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Das Glück

Deutsch von Alexander Eliasberg

 

An der breiten Steppenstraße, die Große Landstraße genannt, übernachtete eine große Schafherde. Zwei Hirten bewachten sie. Der eine, ein achtzigjähriger, zahnloser Greis mit zittrigem Gesicht lag auf dem Bauche am Straßenrande, und seine Ellenbogen ruhten auf den staubigen Wegerichblättern; der andere, ein junger bartloser Bursche mit dichten schwarzen Brauen, in Sackleinwand gekleidet, lag auf dem Rücken, die Hände im Nacken, und blickte in den Himmel hinauf, an dem sich direkt über seinem Gesicht die Milchstraße hinzog und die Sterne schlummerten.

Die Hirten waren nicht allein. Einige Schritte vor ihnen war im Dunkel, das die Straße verhüllte, ein gesatteltes Pferd zu erkennen, und daneben stand, gegen den Sattel lehnend, ein Mann in hohen Schaftstiefeln und kurzem Oberrock, allem Anschein nach ein berittener Feldhüter. Seiner aufrechten und unbeweglichen Haltung, seinen Manieren und dem Benehmen den Hirten gegenüber konnte man ansehen, daß er ein ernster, gesetzter, sich seines eigenen Wertes voll bewußter Mann war; selbst im Dunkel waren an ihm Spuren militärischen Drilles zu erkennen und der bekannte majestätisch herablassende Ausdruck, den man sich durch häufigen Verkehr mit den Herrschaften und den Verwaltern aneignet.

Die Schafe schliefen. Vom grauen Lichtschein, der sich über den östlichen Teil des Himmels zu ergießen anfing, hoben sich hier und da die Silhouetten einiger nicht schlafender Schafe ab; sie standen mit gesenkten Köpfen und schienen an etwas zu denken. Ihre langsamen, trägen, nur von den Vorstellungen von der weiten Steppe, vom Himmel, von den Tagen und Nächten genährten Gedanken bedrückten wohl auch sie selbst bis zur Bewußtlosigkeit; sie standen wie festgewurzelt da und merkten weder die Anwesenheit eines Fremden, noch die Unruhe der Hunde.

Die verschlafene, erstarrte Luft war von dem eintönigen Lärm erfüllt, der unbedingt zu jeder Sommernacht in der Steppe gehört; ununterbrochen zirpten die Grillen, schrien die Wachteln, und in der eine Werst weit entfernten Schlucht, in der ein Bach lief und Weiden wuchsen, pfiffen träge junge Nachtigallen.

Der Feldhüter war stehen geblieben, um die Schäfer um Feuer für seine Pfeife zu bitten. Er setzte die Pfeife schweigend in Brand, rauchte sie zu Ende, stützte sich dann, ohne ein Wort gesagt zu haben, gegen den Sattel und versank in seine Gedanken. Der junge Schäfer schenkte ihm nicht die geringste Beachtung; er fuhr fort, auf dem Boden zu liegen und zum Himmel emporzuschauen; der Alte aber musterte den Feldhüter und fragte:

»Ist das nicht Pantelej vom Makarowschen Gute?«

»Ja, der bin ich,« antwortete der Feldhüter.

»Das sehe ich jetzt. Ich hatte dich nicht erkannt, dir steht also Reichtum bevor. Woher des Weges?«

»Aus dem Kowyler Revier.«

»Das ist weit von hier. Verpachtet ihr das Revier?«

»Wir verpachten es an die Bauern, lassen darauf auch Kürbisse bauen. Eigentlich komme ich von der Mühle.«

Ein großer, alter, schmutzig-weißer, zottiger Schäferhund mit Haarbüscheln um die Augen und an der Schnauze, der sich zuerst gleichgültig gegen die Anwesenheit des Fremden gestellt hatte, ging dreimal ruhig um das Pferd herum und überfiel plötzlich mit bösem, greisenhaftem Röcheln den Flurhüter von hinten; auch die übrigen Hunde konnten sich nicht länger beherrschen und sprangen auf.

