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Der Einsiedler.

Im Gebirge lebte ein Einsiedler, der hatte eine Freundin, die ihm sehr lieb war. Er war kein ganz richtiger Einsiedler; er trug keine Kutte und hatte keine Glocke an seinem Haus, mit der er zum Gebet läutete, und er nährte sich auch nicht von Wurzeln, Beeren und Kräutern, wie das eigentlich einem rechten Klausner geziemt. Aber er wohnte in einem winzigen Blockhäuschen, das im Sommer ganz mit blauen Klematis und roten Rosen berankt war, weit vom Dorf entfernt an einer sonnigen Waldwiese. Er hauste ganz allein dort, nährte sich von Rohkost, zu der übrigens auch Butterbrot und Schweizerkäse gehörte, hatte ein Gärtchen beim Haus und war im übrigen, was bei dieser Lebensweise fast selbstverständlich ist, ein Dichter.

Seine Freundin hieß Lenore, und er hatte sie auf ganz wunderliche Weise gefunden. An einem Regentag im April war ihm alles quer geraten. Die Wäsche auf der Leine war naß geworden anstatt trocken, sein Harmonium hatte beim Morgenchoral gequietscht, beim Dach regnete es ein wenig durch, und sein Anzündholz war feucht und hatte geraucht. Dazu fand er das Gedicht, das er am Tag vorher gemacht hatte, gar nicht mehr so hübsch, und es schien ihm, als verlange dieser Tag nach einem »Du«, da das »Ich« sich so unerfreulich anließ, ein Verlangen, das zu stellen ein Einsiedler eigentlich kein Recht hat.

Und das »Du« kam und war ein schönes junges Wesen in einem blumigen Gewand mit einem blauen Mantel darüber. Es stieg trotz des Regens in die Berge, denn es hatte sich in den Kopf gesetzt, daß es heute noch Sonnenschein geben werde, und nun sang es mit einer wundervollen Stimme ein Lied nach dem andern. Der Einsiedler hatte das Singen schon aus der Ferne gehört, und da er ein verwöhntes musikalisches Ohr hatte, merkte er auch sogleich, daß das nicht irgendeine beliebige Wald- und Wiesensängerin sei, sondern eine ganz große Künstlerin, die sich da im Gefühl ihres eignen Reichtums verschwendete. Er fuhr sich noch einmal durch den langen Klausnerbart, um sich zu vergewissern, daß kein Brotkrümchen vom Frühstück mehr darin hing, und dann trat er heraus auf die Holzveranda, von der die Stufen ins Freie führten. Da kam auch das singende Wesen schon aufs Haus zu, hatte den Mantel offen, daß der blumige, seidenglänzende Stoff sich darunter hervorbauschte, und sah sich mit einer königlichen Freiheit und Unbefangenheit das winzige Häuschen und den Klausner im braunen Sammetrock an.

»Grüß dich Gott, liebliche Sängerin«, rief der Dichter, »tritt näher und bringe unter mein Dach die Freude, die der häßliche Regen mir verscheucht hat!«

Die Sängerin prüfte mit kurzem Blick den Sprecher, dann lenkte sie die Schritte vom Weg ab, neigte sich anmutig und sagte: »Freude zu finden ging ich aus; welches Weib fände die Freude nicht, dem es vergönnt ist, sie andern zu bringen?«

Damit betrat sie die Veranda, ließ sich vom Einsiedler den nassen Mantel abnehmen und saß nun in der fröhlichen Pracht ihres Blumenkleides mit bräunlichen Armen und Nacken, den kurze dunkle Locken umkrausten, in dem schönsten Korbsessel des Einsiedlers. Dabei ließ sie sich mit den letzten aromatischen gelben Winteräpfeln bewirten, die der Dichter sorgfältig aus weißem Seidenpapier auswickelte, wobei er ihr erklärte, daß sie sich so am vollkommensten erhielten.

