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20. Kapitel.
Inspektor Holt in Thätigkeit.

Wenige Stunden nach Schluß der Verhandlung stattete Inspektor Holt einen Besuch im ›Krähennest‹ ab. Er fand Arnold im Speisezimmer auf dem Sofa liegend und entschuldigte sich höflich wegen seines unangemeldeten Eintritts.

Arnold befand sich bereits in der Besserung und der Besuch kam ihm nicht ungelegen. »Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, Herr Holt,« sagte er; »Rechtsanwalt Edwards kam nach beendeter Verhandlung hierher, und hat mich soeben verlassen. Ich hätte gern dem gerichtlichen Verfahren beigewohnt, doch paßt ein gebrochener Arm nicht gut in solchen überfüllten Raum. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Wenn es keine Störung verursacht,« erwiderte der Beamte, »so wäre es mir von Interesse, Anna Thursdays Schlafzimmer in Augenschein zu nehmen.

»Jeder Raum des Hauses steht zu Ihrer Verfügung,« lautete Arnolds entgegenkommende Antwort.

»Ich kenne bereits das ganze Haus,« bemerkte Holt, »nur dieses eine Zimmer konnte ich wegen Annens Krankheit nicht sehen.«

Arnold erhob sich vom Sofa und geleitete den Inspektor nach dem Schlafgemache der alten Dienerin.

Zuerst öffnete Holt die beiden Wandkästen; nicht zufrieden mit einer sorgfältigen Besichtigung der verschiedenartigen Gegenstände, welche deren Inhalt bildeten, leerte er alle Schubladen und Fächer und klopfte das Holzwerk ab, um sich zu überzeugen, ob keine geheime Abteilung hinter demselben verborgen sei. Hierauf ging er an den Wänden entlang, pochte mit den Knöcheln an die Mauer, blickte in jede Schachtel und bat endlich um Erlaubnis, den Teppich abheben zu dürfen, worauf er niederkniete und den Bretterboden genau untersuchte.

»Man sollte meinen, Sie hofften den Leichnam der armen Tante darunter zu finden!« lächelte Arnold, der an der Thür stehen geblieben war und mit der linken Hand die Lederhülle stützte, welche den gebrochenen Arm umgab.

»So viel ich hörte, hing die verstorbene Dienerin mit außerordentlicher Treue an Frau Derwent?« fragte der Inspektor, noch immer auf allen Vieren.

»Sie hätte ihr Leben für Tante Alice geopfert,« entgegnete Arnold, »wenigstens damals, als ich noch ab und zu hieher kam. In den letzten Monaten war ich von England abwesend.«

»Das hat man mir gesagt. – Sie kamen an Bord des Stirling-Castle zurück.«

»O nein! Ich landete mit dem Radnor in Southampton – der Stirling-Castle ließ mich heimtückisch auf Teneriffa sitzen – es traf sich verflucht ungeschickt.«

»Wären Sie an Bord des Stirling-Castle geblieben,« fuhr Holt fort, sich aus seiner gebückten Stellung erhebend, »so hätten Sie die englische Küste in den letzten Tagen des Februar erreicht – vielleicht würde dann Herr Derwent heute noch leben. Uebrigens war es ein höchst glücklicher Gedanke, Anna Thursday im Grabe Ihrer Tante zu bestatten – es geschah auf Ihre Anregung?«

»Ein Schuß ins Schwarze, nicht wahr?« versetzte Arnold selbstbewußt. »Daraus ergiebt sich, daß eine edle Handlung stets ihren Lohn findet! Ich ging von der Ansicht aus, unnötige Ausgaben nach Möglichkeit zu vermeiden; das Grab stand bereit, es schien mir herzlos, die alte Anna von unserer Familiengruft auszuschließen.«

»Ganz richtig,« stimmte der Inspektor bei, »im entgegengesetzten Falle wären voraussichtlich Jahre vorgegangen, ohne den ersehnten, rechtskräftigen Beweis ans Tageslicht zu fördern.« Holt hielt inne, um einige Stäubchen von den Knieen seiner dunkelgrünen Beinkleider zu entfernen. »Thursday,« wiederholte er, »ein sonderbarer Name! War Anna eine Engländerin?«

»Ich glaube, sie wurde in England geboren – bestimmt weiß ich es nicht – offenbar floß heißes afrikanisches Blut in ihren Adern.«

»Sie scheint der Herrin mehr Anhänglichkeit bewiesen zu haben als dem Herrn?« warf der Inspektor halb fragend ein.

