktor, entmutigen Sie mich nicht so sehr – ich muß entschieden an einen passenden Erwerb denken. Voraussichtlich wird Arnold mir den Vorschlag machen, im Hause zu bleiben; darauf kann ich aus verschiedenen Gründen nicht eingehen und werde meine Unabhängigkeit diesem Verhältnisse für alle Fälle vorziehen.«

»Unabhängigkeit! Leeres Wort im Munde einer Frau.«

»Warum sollte ein Weib nicht ebenso unabhängig ihr Leben gestalten, wie der Mann?« fragte sie ernst.

»Einige Frauen, ja sogar ganz vortreffliche,« gestand er zu, »doch nicht ein Mädchen Ihrer Sorte. Die Eiche bedarf keiner Stütze, der Epheu lebt nur mittelst dieser; dennoch tadelt niemand den Epheu; er verfolgt den von der Natur ihm vorgezeigten Weg. Weil manches Weib zur Amazone geboren ist, glauben die anderen, sie seien es auch – meine Elsa war es nicht, und Sie ebenso wenig.«

»Sie halten mich also für eine Schmarotzerpflanze, gleich dem Epheu,« antwortete Florence, mit einem schwachen Versuche zu scherzen.

»Die Frauen haben manchen Ritter für Recht und Ehre begeistert, ohne jemals selbst die Schranken des Turnierplatzes zu betreten. Bah!« fügte er hinzu, »ich mache mich nur lächerlich – eine Eigenschaft ist allen Frauen gemein: ihren Willen hartnäckig zu verteidigen.«

»Sie wissen, Unvernunft war nie mein Fehler,« erwiderte Florence mit dem leisen Anfluge eines Lächelns. »Wenn ich von hier fortginge ...«

»Sie müssen fort – es giebt kein anderes Mittel.«

»Bedenken Sie doch, seit ich geboren bin, bewohne ich dieses liebe, alte Haus – aus freiem Antrieb würde ich es nie verlassen; kein anderer Platz der Welt kann mir jemals zur Heimat werden.«

»Ich hoffe Ihnen Ersatz hiefür zu bieten,« antwortete Dr. Viret. »Sind wir Menschen nicht den Schnecken gleich, die ihr Haus auf dem Rücken tragen? Was würden Sie zu meinem bescheidenen Heim sagen? Daubney nennt es zwar die Metzgerbude, ich aber möchte schwören, daß ich hundertmal mehr Menschenleben gerettet habe, als er verlorene Seelen. Wenn mir ein Kaninchen über den Weg läuft, mache ich es empfindungslos; gerät das arme Tier jedoch in die Nähe von Oberst Askews Besitz, so wird es in einer Drahtfalle gefangen, ohne Zweck getötet. Kürzlich sah ich, wie man Fische am Angelhaken gespießt, ins Pfarrhaus trug. Da empörte sich der Gelehrte in mir, der nur heilsamer Forschung wegen ein Tier opfert und trotzdem von der unwissenden Menge als Schlächter bezeichnet wird. Ich glaube, Ihr Vater hatte auch keine günstige Meinung von mir.«

»Für mich sind Sie der beste und gütigste Mensch, den ich je gekannt,« sagte Florence mit sanftem, innigem Tone.

»Bitte, nur keine leeren Redensarten,« polterte Viret, bestrebt durch doppelte Rauheit die aufquellende Rührung zu bemeistern. »Ich hasse dergleichen – was mein bestes ist, gilt der Welt als schlecht. Kennen Sie das schöne Wort Tennysons: ›Vergieb was gut an mir erscheint!‹ Was will er damit sagen? Was die Menschen für gut halten, ist Maske zur Bergung unserer bösen Triebe. Doch bleiben wir bei der Sache. Hier erinnert Sie Ihre ganze Umgebung an den grausamen Verlust, den Sie erlitten – Sie können in diesen Räumen nicht gesunden – ich möchte Sie am liebsten sofort nach dem Lorbeerhofe bringen.«