Lenore lachte über die Mischung von Poesie und praktischem Haushaltergeschick bei dem kleinen Klausner, und die Äpfel schmeckten ihr sehr gut. Da der Regen immer noch unentwegt goß, schlug der Dichter vor, daß sie ihm von ihren Liedern singen solle, und er wolle ihr von seinen Gedichten lesen, und so betrat Lenore auch das Wohnstübchen in der Klause. An der einen Wand stand ein Harmonium, darüber hing eine heilige Cäcilia, die einen roten Rosenkranz auf dem Kopf hatte, an der Orgel saß und mit vielen rosenbekränzten Engeln Loblieder sang. Am Fenster hatte ein Schreibtisch seinen Platz, darüber war ein Bild des heiligen Franz, der in einer violetten steinigen Landschaft saß, von flatternden Vögeln umgeben, denen er sich mit heiter gütigem Gesicht zuneigte.

»Ist das Ihr besonderer Liebling unter den Heiligen?« fragte Lenore, denn das Bild hatte das beste Licht und war von einem frischen Efeukranz umgeben mit weißen Anemonen, die fast noch Tauperlchen hatten vor Frische.

»Ja, das ist mein liebster Heiliger«, gab der Einsiedler ernsthaft zu, »er hat mich auch überredet, hier oben allein zu wohnen unter Blumen und Vögeln und im Angesicht der Sonne.«

»Und Sie habens nicht bereut?«

»Sehe ich so aus?« Und er funkelte vor Freude über sein hübsches Erlebnis, über die verscheuchte schlechte Laune, und über den wundervollen Menschen, der ihm da ins Haus gefallen war.

Nun mußte sich Lenore an das Harmonium setzen, das nun auch gar nicht mehr quietschte, und so sangen sie sich die Seelen froh, unerschöpflich im Geben und Nehmen.

Unterdessen war richtig die Sonne herausgekommen, aber Lenore dachte nicht ans Weiterwandern. Sie stöberte in seinen Büchern, sie hörte mit verborgener Bewegung seine Gedichte an, und als die Mittagszeit da war, deckten sie gemeinsam auf der Veranda den Tisch, und der Einsiedler holte aus seinem Gärtchen den schönsten Strauß goldgelber Narzissen. Sogar ein Glas mit eingemachten Erdbeeren öffnete er zur Feier des Tages, und als sie sich die duftenden Früchte schmecken ließen, meinte Lenore: »Erdbeeren wären es wert, daß sie auch im Paradiese wüchsen, wo von allem Vollkommenen nur das Vollkommenste sein darf.«

»Und was noch?«

»Musik«, sagte Lenore schnell, »die von allen Künsten.«

»Und die Blumen!« rief der Einsiedler, »und die Liebe!«

»Ja, die Liebe natürlich, die zuerst; ohne sie überhaupt kein Paradies. Aber auch die kleinen Kinder!«

»Die kleinen Kinder? Verlangen Sie die unbedingt?« fragte der Einsiedler kleinlaut.

»Unbedingt! Sonst komme ich nicht!« rief sie übermütig herausfordernd.

»Allerdings dann – also auch die kleinen Kinder!«

Und so ging der Tag herum und die Freundschaft wurde fest geschlossen. Als sie vom Berge aus die Sonne rot hinter dem Rhein untergehen sahen, mußte Lenore heim.

»Siehst du«, sagte der Einsiedler, »wie schön es ist, wenn Menschen zusammenkommen, die gar nichts anderes sein wollen als eben Menschen. Wie rasch sie den Weg zueinander finden! Kommst du bald wieder?«

»Ja, ich komme wieder«, sagte sie in freier Herzlichkeit.

