Conrad Ferdinand Meyer
Der Heilige
Conrad Ferdinand Meyer

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X

An jenem Tage verwundete ein Giftpfeil das Herz König Heinrichs. Erst war der Stich nur klein, und mitunter schien es, als wolle er heilen. Aber in der Tiefe eiterte er fort und fraß immer schmerzhafter ins Fleisch, bis zuletzt von diesem einzigen Punkte aus Herrn Heinrichs ganzes Wesen untergraben und sein Königsleben zerstört wurde.

Schnell zwar kam das Verderben nicht über ihn, denn meines Königs starke, freudige Natur leistete ihm Widerstand. Im Drange der Geschäfte, im Wetten und Wagen des Lebens verbiß und vergaß er wohl auch seinen Groll. Zu Nacht aber fuhr er, kaum eingeschlummert, aus unruhigen Träumen empor, sprang von seinem Lager und stellte, rastlos in der Kammer auf und nieder schreitend, den undankbaren Liebling, der ihn als nächtliche Scheingestalt heimgesucht und erschreckt hatte, zur Rede, bald beleidigt und drohend, bald aber auch liebreich mit kosenden Worten. Er hielt ihm alle Beispiele des Undankes vor, deren er sich aus biblischer und weltlicher Historie entsann, und überwies ihn, der seinige sei der größeste. Keines Menschen Mund schildert, was mein König litt. Anwesend und abwesend verfolgte ihn Herr Thomas gleicherweise.

Stand der Primas leiblich als ein stiller Dulder vor dem Könige, so ergrimmte dieser über den erbarmungswürdigen Anblick; hielt sich Herr Thomas abseits vom königlichen Angesichte im Frieden seiner bischöflichen Wohnung, so zürnte und klagte Herr Heinrich um so herzzerreißender, daß sein Vertrautester, früher die Seele seiner Ratschläge, der ihn kenne wie keiner, sein Herz verrate, sich von ihm entferne und sondere, die Schärfe einer übermenschlichen Klugheit gegen ihn wendend.

Und doch ließ es der Primas nicht fehlen an versöhnlichen Worten und unterwürfigem Entgegenkommen. Dann fuhr der König zu und faßte hastig die bedingungsweise gebotene Hand, welche der über dies triumphierende Zugreifen Erschrockene schon wieder erkältet zurückzog. Ebensogut hätte mein König eine Wolke umarmt als seinen ehemaligen Kanzler, diesen schlanken, schmeidigen Aal, festgehalten.

Aber auch wenn der Primas über einen streitigen Punkt ein wahres und wirkliches Zugeständnis machen wollte, durfte es nicht gelingen. Entweder stieß er auf der Fahrt nach Windsor mit einem weltentfremdeten Einsiedler zusammen, der gerade jenes Tages aus seiner Höhle kriechen mußte, um den übertreuen Bischof zu beschwören, die Rechte Gottes und der Armen, seiner Kinder, nicht dem Fürsten der Welt preiszugeben. Oder es vertrat ihm, wenige Schritte vor der königlichen Schwelle, ein verzückter Mönch, das Kreuz in der Faust, den Weg und trieb mit schwärmerischen Worten den Demütigen nach Canterbury zurück.

Wollt Ihr die Wahrheit erfahren?

Eine vermittelnde Formel, welche die englische Königsmacht und die Rechte der barmherzigen Kirche zu gleichen Teilen geschont und gesichert hätte, wäre schon vorhanden und der Klugheit des Kanzlers erfindlich gewesen, wie ich meine. War doch der König nicht unmenschlich und Thomas kein erhitzter Eiferer! Aber die Herzen der beiden Herren kannten sich nicht mehr, und wann sie den letzten Schritt zueinander tun wollten, trat das Gespenst ihrer gestorbenen Liebe als blasse Feindschaft zwischen sie.

Dann sei nicht vergessen, daß Frau Ellenor jetzt als ein züchtiges Eheweib nicht mehr von meinem Herrn wich und ihm seit ihrer Bekehrung Tag und Nacht in den Ohren lag, den Heiligen Gottes nicht zu beleidigen, womit sie den König erboste und verhärtete.

