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21. Kapitel.
Joseph Bodgers Entdeckung.

Wenige Menschen durchwandern das irdische Jammerthal, ohne reuevoll auf einen dunklen Punkt ihrer Vergangenheit zurückzublicken. Steigert sich diese Empfindung bis zum Uebermaße, so ist sie nutzlos und wirkt zerstörend auf Geist und Körper. Das war nun zwar Joseph Bodgers Fall durchaus nicht, gleichwohl machte er sich die bittersten Vorwürfe, als er nach der Gerichtsverhandlung gedankenvoll zur ›Waldaussicht‹ heimkehrte.

Hätte er doch den Mut gehabt, Inspektor Holt dreist mitzuteilen, was er in Erfahrung gebracht! Wer weiß, vielleicht wären ihm für seine Enthüllungen die tausend Pfund Belohnung zugefallen! Aber ach, er getraute es sich nicht – er war zu furchtsam! Nur er besaß den Schlüssel des verhängnisvollen Geheimnisses; niemand außer ihm wußte, daß in der fraglichen Nacht eine noch unbekannte Person den Schritten des Ermordeten gefolgt war; doch ihm waren die Hände gebunden; er hatte nicht die moralische Kraft, den verlockenden Preis an sich zu reißen. Etwas mußte geschehen und zwar rasch, bevor die Gefahr der Entdeckung drohte! Seine äußere Erscheinung hatte sich, seitdem er in der ›Waldaussicht‹ lebte, bedeutend zum Vorteil verändert, doch Inspektor Holt war berühmt wegen seines vorzüglichen Gedächtnisses und würde gewiß unter den obwaltenden Umständen jeden halbwegs verdächtigen Dorfbewohner doppelt scharf ins Auge fassen.

Einstweilen verfolgte Joseph die Vorgänge in der Nachbarschaft, besonders die Wiederbestattung Derwents am Samstag Nachmittag, mit gespannter Aufmerksamkeit. In der ›Waldaussicht‹ selbst ging das Leben seine gewohnten Bahnen. Joseph zögerte die letzte Karte auszuspielen, er glaubte wohl einen Trumpf in der Hand zu halten, wußte jedoch nicht, welcher Art das Spiel war, das Owen Fairford sorgsam vor ihm verbarg. Unbesiegbare Scheu erfaßte Bodger, so oft er seinem jungen Gebieter begegnete – er wünschte lebhaft, ein von außen kommendes Ereignis möchte baldigst die Krisis herbeiführen; denn, während es keines besonderen Heldenmutes bedarf, um im allgemeinen Handgemenge seinen Mann zu stellen, ist es zumeist nur Sache eines verwegenen Kämpfers, mit kaltem Blute den ersten Schlag gegen den Feind zu führen.

Bodger ließ indessen keine Gelegenheit vorübergehen, dem Geheimnisse weiter nachzuspüren. Ueber den nächtlichen Wanderungen schwebte nach wie vor tiefes Dunkel; und Joseph beschloß, seine Nachforschungen mehr den Ereignissen im Innern des Hauses zuzuwenden.

Freitag und Samstag Nacht hatte seines Wissens niemand das Haus verlassen. Sonntag Abend, nach neun Uhr, als Sarah zur Kirche gegangen war, Frau Cawdrey in der Küche sich an der Lektüre von ›Pilgers Erdenwallen‹ erbaute, und Joseph müßig daneben saß, die Daumen drehte und ab und zu einen schüchternen Blick auf die strenge Haushälterin warf, hörte man plötzlich das Geräusch einer hastig aufgerissenen Thür. Frau Cawdrey schloß ihr Andachtsbuch und setzte sich lauschend zurecht. Im nächsten Augenblicke schallte Owen Fairfords Stimme durch das Haus: »Frau Cawdrey, Frau Cawdrey, kommen Sie rasch herauf!« Es klang so angstvoll und aufgeregt, daß die Gerufene, ihre sonstige Vorsicht vergessend, sofort hinauseilte. Joseph folgte ihr unbemerkt und kam noch rechtzeitig in der Halle an, um ihr dunkles Kleid hinter der Stiegenabteilung verschwinden zu sehen.