»Ich warte auf dich!«

Oft kam nun Lenore heraus zum Einsiedler, und immer begrüßte er sie mit dem Wort: Ich wartete auf dich. Und sie zog ihre schönsten, phantasievollsten Kleider an, denn er freute sich an ihnen, und sie brachte ihre köstlichsten Lieder mit und auch manchmal eine kleine Leckerei, die sie dann fröhlich zusammen verspeisten. Er aber las ihr alle seine Gedichte vor und erzählte ihr, was er alles gedacht habe während er auf sie wartete und hatte immer eine kleine Kostbarkeit aus seinem Gärtchen oder von seinem Schreibtisch für sie bereit.

»Immer wartest du auf mich«, sagte sie lachend, »was hast du denn getan, als du mich noch nicht kanntest?«

Er sah sie treuherzig an. »Da habe ich eben unbewußt auf dich gewartet.«

Sie blickte ihm innig in die Augen. »Du, ich habe einmal gehört, daß man den Dichtern manchmal einen Kuß geben dürfe, ohne besondere Ursache – nur so … Ich habe Lust, dir heute einmal einen Kuß zu geben – nur so …«

Und sie küßte ihn. Sie hatte das noch nie getan: bei guten Freunden ist das nicht so hergebracht; aber Frauenfreundschaft hat ein Bedürfen nach Zärtlichkeit. Und er freute sich dieses Ausdrucks der Verbundenheit.

Die Zeit ging so hin und eines Tages entdeckte Lenore, daß ihr Freund nicht gesagt hatte, daß er auf sie wartete. Sie dachte, er habe es vielleicht nur vergessen, aber das nächste Mal vergaß er es auch wieder, und er war merkwürdig zerstreut und einsilbig. Als sie ihm Lieder singen wollte, fand er, daß er sie alle schon so oft gehört hatte, und ein neues wußte sie nicht. Da wurde sie traurig, und als sie nach Hause kam, lernte sie zwei wunderschöne Lieder, um ihn zu erfreuen. Wie sie aber nach einigen Tagen mit ihrer Gabe eilig und freudig den steilen Pfad heraufgestiegen war, hörte sie schon von ferne Geigentöne, und als sie bei der Klause anlangte, saß da ihr Freund verklärten Angesichts und bei ihm ein Jüngling mit einem dunkeln Schopf und interessant blassem Gesicht, der spielte sehr schön die Geige. Der Klausner hatte für nichts Ohren als für den neuen Freund und fragte Lenore nicht nach ihren Liedern.

»Weißt du, du sangst immer dieselben Lieder«, sagte er mit unbarmherziger Aufrichtigkeit, »nun habe ich einen neuen prachtvollen Menschen erlebt, dem zuzuhören werde ich nie satt in meiner Einsamkeit.«

Und still ging Lenore hinaus aus dem Leben des Freundes, und er rief sie nicht zurück. – – –

Jahre gingen hin. Es war an einem goldnen Herbsttag. In Lenores Garten standen die letzten Herbstblumen und wärmten sich die kümmerlichen Glieder und schweren Köpfe an der Sonne. Nur die Kapuziner hingen noch in voller Pracht die gelbroten Fahnen von dem Mäuerchen nieder, und die schneeweißen Winterastern waren gerade aufgeblüht und standen wie ein feierlicher Elfenwald auf den Rabatten, und die letzten müden Schnaken geigten durch ihre graugrünen Zweige.

Da überfiel sie plötzlich eine unbändige Sehnsucht nach dem ehemaligen Freunde. Sie sah das braune Holzhäuschen vor sich, von den Tannen beschirmt und von der Sonne überschüttet, und die tausend duftenden Blumen, die das ganze Jahr über dort blühten. Sie hörte seine Stimme, die ein wenig singend klang und sah die Handbewegung vor sich, mit der er den langen graugesprenkelten Bart strich. Und alles Gute und Liebe, was sie sich gewesen waren und angetan hatten, wurde vor ihr lebendig.

»Was hindert mich«, dachte sie, »morgen früh zu ihm hinaufzugehn und ihn zu besuchen? Ich weiß viel neue Lieder seither, die er nie gehört hat, und ich glaube, er wird sich auch freuen, die alten wieder zu hören – in memoriam.« Und die Tränen traten ihr in die Augen, so ergriff sie der Entschluß und so freute sie sich, daß sie die innere Freiheit gefunden hatte, zuerst zu ihm zu kommen.

