Giacomo Casanova
Eduard und Elisabeth bei den Megamikren
Giacomo Casanova

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So war ein Monat vergangen. Wohl hatte ich den Herzog verschiedene Male gesehen, doch hatte ich mich bemüht, ihm meinen Kummer zu verbergen, obwohl er mir geradezu am Herzen fraß. Endlich aber riß mir die Geduld. Ich pflegte den Aufführungen beizuwohnen, und als er mich nun auch zu seinen kleinen Abendessen einlud, entschloß ich mich, hinzugehen. Ich wollte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, was dort vor sich ging, denn alle Welt schilderte mir diese Abende als den Abgrund menschlicher Verworfenheit. Man darf aber derartigen Gerüchten nie Glauben schenken, es sei denn, daß man sich selbst von ihrer Richtigkeit überzeugt hätte. Ich ging also mit meiner Frau hin, doch sahen wir leider nichts besonders Verwerfliches. Wahrscheinlich hielt unsere Gegenwart sie zurück. Ich fragte die Frauen der Übeltäter, warum sie denn nicht von ihrem Recht Gebrauch machten und sich mit ihren Männern zu Tische setzten. Sie erwiderten, daß sie erst immer mitgegangen wären. Es hätte sie auch niemand fortgewiesen, doch hätten sie dort, wie ihnen jedermann zu verstehen gegeben hätte, eine so mitleiderregende Rolle gespielt, daß sie von selbst darauf verzichteten, wieder mit hinzugehen. Sobald der Fürst des Zwanges müde ward, den ihre Gegenwart ihm auferlegte, ließ er betäubende Düfte im Zimmer aufsteigen. Dann begann er zu singen und die Geladenen mußten nach dieser Melodie tanzen. Im Rhythmus dieser Tänze wurden dann Handlungen vorgenommen, an denen sie sich weder beteiligen, noch deren Anblick sie ertragen konnten. Im schönsten Tanz wurde dann plötzlich ein allgemeiner Aufbruch in Szene gesetzt, man tanzte trotz der späten Stunde in die Gärten bis zum Flußufer und alle stürzten sich dann ins Wasser. Die Männer konnten freilich schwimmen, darum machte ihnen das weiter nichts aus. Die Frauen konnten einmal nicht schwimmen und dann waren die Vergnügungen, die im Wasser vor sich gingen, derartig, daß sie sich dagegen empören mußten. Sie hatten sich daher entschlossen, nie mehr hinzugehen.

Ich beauftragte nun Elisabeth damit, die jungen Frauen auszuforschen, ob die Gatten denn ihren ehelichen Pflichten nachkämen. Das war hier ebenso der Fall wie in der Hauptstadt. Ich kam also zu dem Schluß, daß die Fruchtbarkeit meiner Nachkommen nicht von ihrem Zusammenleben, sondern von ihrer ehelichen Treue abhing. Denn in dieser Welt ist alles viel zarter organisiert wie in der unsern und die Natur will dort auch in ihren materiellsten Funktionen stets vom Gefühl unterstützt werden. Doch tröstete ich mich damit, daß auf diese Weise die eheliche Untreue nie verborgen bleiben konnte, daß es also das erstemal sein mußte, daß meine Kinder solche Sünde begingen. Obwohl ich mir selbst nicht klar darüber war, ob das nun mehr Gutes oder Schlimmes bedeutete, beschloß ich doch, mir diese Erkenntnis zunutze zu machen und mich ihrer gewissermaßen als Gegengift zu bedienen. Ein besonderes Ereignis kam mir dabei zu Hilfe. Einen Monat nach unserer Abreise bekam ich einen Brief von Cäsar, worin er mir folgendes mitteilte:

Ein Sekretär des Rats der Siebzehn hatte ihn aufgesucht und ihn im Namen der drei Vorsitzenden gefragt, wo die beiden Riesenpaare wären, die man nirgends mehr sähe. Er antwortete, daß ich sie mit mir genommen hätte. Darauf entgegnete der Sekretär, man sollte sie sofort zurückberufen, oder aber die übliche Strafe auf sich nehmen, denn sämtliche Stammesangehörige seien Bürger der Republik und keiner von ihnen habe das Recht, sich ohne Erlaubnis des Rats der Siebzehn zu entfernen. Übrigens verweigerten letztere ja die Erlaubnis dazu niemals. Cäsar schloß mit den Worten, daß es seiner Meinung nach das beste wäre, die beiden Paare zurückzusenden.

Dieser Brief überraschte mich sehr. »Wie«, sagte ich zu meiner Frau, »sollten wir denn unser natürliches Recht als Oberhäupter unseres Geschlechts verloren haben? Sollen etwa unsere Kinder nicht mehr Herr darüber sein, mit Erlaubnis ihrer Eltern zu gehen und zu kommen wie es ihnen beliebt? Das ist ja ein ganz tyrannisches und barbarisches Gesetz! Die Republik hat sich stark verrechnet, wenn sie glaubt, daß ich mich solcher Willkür unterwerfen würde! Warum hat sie denn diese widerwärtige Bedingung nicht in unsern Vertrag aufgenommen? Wie können meine Söhne zu Bürgern erklärt werden, wenn sie dann nicht einmal mehr Anspruch auf die allergeringsten Rechte freier Männer haben?«

Als ich noch diese zornigen Betrachtungen anstellte, kam ein Kammerherr des Herzogs, um mich zu ihm zu bitten. Ich ging sofort hin und fand ihn ganz allein. Er empfing mich unter vier Augen und gab mir zunächst ein Schreiben des Ministeriums der Republik, worin ihm mitgeteilt wurde, daß zwei Riesenpaare, Bürger der Republik, sich ohne Erlaubnis entfernt hätten und sich dem Vernehmen nach in seinem Lehen aufhielten. Er wurde daher aufgefordert, sie gemäß seiner Lehenspflicht sofort zurückzusenden. Der Prinz erwartete nun traurig und aufmerksam meine Entscheidung. Ich sagte, daß doch laut der Stiftungsurkunde mein Stamm in der ganzen Republik das Bürgerrecht genösse.