Kaum war das Pförtchen wieder geschlossen, als Joseph leise die Treppe hinaufstieg, sich auf der obersten Stufe platt niederlegte und gespannt auf jeden Laut von oben horchte. In der That unterschied er bald Frau Cawdreys und Owen Fairfords Stimmen. Er hörte die Haushälterin in bittendem, ja beschwörendem Tone sprechen, vermochte jedoch kein einziges Wort deutlich zu verstehen. Erst als Bodger Schritte im Hausflur vernahm, schlich er hinunter und begegnete Sarah, die soeben aus der Kirche heimgekehrt war.

»Der Abendgottesdienst hat recht lange gedauert,« sagte er harmlos im Vorübergehen: gleichzeitig schlug die Uhr zehn, und die obere Thür öffnete sich von neuem. Joseph, der im Vorsaal stehen blieb, sah Owen die Treppe herabkommen – sein Gesicht war bleich und bekümmert, er schloß sich im Speisezimmer ein, wo Bodger ihn über eine Viertelstunde rastlos auf- und niederwandeln hörte. Nach Verlauf dieser Zeit erschien Owen wieder und begab sich ohne Aufenthalt zum zweiten Male nach den geheimnisvollen, oberen Räumen. Auch jetzt vernahm Joseph Frau Cawdreys Stimme – sie bat nicht mehr, sie drohte, so däuchte es wenigstens dem unermüdlichen Horcher, wiewohl er auch diesmal nur Laute und keine Worte unterschied.

Gegen halb elf Uhr kam Owen herab, schritt der Hausthür zu, öffnete sie, nahm eine Mütze vom Nagel und verschwand im nächtlichen Dunkel.

Nur eine Minute ließ Bodger verstreichen, bevor auch er zum Hausthore hinausschlüpfte. Der Himmel war dicht umwölkt, weder Mond noch Sterne sichtbar, es fehlte mehr als eine Stunde bis Mitternacht, trotzdem lag die tiefste Stille und Einsamkeit über dem Dorfe.

Owens große Gestalt schritt rüstig mitten auf der Straße dahin. Joseph fühlte sein Herz mächtig pochen – stand er endlich der heißersehnten Entdeckung gegenüber? Hatte ein besonderes Ereignis stattgefunden, das sich zwar vorläufig Josephs Beobachtung entzog, aber wichtig genug sein mußte, um Owen zu zwingen, den heimlichen Gang, welchen er sonst nur vermummt und mit allerlei Vorsichtsmaßregeln unternahm, heute zu früherer Stunde und ohne jede Verhüllung anzutreten?

Bodgers Kaltblütigkeit war so sehr erschüttert, daß er fast vergaß, die nötige Entfernung zwischen sich und Fairford einzuhalten, – er dankte es nur Owens aufgeregtem Gemütszustande, wenn dieser die ihm folgenden Fußtritte nicht beachtete. Fairford hielt einen Augenblick vor dem Kirchhofsgitter an, schien zu überlegen, welchen Weg er einschlagen solle, klinkte das Thor auf, schritt quer über den Gottesacker und blieb erst vor der Gartenthür des ›Lorbeerhofes‹ stehen. Zu Josephs äußerstem Erstaunen trat er dort ein und schritt rasch bis zu Doktor Virets Wohnhaus. Vollkommen neue Ereignisse bereiteten sich vor! Wie oft auch Joseph dem Wanderer in den früheren Nächten auf dem Fuße gefolgt war, niemals hatte er sich dem ›Lorbeerhofe‹ genähert; heute schwand jeder Zweifel über das Ziel von Owens nächtlichem Ausgang, aber dessen Zweck konnte sich Bodger nicht erklären.

Da stand er, wenige Klafter vom Gartenthore entfernt und erleichterte sein Gemüt durch herzhafte, wenn auch unterdrückte Verwünschungen. Jeder Held hat eine verwundbare Stelle! Joseph fürchtete weder Gott, noch die Menschen, noch den Teufel, aber er empfand heillose Angst vor großen Hunden. Diese Tiere pflegen zu bellen und zu beißen, und beides war Bodger im Grund der Seele verhaßt. Wie oft hatte er Tiger scheu nachgeblickt, wenn dieser bedächtig hinter seinem Herrn einherging, wobei ihm die große, rote Zunge schief aus dem scharfzahnigen Maule hing. Aller Wahrscheinlichkeit nach lief Tiger des Nachts frei im Hof und Garten herum, ein höchst unerfreulicher Gedanke. Während Joseph vor Begierde brannte, den Zweck von Owens nächtlichem Besuch zu erfahren, wagte er nicht, weiter als bis zum Gitterthore vorzudringen, um dort auf Fairfords Rückkehr zu warten.