Aber sie wollte nicht mit leeren Händen zu ihm gehn: das schönste, was ihr Garten trug, sollte gerade nur gut genug sein für ihn. So schnitt sie alle die schneeweißen aufgeblühten Winterastern ab, setzte sich auf die Bank und begann einen Kranz zu flechten. Sie fügte Kopf an Kopf, bis aus den vielen Köpfen eine Einheit, ein weißer, federzarter, dichter Kranz geworden war, an dem man kein einziges grünes Blatt sah.

Er war sehr schön und eigenartig, aber als er fertig war, fand Lenore, daß er aussah wie ein Totenkranz, es fehlte nur noch die feierliche weiße Schleife. Da schnitt sie die letzte purpurrote Rose des Sommers von dem Bäumchen und steckte sie lose in das schaumige Weih, und sie sah aus wie ein rotes Herz im Schnee.

Lenore hing den weißen Kranz an den Riegel des offenen Fensters in die Nachtluft und besprengte ihn mit frischem Wasser; dann ging sie zu Bett und schlief rasch ein.

Als sie eine Zeitlang geschlafen hatte, erwachte sie plötzlich, und da der Mond hell ins Zimmer schien, sah sie alle Gegenstände und auch den weißen Kranz, der mit seinem roten Herzen reglos im Lichte hing.

Da hörte sie plötzlich die Stimme ihres Freundes sagen: »Darf ich mich ein wenig zu dir sehen? Ich bin weit gegangen und ich mußte dich heute noch sehen.«

»Ach!« rief sie und war gar nicht sehr erstaunt. »Haben meine Gedanken dich hergezogen? Ich habe den ganzen Tag an dich denken müssen, und morgen früh wollte ich zu dir heraufkommen und dir sagen, daß ich deine gute Freundin bin und bleibe.«

»Ja«, sagte der Dichter nachdenklich, »wir hatten wohl die Liebe mit in unser Paradies genommen, doch wir hatten die Treue vergessen. Aber im Grunde habe ich keinen Menschen verloren, der mir lieb war; sie kommen mir jetzt alle wieder.«

»Es hat mir sehr weh getan damals«, sagte Lenore, »aber ich habe es dann begriffen. Kein Mensch ist so reich, daß er einem alles in allem sein kann. Du warst nur hart in der Freude neuen Erlebens und vergaßest den andern, der zurückblieb.«

»Es schien wenigstens so«, gab der Dichter zu, »das neue Erleben war immer so überwältigend, daß nichts daneben Platz hatte. Aber nun will ich euch Lieben alle nicht mehr nacheinander haben, sondern miteinander, nebeneinander.«

»Wie schön ist's doch, daß du zu mir gekommen bist«, sagte Lenore und wunderte sich noch immer nicht über das nächtliche Zwiegespräch.

»Du bist immer zu mir gekommen, Lenore, nun wollte ich heute zu dir kommen. Ich habe dir auch mein letztes Gedicht mitgebracht; ich bin nun müde und will nicht mehr dichten.«

»Willst du es mir vorlesen?«

»Ja«, sagte er und entfaltete ein Blatt. Er strich sich zweimal traurig über die hohe Stirn, dann las er.

Bitte.

O Gott, laß mich vom vollen Tische
Aufstehen und von hinnen gehn,
Nicht lebenssatt vom Mahl mich schleichen
Und überdrüssig wartend stehn.
Und nimmst hinweg du, was ich liebe,
Tu's, wenn noch Herz an Herz sich schmiegt.
Nicht wenn das Fünklein still verglostet,
Nein, wenn die Loh zum Himmel fliegt.