Gehetzt und gezischelt, Glut gelegt und ins Feuer geblasen wurde gleichfalls nach Hofgebrauch. Der normännische Adel insgesamt hatte seinen Haß und Abscheu geworfen auf den gottseligen Rebellen, der den entlaufenen Hörigen der eroberten Güter die unerstürmbare Zuflucht seiner Klöster öffnete. Täglich und stündlich wurde dem Herrn hinterbracht, wie der Bischof zunehme und groß werde im Volke der Sachsen und seine gleisnerischen Hände überall und allezeit hilfreich und segnend ausstrecke. Er unterwühle das Reich mit einem heimlich brütenden frommen Aufruhr der Seelen, gefährlicher als ein offener und körperlicher, weil er sich nicht mit Waffen niederwerfen lasse.

Wurde dem König solcher Argwohn eingeraunt, so gab der Gereizte seinem liebsten Rüden einen Tritt und behandelte auch mich unwirsch, besonders wann ich ihm eines jener subtilen Schreiben überreicht hatte, in welchen der Primas mit der ängstlichen Linken zurücknahm, was seine großmütige Rechte gegeben.

Dann geschah es wohl, daß der Herr das trügliche Schriftstück fluchend in der Faust zerdrückte und zur Jagd blasen ließ, ob er seinen Unmut auf freier Heide verwinde. Aber es gelang ihm nicht. Wurde ihm der Edelhirsch zugetrieben und reichte ich ihm die Armbrust, so erblickte er statt des geängstigten Wildes seinen Verfolger, stöhnte qualvoll: ›Hüte dich, Thomas Schlankhals!‹ und durchbohrte dem Tiere das Herz.

Endlich entschloß sich Herr Heinrich, forderte den Primas vor ein Gericht seiner Barone, ließ ihn als Reichsverräter verurteilen und vertrieb ihn auf ewig aus seinen Landen. Am selben Tage aber, da Herr Thomas wie ein Verbrecher über Meer entfliehen mußte, wich Frau Ellenor von ihrem Gemahl und verließ Schloß Windsor mit einem weit vernehmbaren Wehegeschrei.

Jetzt begann das Ohr meines Herrn und Königs Tag und Nacht über Meer zu lauschen, was Herr Thomas drüben beginne.

 

Zuerst verlautete, der Capetinger habe ihn an der jenseitigen Küste mit Ehrfurcht empfangen und um seinen Segen gebeten, ihn versichernd, er, als ein christlicher Fürst, habe wahrlich sein Leben lang nie einen Mönch beleidigt, geschweige einen Bischof.

Das war König Ludwig, den sie den Jüngling nannten, weil er als ein unbärtiger Knabe den Thron bestieg, und der Name blieb ihm, da er es nie zu einer herzhaften Männlichkeit gebracht hat; wie denn auch Frau Ellenor, die er als seine Königin heimgeführt hatte, in der Gärung ihrer übermütigen Jugend sich bitterlich beklagte, man habe sie mit einem heiligen Mönche vermählt.

Dieser Herr war ein geborner Freund der Geistlichkeit und beschwor den Vater der Christen mit Beilegung goldener Pfennige, die Sache des heiligen Primas an die Hand zu nehmen gegen Herrn Heinrich, welcher sein und seines Hauses Erbfeind war und den er mit den Waffen der Kirche wirksamer zu bekriegen hoffte als mit seinen weltlichen.

Seinerseits hielt der Heilige Vater die Waage in sorgsamer Hand, beflissen, seine Gnade je und je in diejenige der Schalen zu legen, die durch das Gewicht hineingelegten Goldes herabgezogen werde.

Diese päpstliche Weisheit gedieh meinem Könige in jener Zeit zum Nachteil, da ihm seine Kriege in Irland ein schweres Geld kosteten und ihm weniger als früher für den Vater der Christenheit übrigblieb.

Dennoch zögerte der Heilige Vater, für Herrn Thomas ohne Rückhalt einzutreten. Er konnte kein rechtes Vertrauen zu ihm fassen und in seinem Geiste den verfolgten Bischof von dem ehemaligen Kanzler nicht sondern. Diesen hatte er wiederholt als einen durchtriebenen Staatsmann erfahren, und es erschien ihm verdächtig, daß er jetzt von seiner Kunst keinen Gebrauch mache, sondern sich verfolgen lasse wie ein großer Apostel der ersten Kirche oder ein schwärmerischer Ketzer der jüngsten Zeit.