»Kusch dich, verfluchtes Vieh!« schrie der Alte, sich auf den einen Ellenbogen aufrichtend. »Zerspringen sollst du, Teufelshund!«

Als die Hunde sich beruhigt hatten, nahm der Alte seine frühere Stellung wieder ein und sagte mit ruhiger Stimme:

»In Kowyli ist am Himmelfahrtstage Jefim Schmenja gestorben. Seinen Namen sollte man zur Nachtstunde nicht über die Lippen bringen, aber er war ein schlechter Mensch. Hast von ihm wohl schon gehört.«

»Nein, ich habe nichts gehört.«

»Jefim Schmenja, der Onkel des Schmiedes Stjopka. Die ganze Gegend kennt ihn doch. Das war ein verfluchter Alter! Ich kenne ihn schon an die sechzig Jahre, seit der Zeit, als man den Zaren Alexander, der die Franzosen vertrieben hatte, zu Wagen aus Taganrog nach Moskau überführte. Wir beide gingen damals dem Leichenzuge entgegen; die Landstraße führte damals nicht über Bachmut, sondern über Jessaulowka und Gorodischtsche; dort, wo jetzt Kowyli liegt, waren damals Trappennester, jeden Schritt ein Nest. Schon damals merkte ich, daß Schmenja seine Seele dem Bösen verschrieben hatte und daß in ihm ein unsauberer Geist wohnte. Das habe ich mir gemerkt: wenn ein Mann aus dem Bauernstande meistens schweigt, sich mit Dingen abgibt, die einem alten Weibe geziemen, und allein zu wohnen trachtet, so bedeutet das nichts Gutes. Jefim war aber seit jeher schweigsam, blickte jeden scheel an und tat so dick wie ein Hahn vor einer Henne. In die Kirche zu gehen, oder sich auf der Straße mit den anderen Burschen zu vergnügen, oder in der Schenke zu sitzen, – diese Angewohnheit hatte er nicht; er saß entweder allein, oder tuschelte mit alten Weibern. Schon in seinen jungen Jahren suchte er in einer Imkerei oder auf einer Kürbispflanzung unterzukommen. Wenn die Leute ihn auf der Pflanzung besuchten, hörten sie seine Kürbisse und Melonen pfeifen. Einmal fing er vor aller Augen einen Hecht, und der lachte laut auf ...«

»Das kommt vor,« versetzte Pantelej.

Der junge Schäfer legte sich auf die Seite, hob seine schwarzen Brauen, sah den Alten unverwandt an und fragte: »Hast du gehört, wie die Melonen pfiffen?«

»Gehört habe ich es nicht, Gott hat mich davor bewahrt,« sagte der Alte seufzend: »aber die Leute haben's mir erzählt. Das ist auch keine große Kunst ... Wenn der unsaubere Geist es will, so kann auch ein Fels pfeifen. Vor der Abschaffung der Leibeigenschaft hat's bei uns drei Tage und drei Nächte in einem Felsen gepfiffen. Das habe ich selbst gehört. Der Hecht hat aber gelacht, weil Schmenja statt eines Hechtes einen Teufel gefangen hat.«

Dem Alten fiel etwas ein. Er hob sich schnell auf die Knie, und begann, wie vor Kälte zitternd und die Hände nervös in die Aermel steckend, näselnd und schnell wie ein Weib zu schnattern:

»Der Herr errette uns und sei uns gnädig! Einmal ging ich am Ufer entlang nach Nowopawlowka. Ein Gewitter war im Anzug, und er stürmte so, daß die Himmelskönigin uns davor bewahren möchte ... Ich eile, so schnell ich kann, und sehe auf dem Fußwege zwischen den Schlehenbüschen – die Schlehen standen gerade in Blüte – einen weißen Ochsen gehen. Und ich frage mich: wessen Ochs ist das? Wie kommt er her? Er geht, wedelt mit dem Schweife und brüllt. Ich hole ihn ein, komme ganz nahe an ihn heran, da ist es aber kein Ochs mehr, sondern Schmenja. Heilig, heilig, heilig! Ich bekreuzige mich, und er glotzt mich an und murmelt etwas. Ich erschrak furchtbar! Wir gehen nebeneinander, ich fürchte, ihm auch nur ein Wort zu sagen, der Donner dröhnt, die Blitze schneiden den Himmel entzwei, die Weiden biegen sich zum Wasser, und plötzlich – Gott strafe mich, ich will ohne Buße sterben, wenn es nicht wahr ist – plötzlich läuft uns ein Hase quer über den Weg ... Er läuft, bleibt stehen und spricht wie ein Mensch: ›Guten Tag, Leute! ...‹ Geh weiter, verdammtes Vieh!« schrie der Alte den Hund an, der wieder um das Pferd herumging. »Verrecken sollst du!«

»Das kommt vor,« sagte der Flurhüter, der noch immer unbeweglich gegen den Sattel gelehnt stand; er sagte das mit der tonlosen, dumpfen Stimme eines Menschen, der in seine Gedanken versunken ist.

»Das kommt vor,« wiederholte er tiefsinnig und überzeugt.

»Das war ein verfluchter Alter!« fuhr der Schäfer nicht mehr so hitzig fort. »Fünf Jahre nach der Abschaffung der Leibeigenschaft wurde er einmal in der Gemeindekanzlei mit Ruten bestraft; um sich zu rächen, ließ er eine Halskrankheit in Kowyli aufkommen. Die Leute starben wie die Fliegen, wie bei der Cholera ...«

»Wie machte er das?« fragte der junge Schäfer nach kurzem Schweigen.

»Das weiß man ja, wie man so was macht. Dazu gehört kein großer Verstand, man muß nur den Willen haben. Schmenja brachte die Leute mit Kreuzotternfett um. Das ist aber so ein Mittel, daß die Leute nicht nur vom Fette selbst, sondern auch vom bloßen Geruch sterben.«

»Das stimmt,« bestätigte Pantelej.

»Die Burschen wollten ihn damals umbringen, aber die Alten ließen es nicht zu. Man durfte ihn nicht umbringen, denn er kannte die Stellen, wo vergrabene Schätze liegen. Außer ihm wußte es aber keine Seele. Es sind verhexte Schätze: selbst wenn man sie findet, sieht man sie nicht; er aber sah sie. Manchmal geht er am Ufer entlang oder durch den Wald, und unter den Büschen und Felsen leuchtet es wie Schwefel. Ich hab' es mit eigenen Augen gesehen. Alle erwarteten, daß Schmenja den Leuten die Stelle zeigt oder selbst die Schätze hebt; er ist aber wie ein Hund, der auf einem Heuschober liegt: frißt selbst nicht und gibt auch den anderen nichts. So ist er auch gestorben: hat selbst nichts ausgegraben und hat auch den anderen die Stellen nicht gezeigt.«

Der Flurhüter steckte sich die Pfeife an; die Flamme beleuchtete für einen Augenblick seinen langen Schnurrbart und seine spitze, solide Nase, der Lichtschein glitt von seinen Händen auf die Mütze, streifte den Sattel und den Pferderücken und verschwand in der Mähne neben den Ohren.

»In dieser Gegend gibt es viele vergrabene Schätze,« sagte er.