Lenore schwieg, als er gelesen hatten das Herz war ihr plötzlich schwer, als ob da etwas zerbrochen wäre. »Das ist schön, dein Gedicht«, sagte sie endlich, und fühlte wie ihr dabei die Tränen über die Wangen liefen. »Aber ich weiß nicht, es macht mich so traurig.«

»Ich wollte dich nicht traurig machen, Lenore, ich wollte dir nur zeigen, daß ich dich lieb habe, und deshalb kam ich zu dir.«

Lenore versuchte zu lächeln. »Ich weiß gar nicht wie mir ist, all mein Erleben ist wie in einer andern Atmosphäre; ich bin wach und doch wie im Traum. Wo ich hingreife rühre ich eine Wahrheit an oder eine Erkenntnis. Aber sowie ich sie greifen will, weicht sie vor mir zurück.«

Der Dichter war aufgestanden und näherte sich dem Fenster. Er war so vom Mondlicht eingehüllt, daß es schien als flösse es durch ihn hindurch.

»Hast du diesen Kranz für mich gebunden?« fragte er und strich zärtlich über die Blüten.

»Ja, willst du ihn mitnehmen?«

»Du wirst mir ihn morgen hinaufbringen. Ich will nur dein Herz, die rote Rose mitnehmen. Und er löste die Blume aus dem wei9en Kranz.

Dann fühlte Lenore, wie er sich über sie beugte und leise sagte: »Einmal küßtest du mich, heute küsse ich dich. Und sein Mund streifte wie ein kühler Hauch über ihre Lippen. »Lebewohl – und Dank!«

Als Lenore am andern Morgen erwachte, wußte sie nicht mehr, was Traum, was Wirklichkeit gewesen war. Der weiße Kranz hing noch am Fenster, aber er sah wieder wie ein Totenkranz aus. Das rote Herz hatte sich entblättert und seine Blutstropfen auf den Boden gegossen. Kalter Nebel hing draußen an den Obstbäumen und von der Kirche läutete die Totenglocke traurig klagend durch die dicke Luft.

»Wer ist denn gestorben?« fragte Lenore, als das Mädchen hereinkam, um heißes Wasser zu bringen.

»Ach, nur der Einsiedler droben auf dem Berg. Er hat einen ganz leichten Tod gehabt; auf der Veranda im Sessel hat ihn der Schlag getroffen. Holzarbeiter haben ihn früh gefunden.«

Lenore nickte mit dem Kopf. Er ist vom vollen Tische weggegangen, wie er gewünscht hat.

Und sie konnte nicht trauern über seinen Tod.


»Was ich an dieser Geschichte besonders anziehend finde«, sagte Gabriele nach einer Pause des Schweigens, »ist weniger die Möglichkeit einer solchen letzten Begegnung, als das Freundschaftsverhältnis zwischen diesen zwei Menschen. So echt männlich und weiblich charakterisiert und in dieser leichten Andeutung fast alle Tragik zwischen den Geschlechtern in sich schließend.«

»Seid ihr untreu, ihr Männer?« fragte das junge Mädchen bang und sah Ottokar groß an.

»Untreu?« antwortete der Arzt. »Ja und nein. Lenore gibt uns zum Schluß die Antwort: Kein Mensch ist so reich, daß er einem andern alles in allem sein könnte.«

»Aber es ist doch sehr traurig zu denken …«

»Ja, das Leben ist kein Spiel mit Puppen, kleines Mädchen«, sagte der Graf spöttisch.

Magelone wendete sich verletzt von ihm ab und suchte die Augen des Arztes. Er sah sie beruhigend und gut an. »Es gibt auch einen Willen zur Treue.«

»Aber der ist schädlich«, ereiferte sich der Graf, »durch ihn verarmt und verengt der Mensch.«

»Aber er vertieft sich«, sagte ruhig die Mutter.