»Aber das ist es ja gerade, was Euch ins Unrecht setzt,« entgegnete er ganz bekümmert, »wenn das nicht wäre, könnte man Euch weder zwingen, sie zurückzusenden, noch sie mit Gewalt zurückholen, wenn sie sich im guten weigerten. Ich hoffe, daß Ihr mich nicht zu einer mir so verhaßten Maßregel zwingen werdet!« – »Aber das ist ja unerhört,« rief ich nun ärgerlich, »daß ein Privilegium die Lage derer, die es besitzen, verschlechtern soll! Man hat mich also mit dem Ausdruck ›Vorrecht‹ gewissermaßen überrumpelt, denn von vornherein ging die Absicht dahin, mich diesem unverschämten Gesetz zu unterwerfen.« – »Das mag ja sein,« erwiderte er, »doch da man nun einmal von beiden Seiten diese Vereinbarung getroffen hat...« – »Nein,« unterbrach ich ihn, »das habe ich nie vereinbart!« – »Doch, doch,« erwiderte er, »denn es ist in dem Privilegium, das Ihr, ohne es zu prüfen, angenommen habt, enthalten. Ihr hättet Euch vorher davon überzeugen sollen, welche Verpflichtungen Ihr damit übernahmt, und es dann erst unterzeichnen!« – »Nun,« entgegnete Ich, »ich bin wirklich überrascht von dieser Auffassung und jeder Ehrenmann würde genau so denken wie ich! Ich protestiere! Ich verzichte auf die ganze Schenkung! Keinesfalls werden meine Kinder in die Hauptstadt zurückkehren!« – Der Herzog ergriff meine Hände und beschwor mich, diesen Schritt doch noch bis zum nächsten Tage reiflich zu überlegen. Ich sollte auch bedenken, welchen Schwierigkeiten ich ihn durch solche schroffe Entscheidung aussetzen würde. Er rief dann den Oberintendanten der Lustbarkeiten hinein und befahl ihm, das Theater bis auf weiteres abzusagen.

Im höchsten Grade erregt, begab ich mich nach meiner Wohnung. Ich wollte den ganzen Tag über niemand sehen und besprach die Sache nur mit meiner Frau, die über sehr viel gesunden Menschenverstand verfügte und mir nicht ohne guten Grund riet, die beiden Paare wieder zu ihrem Stamm zurückzusenden. Ich widersprach sehr energisch und führte alle möglichen Gründe ins Feld. »Wie, ich sollte mich einer solchen Willkür unterwerfen?! Ich würde ja dadurch dem Laster Tür und Tor öffnen und mich selbst aufs tiefste demütigen! Wenn ich mich solchem ungerechten Gesetz unterwürfe, so würde ich ja alles Ansehen einbüßen! Der Herzog würde mich zu nichts zwingen können, denn ich fürchte mich nicht vor den Megamikren, Zehntausenden von ihnen könnten wir uns erwehren.« Meine Frau ließ mich ruhig reden. Sie widerlegte meine Gründe gar nicht, sondern, ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, blieb sie hartnäckig bei ihrer Meinung: die beiden Paare sollten in die Hauptstadt zurückkehren. Schließlich wog dieser immer wiederkehrende Satz mehr als alle Vernunftgründe, denn er kam aus dem Munde eines Wesens, das ich über alles liebte. Das ist wieder ein Beweis dafür, daß die Frauen eigentlich nur dieser einen Waffe bedürfen, um zum Siege zu gelangen, – es sei denn, daß sie zu der geistreichenden Art gehörten, die es liebt, mit Vernunftgründen zu operieren und damit den Gegner nur reizt, aber niemals überzeugt.

Am nächsten Tage ließ ich mich wieder bei dem Herzog melden und versprach ihm, in einer Woche meinen Sekretär mit den beiden Paaren nach der Hauptstadt zurückzusenden. Er sollte sie zunächst meinem Sohn Cäsar übergeben und dieser würde dann der Republik ihre Rückkehr mitteilen. Ich bat dann den Herzog, mir meine anfängliche Schroffheit nicht übel auszulegen, worauf er mich umarmte und meine weise Mäßigung pries. Dies wirkte von seiner Seite ein bißchen komisch, doch freute ich mich, als er darauf anspielte, daß ich die jungen Riesen wohl zur Strafe für ihre Ausschweifungen mit mir genommen hätte. So brachte er selbst mich ganz unauffällig auf das Thema, über das ich schon längst mit ihm sprechen wollte. Ich unterrichtete ihn nun bis ins einzelste darüber, was mich dazu bestimmt hätte, die jungen Leute aus der Hauptstadt zu entfernen. Ich schilderte ihm ihre Ausschweifungen und deren traurige Folgen, den Kummer der Familie, die Verzweiflung der Frauen und deren beginnende Unfruchtbarkeit. Dann stellte ich ihm vor, welch Verbrechen das gegen die Religion bedeutete, den furchtbaren öffentlichen Skandal, den großen Kummer, den mir das alles bereiten mußte, und während ich ihm das alles genau auseinandersetzte, hütete ich mich wohl, ihn merken zu lassen, daß ich ja zu ihm gekommen war, um demselben Übel zu steuern.

Der Herzog, der im Grunde seines Herzens eine edle und für alles Gute empfängliche Natur war, war von dieser Erzählung tiefbewegt. Es war ihm, wie ich wußte, ganz genau bekannt, daß seine Lieblinge mit ihren Frauen in Unfrieden lebten, und auch, daß die Frauen unfruchtbar waren, war ihm keineswegs verborgen. Zwar hielt er das für eine vorübergehende Sache, wie ich ja schließlich auch, aber ich hielt es keineswegs für nötig, ihm das zu sagen. Nachdenklich ging er im Zimmer auf und nieder und endlich fragte er mich, ob ich wohl glaubte, daß die Frauen wieder fruchtbar werden würden, sobald ihre Gatten zur ehelichen Liebe und Treue zurückkehrten. Ich erwiderte, daß das natürlich von Gottes Gnaden allein abhinge. Darauf dürften sie erst hoffen, wenn sie Zeichen aufrichtiger Reue gegeben haben würden. Darauf umarmte er mich nochmals und zog sich dann zurück. Ich berichtete meiner Frau genau, was wir gesprochen hatten, und ließ dann durch Daniel all die jungen Missetäter – aber ohne Ihre Frauen – zum Mittagessen bei mir einladen. Auch die beiden aus Cäsars Stamm wurden von mir zur Tafel befohlen. Feierliches Schweigen herrschte während des ganzen Mahles. Aber als dann die Speisen wieder abgetragen waren, redete ich ihnen ganz energisch ins Gewissen. Zunächst kündigte ich den beiden aus Cäsars Stamm an, daß sie mit ihren Frauen nach der Republik zurückkehren sollten. Durch ihre Schuld allein wären die armen Frauen zu Nullen herabgesunken, wie es ja bei allen der Fall wäre, die gegen das fünfte Gebot unserer Religion und damit auch gegen die eheliche Liebe und Treue gesündigt hätten. Ich wies sie darauf hin, daß sie der zeitlichen und ewigen Verdammnis anheimfallen müßten, wenn sie auf ihren bösen Wegen beharrten. Auch würden sie der allgemeinen Verachtung anheimfallen: wenn mit den fortschreitenden Jahren die Stämme ihrer Brüder sich durch immer neue Heiraten weiter ausbreiten würden, würden sie kinderlos dem Aussterben ausgeliefert sein. Nur aufrichtigste Reue und Gottes große Barmherzigkeit vermöchten noch einmal dem Unglück zu steuern und ihren verzweifelten Gattinnen die Fruchtbarkeit wiederzuschenken. »Geht nun mit ihnen in Begleitung aller eurer hier gleichfalls anwesenden Vettern zu den Häuptern des Stammes und kommt dann übermorgen in den Tempel, wo ich selbst am 1. Juni das Stiftungsfest abhalten werde. Dann werft euch Gott zu Füßen und bittet ihm auf Knien euren Ungehorsam ab! Hütet euch aber wohl, daß der Statthalter Cäsar niemals wieder Anlaß haben möge, euch zu exkommunizieren!« so schloß ich.