Bald nach zehn Uhr hatte Florence an jenem Abend Doktor Viret gute Nacht gewünscht und ihr Zimmer aufgesucht. Sie nahm ein Buch zur Hand, doch lesen konnte sie nicht. Holts letzter Besuch, des Beamten zweideutige Bemerkungen beschäftigten ihre Gedanken. Arnold hatte am heutigen Sonntag einen Besuch im ›Lorbeerhofe‹ abgestattet, und zu seinem größten Mißfallen nur einen kühlen Empfang gefunden. Die böse Saat des Verdachtes keimte bereits in Florencens Herzen; immer wieder überdachte sie Holts Worte, und wenn sie auch nicht glauben konnte, daß Arnold ihres Vaters Tod verschuldet habe, so sehnte sie doch, mehr denn je, bestimmte Aufklärungen herbei. Auch zweifelte sie nicht, daß der Inspektor zur Zeit damit beschäftigt sei, Arnolds Angabe in Betreff seiner Heimreise eingehend zu prüfen.

Vielleicht hätte Florence keinen Verdacht gegen Arnold aufkommen lassen, wäre sein Benehmen, als Owen die Nachricht von des Vaters Auffindung brachte, nicht allzu selbstisch und rücksichtslos gewesen. Erst von diesem Tage an war sie im stande, ihm etwas Böses zuzutrauen. Florence hatte sich leider überzeugen müssen, daß er seit der Rückkehr nach Rookfield keine andere Sorge kannte, als das Geld möglichst rasch sein eigen zu nennen: selbst bei der Schilderung der erschütternden Umstände, unter welchen Derwents Leiche entdeckt wurde, hatte er nur den Gedanken, er werde nun endlich in den Besitz des ersehnten Gutes gelangen. Ohne seinen Vorschlag, Anna im Grabe der Mutter zu bestatten, stünde Arnold dem Ziele ebenso fern, wie am Tage seiner Ankunft, das hatte Inspektor Holt bloß anzudeuten gewagt, aber Florence verstand nur zu gut, was dieser Wink bedeuten sollte.

Holt trennte die beiden Ereignisse, den Raub der Mutter und den Mord des Vaters, strenge von einander, sollte der Zufall mitgespielt und dem Verbrecher einen leeren Sarg zur Verfügung gestellt haben? Jedenfalls ein merkwürdiges Zusammentreffen. Offenbar beschäftigten sich des Inspektors Gedanken hauptsächlich mit zwei Personen: Anna und Arnold, und es war nicht schwer zu erraten, in welcher Weise er diese beiden mit den entsetzlichen Ereignissen der verhängnisvollen Nacht in Verbindung brachte. Einstweilen sträubte sich Florence, wie gesagt, an die Möglichkeit von Arnolds Schuld zu glauben und erwartete ungeduldig Holts nächsten Besuch, weil sie hoffte, dann mit Sicherheit zu erfahren, Arnold sei in der That erst mehrere Wochen, nachdem das Verbrechen verübt war, in England gelandet.

Das arme Mädchen erquickte ihre Seele, inmitten all' dieses Elends, an einem einzigen Lichtblicke – der Inspektor hatte Owen mit keinem Worte erwähnt; er schenkte Arnolds widersinnigem Verdachte – wenn derselbe nicht überhaupt ein bloßes Scheinmanöver war – nicht die geringste Beachtung. Und doch schwebte ein düsteres Geheimnis über Fairfords Leben; er hatte das selbst zugestanden und Florence zugleich erklärt, wie hoch er es schätze, bei ihr, trotz seines Schweigens, Anteil und Vertrauen zu finden. Wie lauteten doch die Worte, die er damals zu ihr sprach? »Sie spenden mir vielleicht die wertvollsten Gaben der Welt.« Vielleicht? Was stand ihm denn noch höher als diese? Was anderes, als ihre Liebe?