»Es wäre da ein Ausweg gewesen«, meinte der Jude mild. »Warum ließ der Einsiedler Lenore nicht an dem neuen Verhältnis teilnehmen? Das hätte das alte Band nicht zerrissen, die neuen Lebensmöglichkeiten nicht abgeschnitten und wäre für alle drei ein Reichtum geworden. Aber dazu war er zu egoistisch, er wollte das neue Erlebnis für sich allein behalten.«

»Hat er nicht vielleicht gefürchtet, daß dann die Eifersucht dazwischen gekommen wäre?« fragte Gabriele bedenklich. »Sie verdirbt uns doch die schönsten fruchtbarsten Verhältnisse.«

»Ach!« rief Magelone begeistert, »ich traue dieser Lenore zu, daß sie sie erwürgt hätte, wenn sie ihren Schlangenkopf erhoben hätte; sie war so klar und frei.«

Maria nickte. »Je tiefer die Liebe umso sicherer. Denn was ist Liebe anderes, als Freude an diesem Menschen, so wie er ist

»Und wie er sein könnte«, sagte Eva leidenschaftlich. »Liebe, das Mitleiden mit leidenden verhüllten Göttern!«

»Ach ja, das ist schön!« rief Magelone und liebkoste die Worte. »Mitleid mit leidenden verhüllten Göttern!«

»Sagt Nietzsche«, ergänzte der Student, der es nicht lassen konnte vor dem kleinen Mädchen ein wenig zu glänzen.

Magelone sah den Arzt schüchtern an. »Ihre Geschichte hat mir sehr gut gefallen, wenn sie auch traurig ist. Eigentlich ist sie gar nicht traurig, sie ist so über allem drüber …«

»Wirklich?« sagte er erfreut. »Für Frau Eva ist die Frau sicher zu leidenschaftslos und Frau Maria ist sie nicht tief genug.«

»Männer können überhaupt von sich aus schwer von Liebe reden; es kommt immer etwas ganz anderes heraus und sie bleiben in der Regel an der Oberfläche«, sagte die alte Frau sachlich mit einem leisen Anflug von Bitterkeit.

»Diese Geschichte ist nicht oberflächlich!« verteidigte das Mädchen erregt. »Sie ist nur rein und klar wie ein Frühlingstag. Sie sengt nicht und zerstört nicht und sie ist so ohne Gesten. »Sie legte im Eifer ihre Hand ganz leise wie ein Blumenblatt auf den Arm des Arztes, wie um ihn über die Kritik zu trösten. Er griff darnach und hielt sie fest.

»Nun sollen sie uns erzählen.«

Magelone senkte erschrocken die Lider.

»Was wissen solche kleinen braven Mädchen von Liebe«, spottete der Graf.

»Sie wissen gerade so viel von Liebe, als was sie in ihren reinen Herzen träumend oder erlebend davon erfuhren«, wehrte die Mutter dem Spott. »Es kann tiefer und echter sein als die hundert Erlebnisse eines Don Juans.«

»Ich kann überhaupt keine Geschichte erzählen, am wenigstens eine Liebesgeschichte«, bekannte Magelone. »Wenn ich etwas erzähle, dann will ich nur von zu Haus erzählen.«

»Ja, erzählen Sie uns von zu Haus«, sagte Gabriele und legte zärtlich ihren Arm um den Nacken des Mädchens, »das wird uns hier im Kerker wie das köstlichste Märchen erscheinen.«

»Ja, so scheint es mir selbst. Unser ganzes Leben spielte sich eigentlich in einem Garten ab, und wenn man mich fragt, was mir das köstlichste aller unsrer Besitztümer ist, der irdischen natürlich, so muß ich diesen Garten nennen.

Ach wenn ich ihn beschreiben könnte! Sie wissen, daß mein Vater als Minister eigentlich immer in der Stadt leben mußte, aber meine Schwester und ich wurden ganz auf dem Land erzogen. Unser Haus war sehr einfach, ein weißes, geräumiges Gebäude, mit grünen altmodischen Läden und einer rosenberankten Veranda; ein Haus zum liebhaben, weitläufig, anspruchslos, nicht künstlerisch betont, sachlich, aber nie häßlich.