In Tränen ausbrechend, fielen sie mir zu Füßen und Elisabeths Tränen mischten sich mit den ihrigen. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatten, sprach ich den Segen über sie. Am Tage nach dem Stiftungsfest sandte ich sie dann zu Cäsar zurück, den ich in einem besonderen Schreiben bat, sie freundlich aufzunehmen und mit Milde zu behandeln, da sie ja solche aufrichtige Reue bezeigten. Nun kam alles so, wie ich es wünschte. Die jungen Männer kehrten auf den Pfad der Tugend zurück, doch wurden ihre Frauen nicht guter Hoffnung, so sehnlichst es die Männer auch erhofften. Die Furcht, ohne Nachkommen zu bleiben, erwies sich als das beste Mittel, um meine Stämme vor Ausschweifungen zu bewahren, denn sie alle hatten den Ehrgeiz, Oberhaupt und Stammvater zu werden. Die Würde eines Statthalters dünkte sie erstrebenswerter als die eines Königs. Während der elf Jahre, die ich dort verlebte, brachten es die unfruchtbar gewordenen Frauen nicht auf dreihundert, und in einer Bevölkerung von drei bis vier Millionen bedeutet das herzlich wenig.

Nach dieser Unterredung war bereits ein Monat verstrichen und zu meiner Freude blieb alles ruhig. Der Herzog hatte die Theatervorstellungen einstellen lassen und vergnügte sich jetzt mit Jagdausflügen, Fischen, Schwimmen, Reiten. Auch wohnte er schönen Konzerten und Tanzaufführungen bei. Seine Edlen lud er zu kleinen soliden Gastmählern ein.

Daniel folgte nun meinem Rat und reichte dem Fürsten ein Lustspiel ein, das aus fünf Akten bestand und in seiner charakteristischen Art einen jungen Gecken schilderte, der mit seinen Torheiten eine starke komische Wirkung erzielte. Der Fürst las es und reichte es mit dem Bemerken zurück, daß es ihm so gut gefallen hätte, daß er es gern aufgeführt sehen möchte. Es wurde also gegeben, die Schauspieler ernteten größten Beifall, wurden aber nicht zur Tafel befohlen, und das war für mich ein großer Triumph.

Fünf oder sechs Wochen darauf, als ich alles in bester Ordnung sah, auch durch Nachrichten von Cäsar über die Führung seiner jungen Männer beruhigt war, beschloß ich, nach Alfredopolis aufzubrechen. Doch wollte ich vorher noch eine Unterredung mit Albert, dem Gatten Kassandras, herbeiführen. Trotz seiner langen geheimen Besuche in den Ruhestunden war sie guter Hoffnung geworden. Sie war seine Kusine, und ich wollte ihn gern kennenlernen. Er war Daniels Onkel und siebzehn Jahre alt. Er war dunkel, sechs Fuß groß und hatte ein sanftes, ernstes Gesicht. Er war sehr still, ein großer Musikfreund und Mathemathiker. Auch hatte er eine wahre Leidenschaft für die Feuerwerkskunst. Er hatte sogar auf englisch eine äußerst gescheite Abhandlung über die Verwendung des Schießpulvers geschrieben und sie auf seine Kosten drucken lassen. Ich hatte sie gelesen und geradezu bewundernswert gefunden. Ich lud ihn nun zum Mittagessen ein. Wir waren nur vier Personen. Bald fand ich heraus, welchen ausgezeichneten Charakter seine Gattin und Kusine hatte: sie war eine blendend schöne und sehr heitere Blondine.

Nach dem Mittagessen sprach ich ihnen scherzend meine höchste Anerkennung aus, daß sie so einträchtig miteinander lebten. Doch fügte ich hinzu, daß das Hauptverdienst dabei wohl der Frau zuzuschreiben sei, da sie keinerlei Heimlichkeiten vor ihrem Gatten hätte. Er erwiderte, daß er zwar ihre Überlegenheit nicht bestreiten wollte, doch hätte auch er keine Geheimnisse vor ihr. »Ja, weiß sie denn, wo du deine Ruhestunden zubringst,« fragte ich nun. »Sie würde es wissen,« sagte er, »wenn es mein Geheimnis wäre. Doch bin ich einer dritten Person gegenüber zum Schweigen verpflichtet.« Kassandra bemerkte noch, daß sie von der Wichtigkeit dieses Geheimnisses vollkommen überzeugt wäre, so daß sie sich keineswegs der Neugier schuldig machen wollte. Nun wollte ich natürlich nicht etwa hinter einem Weib zurückstehen. Ich wechselte also das Thema und fand den jungen Mann in jeder Beziehung sehr wohl unterrichtet.

Vor meiner Abreise trafen Briefe von meinem elften Sohn Johann ein, der als Haupt seines Stammes in der Nachbarschaft der Hauptstadt des Reiches Siebenundachtzig wohnte. Auch Theodor und Andreas schrieben mir in dergleichen ziemlich wichtigen Angelegenheit. Andreas teilte mir aus Alfredopolis mit, daß seit der öffentlichen Bekanntmachung seitens des Konzils mehrere reiche Familien aus der Hauptstadt ausgewandert wären, um sich in meinem Lehen niederzulassen. Sie wollten um ihrer Bekehrung zum Christentum willen nicht in die Sklaverei geraten. Um dieser Auswanderung einen Damm entgegenzusetzen, hatte der König öffentlich verkünden lassen, daß unter seiner Regierung die kirchlichen Strafen ebensowenig vollstreckt werden sollten, wie es den Priestern jemals eingefallen wäre, diejenigen zu bestrafen, die sich gegen die bürgerlichen Gesetze vergangen hätten. Er ließ am Schluß dieses Manifestes allen seinen Untertanen völlige Gewissensfreiheit zusichern.

