Conrad Ferdinand Meyer
Der Heilige
Conrad Ferdinand Meyer

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IX

So begab sich denn der Kanzler mit unbeschränkter königlicher Vollmacht im Gehorsame seines Herrn nach Engelland zurück, und dort formte und bildete er mit seinen geschickten Fingern die Bischöfe, die den Primas zu wählen hatten, wie geschmeidigen Ton, bis sie aus seiner Meisterhand als seine Geschöpfe hervorgingen und ihre Stimmen zu seinen Gunsten vereinigten. Alles verlief aufs beste. Herr Thomas wurde ernannt, und der normännische Bischof von Wincester legte ihm mit bittersüßer Miene und großer Feierlichkeit seinen brüderlichen Segen aufs Haupt.

Da gelangte eines Tages eine unglaubliche Mär in die Normandie. Meinem Herrn und Könige wurde berichtet, sein Kanzler habe alle Pracht des weltlichen Lebens mit einem Male und gänzlich von sich getan. Zu dem üblichen Gastmahle seiner Bischofsweihe habe er gegen alle Art und Sitte nicht seine Brüder, die Bischöfe, und übrige vornehme Pfaffheit nebst der Blüte des normännischen Adels geladen, sondern er habe Armut und Schwären, die Bettler und Krüppel von den Landstraßen und Zäunen holen lassen, um seine weiten Säle und seine bischöfliche Tafel würdig zu füllen.

Der König hielt dieses staunenswerte Ereignis für erfunden oder wenigstens von den Neidern und Feinden seines Lieblings ins Große getrieben. Er machte sich über seine normännischen Hofleute lustig, die solches neue und unerhörte Ding verdroß. ›Herren‹, schäkerte er mit ihnen, ›das müßt ihr meinem Kanzler schon lassen, über Miene und schickliche Tracht jeden Standes weiß er Bescheid. In allem zeigt er Geschmack! Euch hat er in der Vollendung des Höflings vorgeleuchtet und euch alle an feinem ritterlichen Anstand übertroffen. Jetzt gibt er seinen neuen Standesgenossen, den Bischöfen, das hohe Beispiel der echten apostolischen Lebensart. Ein seltener, oh, ein einziger Mann!‹ –

Als neue Kunden die erste bestätigten, hinzufügend, der Primas habe sein kostbares Bischofsgewand gleich nach der feierlichen Handlung der Weihe wieder abgelegt und wandle mit magerem, verfastetem Angesicht in einer groben Kutte durch die Straßen von Canterbury, seine Gäste, die sächsischen Bettler, wo er gehe und stehe, hinter sich herziehend, da wurde Herr Heinrich unsicher, und die scherzhaften Anwandlungen vergingen ihm; doch bald hatte er erraten, daß der unvergleichlich Kluge die Maske eines heiligen Mannes nur vorgenommen, um gegen den Papst in den bevorstehenden Unterhandlungen über die geistliche Gerichtsbarkeit in Engelland eine Macht zu gewinnen.

Immerhin beschloß er, selbst zu der Sache zu sehen, und beschleunigte seine Überfahrt nach Engelland.

 

Unterwegs zwischen Dover und London wurde er zu wiederholten Malen von normännischen Herren erwartet und um Recht angerufen gegen den neuen Primas, seinen Kanzler, der sich weigere, ihnen ihre entlaufenen sächsischen Knechte zurückzugeben, welche – so klagten die Herren – jetzt haufenweise den Klöstern zueilen, um sich das Haupt scheren zu lassen; wozu Herr Heinrich mißmutig das seinige schüttelte.

Am Morgen nach seiner Ankunft in Windsor versammelte sich in der großen Halle des Schlosses aller Adel, um die heimgekehrte Majestät zu begrüßen. Sie schlummerte noch. Ich aber bewachte die Tür, durch welche mein König in die Halle zu treten pflegte und von wo sich die glänzende Versammlung leicht überschauen ließ.