Er atmete langsam und tief den Tabakrauch ein, sah sich um, richtete den Blick auf den immer heller werdenden Osten und fügte hinzu:

»Es muß hier solche Schätze geben.«

»Was soll man davon noch viel reden,« seufzte der Alte. »Alle Anzeichen sind dafür da, aber es gibt niemanden, der sie heben könnte. Niemand kennt die richtigen Stellen, und alle Schätze sind verhext. Um so einen Schatz zu finden und zu sehen, muß man einen Talisman haben; ohne Talisman kann man nichts ausrichten. Schmenja hat wohl solche Talismane gehabt, gab sie aber nicht her. Er behielt sie nur, damit sie niemand anderer kriegt.«

Der junge Hirt kroch zwei Schritte näher an den Alten heran, stützte den Kopf in die Fäuste und richtete auf ihn seinen unbeweglichen Blick. In seinen dunklen Augen leuchtete ein kindlicher Ausdruck von Angst und Neugier auf, der die derben Züge seines jungen Gesichts in die Länge gezogen und plattgedrückt erscheinen ließ. Er hörte gespannt zu.

»Auch in den Schriften ist es zu lesen, daß es hier viele Schätze gibt,« fuhr der Alte fort. »Das weiß ein jeder. Einem alten Soldaten aus Nowopawlowka zeigte man einmal in Iwanowka einen gedruckten Zettel, und in diesem Zettel ist die Stelle genau angegeben; es steht sogar, wieviel Pud Gold es sind und in welchen Gefäßen; auf Grund dieses Zettels hätte man den Schatz schon längst gehoben, aber er ist verhext, man kommt gar nicht heran.«

»Warum kommt man nicht heran, Großvater?« fragte der junge Hirt.

»Es wird schon irgendein Grund dafür sein, das hat uns der Soldat nicht gesagt. Ist eben verhext ... Einen Talisman muß man haben.«

Der Alte sprach mit Begeisterung, wie wenn er vor dem Fremden sein Herz ausschüttete. Da er nicht gewohnt war, viel und schnell zu sprechen, stotterte er, sprach durch die Nase und bemühte sich, diese Mängel durch Bewegungen des Kopfes, der Hände und der mageren Schultern zu bemänteln; sein Hemd warf bei jeder seiner Bewegungen Falten, rutschte zu den Schultern hinauf und entblößte seinen von der Sonne und auch vom Alter gebräunten Rücken. Er zupfte das Hemd zurecht, aber es rutschte immer wieder hinauf. Endlich sprang der Alte so ungestüm auf, als ob ihn das Hemd rasend gemacht hätte, und sagte mit großer Erbitterung:

»Es gibt wohl ein Glück, aber was hat man davon, wenn es in der Erde vergraben ist? So liegt der Reichtum ohne jeden Nutzen da wie Spreu oder wie Schafmist. Es ist so viel Glück da, daß es für die ganze Gegend langen würde, aber kein Mensch sieht es! Die Leute werden es noch erleben, daß die Herren die Schätze heben, oder daß der Staat sie nimmt. Die Herren haben ja schon angefangen, die alten Grabhügel in der Steppe aufzuwühlen ... Sie ahnen was! Sie wollen den Bauern das Glück nicht gönnen. Auch der Staat ist auf der Hut. Im Gesetze heißt es, daß ein Bauer, der einen Schatz findet, ihn an die Obrigkeit abliefern muß. Das werden sie aber nicht so bald erleben! Wir brauchen das Glück selbst!«

Der Alte lachte verächtlich und setzte sich auf den Boden. Der Flurhüter hörte ihm aufmerksam zu, widersprach ihm nicht, aber sein ganzer Ausdruck und sein Schweigen zeigten, daß das, was ihm der Alte erzählte, ihm nicht neu war, daß er über diese Dinge schon viel gedacht hatte und viel mehr als der Alte wußte.