Die Priesterschaft protestierte aufs erregteste gegen dieses Manifest, das sie als höchst gottlos bezeichnete, und man erwartete nun aufsehenerregende Nachrichten aus Heliopalu, da der Große Genius doch solchem Frevel nicht gleichgültig gegenüberstehen konnte.

Johann teilte mir dann weiter mit, daß der König ihn gebeten hätte, ein Edikt zu erlassen, worin er allen Megamikren, die getauft werden wollten, die Taufe zusagte und ihnen gleichzeitig zusicherte, daß sie dieserhalb keiner Bestrafung ausgesetzt sein würden. Johann hatte dies Ansinnen aber abgelehnt, weil es sich nicht mit der Abmachung in Einklang bringen ließ, worin wir dem Großen Genius versprochen hatten, niemals einen Megamikren aufzufordern, sich taufen zu lassen. Der Minister hatte ihm daraufhin den Befehl aufs neue zustellen lassen mit dem Bemerken: die Megamikren wissen zu lassen, daß ihnen keine Strafe drohe, sei doch nicht als »Aufforderung« zu bezeichnen. Darauf hatte Johann geantwortet, es wäre Sache des Königs, die Megamikren zu beruhigen. Er könnte in der Angelegenheit nichts tun, denn er wollte auch den bösen Schein vermeiden. Im übrigen stünde in allen religiösen Fragen einzig meiner Autorität die Entscheidung zu, darum würde er nun mir die Sache unterbreiten. Damit hatte sich der Minister einverstanden erklärt und so hatte man denn einen Eilboten zu mir entsandt. Ich schrieb ihm mit dem gleichen Boten zurück, daß ich in Person dort eintreffen würde, um die Meinungsverschiedenheit beizulegen.

Ich war sofort entschieden, denn es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, zu der man ihn verführen wollte. So nahm ich denn meinen Abschied vom Herzog, und innerhalb zweiundzwanzig Tagen, also Anfang August, traf ich bei Johann ein. Am nächsten Morgen schon ließ ich eine Audienz beim König nachsuchen. Er empfing mich in Gesellschaft des Premierministers, wie ich es schon vorausgesehen hatte.

Ich kam sofort auf die fragliche Angelegenheit, und nachdem ich dem alten König alles haarscharf auseinandergesetzt hatte, legte ich ihm mein Abkommen mit dem Großen Genius vor. Ich machte ihm klar, daß ich diesem so wenig wie meinem eigenen Gott und Herrn mein Versprechen brechen könnte, und sollte mich das auch das Leben kosten. Daraufhin hielt wieder der König eine kleine Rede, die darauf hinauslief, daß es doch völlig in meinem Belieben stünde, ihm diesen Dienst zu erweisen. Ich gab mit tiefbetrübter Miene und tiefer Verneigung die Wahrheit dieser Behauptung zu. Darauf entließ uns der König sehr gnädig und wir zogen uns in unseren Palast zurück. Dieser Widerstand schien mir unbesieglich. Doch hatte ich mich nun einmal entschlossen, nicht nachzugeben. Johanns Stamm umfaßte übrigens ungefähr 19000 Personen.

Acht Tage später berief mich der König zu einer neuen Konferenz. Er sprach lange und aufrichtig mit mir über die ganze Angelegenheit und bat mich schließlich, ihm einen guten Rat zu geben. Einerseits wollte er den Großen Genius nicht durch einen Gegenbefehl erzürnen, andrerseits aber wollte er doch auch gern der Auswanderung seiner Untertanen gern ein Ziel setzen. Wir kamen nun überein, daß ein Eilbote zum Großen Genius nach Heliopalu gesandt werden müßte, um in dieser Sache seinen Rat zu erbitten. Ich selbst aber wollte ein Manifest erlassen, daß während vier Jahren keine Megamikren getauft werden könnten. Dieser Rat gefiel ihm sehr wohl. Er dankte mir warm und sandte zunächst den Boten nach Heliopalu.

Johann erzählte mir in jenen Tagen, daß ein Lehnsfürst des Königs vor zwei Jahren angekommen sei, für den man ihn konsultierte, um ihm das Augenlicht wiederzugeben, das er vor zwanzig Jahren verloren hatte. Der Besuch fand in Gegenwart von vier Augenärzten statt; zwei von ihnen waren seine Söhne. Auf Grund des Urteils von drei Ärzten hatte man den Prinzen als unheilbar entlassen; der vierte jedoch hielt ihn für heilbar. Dieser Arzt war aber der jüngste und so hatte Johann das Risiko nicht eingehen wollen, die Operation gegen die Meinung der drei anderen vornehmen zu lassen. Da der beklagenswerte Prinz erfahren hatte, daß ich in der Hauptstadt weilte, kam er, um sich untersuchen zu lassen, und ich ließ ihn mir von Johann vorstellen. Bei der Untersuchung fand ich einen weitvorgeschrittenen grauen Star, ich wollte jedoch noch die Meinung meiner Enkel hören, die mir noch nicht bekannt geworden war, um zu wissen, ob sie das Leiden ebenfalls für grauen Star hielten. Kniend küßten sie mir die Hände und alle sagten nur ihre Meinung. Auch der Jüngste verbarg seine Ansicht nicht, sondern trug mir in bescheidenen Worten vor, was ihn dazu veranlaßt hätte, diese, seinen Kollegen entgegentretende Meinung zu äußern. Er erschien mir klüger als alle andern, andererseits gefiel mir auch die vorsichtige Haltung der anderen. Ich betonte, daß ich derselben Meinung sei wie der jüngste der Ärzte, dagegen hielt ich es für geraten, daß die Operation nur von demjenigen ausgeführt werden dürfte, der die längste Erfahrung und die größte Geschicklichkeit nachweisen könnte. Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als sich etwas Sonderbares ereignete. Der jüngste der Ärzte ergriff die Hand seines Onkels, des Augenarztes und Sohnes des Johann, und sprach: »Dies ist der geschickteste von uns allen, somit wird er die Ehre haben, den Prinzen zu operieren.« Der Erwählte trug eine bescheidene Haltung zur Schau, machte nicht viel eitle Worte, sondern sprach nur, nachdem er sich vor mir, meiner Frau und Johann tief verneigt hatte, seinen Kollegen freundschaftlich zunickend, folgendes: »Wenn ich mich diesmal nicht sicher im Erfolg fühlen sollte, so würde ich mir überhaupt nichts mehr zutrauen können. Ich bin bereit.« – Ich betrachtete meine Frau, die durch so viel Tugend zu Tränen gerührt war, während ich selbst mich zwingen mußte, meine Bewegung zurückzuhalten. Daraufhin ordnete ich an, daß die gesamte Familie des Prinzen hereinkommen möchte, und machte jenen die Mitteilung, daß die Operation am folgenden Tage vorgenommen werden würde. Der Operateur befreite den Prinzen in meiner Gegenwart von zwei verknorpelten, elastischen und harten grauen Starhäutchen. Er fiel vor mir aufs Knie, um meine Hand zu küssen, ich aber zog ihn zärtlich an meine Brust. Elisabeth tat desgleichen und ihre Tränen benetzten ihn. Acht Tage später, nachdem der Prinz sehend geworden war, lud er uns zum Mittagessen ein; beim Nachtisch erbat er sich von mir als Gnade einen meiner Stämme, was ich ihm natürlich gewährte. Ich schrieb an Andreas, er möge alles vorbereiten, damit der Stamm hierherreise. Es war derjenige von Laurentius und Lukretia, meines neunzehnten Sohnes. Die Stämme, die ich von Alfredopolis verpflanzt hatte, fühlten sich glücklich, denn meine Stadt war nur von Riesen bevölkert und die Gesellschaft der Megamikren war dort nicht häufig zu treffen.