Es wurde mir von glaubwürdigen Zeugen versichert, und wie ich Herrn Thomas kannte, hielt ich es für Wahrheit, er habe seine Sache heilig gehalten und seine Hände rein von jedem Verrat an seinem Herrn und Könige, den Papst nicht weiter in Anspruch genommen und vom Capetinger nichts verlangt als eine Klosterzelle, wohin er sein Haupt berge.

Dergestalt ging er denn, vom Heiligen Vater aufgeopfert, die Hoflager des Capetingers vermeidend, am Wanderstabe des Elends von Kloster zu Kloster, und oft verloren sich seine Spuren. Während so seine Leiblichkeit in Frankreich abnahm und schwand, wuchs seine Macht und geistige Gegenwart in Engelland und stand über den trauernden Sachsen wie der Vollmond in der Nacht. Oder, wenn Ihr lieber wollt, Herr Thomas wohnte wie das Christkind im Stalle, niedrig und prächtig, in allen englischen Hütten und Herzen. Er herrschte dort als König und vertrieb die Furcht aus den Seelen.

Diese meine Augen haben es gesehen, wie die Sachsen und mehr noch ihre Weiber jetzt, da Herr Heinrich den Primas gerichtet hatte, seiner Majestät Ehrfurcht und Kniebeugung verweigerten, sich abkehrend, wo er vorüberritt. Noch ist mir ein Stücklein davon erinnerlich. Mein König lustwandelte eines Tages in seinen Gärten, wo sie sich gegen Wald und Fluß ins Freie verlieren, und ich ging nach meiner Gewohnheit von ferne in seinen Stapfen. Da kroch aus den blühenden Büschen ein blondes Sachsenkind hervor und geriet dem König zwischen die Füße. Der heute gutgelaunte Herr hob den Buben auf, liebkoste ihn und drückte ihm ein Silberstück in das Händchen. ›Halte fest, mein Junge!‹ sagte er. Da sprang die Mutter, die sich in einer ersten Anwandlung von Ehrfurcht und Zittern hinter einen Baumstamm geduckt hatte, mit brennenden Augen hervor, entriß dem Kinde die Münze und warf sie entsetzt ins Dickicht, als wäre es einer der dreißig verfluchten Silberlinge. Ich eilte herbei, um die Freche, welche mit dem Kinde auf dem Arme davonrannte, zu ergreifen. Herr Heinrich aber sprach: ›Hans, laß sie laufen!‹ und wandelte fürbaß mit verdorbener Laune, seufzend und nachdenklich.

Tag und Nacht ging alles Träumen und Sinnen meines Königs darauf hin, wie er Herrn Thomas seiner Primaswürde, an der, wie er sich einredete, die Verehrung der Sachsen hing, rechtsgültig und für immer entkleide. Darüber habe ich ihn oft, die Faust auf die Stirne gedrückt, grübeln und brüten sehen. Eines Morgens trat er mit triumphierendem Angesicht aus seiner Kammer – er glaubte das Rätsel gelöst.

Es war am Tage der Himmelfahrt unseres Herrn, daß Herr Heinrich vor die Versammlung seiner Barone trat und ihnen vorstellte, sein weit verästetes Reich bedürfe eines zweiten Hauptes, und er würde sich, die Krone mit seinem Erstgeborenen teilend, Last und Sorge erleichtern.

Die Herren willigten in guten oder bösen Gedanken und Absichten ein, daß Prinz Heinrich neben seinem Vater gekrönt werde, und es krönte und salbte den Jüngling der normännische Bischof von York. Darauf folgte ein der Gelegenheit würdiges Festmahl, und dabei begab es sich, wie ich hier vor einem Jahre Euern Brüdern, den Herren im Stift, vorgemacht und nach Wahrheit beteuert habe, daß mein Herr dem Jungkönige Heinz bei Tische diente und ihm eigenhändig die Speise vorlegte. ›Heute bin ich einer schweren Bürde ledig geworden!‹ rief er und vergoß Tränen der Freude.