»Sie war eine brave Person, und mir seit meiner Kindheit von Herzen gut. Man sagt, sie sei zu guterletzt recht widerhaarig geworden, wohl zumeist infolge ihrer Krankheit.«

»Alle Südländer haben eigenartige Gewohnheiten,« bemerkte Holt, indem er noch einmal Annens Zimmer prüfend überblickte.

»So ist es! Uebrigens, Herr Inspektor, wenn Sie der Wahrheit auf die Spur kommen wollen, so könnte ich Ihnen wohl einen Fingerzeig geben.«

»Möchten Sie die Sache denn nicht ergründen?« rief der Beamte, Arnold scharf ins Auge fassend.

»Natürlich ist es mein sehnlichster Wunsch, dieses verwünschte Geheimnis zu enträtseln,« entgegnete dieser; »ich gehöre im allgemeinen zu den Leuten, die sich um alles bekümmern und ihre Nase überall vorwitzig hineinstecken; dabei habe ich manches erfahren, was uns von Nutzen sein könnte, und will Sie gern auf die rechte Fährte bringen. Cherchez la femme! ich meine die Frau hier im nächsten Hause.«

»Wohnt denn dort eine Frau?«

»Darauf möchte ich schwören.«

»Schwören Sie nicht voreilig, Herr Derwent. Ich sprach mit Doktor Viret hierüber, und erfuhr, daß dies Gerücht nur von einer furchtsamen Dirne herrührt, welche behauptet, eine schwarz gekleidete Gestalt gesehen zu haben ...«

»Noch dazu verschleiert.«

»So schien es ihr, doch die Nacht war stockfinster und jedenfalls lief das Mädchen davon, ohne sich weiter nach der seltsamen Erscheinung umzusehen. Ueberdies widerlegte Ihr Zusammenstoß mit Herrn Fairford die Aussage Lisas. Nein, nein, Herr Derwent, nächst dem wirklichen Mörder, oder der Mörderin, bleibt noch immer der Dieb, welcher bei Oberst Askew einbrach, die für uns wichtigste Person. Doch, ich halte Sie zu lange auf, und möchte bitten, mir nur noch einen Blick auf den Sarg zu gestatten.«

Er folgte Arnold über den breiten Flur, betrat mit diesem Derwents Schlafzimmer, besichtigte den Sarg und hob vorsichtig den Deckel ab.

»Cadman sagte mir,« bemerkte der Inspektor, »die Uhr des Verstorbenen befinde sich noch immer in der Tasche. Ganz richtig, da ist sie! Wie ich höre, trug Herr Derwent niemals eine Kette?«

»Nie, so viel ich mich erinnere.«

Holt wandte nun seine Aufmerksamkeit dem Innern des Sarges zu und prüfte die Seitenflächen und Ecken, als wollte er herausbekommen, auf welche Art der Deckel abgenommen worden sein könne.

»Verstehen Sie etwas von Tischlerarbeit?« fragte er, zu Arnold aufblickend, der ihm gegenüber stand.

»Als Knabe beschäftigte ich mich öfters mit kleinen Versuchen. Warum fragen Sie darnach?«

»Wenn Sie mit dem Daumen über den Rand fahren, so werden Sie denselben so glatt finden, als hätte er kaum die Werkstätte verlassen.«

»Was folgern Sie daraus?«

»Daß kein Pfuscher hier die Hand im Spiel gehabt hat; man bemerkt nicht die geringste Spur einer gewaltsamen Oeffnung des Deckels. Je ungeübter der Mann, desto heftiger die angewendete Kraft – so lehrte mich stets die Erfahrung. Wer diesen Sarg aufmachte, ging dabei bedachtsam, ohne jede Ueberstürzung zu Werke. Der Verbrecher beseitigte die Bretter, mit welchen die Gruft bedeckt war, sprang hinab, nahm den Schraubenzieher und zog eine Schraube nach der andern heraus; dann kletterte er wieder empor, legte sich auf den Boden, streckte die Hand so weit aus als nötig, um den Sargdeckel zu fassen und ...«

»Halten Sie ein!« schrie Arnold mit einer abwehrenden Bewegung, »Sie machen mich krank!« Ueberwältigt von Entsetzen, rannte er die Stiege hinab, indem er es Inspektor Holt überließ, den Sarg zu schließen und ihm nachzufolgen.