Gegen Ende des Jahres nahm ich vom Könige und meinem Stamme Abschied, um mich innerhalb vierzehn Tagen nach der Hauptstadt meines Lehens zu begeben. Daselbst wurden mir durch Theodor sämtliche edlen Roten vorgestellt; die zum Christentum Bekehrten waren aus dem Nachbarkönigreich herübergekommen, um sich bei mir niederzulassen. Ich äußerte auch den Wunsch, er möge mir die reichen Kaufleute vorstellen, die durch den Aufschwung des Handels den Wohlstand meiner Staaten erhöht hatten. Ich gewährte ihnen Privilegien, und nachdem ich meine anderen vier Gouvernements besichtigt, die Ansiedlung der vierzehn Stämme in Augenschein genommen und alles in Ordnung gefunden hatte, verließ ich mein Lehen, wo ich Freude und Zufriedenheit in aller Herzen zurückgelassen hatte.

Im Februar kam ich in Alfredopolis an, wo Andreas ein Feuerwerk anläßlich des freudigen Ereignisses vorbereitet hatte. Der königliche Prinz hatte vom Himmel zwei schöne Rote erhalten; ihm wurde hierdurch die Gewißheit, daß während dreier Generationen die Krone seinem Hause nicht verloren gehen könnte. Tags darauf begab ich mich zu ihm, um ihm meine Hochachtung auszusprechen, desgleichen den Prinzen, die mir elektrische Maschinen zeigten, womit man sich durch Zeichen, Glocken und Leitungen, die nach allen Richtungen gingen, verständigen konnte.

Es war mein Wunsch, daß die Geburt der Prinzen durch ein dreitägiges Fest gefeiert würde. Für den ersten Tag war Oper angesetzt, für den zweiten Schauspiel und gymnastische Spiele; Feuerwerk stand endlich auf dem Programm des dritten Tages. Nach den Festtagen ließ ich Laurentius, den ich zum Statthalter des schönen Stammes ernannte, zurückkehren. Ich erklärte deshalb Stephan zum Ältesten, ebenso Julius, der in diesem Jahre sein letztes Zwillingspaar haben sollte.

Kurze Zeit darauf erhielt ich eine sehr interessante Nachricht von meinem Sohne Daniel. Er schrieb, daß Albert und Kassandra fünf Tage vor Absendung des Briefes verschwunden seien, der ganze Stamm sei darüber entrüstet und die Familie untröstlich. Er hatte seinem Vater einen Brief geschrieben, der ihm vier Tage nach seiner Abreise durch einen Lastträger überbracht worden war. In diesem Briefe empfahl er ihm seine Familie mit dem Hinweis, daß er dahin gehe, wohin zu gehen ihn Ehre und Religion verpflichteten. Daniel sagte mir, daß er mit viel Geld abgereist sei und außerdem vier Diamanten von großem Werte mit sich genommen hätte; diese letzteren habe er von einem seiner Vetter entliehen, der ein Günstling des Prinzen gewesen war. Er schrieb mir, daß er von dieser Flucht vorerst sämtliche Häupter der in den Nachbarreichen angesiedelten Stämme in Kenntnis gesetzt habe, um die Flüchtigen zu entdecken und zur Rückkehr zu zwingen. Nach Heliopalu habe er noch nicht geschrieben, um mir die Entscheidung darin zu überlassen. Die Nachricht traf mich nicht allzu tief. – Albert war vorsichtig, klug und fromm, er besaß Geistesgegenwart, hatte seine Frau bei sich und war schließlich mit Geldmitteln gut versehen; was konnte er da zu fürchten haben? Welche Notwendigkeit lag vor, ihn mit unseren Sorgen zu beunruhigen, ihm mit unseren Nachforschungen lästig zu fallen? Ein unangebrachter Eifer könnte in diesem Falle womöglich dazu führen, ihn in seinen Unternehmungen und Plänen, die gewiß nur gut und löblich sein konnten, zu behindern. Wir hatten durchaus keinen Grund, schwarzseherisch zu urteilen, sondern eher Veranlassung, seine Gründe zu respektieren. Unverzüglich schrieb ich deshalb meinen sämtlichen Söhnen, sie möchten, in welchem Zustande sie Albert auch entdecken sollten, ihm Achtung und jegliche Hilfe erweisen, deren er vielleicht bedürfen sollte. Ich war mir mit meiner Frau darüber einig, daß man in einem solchem Falle nichts anderes tun könne, als sich darauf beschränken, Gott für ihn zu bitten. Auf meinen Befehl wurde in allen Kirchen für ihn gebetet und dies gab die Veranlassung dazu, daß man annahm, ich sei in das ganze Rätsel eingeweiht. Es ergab sich hieraus für mich eine Sache, die weittragende Folgen hatte. Hieraus lernte ich, daß man Gott im stillen anrufen und sich davor hüten sollte, seine Frömmigkeit öffentlich zur Schau zu tragen.