Unter all den Herren war von nichts anderem die Rede als von der unerklärlich plötzlichen Verwandlung des Herrn Thomas. Sie waren gespannt auf seine Erscheinung; denn sie wußten, daß er kommen würde, die Majestät zu begrüßen, und unterhielten sich lebhaft mit gedämpften Stimmen, wie es sich in königlichen Gemächern geziemt. Nur Herr Rollo, der Greis, der sie alle um Haupteslänge überragte, tat sich keine Gewalt an, und seine Rede grollte wie ein dumpf rollender Donner.

Er stand auf der rechten Seite des Saales in einem Kreise bejahrter Herren, die hagerste, trockenste Gestalt unter ihnen, und lästerte nach seiner Art gegen die Gesamtheit der Geschorenen und den neuen Primas insbesondere.

›Nie traute ich ihm Mannestreue zu‹, schalt der Waffenmeister, ›dieser blassen Memme! Der falsche und feige Sklave duckt seinen dünnen Leib in die Kutte, weil er ihn dort mehr in Sicherheit glaubt als unter dem Schilde seines Königs. Hätt' ich mit dem Heuchler angebunden, solange er ein Schwert trug! Ihr werdet erleben, der Ränkeschmied stiftet uns schweres Unheil an!‹

Und die Herren stimmten ihm bei.

Auf der anderen Seite höhnten und kicherten die Jüngeren, denen Herr Wilhelm Tracy sein Mokierbüchlein wies.

Dieser Herr war ein fertiger Zeichner, müßt Ihr wissen, der mit dem Stifte zu spotten verstand wie kein anderer. Mit einer kleinen Verzerrung verwandelte er ein Menschenantlitz in das eines Tieres oder in das Abbild eines toten Dinges, dem Gelächter aller Welt preisgebend. Auch mich faßte einmal sein Griffel und schuf mich zu einem krummbeinigen Jagdhund, der dem König in seiner großen Schnauze eine Schnepfe zutrug. Obschon mir damals der Spaß nicht gefiel, war ich der erste, ihn zu belachen, denn es war das klügste. Andere, von reizbarerem Blute und besserem Adel als ich, erzürnten sich wohl, wenn sie Herr Wilhelm in solcher Verwandlung auf die Täfelchen seines Buches kritzte, das er jederzeit an den Gurt gekettelt trug. Gut, daß seine Klinge ebenso spitz war als sein Griffel, sonst hätte ihm dessen Schärfe das Leben gekostet.

Der Spötter wies jetzt der jungen Ritterschaft ein neues Blatt seiner Schildereien. Neugierig näherte ich mich Herrn Rinald dem Schönen, wie sie ihn nannten, der das Spottbüchlein eben in der Hand hielt. Er wand sich vor Lachen und ließ dabei das Büchlein auf den Boden fallen. Ich hob es ihm auf und erblickte darin eine seltsame Pflanze. Aus einem mageren Halme, dessen herabhängende Blätter die Ärmel einer Kutte bildeten, wuchs am schwanken Stielchen eines dünnen Halses als Ähre ein mir wohlbekanntes Marterangesicht. Es war die Heuchelgestalt eines Eremiten und der Primas, wie er leibte und lebte.

So schnell wird am Hofe ein Gefürchteter zu einem Verlachten.

Das Büchlein machte noch die Runde, da vernahm man aus der Ferne einen wunderlichen Klang. Es war eine fromme, einfältige Litanei, die sich dem Burghofe langsam näherte, von tausend und aber tausend inbrünstigen Stimmen halb kriegerisch, halb klagsam gesungen.

›Der Primas und seine Bettler!‹ ertönte es im Saal, und die Herren eilten an die Fenster. Auch ich fand meine Spalte und sah, wie Herr Rollo von der zunächst ragenden Zinne die gepanzerte Rechte gebieterisch ausstreckte.