»Vermutlich bleiben Sie nun hier im Hause?« fragte dieser, als er ins Speisezimmer kam, um nach seinem Hute zu suchen.

»Das hängt von Umständen ab,« erwiderte Arnold. »Verzeihen Sie, Herr Inspektor, daß ich so kopflos davonlief, allein ich fühle mich nicht so stark wie gewöhnlich, und Ihre Schilderung klang in der That ...«

»Allzu naturgetreu, nicht wahr, Herr Derwent,« fiel Holt gutmütig ein. »Ich hoffe, Sie erholen sich bald – guten Abend für heute.«

Sobald der Inspektor das ›Krähennest‹ im Rücken hatte, rieb er sich vergnügt die Hände und wanderte rüstigen Schrittes dem ›Lorbeerhofe‹ zu. Man geleitete ihn nach dem Wohnzimmer, wo Doktor Viret und Florence ihn erwarteten, da letztere, gegen des Doktors Wunsch, keiner Unterredung fern bleiben wollte, welche das Schicksal ihrer Eltern betraf.

Das Mädchen sah nach den Aufregungen der Gerichtsverhandlung blaß und abgespannt aus, doch erhellte sich ihr umflorter Blick, als sie Holt begrüßte, denn sein zuversichtliches Wesen flößte Florence noch immer Vertrauen ein, trotzdem seine erste Meinung sich als irrig herausgestellt hatte. War es ja auch der gerichtlichen Untersuchung nicht gelungen, einen Lichtstrahl in ihre von Zweifeln gepeinigte Seele zu werfen; Florence graute nach wie vor bei dem Gedanken, daß ihrer Mutter Leichnam durch schnöden Raub entweiht worden war.

»Ich fürchtete, Sie wären nach London zurückgekehrt, ohne uns noch zu besuchen,« sagte sie mit gewinnender Freundlichkeit, dem Beamten die Hand reichend. »Ich sehnte mich so sehr, Sie zu sprechen. Ach, Herr Inspektor, thun Sie, was Sie können, um meine arme Mutter zu finden. Was gäbe ich nicht darum, wenn ich sie friedlich in ihrem Grabe wüßte!«

Mehr noch als diese Worte, bewegte ihre rührende Anmut die Herzen der Hörer.

»Ich will mein Bestes thun,« antwortete der Inspektor ernst, »mehr kann ich nicht versprechen. Wir stehen vor einem der schwierigsten Rätsel, das mir während meiner langjährigen Laufbahn vorgekommen. Das erste, was uns obliegt, ist, Herrn Derwents Mörder zu entdecken.«

»O, schaffen Sie mir nur die Mutter wieder,« rief Florence trostlos, »daß ich sie endlich zu meiner Beruhigung würdig bestattet weiß!«

Doktor Viret führte das stürmisch erregte Mädchen mit sanfter Gewalt zu einem Lehnsessel und während Inspektor Holt sich neben sie setzte, blieb er selbst stehen, die Augen sinnend auf ihr schönes, kummervolles Antlitz geheftet.

»Darf ich Sie bitten, Fräulein Derwent,« begann der Inspektor, »meinen Ausführungen ruhig zu folgen. Ich hoffe, durch die eine Entdeckung zu der zweiten, für Sie nun wesentlichsten zu gelangen. Nicht daß ich glaube, wer Ihren Vater getötet hat, müsse auch der Räuber Ihrer Mutter sein – nein, das eine bedingt hier durchaus nicht das andere – es mag jemand den Sarg geöffnet haben ...«

»Warum aber?« unterbrach Florence hastig. »Diese That erscheint mir vollkommen zwecklos, es konnte dem Verbrecher weder Nutzen noch Vorteil daraus erwachsen.«

»Es lag entschieden kein Raub vor,« erwiderte Holt, »Herrn Derwents Uhr ruht unangetastet in seiner Tasche, sie blieb um drei Uhr fünfundvierzig Minuten stehen – ich sah sie selbst, als ich vorhin im ›Krähenneste‹ war.«

»Sie haben demnach noch immer keine Fährte gefunden?« warf Doktor Viret ein.