Alles war schön in meiner Stadt Alfredopolis, die Häuser, die Gärten, die Kais an den Flüssen, das prächtigste waren jedoch meine Schmieden und die Metallager, sowie meine Artilleriewerkstatt, die mich ein Vermögen kostete. Diese Werkstatt bestand aus zwölf kleinen Inseln, die von Laufgräben umgeben waren, die längs des Kanals liefen und meine Rüstkammern enthielten. Ich hatte die Faustkampfspiele abgeschafft. In mehreren Sälen hatte ich 200000 Flinten, ebensoviel Pistolen, außerdem eine Menge gußeiserne Kanonen verschiedenen Kalibers aufgestapelt. Dieses Gußeisen war meine Erfindung und ich hatte es verschiedentlich ausprobiert. Es bestand aus fünf Teilen Silber und einem Teil Zinn, das ergab eine vorzügliche Mischung. Ich besaß davon 1000 Stück, von denen 300 vierundzwanzig Pfund wogen, Zu allen übrigen Kanonen kleineren Kalibers hatte ich Munition und viele Tausend Kugeln von Eisen und Blei aufgespeichert, dazu die nötigen Transportwagen, um meine Geschütze an jeden beliebigen Ort fahren zu können. In dem letzten großen Magazin hatte ich zwei Lager weißen und blauen Pulvers, insgesamt mehr als 10000 Zentner. Was bei dieser verschwenderischen Ausrüstung wunderbar erscheinen mag, ist, daß ich keinesfalls an Krieg dachte, zumal man sich in jener Welt weder vorstellen kann wo, noch wie Krieg entstehen könnte. Ich schuf meine Artillerie einzig aus dem Grunde, weil es mir schön erschien, weil es in Europa nur Fürsten erlaubt war, eine solche zu besitzen, weil ich reich war und die Waffen liebte. Diejenigen, welche diese großen Maschinen sahen, bewunderten ihre Form und die Kostbarkeit ihres Materials; sie kannten den Zweck nicht, dem sie dienen sollten, und wagten nicht, mich darüber zu befragen. Ich selbst war damit zufrieden, etwas geschaffen zu haben, was niemand mich gelehrt hatte. – Ich glaube, wenn es in jener Welt ein großes Meer gegeben hätte, so würde ich es unternommen haben, die größten Schiffe zu bauen und dies mehr zu meinem Vergnügen, als in der Absicht, mich dieser Schiffe zu bedienen.

In diesen Tagen schrieb mir Theodor als einzige Neuigkeit, die sich inzwischen in der Hauptstadt meines Lehens, sowie im Stamme ereignet hätte, daß acht Frauen im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren in diesem Jahre nicht niedergekommen seien. Doch versicherte er mir, daß zwischen den Ehegatten das beste Einvernehmen bestände und die Frauen ihm selbst die Versicherung gegeben hätten, daß kein Grund vorläge, sich über die Gatten zu beklagen. Ich ließ ihm den guten Glauben und dachte mir mein Teil.

Jakob schrieb mir von meinem Lehen in Heliopalu, daß er vier seiner Stämme den vier Königen, deren Staaten an das Gebiet des Großen Genius grenzten, überlassen habe. Er hatte sich auf diese Weise von mehr als 10000 Seelen befreit, die dieselben Privilegien genossen, wie sie jenen bewilligt worden waren, die ich selbst bei dem benachbarten König des Reiches Neunzig untergebracht hatte. Diese Nachricht erfreute mich, denn ich ersah daraus, daß meine Religion sich durch meine Nachkommen ausbreitete.

Nach dem Stiftungsfest am Neujahrstage 71 nahm ich vom Könige Abschied und reiste nach meinem Lehen in der Absicht, dortselbst drei Jahre zu bleiben. Ich fand meine Untertanen zufrieden vor, eine Ausnahme bildete nur die Geistlichkeit. 10 – 12000 Geistliche waren auf die Mildtätigkeit angewiesen; sie dachten nicht daran, Christen zu werden, denn mein Gesetz schloß sie von allen Dienstleistungen im Tempel aus. Sie kannten keinen anderen Beruf, ja, sie hatten das Gelübde getan, keinen zu betreiben, ich konnte ihnen somit in keiner Weise Unterstützung zuteil werden lassen, obgleich sie mir leid taten. Der Erzbischof war nur noch mit den auswärtigen Angelegenheiten beschäftigt, verzehrte seine Renten, und da er wußte, daß die anderen Abdalas der Diözese oder aber meine Söhne in der Eigenschaft als Statthalter seinen Platz einnehmen würden, so sagte er mir, daß er sich entschlossen hätte, alles der Vorsehung anheimzustellen, nachdem er dem Großen Genius alles geschrieben hätte, was letzterer wissen müßte, daß mit dem Tage, wo ich in der Lage wäre, christliche Statthalter in allen Städten meines Lehnes einzusetzen, auch nicht der geringste Schatten der alten Religion zurückbleiben würde, und dieser Tag könne nicht mehr fern sein. Ich verbrachte das Jahr damit, daß ich alles prüfte, was zur Förderung guter Ordnung für mich von Interesse sein könnte. Was die neue Rasse meiner Nachkommen aus Ehen zwischen Vettern und Basen anbetraf, so waren die Männer sechs Fuß hoch, die Frauen nahezu fünfeinhalb. Sie zeichneten sich durch blendende Schönheit aus und die zu Zwillingen Geborenen hatten allen Grund sie zu beneiden. Viele meiner Söhne waren aus Ehen hervorgegangen, die vor dem Jahre 60 geschlossen waren, weshalb sie als Zwillinge geboren waren. Sie verliebten sich in die Schönheiten und äußerten ihre Wünsche, fanden bei mir aber keine Gegenliebe, denn die schönen Mädchen waren für die schönen Männer, ihre Vettern, bestimmt.

Ich erließ deshalb ein Gesetz, welches neunundzwanzig europäische Jahre gelten sollte und die Unabänderlichkeit des für die Eheschließungen aufgestellten Gesetzes vom Jahre 59 bestätigen sollte. Ich wählte diese Dauer von neunundzwanzig Jahren, da ich mir sagte, daß es im Jahre 100 in meiner Rasse keine Zwillingsgeburten mehr geben würde, im übrigen sah ich ein, daß man es zulassen müsse, der ehelichen Liebe Opfer zu bringen. Gott weiß, was daraus werden mag. Meine neuen Geschöpfe waren Riesen, auch in bezug auf Seele und Geist, dazu kam, baß sie über außergewöhnliche Körperkraft verfügten. Ihr einziger Fehler bestand darin, daß sie sich als weit über den zu Zwillingen Geborenen stehend betrachteten. Für ihre Väter hatten sie nur geringe Verehrung, und wirkliche Hochachtung nur vor mir und Elisabeth, als den Begründern der gesamten Rasse. Diese Geschöpfe brauchten viel mehr Nahrung, als die zu Zwillingen Geborenen, man gab sie ihnen jedoch sehr gern.