 

Ist Euch die List der Sache klar, Herr? Erkennet Ihr, welche Last mein König abzuwerfen wähnte?

Ihr schüttelt das Haupt? Wohlan, hier habt Ihr den Schlüssel dazu. Das große Privilegium, der unvergleichliche Edelstein der bischöflichen Mütze von Canterbury war die Krönung der englischen Könige. Dadurch, daß sie ein anderer Bischof vollzog, wurde die Primaswürde vernichtet und Herr Thomas heruntergerückt. So rechnete mein König und ergriff das Mittel, den eiteln Heinz an seine Seite auf den Thron zu heben; denn er meinte, sein Erstgeborner werde sich damit begnügen, das schimmernde Krönlein auf seinem Haupte im Spiegel zu betrachten und es auf Gewand und Pferdedecke sticken zu lassen.

War der Plan nicht fein und staatsklug wie weiland die Ratschläge des jetzt der Schlauheit der Welt abgestorbenen Kanzlers?

Es war ein böses Fündlein, wie Herr Heinrich kein schlimmeres hätte tun können!

 

Wenige Wochen später zeigte es sich. Zwei Unheilskunden langten an dem gleichen Tage in Windsor an.

Die eine erzählte, Jungkönig Heinrich sei, den wetterwendischen Herrn Gottfried mit sich ziehend, nach Paris geritten unter dem Vorwande eines Turniers, in Wahrheit aber, um die jenseits der Meeresenge gelegenen Länder des Normannenreiches unnötiger- und schmählicherweise von dem Capetinger zu Lehen zu nehmen.

Die andere lautete, der verborgene Herr Thomas sei in einer französischen Stadt zu Pfingsten an den Tag getreten und habe unter dröhnendem Glockenschlage die brennenden Kerzen auf dem Hauptaltare des Domes mit dem Hauche seines Mundes gelöscht, den Bischof von York, der in die Rechte des Stuhles von Canterbury gegriffen, mit dem Banne schlagend.

Wie der alte König, denn diesen unlieben Namen mußte mein Herr seit der Krönung seines Sohnes tragen, diese zwei Botschaften erhielt, gebärdete er sich wie ein wahnsinniger Mann. Er tobte, entgürtete sieh vor seinen Knechten, warf sich stöhnend auf sein Lager, zerfetzte die seidenen Decken, riß mit den Zähnen die Wolle aus den Polstern und zerschlug sich die Brust mit verzweifelten Fäusten.

›Löset mir den versuchten Vampir vom Herzen!‹ heulte er, den Schaum vor dem Munde, und meinte Herrn Thomas, ›er zernagt mir Leib und Seele!‹«

 

Herr Burkhard hörte diese Mär mit Unlust, denn er war ein reichstreuer Waiblinger und darum auch in den Händeln anderer Nationen ein königlich gesinnter Mann. Es konnte ihm nicht gefallen, einen großen und tapfern Fürsten in solcher Erniedrigung seiner selbst zu erblicken.

 

Er machte seinem Mißbehagen mit einem Stiche gegen den gehärteten Armbruster Luft.

»Die zwei Hiobsposten an demselben Tage?... Hans, du träumst! – Liegt doch ein volles Jahr dazwischen, wenn die Zahlen auf den Rändern meiner Chronik nicht fügen!...«

»Bleibt mir vom Leib mit nichtigen Zahlen!« grollte der Armbruster. »Ein anderes ist es«, fügte er, seines unwirschen Wortes sich sogleich bewußt, mildernd hinzu, »ob einer noch im Tagewerke und in der Zeit steht, oder ob der Tod sein Lebensbuch geschlossen hat. Ist einmal das letzte Sandkorn verrollt, so tritt der Mensch aus der Reihe der Tage und Stunden hinaus und steht als ein fertiges und deutliches Wesen vor dem Gerichte Gottes und der Menschen. Beide haben redet und unrecht, Eure Chronik und mein Gedächtnis, jene mit ihren auf Pergament gezeichneten Buchstaben, ich mit den Zeichen, die in mein Herz gegraben sind.

Aber, haltet mich nicht auf! Mich verlangt zu enden, lieber Herr. Denn ich erblicke ein blutiges, totes Haupt vor mir und den gegeißelten Rücken meines Königs.


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