›Die Zugbrücke auf! Zu die Torflügel!‹ schrie er in den Burghof hinunter, wo normännische Waffenknechte das Tor hüteten. Aber der friedliche Heerhaufe: Mönche, Bettler, Kinder, jegliches Volk geringer Art, drückte und drang wie eine Herde unaufhaltsam herein. Die Kriegsknechte konnten Herrn Rollo nicht mehr gehorchen, sie waren unwillkürlich zurückgewichen, denn Herr Thomas hatte sie mit ausgebreiteten Armen gesegnet. Er schritt hinter einem hochgetragenen Kreuze an der Spitze seines armen Zuges. Er, den ich nie anders hatte zu Hofe kommen sehen als im kostbarsten Aufzuge und mit dem edelsten Geleite, trug ein grobes, härenes Gewand, und die Zehen seines nackten, auf Sandalen wandelnden Fußes glänzten unter der dunkeln Wolle hervor wie ein Stück Elfenbein.

Ehrerbietig und scheu empfing ihn die königliche Dienerschaft, um ihn in die Burg zu geleiten. Noch einmal wandte er sich auf der Schwelle gegen die Seinigen und gebot ihnen, geduldig seiner Rückkehr zu harren.

Sie gehorchten und lagerten sich demütig auf den Boden, die steinernen Bänke des Hofes und die Stufen der Marmortreppe frei lassend. Mein Blick fiel auf den Sachsen, der dem Primas das Kreuz vorgetragen hatte. Er war in der Mitte des Haufens stehengeblieben und hielt das ihm anvertraute Zeichen noch immer hoch. Ein roter Bart deckte zum großen Teil das lehmfarbene Gesicht; dennoch schien mir, ich sollte diese groben Züge kennen. Wahrhaftig, es war Trustan Grimm, der Verlobte meiner Hilde, der Tochter des Bogners in London. Ich freute mich, ihn als Mönch zu finden, und mutmaßte, daß ihn Hilde trotz ihrer Erniedrigung und dem Willen ihres Vaters verschmäht habe, wie es sich auch verhielt, ich aber erst in späteren Tagen mit Gewißheit erfuhr.

 

Inzwischen hatte Herr Thomas die inneren Treppen erstiegen und gerade, da ich mich wieder vom Fenster zurückwandte, trat er in die Halle. Das Ziel aller Blicke, schritt er leise bis in die Mitte des Gemaches. Hier erhob er langsam den Blick auf die Versammlung und mit einer väterlichen Gebärde die segnende Rechte. Ein unmutiges Gemurmel lief durch die Reihen, aus dem das Scheltwort des Waffenmeisters hervorbrach:

›Behalt ihn für dich, Pfaff, deinen schäbigen Segen; wir begehren ihn nicht!‹

Herr Thomas bewegte sich schweigend gegen das offene Fenster und breitete, von den Normannen verschmäht, seine barmherzige Rechte über das Volk der Sachsen aus.

Da stieg aus der Tiefe des Hofes ein lautes Getöne auf, gemischt aus Geschrei des Weinens und der Freude, so daß man den Jubel vom Jammer nicht unterscheiden und trennen konnte; denn es war, seit die Sachsen ihre heimischen Könige verloren hatten, seit hundert Jahren das erste Mal, daß aus einem königlichen Fenster Gruß und Segen auf sie herabfloß.

Die Normannen aber ballten die Fäuste oder legten sie an den Knauf ihrer Schwerter.

Der Primas wandte sich, ohne jemandes zu achten, gegen die wohlbekannte Türe des Königs, gerade da ein Kämmerer von innen sie öffnete und Herr Heinrich in guter Morgenlaune in den Saal trat. Ehrerbietig stand Herr Thomas vor ihm und harrte seiner Anrede mit gesenktem Haupte und in unterwürfiger Haltung.

Herr Heinrich betrachtete seinen Kanzler eine Weile aufmerksam und zweifelnd, nicht anders – haltet mir's zugute – als man einen langjährigen Liebling – Roß oder Bracken – beschaut, der durch Schur oder Stutzen des Schweifes seine Gestalt verwunderlich geändert hat. Überraschung und Gelächter stunden auf seinem Gesicht; doch gedachte er seiner königlichen Würde und Weisheit und entließ zuerst die Hofleute mit einer leutseligen Handbewegung.