Es war Mitte Juni des Jahres 72, ich befand mich allein im Park und war angelegentlich damit beschäftigt, den Plan zu einem Wohnhaus daselbst aufzuzeichnen, als ein Gelbbunter sich vor mir auf die Knie warf, indem er mir einen Brief überreichte. Ich fragte ihn, wie er denn in den Park gekommen sei. Er antwortete, daß er ein mit Zinn beladenes Lasttier bei sich habe und dem ihm erteilten Befehl zufolge sagte er aus, ich hätte das bei seinem Herrn bestellt. »Wer ist denn dein Herr?« – »Nachdem Ihr den Brief gelesen habt, mögt Ihr mich über alles befragen,« war seine Antwort. Erstaunt über diese Zurückhaltung, öffnete ich den Brief, der englisch geschrieben und mit »Albert Daniel Alfred, der Christ«, unterzeichnet war. Der Inhalt des Briefes lautete folgendermaßen: »Schreibet mir, hochehrwürdiger Vater, die genaue Zeit, zu welcher Ihr heute allein im Park Eures Palastes weilen werdet, und gebet Euren Wachen Befehl, daß sie zu der von Euch angesetzten Stunde einen Wagen zu Euch hereinlassen, der mit zehn Pferden bespannt und mit zwei großen Koffern beladen sein wird, lasset das Abladen durch die nämlichen fünf Mann besorgen, die den Wagen führen, endlich bitte ich Euch, Lager für Pferde und Mannschaft vorbereiten zu wollen. Ihr werdet von mir selbst persönlich das erfahren, was ich dem Papier nicht anvertrauen kann. Der Buntgefleckte, der Überbringer dieses Briefes ist, wird im rechten Auge eine gelbe, im linken eine jonquillenfarbene Pupille haben. Ich bitte Euch, an den Boten keinerlei Fragen zu richten, lasset ihn sich seiner Bürde entledigen und sendet ihn mit ein paar Antwortzeilen zurück!«

Ich konstatierte, daß seine Pupillen die angegebene Färbung hatten, und forderte ihn auf, mir samt dem Lasttier zu folgen. Alsdann befahl ich ihm, abzusatteln, und zwar in einem Lagerraum, zu dem ich den Schlüssel besaß. Auf ein Stück Papier schrieb ich »vierzehnte Stunde« und sandte damit den Boten zurück. Ich forschte nicht nach, was in dem Sack enthalten sein mochte, aber ich ging sofort zu meiner Frau, um ihr die Sache zu erzählen, denn in meinem ganzen Leben habe ich niemals ein Geheimnis vor meiner Frau gehabt.

Das geheimnisvolle Benehmen Alberts ließ keine Mutmaßungen zu, es erweckte Interesse, das war alles. – Ich erteilte meine Befehle und begab mich zur angesetzten Stunde an den bezeichneten Ort, nur von meiner Frau begleitet. Zehn Minuten darauf sahen wir einen mit zehn Pferden bespannten Wagen langsam auf uns zukommen. Die fünf Megamikren, die neben den Pferden daherschritten, luden die Koffer ab und wir waren nichts weniger als erstaunt, aus einem derselben Albert, aus dem zweiten Kassandra heraussteigen zu sehen. Nachdem sie uns die Hand geküßt hatten, sagten sie, daß es sich darum handele, sie an einem Orte unterzubringen, wo sie vor der Neugierde geschützt seien, und wo ihnen drei Räume zur Verfügung ständen. Ich führte sie in ein kleines möbliertes Haus, das hundert Schritt von hier gelegen war, und zu dem auch eine Stallung gehörte. Da schon alles zur Ruhe gegangen war, konnten wir unbemerkt dorthin gehen, gefolgt von vier Dienern, was mir außergewöhnlich erschien. Zwei Diener waren zurückgeblieben, um auf die Pferde zu achten. Albert bat uns noch um eine halbe Stunde Geduld, damit sie erst ein Bad nehmen könnten. Da alle seine Wünsche mir wichtig waren, zeigte ich ihm die Baderäume, die zu den drei Zimmern gehörten, und wir ergingen uns einstweilen im Gemüsegarten. Kaum war die halbe Stunde verstrichen, so sahen wir zu unserer Überraschung Albert und seine Frau in Begleitung von vier schönen Roten erscheinen. Wir begrüßten sie in der üblichen Art, und er stellte uns zunächst das erste Paar vor. Den Namen, den er dabei nannte, hatten wir noch niemals gehört. Als er uns das zweite Paar vorstellte, sagte er: »Dies ist das Thronfolgerpaar des Lehens, wo unser Stamm lebt!« Ohne weitere Fragen nahmen wir nun alle auf das herzlichste auf. Meine Frau zerstäubte ein wahrhaft königliches Parfüm im Saal und dann fing Albert an zu erzählen, nachdem er erst unsere Erlaubnis dazu eingeholt hatte.

Geschichte des Erblehnsfürsten der Republik.

Bald nach der Ankunft unseres Stamms im Lehen hatte ich einen Artikel über Mathematik in megamikrischer Sprache veröffentlicht, der zum Anlaß wurde, daß die Persönlichkeit, die Ihr hier vor Euch seht, meine Bekanntschaft zu machen wünschte. Es war der Minister der öffentlichen Wasserstraßen im ganzen Lehen. Schon nach kurzer Zeit erkannte ich seine edlen und großen Eigenschaften und schloß mich innig an ihn an. Er schenkte mir seine Freundschaft und nun verbrachten wir ganze Stunden miteinander, tief in unsere geometrischen Probleme vertieft. Eines Tages teilte er mir mit, daß ein Fürst, der gleichermaßen durch seinen Charakter wie durch die Standhaftigkeit, mit der er sein Unglück ertrug, sich auszeichnete, meine Bekanntschaft zu machen wünschte. Er versicherte mir, daß ich selbst viel Freude an dieser Bekanntschaft haben würde, denn der Prinz teilte unsere Leidenschaft für Mathematik. Dann sagte er mir noch, daß es sich hierbei um ein großes Geheimnis handelte und daß die Cristenz des Prinzen selbst verborgen bleiben müßte. Ich schwor ihm tiefste Verschwiegenheit und nun stellte er mir den Prinzen vor. Er ist jetzt mit seinem Unzertrennlichen hier, den er damals noch nicht hatte. Bei ihm verbrachte ich jede Woche nahezu zwanzig Stunden und gab dadurch unserm Stamm soviel Gelegenheit zum Klatschen, dem Statthalter Daniel, unserm guten Vater, jedoch soviel Grund zur Sorge und Beunruhigung.

