Conrad Ferdinand Meyer
Der Heilige
Conrad Ferdinand Meyer

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VI

Ich wandte mich nach Dover, um Herrn Heinrich über das Meer in die Normandie zu folgen; doch widrige Winde hatten ihn aufgehalten. Ich fand ihn noch dort, und die Stunde, ihm das Unheil zu berichten, traf ich früher, als ich geglaubt, und noch auf englischem Boden.

Der Herr brach in schwere Jammertränen aus und verschloß sich in seiner Kammer. Ich aber legte mich auf die Schwelle meines Königs, wie ich von jeher in gefahrvollen Stunden zu tun gewohnt war. Drinnen floh ihn der Schlaf, und ich hörte ihn nächtlicherweile mit harten Tritten auf und nieder schreiten. Dazwischen wehklagte er erbärmlich und redete zu sich selber laut und ungestüm, so daß ich seine von Seufzern unterbrochene Rede wohl vernehmen konnte.

›War sie nicht meine Wonne!‹ klagte er. ›Ich hätte mein zartes Lämmchen auf eine sichere Weide gebracht!... Aber was kann ich gegen die böse Art meiner Königin und die Dummheit meiner Knechte! Was kann ich gegen die Tücke des Schicksals?... Mir und dem Kanzler – uns beiden – ist auf der Waldwiese groß Herzeleid gewachsen... Aber ich will ihm mein Gemüt schreiben... er soll es wissen, daß ich ihn mit Gunst und Gnaden überschütten will, mehr als je zuvor, und daß er meinem Herzen und meinem Throne für immer der Nächste bleibt.‹

Gegen Morgen wurde er ruhiger, und im ersten Frühlichte rückte er sich Tisch und Sitz zurecht und schien einen Brief zu beginnen, je und je einen Satz vor sich her murmelnd, bevor er ihn niederschrieb. – Zuletzt hörte ich seines Siegels schweren Druck.

Er rief mich und übergab mir ein Schreiben.

›Dieses hast du in des Kanzlers eigene Hände zu legen‹, sagte er, ›suche ihn, bis du ihn findest.‹

 

Dergestalt fuhr der König über Meer, ich mit meinem Briefe nach London, und der war keine leichte Bürde, das dürft Ihr mir glauben. Ob ich auch im Gehorsam meines Herrn gehandelt, war mein Gewissen schwer bedrückt und hatte ich eine heilige Furcht, vor den Kanzler zu treten; denn dieser mußte jetzt die wahre Ursache von Gnades Untergang ans Licht gezogen haben.

In London, wo ich ihn zuerst suchte, war er nicht. Auf welchem seiner vielen Schlösser er sich befinde, konnte oder wollte mir sein städtisches Gesind' nicht sagen: ich hatte es auch nicht nötig, denn ich wußte es.

Auf einem frischen Pferde jagte ich am hellen Tage – was war noch zu verbergen? – denselben Weg, den ich oft genug in Dämmer und Mondlicht gemacht hatte. Der klarste Himmel schimmerte über den gelben Baumkronen und zwischen den hier und dort schon entlaubten Zweigen.

Das Herz pochte mir wie ein Hammer, als ich das schimmernde Schlößchen erblickte und, vom Pferde springend, die sonst so wohl verschlossene Pforte offenstehen sah. Kein Türhüter fragte nach meinem Begehr. Im Burghof war es still, nur der Wind flüsterte in den immergrünen Zweigen des fremden Holzes, und der Springbrunnen spielte plätschernd mit seinen goldenen Kugeln.

Ich hielt den Fuß an, mich nach einem lebendigen Wesen umschauend. Da ward ich eines Weibes gewahr, das an der Gartenmauer vor einem dort eingefügten Heiligenschreine kniete. Sie hielt das Haupt in beide Hände versenkt und bemerkte mein Kommen nicht. Ich aber berührte Monna Lisa hart an der Schulter. Sie wandte sich erschrocken und starrte mich mit von Tränen geröteten Augen an. Dann bedeutete sie mich mit beiden Händen, schleunig zu entweichen. Da wies ich ihr den Brief und verlangte, als Bote des Königs, unverzüglich vor den Kanzler geführt zu werden.

Zitternd, aber ohne Widerrede, stieg sie die Stufen zu den gelblichen Säulen des Kuppelbaues mir voran und öffnete die Tür: ›Sie liegt in der Kapelle – ich habe sie noch geputzt wie eine Königin‹, sagte sie furchtsam und verschwand.