»Eine Fährte nicht gerade, Herr Doktor,« gab der Inspektor zur Antwort, »allein, ich habe so meine Gedanken. Erlauben Sie eine Frage: Anna Thursday war eine Negerin, nicht wahr?«

»Bewahre!« rief Doktor Viret mit Entschiedenheit. »Ihre Ur- Urgroßmutter könnte vielleicht eine Schwarze gewesen sein.«

»Unter allen Umständen eine heißblütige Südländerin und Ihrer Mutter unendlich ergeben, nicht wahr, Fräulein Derwent?«

»Gewiß, sie liebte ihre Herrin leidenschaftlich.«

»Wurde ihr gestattet, Frau Derwent nach dem Tode zu sehen?«

»Ja. – Aber in den letzten drei Wochen durfte sie das Krankenzimmer nicht betreten ...«

»Sie war nämlich eine brave Person, aber eine schlechte Wärterin,« erklärte Doktor Viret.

»Als Anna die Leiche erblickte,« erzählte Florence weiter, »warf sie sich, bevor ich es verhindern konnte, über meine Mutter, küßte das sanfte, bleiche Gesicht, benetzte es mit heißen Thränen, rang die Hände und sprach zu ihr zärtlich und schmeichelnd, als ob sie nicht nur am Leben, sondern ein ihrer Fürsorge anvertrautes Kind wäre. Ich mußte eine der Wärterinnen holen, und erst mit deren Hilfe gelang es mir, Anna von der Bahre zu entfernen.«

»Ich kann mir den Ausbruch ihrer Gefühle lebhaft vorstellen,« stimmte der Inspektor befriedigt bei, »in der That zeigte sie so viel Hingebung für den leblosen Körper ...«

»Fast mehr, als zu Lebzeiten der Mutter! Sie kauerte an der Schwelle nieder und harrte ängstlich eines unbewachten Augenblicks, um neuerdings in das Sterbezimmer zu dringen.«

»Doch ohne Erfolg?«

»Sie betrat das Zimmer nicht mehr, ich selbst verbot es. War ihr Benehmen auch der Ausfluß treuester Liebe, so schien es mir entwürdigend, unvereinbar mit der heiligen Ruhe, die über meiner verklärten Mutter schwebte.«

Beide Männer schwiegen. Inspektor Holts kluges Gesicht verriet die Gedanken, welche in ihm arbeiteten; offenbar überlegte er manches, was er zu sagen unnötig fand, um so mehr, als es ein nutzloses Bemühen gewesen wäre, Florence von Annens etwaiger Mitschuld zu überzeugen.

»Ich kann Ihnen, liebes Fräulein, einen kleinen Vorwurf nicht ersparen,« begann er, auf einen neuen Gegenstand übergehend. »Ich hatte Sie gebeten, mir jedes neue Begebnis, das auf unsern Fall Bezug haben könnte, mitzuteilen, und doch benachrichtigten Sie mich nicht von Herrn Arnold Derwents Rückkehr nach England.«

Ueberrascht blickte Florence auf. »Weil mir kein Zusammenhang zwischen Arnold und unserem traurigen Geschäfte zu bestehen schien.«

»Im Gegenteil,« berichtigte Holt, »Herr Derwent ist der einzige, dem ein Vorteil aus Ihres Vaters Tode erwächst. Er selbst gesteht, die Ueberfahrt auf einem Schiffe gemacht zu haben, das vier Tage vor dem erschütternden Ereignisse in Southampton landete.«

»Er verließ das Schiff auf Teneriffa.«

»Wann erzählte er Ihnen diesen Zwischenfall?«

»Als er kaum zwei Stunden im Hause war. Sie werden doch nicht vermuten ...«

»Ich erklärte Ihnen schon gestern, liebes Kind,« fiel Viret ein, »wie leicht ein derartiger Verdacht sich entweder entkräften oder bestätigen ließe – ich für meinen Teil glaube nichts dergleichen.«

»Arnold wünschte lebhaft, die Wahrheit zu entdecken,« versetzte Florence, »er ließ sich dadurch sogar zu unverantwortlichen Schritten hinreißen.«

»Nicht das Verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit bildete die Triebfeder von Ihres Vetters Handlungsweise. Er trachtete nur seines Onkels Tod zu beweisen. Auch läßt sich nicht leugnen, daß dieser Beweis ohne Herrn Derwents Vorschlag, Anna Thursday im Grabe der Mutter zu bestatten, vielleicht niemals gelungen wäre. Doch nun muß ich eilen, wenn ich noch mit dem Nachtzuge London erreichen will.« Der Inspektor erhob sich und nahm seinen Hut vom Tische. »Leben Sie wohl, mein Fräulein! Guten Abend, Herr Doktor! Ich hoffe zuversichtlich, in wenigen Tagen bestimmtere Aufklärungen überbringen zu können.«


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