Nichts bewegt edle Seelen mächtiger, als der Ausdruck aufrichtiger, unerwarteter Güte. Des Doktors Aufforderung überraschte Florence, wenn auch der linkische, häßliche, vereinsamte Mann, den sie erst seit wenig Monden kannte, und von dessen Charakter Fräulein Askew ihr eine höchst ungünstige Schilderung entworfen, sich für sie stets väterlich und liebevoll bewiesen. Dr. Viret hatte nicht nur bei Tag und Nacht viele Stunden am Schmerzenslager ihrer Mutter zugebracht und dem durch die unheilbare Krankheit der Gattin tief gebeugten Derwent die zartfühlendste Teilnahme gezeigt, er hatte auch seit dem verhängnisvollen Dienstag überall mit werkthätiger Hilfe in des verlassenen Mädchens Geschick eingegriffen.

Sobald Edwards die Ausschreibung einer Belohnung für angemessen erklärte, war es Dr. Viret, der des Anwalts Vorschlag zur That werden ließ. Als ihm gleichzeitig angedeutet wurde, Florence hätte keine Vollmacht, Geld von der Bank zu entnehmen, überbrachte er ihr ein neues Checkbuch, verlegen die Bitte stammelnd, sie möge es als ihr eigen betrachten, solange die Notwendigkeit es erheische und ja nicht sparsam damit umgehen. Und jetzt setzte er aller dieser Großmut die Krone auf, indem er ihr sein Haus als Heim anbot.

»Um Gottes willen, weinen Sie nicht!« rief er bewegt. »Ich kann keine Thräne sehen! Sie haben nichts anderes zu thun, als Ihren Koffer zu packen und zu mir zu kommen. Seien Sie die Herrin meines Hauses, und falls es Ihnen das Fortgehen erleichtert, so bringen Sie anstandslos die eigenen Diener mit. Sagen Sie ja, und die ganze Sache ist abgemacht.«

Florence konnte es nicht, wenigstens im gegenwärtigen Augenblicke noch nicht. Sie mußte natürlich auf den Abschied vom ›Krähenneste‹ gefaßt sein, vorher jedoch wollte sie Arnolds Heimkehr abwarten, die, auch wenn Edwards' Brief ihn erreichte, vor mehreren Wochen nicht erfolgen konnte.

»Lassen Sie es mich vorher überlegen,« bat sie freundlich. »Halten Sie mich nicht für undankbar – ich bin es gewiß nicht – doch kann ich mich unmöglich heute entscheiden.«

»Wenn Sie nicht wollen, dann läßt sich nichts machen,« brummte er verdrießlich. »Lassen wir den Gegenstand vorläufig fallen. Ich möchte Sie nicht drängen – was ich gesagt habe, nehme ich nicht zurück, – mein Haus steht Ihnen jederzeit zur Verfügung. Noch eins, bevor ich gehe: Kann ich in der That gar nichts für Sie thun?«

»Ich wollte Ihren ärztlichen Rat Annens wegen erbitten,« erwiderte Florence. »Sie hatte seit der Mutter Begräbnis das Zimmer nicht verlassen, heute bestand sie darauf, die gewohnte Arbeit aufzunehmen; doch dauerte mich ihr Anblick, da sie entschieden sehr leidend ist.«

»Rufen Sie Anna herein, ich möchte sie ansehen.«

»Wir werden die Arme nicht bewegen können, zu kommen,« meinte das Mädchen. »Wenn ich Ihnen die Wahrheit gestehen soll, lieber Doktor, sie hat Ihnen noch lange nicht vergeben, und ich fürchte, sie wird es niemals thun.«

Viret starrte Florence mit ungeheucheltem Erstaunen an. »Was habe ich ihr gethan?« fragte er. »Meines Wissens kennt mich Anna gar nicht.«

»Sie rieten dem Vater, meiner Mutter eine andere Wärterin zu geben.«

»Weil die geübten Krankenwärterinnen des Londoner Spitals Ihrer Mutter Leben wenigstens um zwei Wochen verlängerten,« gab Viret rasch zur Antwort.