Ich trat in den heitern Raum einer von oben erleuchteten kleinen Rundhalle. Rings der Mauer entlang lief ein kostbares Polster, und in der Mitte stand ein vergoldetes Gitterhaus voll Geflatter und Gezwitscher. Bunte, fremdländische Vögel spielten da unter Zwergpalmen, aber nirgends war ein menschliches Wesen, das sich daran gefreut hätte.

Ich schritt über die farbigen Figuren des Mosaikbodens nach einer schmalen Marmortreppe, die zu einer Bogenpforte führte, öffnete und schlug scheu die innen darüber hangende Damastdecke zurück.

Mir wurde ein Anblick, der mir das Wort auf der Lippe bannte und den Atem in die Brust zurückdrängte. Ich schaute in das Halbdunkel der Burgkapelle. Aber da war kein Crucifixus und kein ewiges Licht, und statt eines heiligen Leichnams unter dem Altare lag in einem Schreine vor demselben, ebenso reich geschmückt, die tote Gnade. Ein Lichtstrom, der durch das einzige, hoch gelegene Fenster sich ergoß, beleuchtete ihre überirdische Schönheit. Ihr Haupt ruhte auf einem Purpurkissen und trug ein Krönchen von blitzendem Edelgestein. Der zarte Körper verschwand in den von Goldstickerei und Perlen starrenden Falten ihres über die Wände des Schreins ausgebreiteten Gewandes. Die kleinen durchsichtigen Hände lagen auf der Brust gekreuzt und hielten keusch den schwarzen Schleier ihres Haares zusammen, der vom Scheitel fließend die zarten Wangen einrahmte und, die zwei Wunden des Halses bedeckend, sich unter dem blassen Marmorkreuz ihrer Arme wieder vereinigte.

Neben dem lieblichen Todesantlitz aber lag ein anderes hingesunken, von demselben Sonnenstrahle gebadet, lebloser und gestorbener als das der Leiche, ein Antlitz, über das die Sterbenot der Verzweiflung gegangen und von dem sie, nach getanem Werke, wieder gewichen. Es war der Kanzler, der mit zerrauftem Haar und aufgerissenem Gewande neben dem Sarge lag, die Arme auf den Rand desselben stützend.

Lautlose Stille herrschte. Nur ein Laubgeflüster regte sich im offenen Fenster, und leichte Blätterschatten tanzten über das Purpurkissen und die beiden Angesichter.

Ich weiß nicht, wie es geschah, daß mir in dieser bangen Stunde das maurische Wesen in Granada durch den Sinn fuhr. Ich erzähle Euch eben die Sache, wie sie war. Was immer es sein mochte, die Einflüsterung eines lichten oder eines schwarzen Geistes, ich wurde getrieben, in arabischer Zunge einen Vers des Korans auszusprechen – Gott der Heilige rechne es mir nicht zu –, der Anblick der erblaßten Gnade mag mich an das Paradies der Ungläubigen und seine Engel erinnert haben. – Der heidnische Spruch aber lautete so:

›Schön sind sie und lieblich, ja, sie sind schön wie Lilien und Hyazinthen. Sie senken die Lider, und ihr reines Antlitz hat die Blässe des Straußeneis, das im Sande wohl geborgen ist.‹

Kaum war der Spruch meinen Lippen entfahren, so ging mit dem Gesichte des Kanzlers eine Veränderung vor. Es glitt eine Bewegung der Freude und Liebe darüber hin. Er wandte sich langsam zu dem, der ihn mit diesem Koranvers getröstet hatte.

Ich nahm den Augenblick wahr, nahte mich ihm, bog das Knie und überreichte mit banger Furcht den königlichen Brief.

Eine Weile brauchte der Entrückte, sich in diese Welt zurückzufinden. Nun wurde er der drei Leoparden des königlichen Siegels ansichtig – die Hand, in welche ich das Schreiben gelegt hatte, zuckte, wie von einem Skorpion gestochen, und schleuderte es in heftigem Schmerze von sich. Gleich einem Manne, der auf der Folter liegt und unsagbare Qual erduldet, verzog er seine edeln Brauen. Die vorwurfsvollen Augen richteten sich auf mich, und in ihrer Tiefe entglomm eine Flamme, grausam und gramvoll wie die Hölle. Dieser Blick traf mich mit der Gewalt eines Wurfgeschosses, ich entsetzte mich in der Seele und floh ohne Urlaub von dannen.


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