Und nun der Garten! Hinter dem Hause gab es die sogenannte Blumenwiese; da hatte der Gärtner mit großem Geschick unter das Gras Samen von Blumen gemischt, die sich jedes Jahr wieder aussäten. Im Juni stand sie in vollem Flor; ein schmales Pfädchen führte hinein und mitten drin hatten wir uns zwei Moospolster angelegt; auf die legten wir uns dann, damit wir die Blumen nicht zerdrückten. Und sie schlugen mit ihren Blüten über uns zusammen: rosa Nelken und bunte Skabiosen, goldbraune Schönäuglein, rote Blutströpfchen und Gretchen im Grünen. Hier haben wir unsre seligsten Träume geträumt und die Welt schien uns vollkommen und herrlich, wenn wir dort Hand in Hand in der Sonne lagen.

Ich habe meine Schwester sehr lieb; sie heißt Traute und ist ein Jahr älter als ich. Sie hat ganz schwarze Haare und Augen und sieht unsrer verstorbenen Mutter gleich, die eine Italienerin war. Ihr zulieb ist der Garten so besonders schön gemacht worden, weil sie immer an Heimweh litt.

Wir hatten einen Katalpenbaum; wenn der blühte, roch es im ganzen Haus nach diesem köstlichen fremdartigen Duft. Er war nicht süß vertraut wie Lindenblüten, Rosen oder Reben, er hatte etwas Aufreizendes, Südliches und machte melancholisch. Unter dem Katalpenbaum tranken wir Kaffee, und wenn ein leiser Juliwind durch die Zweige ging, tropften die weißen schön gezeichneten Blüten in unsre Kaffeetassen; dann tranken wir Blumenkaffee.

Wunderschön war auch ein riesiger Tulpenbaum und die Magnolien, aber wir hatten zu den andern ausländischen Blumen kein so inniges Gemütsverhältnis. Weil sie fast alle nicht dufteten, fehlte ihnen die Seele. Nur die rosa und weißen Päonien mit dem goldnen Kelch liebten wir; sie standen im Rasen wie riesige Rosensträuße, und die Bauernkinder freuten sich, wenn wir ihnen eine von den Blumen schenkten.

Wundervoll war es auch im Mai, wenn der Flieder blühte, von dem wir große Hecken hatten, zugleich mit Schneeball und Goldregen. Wir rissen Sträuße davon ab, warfen uns auf den Rasen und legten uns die Blumen als Kopfkissen unter, bis wir ganz trunken von Duft und Glück waren.

Mir hatten auch einen Teich mit einem Kahn. Wasserrosen blühten auf ihm und Goldkarpfen huschten zwischen den Stengeln durch. Wir saßen oft im Mondschein am Wasser, das dann wie mit Silberfunken bedeckt war. Meine Schwester und ich sangen an solchen Abenden Lieder zusammen, sie die erste und ich die zweite Stimme. Ich hatte am liebsten die traurigen Lieder in Moll, aber Traute mochte lieber die fröhlichen, und um einander Freude zu machen schlugen wir immer die vor, die die andere mochte.

Den Unterricht gab uns der junge Pfarrer des Orts. Er war sehr gelehrt, und wir lernten sogar Latein bei ihm. Wir liebten ihn beide sehr, Traute vielleicht noch tiefer als ich; ich fand sie einmal in bitteren Tränen, weil er vergessen hatte ihr zum Abschied die Hand zu reichen; und wir lernten fleißig, um ihn zu erfreuen. Alles wird so leicht, wenn man liebt. Als ich sechzehn Jahre alt war und Traute siebzehn, wurden wir bei unserm geliebten Lehrer in der Dorfkirche konfirmiert. Es war an Pfingsten und wir hatten Kränze von Maiglöckchen in den offnen Haaren. Vater und die Verwandten waren alle da. Traute und ich gingen nach der Feier zusammen in den blühenden Garten; die Nachtigallen schlugen, der Flieder blühte, alles war so unsagbar schön, daß wir weinen mußten. ›Nie wieder werden wir so glücklich sein wie wir heute sind‹, sagte Traute und brach in Tränen aus!«