»Die Wahrheit zu sagen, hab' ich in meinem Leben schon an die zehnmal das Glück gesucht,« sagte der Alte, sich verlegen juckend. »Ich habe schon an den richtigen Stellen gesucht, es waren aber wohl lauter verhexte Schätze. Auch mein Vater hat gesucht, auch mein Bruder hat gesucht, – nichts haben sie gefunden und sind so ohne Glück gestorben. Meinem Bruder Ilja, Gott hab' ihn selig, hat einmal ein Mönch eröffnet, daß in der Festung von Taganrog an einer Stelle unter drei Steinen ein Schatz verborgen ist, ein verhexter Schatz; um jene Zeit, – es war, wie ich mich gut erinnere, im Jahre achtunddreißig, – wohnte in Matwejew-Kurgan ein Armenier, der Talismane verkaufte. Ilja kaufte so einen Talisman, nahm zwei Burschen mit und begab sich nach Taganrog. Wie er aber zur Festung kommt, steht just an der Stelle ein Soldat mit einem Gewehr.«

Die unbewegliche Luft wurde plötzlich von einem seltsamen Laut erschüttert. In der Ferne krachte es unheimlich, und das Dröhnen hallte durch die ganze Steppe. Als der Laut erstarb, blickte der Alte fragend den gleichgültigen, unbeweglich stehenden Pantelej an.

»Im Schacht ist ein Förderkorb hinuntergefallen,« sagte der junge Schäfer nach einer Pause.

Der Morgen dämmerte schon. Die Milchstraße wurde blaß, verlor ihre Umrisse und schmolz wie Schnee. Der Himmel wurde trüb, und man konnte unmöglich erkennen, ob er klar oder ganz von Wolken bedeckt war; nur nach dem heiteren, glänzenden Streifen im Osten und den hie und da noch stehen gebliebenen Sternen konnte man erraten, wie sich die Sache verhielt.

Der erste Morgenwind lief, die Wolfmilchstauden und die braunen Halme des vorjährigen Steppengrases lautlos bewegend, durch die Steppe.

Der Feldhüter erwachte aus seinen Träumen und schüttelte den Kopf. Er rüttelte mit beiden Händen den Sattel, berührte den Bauchgurt und blieb, wie wenn er sich nicht entschließen könnte, aufs Pferd zu steigen, wieder nachdenklich stehen.

»Ja,« sagte er, »der Ellenbogen ist wohl nah, aber man kann nicht hineinbeißen ... Es gibt wohl ein Glück, aber es fehlt an Verstand, um es zu suchen.«

Und er wandte sein strenges Gesicht den Schäfern zu. Es drückte Trauer, Spott und Enttäuschung aus.

»Ja, so stirbt man, ohne das Glück gesehen zu haben ...« sagte er langsam, den linken Fuß zum Steigbügel hebend. »Einer, der jünger ist, wird's vielleicht noch erleben, wir aber dürfen daran nicht einmal denken.«

Er strich sich seinen langen, taubedeckten Schnurrbart, ließ sich schwer in den Sattel fallen und blickte mit zusammengekniffenen Augen und einem Ausdruck, als hätte er etwas vergessen oder verschwiegen, in die Ferne. In der bläulichen Ferne, wo der letzte noch sichtbare Hügel mit dem Nebel zusammenfloß, rührte sich nichts; die Hügel – uralte Hünengräber und Beobachtungsposten – erhoben sich über dem Horizont und blickten streng und tot; ihre Unbeweglichkeit und Stummheit erzählten von den vielen Jahrhunderten und von ihrer völligen Gleichgültigkeit gegen den Menschen; es werden noch tausend Jahre vergehen, Milliarden von Menschen werden sterben, sie aber werden noch immer so stehen, wie sie jetzt stehen, ohne die Toten zu betrauern, ohne sich für die Lebenden zu interessieren, und keine Seele wird wissen, wozu sie sind und was für ein Steppengeheimnis sie unter sich bewahren.

