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Es gibt Zeiten großen Geschehens, in denen der Mensch den Boden unter seinen Füßen verliert, den Boden, auf dem es so lieblich war Hütten zu bauen und Nahrung zu pflanzen, den Boden, auf dem der friedliche Bürger gedeiht, die gesunde Familie, der behagliche Wohlstand und das Idyll. Dafür bricht eine Ewigkeit erdrückend herein. Vergangenheit wird zur harten Anklägerin, Zukunft erscheint in blutige Trauerschleier gehüllt, Gegenwart peitscht zu unerhörter Aktivität oder legt erstarrendes Warten auf die Menschen, daß sie kaum zu atmen wagen aus Angst, der Lufthauch könnte die zerstörende Lawine zum Rollen bringen.

Eine solche Zeit war gekommen. Große Worte brachen von den Lippen der Menschen: Freiheit, Brüderlichkeit, Liebe, Tod, Vernichtung. Und Lippen, die sonst von Amt, Beförderung, Geld und Verlobungen gesprochen hatten, formten die neuen Worte, die in ihren Herzen brannten. Und die Worte rangen nach Leben, wurden zu Taten, die wild daherstürmten, die Gutes und Schlechtes unter ihrer Wucht begruben, die Unkraut und Weizen zusammen zertraten und ein zerstampftes Ackerfeld übrig ließen, wenn sie darüber hingebraust waren.

Neues wollte geboren werden, Altes bäumte sich verzweifelt auf und wollte nicht sterben, und viele gab es, die warfen ihren Glauben und ihre Liebe fort und verhöhnten verzweifelt die Hoffnung, die leise ihnen zusprach.

Bruder wütete gegen Bruder; einer mißtraute dem andern, immer hatte der andere die Schuld an allem Unheil, das die Menschen quälte. Blutig ging die Sonne an jedem Tag unter, Blut troff vom Himmel und Blut trank die Erde, das Blut von Brüdern, die zueinander gehörten und deren Augen teuflisch gehalten und verblendet waren, daß sie die Zusammengehörigkeit nicht fühlen konnten.

Die Häuser der Schmach öffneten ihre Tore und ließen ihre Gefangenen frei, und sie schlossen sich wieder über anderen, die von blinder Wut, ohne Wahl und ohne Richtspruch in ihr Dunkel gestoßen wurden, Männer und Frauen.

In einem gewölbten Kellerraume des Staatsgefängnisses hatte so ein wilder Tag des Aufruhrs Menschen vereint, die einander nie gesehen hatten. Manche hatte man von der Straße aufgegriffen, andere aus den Häusern gerissen und einen Priester vom Altar weg. Nun waren sie zusammengeballt in der Düsterkeit des unterirdischen Raumes, wußten nicht, warum sie da waren, wußten nicht, was ihrer wartete, und waren wie in einem schweren Traum. Jeder trug sein ungewisses Los auf seine Art, die älteren mit einer stillen Würde und Ergebenheit, der Priester mit Märtyrersehnsucht und hochgesteigertem Empfindungsleben; die jungen Männer mit mühsam zurückgedrängtem Tatendrang, fieberhaft auf Rettung und Befreiung sinnend, die jungen Frauen mit einer von Weh durchtränkten Liebes- und Lebenssehnsucht, die aus ihnen, so nahe einem möglichen Tode, noch einmal flammend hervorbrach, ohne Ziel, ohne Gegenstand, nur reine Flamme, die sich von der Seele nährt.

Und die Tage gingen hin, immer wieder verlosch das Licht hinter den vergitterten Fenstern, und die Nacht hing schwarze Tücher vor die Luken, durch die kein Stern sein tröstliches Licht den Gefangenen senden konnte. Die Erwartung, die Angst, die Sehnsucht, das Feuer des Willens stumpften sich ab, rannten sich müde an den harten Mauern und sanken erschöpft zu Boden, um immer wieder aufzustehn.

