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Elend

Deutsch von Alexander Eliasberg

 

Der Drechsler Grigorij Petrow, der seit jeher als tüchtiger Meister und zugleich als der unsolideste Bauer von ganz Galtschinowo bekannt ist, fährt seine kranke Alte ins Semstwo-Spital. Er hat an die dreißig Werst zu fahren, die Straße ist aber so schlecht, daß auf ihr nicht einmal der Postkutscher vorwärts kommen könnte, geschweige denn ein so fauler Kerl wie der Drechsler Grigorij. Ein scharfer kalter Wind weht ihm gerade ins Gesicht. Durch die Luft wirbeln ganze Wolken von Schneeflocken, so daß man nicht unterscheiden kann, ob der Schnee vom Himmel fällt oder von der Erde aufsteigt. Der Schneenebel verdeckt das Feld, die Telegraphenstangen, den Wald, und wenn ein besonders starker Windstoß kommt, kann Grigorij das Krummholz seines eigenen Schlittens nicht sehen. Die alte, schwache Stute bewegt sich kaum vorwärts. Sie verwendet ihre ganze Energie auf das Herausziehen der Beine aus dem tiefen Schnee und auf das Nicken mit dem Kopfe. Der Drechsler hat Eile. Er rückt unruhig auf dem Bocke hin und her und gibt dem Pferde jeden Augenblick die Peitsche.

»Matrjona, weine nicht ...« murmelt er. »Hab ein wenig Geduld. So Gott will, kommen wir ins Spital, und da wirst du gleich ... Pawel Iwanytsch wird dir Tropfen geben oder Schröpfköpfe ansetzen lassen; vielleicht werden seine Gnaden dich auch mit irgendeinem Spiritus einreiben lassen, und dann wird der Schmerz in der Seite aufhören ... Pawel Iwanytsch wird sich Mühe geben ... Er wird wohl schreien und mit den Füßen stampfen, aber er wird sich schon Mühe geben ... Ein guter, freundlicher Herr, Gott gebe ihm Gesundheit ... Sobald wir kommen, wird er gleich aus seiner Wohnung herausspringen und zu fluchen anfangen. ›Wie? Warum?‹ wird er schreien: ›Warum kommst du so spät? Bin ich denn ein Hund, daß ich mich mit euch, Teufeln, den ganzen Tag abgeben soll? Warum bist du nicht am Morgen gekommen? Hinaus! Marsch, hinaus! Komm morgen!‹ Ich aber werde sagen: ›Herr Doktor! Pawel Iwanytsch! Euer Hochwohlgeboren!‹ Fahr doch einmal, daß dich der Teufel! Hü!«

Der Drechsler gibt dem Pferd die Peitsche und redet weiter, ohne die Alte anzublicken:

»›Euer Hochwohlgeboren! So wahr mir Gott helfe, ich bin beim ersten Morgengrauen von zu Hause weg. Wie kann ich zur rechten Zeit kommen, wenn Gott ... die heilige Mutter Gottes ... mir zürnt und einen solchen Schneesturm geschickt hat? Belieben doch selbst zu sehen. Auch ein edleres Pferd wird bei solchem Wetter nicht fahren wollen; was ich habe, Sie sehen doch selbst, ist aber kein Pferd, sondern eine Schande!‹ Pawel Iwanytsch wird ein finsteres Gesicht machen und mich anschreien: ›Ich kenne euch! Immer findet ihr Ausreden! Besonders du, Grischka! Dich kenne ich längst! Bist wohl unterwegs in fünf Schenken gewesen!‹ Und ich werde ihm darauf sagen: ›Euer Hochwohlgeboren! Bin ich denn ein Verbrecher oder ein Heide? Die Alte stirbt, und ich werde in die Schenke laufen?! Erlauben Sie doch! Sollen alle die Schenken in die Erde versinken!‹ Nun wird Pawel Iwanytsch den Befehl geben, dich ins Spital zu bringen. Und ich werde vor ihm niederfallen ... ›Pawel Iwanytsch! Euer Hochwohlgeboren! Wir danken ergebenst! Verzeihen Sie uns verdammten Narren, verurteilen Sie uns dumme Bauern nicht! Man müßte uns hinausschmeißen, Sie aber geben sich solche Mühe und machen sich die Füßchen mit Schnee schmutzig!‹ Pawel Iwanytsch wird mich aber so anblicken, wie wenn er mich schlagen wollte, und wird sagen: ›Statt vor mir niederzufallen, solltest du, Narr, keinen Schnaps trinken und mit deiner Alten Mitleid haben. Schlagen sollte man dich!‹ – ›Das stimmt, Pawel Iwanytsch, Gott strafe mich, man sollte mich wirklich schlagen! Wie soll ich aber vor Ihnen nicht niederfallen, wenn Sie unser Wohltäter und Vater sind? Euer Hochwohlgeboren! Mein Ehrenwort ... ich schwöre bei Gott ... spucken Sie mir in die Augen, wenn ich nicht Wort halte: wenn nur meine Matrjona gesund wird, wenn sie in den richtigen Zustand kommt, werde ich für Euer Gnaden alles machen, was Sie mir nur befehlen! Wenn Sie wünschen, ein Zigarettenetui aus Birkenholz ... Krocketkugeln, oder ein Kegelspiel, wie die beste Auslandsware ... alles will ich für Sie machen! Keine Kopeke verlange ich dafür! In Moskau würde solch ein Zigarettenetui vier Rubel kosten, ich mache es aber umsonst.‹ Der Doktor wird lachen und sagen: ›Schon gut ... Ich weiß es! Es ist nur schade, daß du solch ein Säufer bist ...‹ Ich weiß ja, Alte, wie man mit solchen Herrschaften umgehen muß. Es gibt keinen solchen Herrn, mit dem ich nicht zu sprechen verstünde. Daß ich nur, Gott behüte, den Weg nicht verliere. Wie es schneit! Die Augen sind mir ganz verklebt.«

Der Drechsler redet ohne Ende. Er redet ganz mechanisch, um seinen Kummer wenigstens etwas zu betäuben. In der Sprache sind viele Worte, aber in seinem Kopfe noch viel mehr Fragen und Gedanken. Das Unglück hat den Drechsler ganz unerwartet heimgesucht, er kann unmöglich zur Besinnung kommen und die Lage überblicken. Er hat bisher ohne große Sorgen, wie in einem trunkenen Halbschlummer gelebt, weder Leid, noch Freuden gekannt, und nun fühlt er plötzlich furchtbaren Seelenschmerz. Der sorglose Faulenzer und Trunkenbold ist ganz unvorbereitet in die Lage eines Menschen geraten, der besorgt und beschäftigt ist, große Eile hat und sogar gegen die Natur ankämpft.

Der Drechsler weiß noch, daß das Unglück gestern abend begonnen hat. Als er gestern abend, betrunken wie gewöhnlich, nach Hause kam und nach alter Gewohnheit zu fluchen und mit den Fäusten zu fuchteln anfing, sah die Alte den Radaumacher so an, wie sie ihn noch niemals angeblickt hatte. Ihre alten Augen hatten sonst immer den sanften Märtyrerblick gehabt, wie ein Hund, den man oft schlägt und schlecht füttert; jetzt blickte sie aber so streng und unbeweglich, wie die Heiligen auf den Ikonen oder wie Sterbende zu blicken pflegen. Mit diesem seltsamen, unangenehmen Blick hatte sein Unglück angefangen. Der bestürzte Drechsler hat sich vom Nachbarn das Pferd geliehen, und nun fährt er seine Alte ins Spital, in der Hoffnung, daß Pawel Iwanytsch ihr mit seinen Pulvern und Salben den früheren Blick wiedergeben wird.