Magelone stockte plötzlich, die Stimme versagte ihr. »Sie hatte recht, meine Schwester … nie wieder. Und doch …« Sie verstummte und konnte nicht weiter reden, wagte auch nicht die Augen aufzuheben. Sie war erblaßt vor Scham soviel von sich gegeben zu haben.

Ottokars nervige Hand deckte die ineinander gerungenen Mädchenhände, und es strömte eine wunderliche Kraft von ihr aus. Das Kind rührte sich nicht unter seiner leisen Zärtlichkeit, aber man sah seine Halsadern bläulich unter der zarten Haut klopfen und die Schläge des Herzens verraten.

»Darf ich einmal zu Ihnen in den Garten kommen?« fragte der Arzt, »dann, wenn wir aus diesem Haus heraus und wieder in Freiheit sind?«

Das Mädchen hob die Augen und sah ihn vertrauend an. »Dann singen wir Ihnen ein Lied in Moll.«

»Und ich, ich lehre Sie ein fröhliches in A-dur.« Seine Augen lagen auf ihr in stiller Güte.

»So ist's recht«, sagte Gabriele in lebhafter Teilnahme. »Das Leben ist traurig, das ist wahr, aber unsre Herzen müssen fröhlich sein, damit wir das Traurige besiegen, oder wenigstens ertragen können.«

» Inquietum est cor nostrum donec requiescat in te«, sagte der Priester feierlich, »und dann ist es gleichgültig, ob das Leben traurig ist oder fröhlich. Es ist in Gott, und Friede ist mehr als Freude.«

»Schließt aber die Freude nicht aus«, sagte Eva stürmisch.

»Nein«, gab der Priester zögernd zu, »aber es überdauert sie.«

Die Nacht war hereingebrochen, ein Soldat mit einer blutigen Binde um den Kopf kam herein und stellte eine flackernde Kerze in die Wandnische. Sie bestürmten ihn mit Fragen nach den Ereignissen draußen, die sie stets aus den wechselnden Tönen und Geräuschen aufbauen mußten. Aber der Soldat wollte nicht Rede stehn, er ging ohne ein Wort.

Sie versuchten nun aus seinem Benehmen das nächtliche Geschehen zu erraten: aus seinen unruhigen Augen, aus der frisch blutigen Binde, und ihre Gedanken kreisten wieder an der zermarternden Ungewißheit, an der Herzen zerbrechenden Wirklichkeit: Die Gesichter wurden blaß und gespannt, das Ohr suchte fernste Geräusche zu erlauschen und zu enträtseln, und sie schreckten zusammen von jedem Ton, der sich in ihre Abgeschlossenheit hinunter verirrte.«

Der Psychiater hatte seine Gefährten längere Zeit beobachtet und riß sie los von ihren Gedanken.

»Wenn wir uns als Kinder fürchteten«, sagte der Jude, »dann flüchteten wir zur Mutter, und sie sang uns ein Lied, oder sie erzählte uns eine Geschichte. Nun haben wir auch hier eine liebe Frau Mutter, in deren stillen Augen etwas liegt von einem Paradies des Friedens und von einer Zuflucht. Dürfen wir unsre Mutter bitten, daß sie ihren bangen Kindern etwas erzählt? Etwas Tröstliches, das uns den erschütterten Glauben an die Menschen wieder zurückgibt.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte die Mutter, »aber ich will Ihnen etwas von dem erzählen, was der Mensch dem Menschen sein kann, und das sich nicht als eigne Wahl zeigt, sondern als geheime Schicksalsverflechtung, die ihre Wurzeln im Unsichtbaren hat. Ich nenne meine Erzählung:


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