»Laßt uns etwas ersinnen«, sagte der Hochschulprofessor und Psychiater, »was unseren Geist in diesem tödlichen Einerlei ablenkt, sonst verfallen wir alle noch dem Wahnsinn. Ich habe selbst schon die ersten bedenklichen Symptome bei mir beobachtet.«

»Ein Psychiater ist immer ein bissel an der Grenze«, sagte der junge, blonde Arzt, »bei mir merke ich noch nichts. Aber ich bin sehr damit einverstanden, unsere Jüngste hat heute noch kein einziges Mal gelächelt, und ich vermisse den sanften Glanz, wie ich die Sonne und die Luft und die Freiheit vermisse.«

»Und die Arbeit«, sagte die alte grauhaarige Frau, in der aller Schmerz ihres Lebens zu ehrfurchtgebietender Würde geworden war. Die kleine Magelone lächelte, daß ihr zartes Gesicht von innen erleuchtet wurde. »Wenn es Ihnen Freude macht, will ich vergessen, daß ich traurig bin und mich nach meiner Schwester und nach den Blumen im Garten sehne. Die Rosen müssen jetzt blühen.« Sie senkte den Kopf mit der schweren Haarkrone und flüsterte: »Wenn ich nur noch einmal die Arme voll Rosen hätte und in ihrem Duft versinken dürfte, dann wollte ich gern sterben. Denn dies Warten ist Qual.«

Der Dichter streichelte zärtlich tröstend ihre schmale Hand und sagte kein Wort. Er hatte soviel Worte in seinem ereignislosen Leben gesagt, daß er dies Neue, Unerhörte nur schweigend empfangen konnte und froh war, daß niemand ein Urteil, eine Äußerung, eine Formung von ihm zu erwarten schien. Er sah modern und ganz altmodisch zugleich aus in seiner empfindsam gewählten Kleidung und den kleinen, braunen Backenbartstreifen, aber seine nervös zitternden Hände verrieten seine aufgewühlte geängstete Seele, die sich vergebens zusammenzuraffen versuchte. Er hatte einst im Leben Sachen voll starker Aktivität geschrieben, kurz zusammengerissen, mit überhitztem Geschehen, und nun war das alles von ihm abgefallen und er war nackt – und so arm.

Die Frauen fühlten seine Armut und liebten ihn darum. Da war Maria, die schmerzensreiche Mutter, da war Magelone, halb Kind noch, eine weiße, verträumte Blume, Eva, die Liebende, in deren durchglühtem Gesicht alles Fleisch zu Seele geworden war, und Gabriele, die junge Witwe, bei der das Weibliche vor einer gefaßten stillen Fraulichkeit zurücktrat und die um ihre verlassenen Kinder litt.

Dann war da noch ein Student mit einem freiheitlichen Haarschopf und umgeklappten Schillerkragen, der die Taschen voll Bücher hatte, als man ihn einlieferte, ein katholischer Priester mit dem Jesuitengesicht, in dem alles stahlhart geschmiedeter Willen und Beherrschung ist, und dann der Psychiater, unverkennbar ein Jude, mit einem gütigen leidenden Mund und dunkeln, forschenden Arztaugen, vor denen kein Geheimnis sich verbarg.

Zwei Tage später wurde noch ein merkwürdiger Mensch eingeliefert, den der Psychiater sofort für »jenseits« erklärte. Eine hohe ausgebrannte Aristokratenerscheinung, Don Juan im letzten Akt, mit dämonischen Augen, aber zerbrochener Seele und zerknickter Kraft. Er war ein Graf und seinen Namen hatte er bei der Vorstellung so undeutlich gesprochen, daß niemand ihn verstanden hatte. Ottokar, der junge Arzt, widersprach allerdings im Punkt der Diagnose seinem berühmten Kollegen, da er das aber nur aus Prinzip tat und dabei ein simpler Kassenarzt war, neigten sich die anderen Gefangenen zu der Ansicht des Professors, und der Graf wurde gemieden. Nur Maria, die schmerzensreiche Mutter, kümmerte sich um ihn. Er schien aber weder das eine noch das andere zu bemerken.

Manchmal hörte man draußen auf der Straße Gewehrfeuer, Summen von zusammengeströmten Massen, Hurrarufe und gelle Angstschreie. Dann wieder war es stundenlang still, bis plötzlich ein Sturmläuten von allen Glockentürmen der Stadt brach und wieder neue Unruhen ankündigte. Dann hörte man Autos fauchen, die in rasender Eile durch die Straßen sausten und sich kaum die Mühe nahmen, durch Signale zu warnen, Kanonenschläge machten die Scheiben erzittern, dazu Pferdegetrappel und Trompetenfanfaren, das hölzerne Klappern von Maschinengewehren und Kommandorufe. Dies unbestimmte Wissen um Dinge, die nie zu erfahren waren, machte die Menschen mürbe, besonders diejenigen, die um andere da draußen zittern mußten, und mit banger Stimme begann die kleine Magelone dem Arzt von ihrer geliebten Schwester zu reden. Gabriele ging mit der schmerzensreichen Mutter, die nie müde wurde von den Kindern erzählen zu hören. Sie waren in der Hut der Großmutter zurückgeblieben, als man die Mutter von ihnen riß. Ihre einzige Schuld war, daß sie die Tochter eines hohen Staatsbeamten war, der politisch unliebsam hervortrat.