›Wir danken euch, Herrschaften‹, sagte er, ›für eure Begrüßung, Dienstwilligkeit und Liebe. Freude und Fröhlichkeit des Wiedersehens versparen Wir auf Unsere festliche Tafel, zu der Wir euch alle einladen, wie es Unsrer Gnade und euerm Werte ziemt. Doch vorerst die Geschäfte mit Unserm Kanzler. Wollet inzwischen einen Gang in Unsre neuen Gärten tun. Vergeßt nicht, einen Blick zu werfen auf den neuen Wasserspender im hinteren Hofe, den grimmigen ehernen Löwenkopf, den Uns der wallonische Meister in Unsrer Abwesenheit vollendet hat. Au revoir, seigneurs barons!‹

Nach diesen Worten des Königs leerte sich der Saal; der letzte, der widerwillig hinausschritt, war Herr Rollo der Waffenmeister.

Jetzt konnte sich mein Herr und König nicht länger halten. ›Zum Henker, Thomas, wie siehst du aus?‹ sprach er neckend seinen Kanzler an, ›kommst du aus der Mauser? Die Federn sind dir ausgefallen, und die Widderhörnchen deiner ritterlichen Schuhe hast du dir abgestoßen – ja, wie ich sehe, sogar die Schuhe selbst verloren!... Ei, ei! Was kann man nicht alles an einem Philosophen, wie du, erleben! – Du bist doch keine schillernde Schlange, welche die Haut wechselt? Zugegeben, daß etwas Abstinenz einen Bischof kleide, so tust du des Guten zu viel, du Großartiger, viel zu viel!... Willst du dich wie ein Asket der Wüste abtöten? So kann ich nicht wieder mit dir Mahlzeit halten, was meine Wonne war; denn Wasser und Wurzeln taugen einem königlichen Magen nicht!‹

Herr Thomas hatte diesen lustigen Worten mit gesenkter Stirne zugehört, ohne eine Miene zu verziehen; nun richtete er die Augen auf das Angesicht des Königs. Da sah mein Herr, wie strenges Fasten und grausame Kasteiung die Wangen des Bischofs verzehrt, die Form seines Schädels verschärft und seinen jederzeit ernsten Blick fremdartig vertieft hatte.

Es übermannte meinen Herrn ein Mitleid. ›Thomas, mein Liebling‹, begann er wieder, ›wirf nun deine Maske weg! Wir sind allein und unbelauscht. Ich glaub es, die Mummerei ist zu meinem Besten, aber Gott verdamme mich, wenn ich verstehe, wohin du damit zielst! Was bedeutet diese Verwandlung? Öffne deinen Mund, du Rätselhafter, Geheimnisvoller.‹

›Deine Rede, mein Herr und König, trifft mich unerwartet‹, antwortete der Kanzler. ›Ich bin kein anderer als ich scheine und mich trage! dein Diener, den du kennst.‹

›So bin denn ich behext?‹ rief Herr Heinrich. ›Ist dies meine Hand? – Bin ich der König? – Bist du mein Kanzler? – Haben wir Tag um Tag zusammengesessen und dieses Land regiert?... – Nein, treiben wir keinen unzeitigen Scherz! Es ist nicht Faschingsnacht, sondern heller, nüchterner Tag! Welch ein unheimlicher Geist ist in dich gefahren? Schütte dein Herz vor mir aus... Du weißt, das meinige steht dir immer offen!‹

›Ich danke dir, o König, daß du dein Geschöpf ermutigst, frei mit dir zu reden‹, erwiderte der Primas. ›So wag ich es, dir zu bekennen, daß diese Hand zu schwach ist, um zugleich den Bischofsstab und dein Siegel zu führen. Unausbleiblich käme das eine der mir anvertrauten Kleinode oder das andere dabei zu Schaden, und ich bin ein zu getreuer Knecht, um dir einen unbrauchbaren Kanzler oder der Kirche einen schlechten Bischof zu gönnen. Nimm, ich flehe dich darum an, o Herr, dies Zeichen deines mächtigen Willens, der mich zu seinem Werkzeuge erkor, dies Pfand deiner übergroßen, unverdienten Gnade, die mich lange Jahre beglückte, nimm es heute wieder von mir!‹

Und Herr Thomas griff in die Falten seines allzu weiten Gewandes, zog das Staatssiegel mit den drei Leoparden daraus hervor und reichte es dem Könige entgegen, um es in seine Hand zu legen.