Ein heftiger Zug an der Glocke unterbrach Florencens Träume. Wer mochte zu so später Stunde Einlaß begehren? Doktor Viret übte zwar keine regelrechte Praxis, trotzdem war er in letzter Zeit zu manchem Kranken gerufen worden. Sie hörte Tigers lautes Gebell, hörte wie Doktor Viret, der stets als letzter zu Bette ging, den Hund beruhigte und durch den Vorsaal schritt, um die Hausthüre zu öffnen, vernahm deutlich den erstaunten Ruf: »Herr Fairford!« sowie Owens hastige Antwort und seine Bitte um eine kurze Unterredung. Schließlich unterschied Florence Tigers wachsames Knurren und den Eintritt der Männer in das unter ihr gelegene Zimmer, bis alle die aufregenden Laute im dumpfen Gemurmel eines leise geführten Gespräches erstarben.

Nach einer Viertelstunde erschollen die Schritte von neuem, das Hausthor wurde geöffnet und geschlossen, und als Florence die Fenstervorhänge beiseite schob, bemerkte sie, wie zwei dunkle Gestalten an der Biegung der Fahrstraße verschwanden.

Mittlerweile stand Joseph Bodger im Schatten einer Hecke und horchte mit angehaltenem Atem, ob jemand sich seinem Versteck nähere. Nach einer ihm endlos scheinenden Zeit hörte er Owen leise, doch angelegentlich sprechen. Fairford kam in Begleitung des Doktors, ging mit diesem raschen Schrittes die Straße entlang und redete eifrig weiter, während Doktor Viret, mit gebeugtem Haupte, den Rock, trotz der kühlen Nachtluft, vorn offen, einen Eichenstock unter dem Arme, die Hände nach seiner Gewohnheit auf dem Rücken gekreuzt, aufmerksam den Worten des jungen Mannes lauschte. Der treue Tiger schlenkerte mit herabhängendem Kopfe knapp hinter seinem Gebieter her. Die Furcht vor dem Hunde veranlaßte Bodger, sich in bescheidener Entfernung zu halten. Am Gartenthor der ›Waldaussicht‹ angelangt, erteilte Doktor Viret dem Bernhardiner einen kurzen Befehl, worauf das schöne Tier sich sofort vor dem Gitter niederlegte.

Owen geleitete den Doktor zum Hause, öffnete es und schloß das Thor hinter sich ab. Joseph schlich leise zu der zweiten, entfernteren Gitterthür, mit der Absicht, von dort aus in das Innere des Hauses zu gelangen. Wahrscheinlich wurde Doktor Virets Gegenwart durch einen plötzlichen Krankheitsfall bedingt! Doch wem galt dieser ärztliche Besuch? War es wirklich eine Frau, welche den oberen Stock bewohnte und hatte Josephs Scharfsinn ihn nicht betrogen?

Er wollte eben das Thor aufklinken, als Tiger zu Bodgers Schrecken aufsprang, ihm entgegen trabte und kampfbereit, die weißen Zähne fletschend, vor ihm stand. Joseph bot seinen ganzen Mut auf und versuchte dem Hunde zu schmeicheln, doch ein drohendes Geknurr war die einzige Erwiderung des gewaltigen Tieres.

Ein Fenster zu öffnen und durch dasselbe einzusteigen, wie Bodger es früher in so mancher Nacht gethan, wäre ein Leichtes gewesen, allein, wenn er auch dem Hunde entwischte, so bestand noch immer die Gefahr, daß Tigers Gebell ihn verraten würde. Der mächtige Bernhardiner stand sprungbereit vor ihm – und Joseph ließ sich schmählich in die Flucht jagen; er überschritt die Straße, duckte sich auf der Wiese hinter eine Hecke und zitterte an allen Gliedern, so oft der Hund durch drohendes Knurren seine Gegenwart verriet.

Es war elf Uhr vorüber gewesen, als Owen den Doktor in sein Haus geleitete – erst mit dem zweiten Stundenschlage nach Mitternacht erschien Viret wieder am Gitter der ›Waldaussicht‹. Ohne nach rechts oder links zu blicken, ging er langsam heimwärts, und Joseph durfte endlich ungehindert den Garten betreten.

Im Hausflur brannte die Lampe, ein Zeichen, daß man im Hause noch wachte. Bald würde der Morgen dämmern, Bodger mußte daher auf alle weiteren Nachforschungen verzichten und sein einziges Heil in einem gesicherten Rückzuge nach seiner Schlafkammer über dem Stalle suchen.


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