Die erwachten Saatkrähen flogen einzeln stumm über der Erde. Weder im trägen Fluge dieser langlebigen Vögel, noch im Morgen, der sich alle vierundzwanzig Stunden regelmäßig wiederholte, noch in der Grenzlosigkeit der Steppe war irgendein Sinn zu erkennen. Der Flurhüter verzog den Mund zu einem Lächeln und sagte:

»So weit ist die Steppe, Herr Gott! Geh einer hin und finde das Glück! An dieser Stelle,« fuhr er mit gedämpfter Stimme und ernstem Gesicht fort, »an dieser Stelle sind ganz bestimmt zwei Schätze vergraben. Die Herren wissen nichts davon, aber die alten Bauern, besonders solche, die als Soldaten gedient haben, wissen es genau. Hier, irgendwo auf dieser Hügelkette (der Flurhüter zeigte mit der Reitpeitsche die Richtung) haben in alten Zeiten Räuber eine Karawane mit Gold überfallen; dieses Gold war für den Kaiser Peter bestimmt, der damals in Woronesch die Flotte baute. Die Räuber erschlugen die Fuhrleute, vergruben das Gold und fanden es nie wieder. Den anderen Schatz haben unsere Donschen Kosaken vergraben. Im Jahre Zwölf hatten sie den Franzosen eine Menge Gold und Silber abgenommen. Auf dem Heimwege hörten sie, daß die Obrigkeit ihnen das ganze Gold und Silber wieder abnehmen will. Sie wollten es aber der Obrigkeit nicht hergeben und vergruben es in die Erde, damit es wenigstens ihre Kinder bekommen. Wo sie es aber vergraben haben, das weiß kein Mensch.«

»Ich habe von diesen Schätzen schon gehört,« murmelte mürrisch der Alte.

»Ja,« versetzte Pantelej nachdenklich. »Ja, so ist es ...«

Alle schwiegen. Der Flurhüter blickte nachdenklich in die Ferne, lächelte wieder und zog die Zügel an. Er hatte immer noch den gleichen Ausdruck, als hätte er etwas verschwiegen oder vergessen. Das Pferd setzte sich unwillig in Bewegung. Nachdem er hundert Schritt weit geritten war, schüttelte Pantelej entschlossen den Kopf, erwachte aus seinen Gedanken, zog dem Pferde eins über und sprengte im Trabe davon.

Die beiden Schäfer blieben allein.

»Das war der Pantelej vom Makarowschen Gute,« sagte der Alte. »Hundertfünfzig Rubel bekommt er im Jahre und die Verpflegung dazu. Ein gebildeter Mensch ...«

Die Schafe – es waren ihrer an die dreitausend – erwachten und machten sich ohne besondere Lust, scheinbar nur aus Langweile, an das kurze, halb zerstampfte Gras. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber alle Hügel und das ferne, einer Wolke ähnliche, oben spitz zulaufende »Ssaur-Grab« waren schon zu sehen. Wenn man dieses Grab besteigt, so kann man von seinem Gipfel die ganze, wie der Himmel grenzenlose und ebene Steppe sehen, die Herrengüter, die Siedlungen der deutschen Kolonisten und der Sektierer und die Dörfer; ein Kalmüke wird aber mit seinen scharfen Augen auch die Stadt und die Eisenbahnzüge erkennen. Nur von hier aus kann man sehen, daß es auf dieser Welt außer der stummen Steppe und der uralten Grabhügel auch noch ein anderes Leben gibt, das sich weder um das vergrabene Glück noch um die Gedanken der Schafe kümmert.

Der Alte ergriff seinen langen Schäferstock mit dem Haken am oberen Ende und stand auf. Er schwieg und ging seinen Gedanken nach. Das Gesicht des jungen Schäfers bewahrte noch immer den Ausdruck kindlicher Angst und Neugier. Er stand noch ganz unter dem Eindruck des Gehörten und wartete mit Ungeduld auf weitere Erzählungen.