»Möglich, – für Anna war es ein empfindliches Verbot. Nie habe ich sie so erzürnt gesehen, wie damals, als der Vater den Wechsel anordnete. Sie benahm sich geradezu unverschämt, und was sie von Ihnen sagte, war nichts weniger als artig.«

»Sagen Sie der Anna, teures Kind, daß ich das Haus nicht eher verlasse, bevor ich sie gesprochen habe,« entschied der Doktor.

Florence entfernte sich. Sie fand Anna in ihrem eigenen kleinen Zimmer.

Anna Thursday war schon vor Frau Derwents Verheiratung in deren Diensten gewesen. Nach Florencens Geburt wurde sie des Kindes Wärterin, später Kammerzofe für Mutter und Tochter. Sie stand schon in höherem Alter, war klein von Gestalt, mager und zusammengeschrumpft. Das dunkle, welke Gesicht umrahmten schwarze krause Haare, was fast vermuten ließ, in ihren Adern fließe heißes, afrikanisches Blut, das ein nicht allzu entfernter Vorfahre ihr vererbt. Das wollige Trauerkleid saß lose und nachlässig auf dem abgemagerten Körper, silberne Ringe glänzten in den Ohren. Ihrer verstorbenen Herrin war sie bis zum Tode leidenschaftlich ergeben, und hatte dieselbe auf ungeschickte, jedoch sklavisch unterwürfige Art gepflegt, bis Doktor Viret die Stelle durch zwei geprüfte Krankenwärterinnen besetzen ließ.

»Ich brauche den Doktor nicht, Fräulein Flora,« grollte Anna, als Florence sie bewegen wollte, mit ihr hinabzukommen. »Er ist und bleibt ein roher Mensch. Kein Funken von Gefühl lebt in ihm, und recht haben die Leute, wenn sie ihn den Schlächter nennen, obwohl manche, die ihn verurteilen, nicht besser sind als er.«

»Wenn du so unvernünftig sprichst, werde ich sehr böse auf dich sein,« ermahnte Florence in ernstem Tone.

»Bitte, Fräulein Flora, sagen Sie nur das nicht!« bat Anna demütig. »Die beiden Herren waren so grausam gegen mich, daß ich es nie, nie vergessen werde. Ich möchte gewiß mein süßes Fräulein mit keinem Worte kränken, meinen Liebling, den ich gewartet und gepflegt – alles, alles will ich thun, was Fräulein Flora von mir begehrt.«

»So ist's recht, – dann sei vernünftig und lasse Doktor Viret nicht länger warten.«

Noch immer bedurfte es einiger Ueberredung, bevor es Florence gelang, die widerspenstige Dienerin zu beruhigen – schließlich setzte sie, wie in allen derartigen Fällen, ihren Willen siegreich durch und brachte Anna nach der Bibliothek, wo Doktor Viret ihrer harrte.

»Was fehlt Ihnen?« fragte er, Annens Handgelenk erfassend. Mit geübtem Blicke überflog er Gesicht und Gestalt. »Wie kamen Sie zu dieser Wunde an der Stirn?«

Anna strich sich mit der Hand über die linke Schläfe, wo eine schmale Schramme die gelbliche Haut durchschnitt. »Ich habe mich verflossenen Mittwoch, heute vor acht Tagen, verletzt,« erklärte sie. »Ich fiel gegen die scharfe Ecke eines marmornen Waschtisches.«

»Sind Sie schon öfter in ähnlicher Weise gefallen?« fragte Viret mit sanfterem Tone.

»Nein, bisher noch nie! Es war zum erstenmal, daß mir bei großer Schwäche die Sinne schwanden; ein heftiger Schwindel überkam mich plötzlich, mit höchst beängstigender Empfindung.«

Doktor Viret beugte sich herab, um das Ohr an Annens Herz zu legen. »Sie brauchen nicht länger zu warten, ich weiß genug,« verabschiedete er sie freundlich.

Anna ging, der Doktor wandte sich zu Florence: »Ich werde demnächst wiederkommen und mein Stethoskop mitbringen,« sagte er, dem Mädchen die Hand drückend. »Ich fürchte, es steht recht schlecht mit Annens Herzen.«


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