›Keineswegs!‹ rief Herr Heinrich und trat einen Schritt zurück, ›so, Kanzler, haben wir nicht gewettet! Nicht eine Stunde kann ich deinen Dienst entbehren. Nur du und deine Klugheit können das zustande bringen, worüber wir zusammen gedacht und gewacht haben. Ich könnte mit meiner starken Hand das zarte Gewebe deiner Finger zerstören! Kein Sträuben! Mein Kanzler bist und bleibst du!‹

›Du willst nicht mein Verderben‹, beschwor ihn Herr Thomas, ›dafür bist du zu großmütig! Siehe, ich fürchte mich, den Höhern zu erzürnen, dem du selbst mich anheimgegeben hast. Er ist ein eifersüchtiger Meister, der keinen zweiten neben sich duldet.‹

Diese schwer zu deutende Rede verwirrte den König dergestalt, daß er das Siegel unwissentlich zurücknahm. Er runzelte argwöhnisch die Stirn, und seine Stimme klang mißtönig, als er fragte: ›Wem habe ich dich abgetreten? Doch nicht dem Papste in Rom?‹

Der Primas verneinte mit dem Haupte.

Ein überirdisches Licht umglänzte plötzlich seine Stirn. Er erhob den hagern Arm, daß der Ärmel der Kutte weit zurückfiel, und zeigte nach oben. Da erstaunte mein Herr und König und erschrak in den Tiefen seiner Seele. Das Staatssiegel entglitt seiner Hand und fiel klirrend auf den Marmorboden. Ich trat hinzu und bückte mich nach dem kostbaren Geräte, dessen Griff von purem Golde war. Als ich es prüfend besichtigte, siehe, war es zersprungen, und eine feine Spalte lief mitten durch den edeln Stein und das Wappen von Engelland! Schweigend stellte ich es auf den Tisch mit den vier Drachenfüßen, der neben dem Sessel meines Königs stand.

Als ich mich wieder nach den beiden wandte, hatte sich mein Herr gefaßt und sagte in gewaltsam scherzhafter Laune: ›Sankt Jörg steh mir bei! Du hast mir einen frommen Schreck eingejagt, Thomas! Jetzt aber genug der Überraschungen und Kunststücklein!... Setze dich zu mir, wie immer, und laß uns die trockenen Geschäfte vornehmen.‹

Er warf sich in seinen Stuhl, und ich rückte einen anderen, etwas niedrigeren, aber ebenso reich verzierten für den Kanzler herbei, denselben, auf welchem er immer neben dem König gesessen.

Aber Herr Thomas blieb in ehrfurchtsvoller Entfernung vor dem Könige stehen.

›Erhabener Herr, gib mir Zeit und gedulde dich‹, sagte er. ›Ein halbes Leben habe ich gebraucht, um die Verhältnisse und Rechte deines Reiches zu erforschen – wie könnte ich diejenigen der heiligen Kirche, in deren Dienst du mich gestellt hast und der ich lange fremd blieb, ja feindselig entgegenstand, von heute auf morgen erkannt haben? Darum trage mich mit Geduld.‹

›Zur Sache, Thomas, zur Sache!‹ drängte der König. ›Dir ist wohl bewußt, warum ich dich zu meinem Primas gemacht habe! Laß uns nun gemeinsam die geistliche Gerichtsbarkeit aufheben und vernichten.‹

›Du sollst mich geneigt finden‹, antwortete der Bischof nachdenkend. ›Sind doch in meinen Augen diese Rechte, über die hin und her gestritten wird, veränderliche Gestaltungen, wechselnde Formen, irdene Gefäße, tauglich oder untauglich, je nachdem sie den Wein der ewigen Gerechtigkeit rein bewahren oder vergiften. Ich will mich an den Meister selbst wenden mit der Frage, wie er es meine.‹