»Ja, Matrjona, noch eins ...« murmelt er. »Wenn Pawel Iwanytsch dich fragt, ob ich dich geschlagen habe, so sage ihm: Nein, niemals! Ich aber werde dich nie wieder schlagen. Mein Ehrenwort! Hab ich dich denn aus Bosheit geschlagen? Nein, nur so aus Dummheit. Ich habe ja Mitleid mit dir. Ein anderer würde sich nicht viel kümmern, ich aber fahre dich ins Spital, und plage mich ab. Wie es schneit! Herr, dein Wille geschehe! Wenn ich nur den Weg nicht verliere ... Hast du noch Seitenschmerzen? Matrjona, was schweigst du? Ich frage dich: hast du noch Seitenschmerzen?«

Es kommt ihm so sonderbar vor, daß der Schnee, der auf dem Gesicht der Alten liegt, nicht schmilzt, und daß das Gesicht selbst so merkwürdig lang, streng und ernst geworden ist und die blaßgraue Farbe von schmutzigem Wasser angenommen hat.

»Du, dumme Gans!« murmelt der Drechsler. »Ich rede mit dir aufrichtig, wie vor Gott, du aber ... Dumme Gans! Paß auf, ich werde dich überhaupt nicht hinfahren!«

Der Drechsler läßt die Zügel los und wird nachdenklich. Er bringt es nicht übers Herz, die Alte anzuschauen: es ist so schrecklich! Auch an sie eine Frage zu richten und von ihr keine Antwort zu bekommen, ist schrecklich. Um dieser Ungewißheit ein Ende zu machen, ergreift er, ohne die Alte anzuschauen, ihre kalte Hand. Die Hand fällt, sobald er sie losgelassen, leblos hin.

»Sie ist also tot. Eine schöne Bescherung!«

Und der Drechsler weint. Er fühlt weniger Trauer als Aerger. Er denkt sich: wie schnell geschieht doch alles auf dieser Welt! Sein Unglück hat erst eben begonnen, und schon ist das Ende da. Er hat noch nicht Zeit gehabt, mit seiner Alten richtig zusammenzuleben, vor ihr ordentlich sein Herz auszuschütten, sie zu bemitleiden, und nun ist sie schon tot. Er hat mit ihr vierzig Jahre zusammengelebt, aber diese vierzig Jahre gingen wie im Nebel dahin. Das ewige Trinken, Not und Zank ließen ihn das Leben gar nicht sehen. Und wie zum Trotz ist die Alte just zu einer Zeit gestorben, wo er anfing, mit ihr Mitleid zu haben und zu fühlen, daß er ohne sie nicht leben kann und sich vor ihr schwer versündigt hat.

»Sie hat doch bei den Leuten herumgebettelt!« erinnert er sich. »Hab sie doch selbst zu den Leuten geschickt, um Brot zu betteln, diese Bescherung! Die dumme Gans hätte doch noch an die zehn Jahre leben sollen, nun glaubt sie gewiß, daß ich wirklich so einer bin. Heilige Mutter Gottes, wo fahr ich denn zum Teufel hin? Sie gehört nicht ins Spital, sie gehört auf den Friedhof. Umkehren!«

Der Drechsler wendet um und schlägt mit aller Kraft auf das Pferd ein. Die Straße wird von Stunde auf Stunde schlechter. Nun ist das Krummholz schon gar nicht zu sehen. Ab und zu rennt der Schlitten eine junge Tanne an, etwas Dunkles zerkratzt dem Drechsler die Hände und fliegt vor seinen Augen vorbei, und das Gesichtsfeld wird wieder weiß und wirbelnd.

»Wenn ich das Leben von vorne anfangen könnte ...« denkt sich der Drechsler.

Er erinnert sich, daß Matrjona vor vierzig Jahren jung, hübsch und lustig gewesen ist und aus einem reichen Hofe stammte. Man verheiratete sie mit ihm, weil seine Fertigkeit im Handwerk den Leuten verlockend erschien. Alle Bedingungen für ein gutes Leben waren vorhanden, aber sein Unglück war, daß er, so wie er sich gleich nach der Hochzeit einen Rausch antrank und sich auf den Ofen hinlegte, bis heute noch nicht erwacht ist. An die Hochzeit kann er sich wohl erinnern, aber das, was nach der Hochzeit kam, hat er alles vergessen; er weiß nur noch, daß er getrunken, geschlafen und sein Weib geprügelt hat. So sind diese vierzig Jahre spurlos vergangen.