Der Student steckte immer mit dem jungen Arzt zusammen.

»Mich haben sie mit dem Gewehr in der Hand erwischt«, sagte der Student, »ich weiß wenigstens, warum ich hier bin.«

»Und mich rissen sie von einem Soldaten weg, dessen Wunde ich auf der Straße verbinden wollte und der der feindlichen Partei angehörte«, sagte der Arzt. »Sie hätten bessere Vertreter einer zu bekämpfenden Sache aufgreifen können, als gerade mich.«

»Ich komme von der wunderlichen Vorstellung nicht weg«, meinte der Student, und seine Stirn nestelte sich in nachdenkliche Falten. »als ob ich das alles schon einmal erlebt hätte, wie ein ganz ferner Traum zieht mir s durch das Herz, sowie ich nach ihm greife, weicht er zurück und ich weiß nur, daß da Linien vom heutigen Geschehen zu einem früheren hinüberführen.«

Er starrte mit seinen lebendig wachen Augen nach der Gefängniswand, als müsse er dort die bunten Bilder eines vergangenen Erlebens wahrnehmen können. Dabei preßte er den asketischen Mund zusammen, und dies nahm ihm alles Jünglingshafte, er sah zeitlos aus wie die Verkörperung des zur letzten Tat bereiten Idealismus.

»Ist es nicht überhaupt wunderlich, wie wir alle das Bedürfnis haben, hinter die Dinge zu schauen?« fragte der Professor. »Aus jedem Gespräch fast, das wir in diesen Tagen führten, tasteten wir, einem inneren Leiten folgend, hinter diese Erscheinungswelt.«

»Gar nicht wunderlich scheint mir's«, meinte der Dichter. »Wir stehen vor der letzten Türe, es uns zu verschleiern, hat keinen Zweck. Und da erscheint uns alles ärmlich, oberflächlich, unbefriedigend, was seinen Sinn nur im materiellen Geschehen der Erde findet. Denn diese Erde ist für uns ein fast verlassenes Land. Was bleibt uns?«

»Die Liebe«, sagte Eva, »sie ist ewig, oder das Leben ist überhaupt sinnlos.«

»Und der Tod«, fügte trocken der junge Arzt hinzu.

»Ja, als die Türe zum Leben der Seele«, sagte Maria, denn alle, die sie geliebt hatte, waren jenseits dieser Türe.

»Du aber Gott bleibst von Ewigkeit zu Ewigkeit«, sagte feierlich der Priester. Wenn er Bibelworte zitierte, bekam seine Stimme immer etwas, das an Altar und Kanzel erinnerte, aber nicht im Sinne eines hohlen Pathos.

»Ja, Gott bleibt«, gab Eva zu, »denn in ihm ist Tod und Leben, Schuld und Liebe beschlossen.«

»So wollen wir uns Geschichten erzählen von Liebe«, schlug Gabriele vor.

»Liebe im weitesten Sinne gefaßt«, erläuterte der Priester.

Man billigte ihm das zu.

»Und von den Geheimnissen der Seele«, fügte der Dichter hinzu, »Liebe allein ist primitiv.«

»Und vom Tode und dem Land, in das er uns führen will«, meinte der Arzt, denn mit dem Tod war er gut bekannt.

»Überhaupt von Dingen, die verborgen sind!« rief Magelone und klatschte lebhaft in die Hände.

»Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, die wirklich passiert ist«, sagte der Psychiater, »und vielleicht helfen Sie mir den Knoten lösen.« Er lächelte. »Wir haben ja keinen Professor der Philosophie unter uns, der ein lebendiges Ereignis in papierne Schachteln schließt, daß es vertrocknet.«

»Hat die Geschichte auch einen Namen?« fragte Magelone eifrig. »Ich habe so gern schöne geheimnisvolle Namen.«

»Ja, sie heißt:


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