›Bei wem willst du dich erkundigen, Thomas?‹ lachte der König, ›bei der heiligen Dreifaltigkeit?‹

›In den Evangelien‹, flüsterte Herr Thomas, ›bei Ihm, an dem keine Ungerechtigkeit erfunden wurde.‹

›So spricht kein Bischof!‹ rief Herr Heinrich in ehrlicher Entrüstung, ›so redet nur ein böser Ketzer! Das hochheilige Evangelienbuch gehört auf eine perlengestickte Altardecke und hat nichts zu tun mit dem Weltwesen und der Wirklichkeit der Dinge. Blicke mir ins Auge, Thomas! Entweder willst du mein Feind werden, oder du hast mit unsinnigem Fasten die herrliche Klarheit deines Geistes getrübt. In Kürze: bringe mir die geistliche Gerichtsbarkeit um, Thomas! Dafür, nur dafür habe ich dich auf meinen schönen Stuhl von Canterbury gesetzt. – Ich will nicht, indem ich die Frevel meiner Pfaffheit ungerochen lasse, die Blitze des göttlichen Gerichtes auf mich und mein Haus herablenken. Jüngst noch hat ein sächsischer Kleriker das Werk und den Ruhm meines Ahns, des Eroberers, auf der Kanzel rebellisch gelästert und ein normännischer sich an der Unschuld eines Kindes vergriffen.‹

›Herr‹, versetzte der Primas, und seine eingefallene Wange flammte, ›sei gewiß, daß ich die Sünden meiner Kleriker härter ahnde als kein weltliches Gericht tun würde!... Abscheuliche Dinge!... und das Abscheulichste...‹ hier hielt er inne und schloß dann mit sinkender, veränderter Stimme... ›Aufruhr und Empörung gegen deine Ahnen und dich – christliche Könige. – Hier erkenne ich den Willen Gottes. – Ob er mir aber die in meine Klöster geflüchteten Sachsen ihren Peinigern, deinen Baronen, auszuliefern gebietet, das frag ich mich und zweifle!‹

Jetzt erkannte Herr Heinrich deutlich, daß der Primas ihm die geistliche Gerichtsbarkeit nicht zurückgeben wolle und seinen heiligen Spott mit ihm trieb.

›Ich bin ein Betrogener!‹ schrie er und sprang von seinem Sitze empor.

In diesem Augenblicke begannen die im Burghofe harrenden Sachsen, vielleicht um ihre Besorgnis für den Primas zu beschwichtigen, eine neue Litanei. Sie sangen das siegesgewisse ›Vexilla Dei prodeunt‹.

Da stürzte der schon gereizte Herr Heinrich ans Fenster und blickte hinunter. ›Thomas‹, gebot er, ›heiße die Schächer schweigen, die du hinter deinen Fersen nachziehst. Das Geheul deiner verhungerten Meute ist mir widerlich.‹

Herr Thomas regte sich nicht. ›Mag auch ein Bischof den Armen und Mühseligen verbieten, dem Kreuze zu folgen?‹ fragte er demütig.

Da geriet der König in bleiche Wut. ›Du wiegelst mir die Sachsen auf, Rebell! Verräter!‹ schrie er und tat einen Schritt gegen den Primas. Seine blauen Augen quollen aus den Höhlen, und er griff mit den nervigen Händen in die Luft, als wolle er den ruhig vor ihm Stehenden erwürgen.

Da öffnete sich eine Türe.

Frau Ellenor stürzte herein und warf sich, in Tränen aufgelöst, dem Primas zu Füßen.

›Ich bin die größte der Sünderinnen!‹ schluchzte sie, ›und nicht wert, den Staub von deinen Sandalen wegzuküssen, du heiliger Mann!‹

Herr Thomas neigte sich zu ihr und beschwichtigte sie mit milden Worten.

Dieses Schauspiel gab meinem Herrn die verlorene Fassung wieder. Er betrachtete sein zu den Füßen des Bischofs liegendes Weib eine geraume Weile. Dann zuckte er die Achseln, schlug eine Lache auf, wandte den Rücken und verließ die Halle.


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