»Großvater,« fragte er, aufstehend und nach seinem Stock greifend, »was hat denn dein Bruder Ilja mit dem Soldaten gemacht?«

Der Alte überhörte die Frage. Er sah den Jungen zerstreut an, bewegte erst lautlos die Lippen und sagte dann:

»Ich denke immer noch an den Zettel, den man in Iwanowka dem Soldaten gezeigt hat, Ssanjka. Dem Pantelej habe ich nichts gesagt, aber im Zettel ist die Stelle so genau beschrieben, daß jedes Weib sie finden kann. Weißt du, wo das ist? Kennst du die Stelle in der Reichen Schlucht, wo der Graben sich wie ein Gänsefuß in drei Gräben teilt? Es ist also im mittelsten Graben.«

»Wirst du dort graben?«

»Ja, ich will's versuchen ...«

»Großvater, was wirst du mit dem Schatz anfangen, wenn du ihn findest?«

»Was ich mit ihm anfange?« sagte der Alte lächelnd. »Hm! ... Laß mich ihn nur finden, dann zeig ich's schon allen ... Ich weiß wohl, was ich mit ihm anfange ...«

Der Alte wußte nicht zu sagen, was er mit dem Schatze anfangen würde, wenn er ihn fände. Vor dieser Frage stand er an diesem Morgen wohl zum erstenmal in seinem Leben, und sie erschien ihm, nach seinem leichtsinnigen und gleichgültigen Gesichtsausdruck zu schließen, unwichtig und des Nachdenkens nicht wert. In Ssanjkas Kopf regte sich noch eine Frage: warum suchen nur alte Männer Schätze und was brauchen sie, die sie jeden Tag vor Alter sterben können, das irdische Glück. Ssanjka verstand aber diese Frage nicht in Worte zu kleiden, und der Alte hätte sie auch nicht beantworten können.

Von einem leichten Nebel umgeben, zeigte sich eine riesengroße blutrote Sonne. Breite, noch kalte Lichtstreifen legten sich, im taubedeckten Grase badend und mit einem so lustigen Ausdruck, als wollten sie zeigen, daß sie noch immer ihre Freude daran haben, auf die Erde. Silbergrauer Wehrmut, blaue Kornblumen, gelber Hederich – alles leuchtete freudig in bunten Farben auf und schien das Sonnenlicht für sein eigenes Lächeln zu halten.

Der Alte und Ssanjka trennten sich und stellten sich an den entgegengesetzten Enden der Herde auf. Sie standen unbeweglich wie zwei Bildsäulen, blickten zu Boden und gingen ihren Gedanken nach. Der Alte war ganz im Banne der Gedanken an das vergrabene Glück, der Jüngere dachte aber nur daran, was er in der Nacht gehört hatte; ihn interessierte nicht dieses Glück selbst, das ihm unverständlich war und das er nicht brauchte, sondern nur, daß das menschliche Glück so phantastisch und märchenhaft ist.

An die hundert Schafe fuhren plötzlich, wie von namenloser Angst erfaßt, auf, trennten sich von der Herde und stürzten sich seitwärts. Auch Ssanjka, der wohl für einen Augenblick in den Bann der trägen und langweiligen Gedanken der Schafe geraten war, stürzte, von einer namenlosen, tierischen Angst erfaßt, nach der gleichen Seite, kam aber sofort wieder zur Besinnung und schrie sie an:

»Halt, ihr Verfluchten! Ihr seid wohl toll geworden, daß euch der Henker!«

Und als die Sonne, eine lange, unbesiegbare Glut verheißend, die Erde zu erwärmen anfing, versank alles Lebendige, das sich in der Nacht bewegt und Töne von sich gegeben hatte, in einen Halbschlummer. Der Alte und Ssanjka standen mit ihren Stöcken an den entgegengesetzten Enden der Schafherde, sie standen regungslos wie zwei Fakire im Gebet und dachten ernst und gespannt nach. Sie sahen einander nicht mehr, und jeder lebte sein eigenes Leben. Auch die Schafe hatten ihre Gedanken.


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