Die weißen Schneewolken werden allmählich grau. Die Abenddämmerung bricht an.

»Wo fahre ich denn hin?« erinnert er sich plötzlich wieder. »Beerdigen muß ich sie, ich fahre aber ins Spital ... Bin ganz verrückt geworden!«

Der Drechsler wendet den Schlitten wieder um und schlägt auf sein Pferd ein. Die Stute spannt alle ihre Kräfte an und läuft Trab. Der Drechsler peitscht sie ununterbrochen auf den Rücken ... Hinter ihm klopft etwas; er sieht sich nicht um, weiß aber, daß es der Kopf der Toten ist, der gegen den Schlitten anschlägt. Die Luft wird aber immer dunkler und dunkler, der Wind kälter und schneidender ...

»Wenn ich das Leben von vorne anfangen könnte ...« denkt sich der Drechsler: »Neues Werkzeug anschaffen, Aufträge annehmen ... das Geld der Alten geben ... ja!«

Er läßt die Zügel fallen. Er sucht sie, er will sie aufheben, kann es aber nicht: die Hände gehorchen ihm nicht ...

»Ist ja ganz gleich ...« denkt er sich. »Das Pferd wird schon selbst den Weg finden. Wenn ich nur etwas schlafen könnte ... Bis zur Beerdigung oder Totenmesse ein wenig schlafen ...«

Der Drechsler schließt die Augen und duselt ein. Nach einiger Zeit fühlt er, daß das Pferd stehen geblieben ist. Er öffnet die Augen und sieht vor sich etwas Dunkles, das einer Hütte oder einem Heuschober gleicht ...

Er hätte aus dem Schlitten steigen und feststellen sollen, was los ist, aber sein Körper ist von einer solchen Faulheit ergriffen, daß er es vorzieht, zu erfrieren, als sich von der Stelle zu rühren ... Und er schläft ruhig ein.

Er erwacht in einem großen Zimmer mit gestrichenen Wänden. Grelles Sonnenlicht strömt durch die Fenster herein. Der Drechsler sieht vor sich Menschen und will sofort zeigen, daß er ein solider, verständiger Mensch ist.

»Eine Totenmesse für meine Alte, meine Lieben!« beginnt er. »Dem Popen sollte man's sagen ...«

»Ist schon recht, ist schon recht! Bleib nur liegen!« unterbricht ihn eine Stimme.

»Väterchen! Pawel Iwanytsch!« ruft der Drechsler erstaunt, als er den Arzt vor sich sieht. »Euer Hochwohlgeboren! Wohltäter!«

Er will aufstehen und dem Arzte zu Füßen stürzen, doch er fühlt, daß ihm Arme und Beine nicht gehorchen.

»Euer Hochwohlgeboren! Wo sind denn meine Füße? Wo die Hände?«

»Hast keine Hände und Füße mehr ... Hast sie dir abgefroren! Nun, was weinst du denn? Hast, Gott sei Dank, genug gelebt. Wohl an die sechzig Jahre, das langt für dich!«

»Dieses Unglück! ... Euer Hochwohlgeboren, es ist ja ein Unglück! Verzeihen Sie mir großmütig! Wenn ich noch fünf, sechs Jahre leben könnte ...«

»Wozu?«

»Das Pferd gehört nicht mir, ich muß es zurückgeben ... Muß auch die Alte beerdigen ... Wie schnell geschieht doch alles auf dieser Welt! Euer Hochwohlgeboren! Pawel Iwanytsch! Ein Zigarettenetui aus Birkenholz, das allerbeste! Ein Krocketspiel drechsle ich ...«

Der Arzt winkt abwehrend mit der Hand und verläßt das Zimmer. Mit dem Drechsler ist es aus!


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