Als nun der Minister der öffentlichen Wasserstraßen merkte, welch großes Interesse ich dem Prinzen entgegenbrachte, er aber auch genau wußte, daß ich nie nach seiner Geschichte fragen würde, erzählte er mir eines Tages von selbst seine merkwürdigen Schicksale, im Einverständnis mit ihm selbst.

»Dieser liebenswürdige und charaktervolle Fürst, mit dem uns eine so innige Freundschaft und ein so tiefes Interesse für die uns allen so teure Wissenschaft verbindet, ist der Sohn eines regierenden Lehensfürsten der Republik. Er hatte bei seinem Eintritt in die Welt das Unglück, einen Unzertrennlichen mitzubringen, den ein gelber Fleck in der Magengegend zum Bastard stempelte. Einige Tage später hatte auch ich das Unglück, daß von einem Pärchen, mit dem ich beschenkt wurde, das eine sich als Bastard erwies. Ich faßte das aber vielmehr als ein Glück auf, denn ich sagte mir, nun würde mein Roter zum Unzertrennlichen des Prinzen erhoben werden, dem es erst dadurch ermöglicht würde, seinem Vater in der Regierung zu folgen.

Ich war der einzige, der ihm zu einem Unzertrennlichen verhelfen konnte, weil ich gleichfalls als einziger in direkter Linie von dem erlauchten Ahnenpaar abstamme. Dieser Sohn nun, der zur Herrschaft bestimmt war und unsern Prinzen glücklich gemacht hätte, wurde mir durch einen Schlaganfall entrissen. Ich kann Ihnen jetzt nicht mehr über diesen Todesfall sagen, der es mit sich bringt, daß mit dem Tode des regierenden Herzogs das Lehen wieder an die Republik fällt. Wenn ich jünger wäre, würde ich selbst der Erbe sein. Anstatt daß nun der Herzog für seinen armen Roten einen Unzertrennlichen, der gleichfalls mit einem Bastard aus dem Ei geschlüpft wäre, gesucht hätte, um ihn wenigstens zum Erben seiner Allodialgüter zu machen, ließ er alles gehen, wie es ging. Die Hauptsache war ihm, daß er in seiner unseligen Verschwendungssucht nicht gestört würde. Lieber ließ er dem Prinzen seinen natürlichen Bastard mit dem Recht, ihn zu verstoßen und einen beliebigen andern zu wählen. Doch von diesem Vorrecht hat der Prinz niemals Gebrauch gemacht. Er ist ein großer Freund der Wissenschaften und hat selbst seinen Vater gebeten, ihn fern vom Hofe leben zu lassen auf dem Gute, das er ihm geschenkt hat. Noch niemals hat der Prinz Lust empfunden, es zu verlassen. Er fühlt sich hier sehr glücklich und vor allem unabhängig. Die achtzig Edelleute, die seinen Hofstaat bilden, sind lauter Fremde, denen das Geheimnis seiner Geburt vollkommen unbekannt ist. Übrigens bewegen sie sich auch niemals über die Grenzen des Guten hinaus. Ich bin der einzige, der in das Geheimnis eingeweiht ist, und habe Erlaubnis vom Herzog selbst, mit seinem unglücklichen Sohn zu verkehren, den ich wie mein eignes Kind liebe.«

Ich dankte dem Minister, den Ihr gleichfalls hier seht, für sein Vertrauen und empfand die größte Genugtuung, als der Prinz, dem die Offenheit und Wahrheitsliebe auf dem Gesicht geschrieben steht, mir sagte, meine Freundschaft machte ihn wunschlos glücklich.

Es war eine Woche nach eurer Abreise, als ich den Minister tiefbetrübt und in Nachdenken versunken antraf. Ich liebte ihn innig und hätte ihn gern getröstet, doch wagte ich nicht, ihn nach seinem Kummer zu fragen. Ich heuchelte daher eine gleichgültige Miene, die mir oft gar nicht gelingen wollte. In vier bis fünf Tagen, als seine Traurigkeit immer zunahm, kam es so weit, daß wir stundenlang schweigend beieinander sitzen konnten. Sein Herz sagte ihm schließlich, daß es grausam wäre, mich nicht an seinem Kummer teilnehmen zu lassen, und so offenbarte er mir eines Tages das folgende:

»Es ist überflüssig, teurer Albert, Ihnen Stillschweigen über das, was ich Ihnen jetzt enthüllen will, noch eigens anzuempfehlen, denn Sie werden von selbst zu dieser Einsicht kommen. Zwar kennen Sie die Geschichte unseres gemeinsamen Freundes, des Prinzen, doch sind Ihnen die Umstände des Todes meines armen Sohnes noch unbekannt. Doch muß ich Ihnen jetzt alles genau mitteilen, wenn ich Sie in meinen Kummer einweihen soll. Wenige Tage, nachdem der Prinz dem Ei entschlüpft war, wohnte ich mit meinem Unzertrennlichen dem Zerbrechen unserer beiden Eier bei. Zu unserer unbeschreiblichen Freude entdeckten wir ein tadellos rotgefärbtes Kind. Das andere war behaart wie ein Ziegenbock, aber das kümmerte uns wenig, denn der kleine Rote mußte ja der Unzertrennliche des kleinen Prinzen werden und somit einst zur Herrschaft gelangen. Ehe wir zum Herzog gingen, suchten wir den Erzbischof auf, natürlich in Gesellschaft der vom Gesetz vorgeschriebenen Zeugen, die bei Todesstrafe tiefstes Schweigen bewahren mußten. Zu den Rechten des Erzbischofs gehört auch dies, daß er über derartige Verbindungen das alleinige Bestimmungsrecht hat und seiner Entscheidung nicht widersprochen werden darf. Man muß sich daher möglichst beeilen, ihn zu benachrichtigen, denn wer zuerst kommt, hat natürlich den Vorrang. Der Erzbischof selbst benachrichtigt dann die beiden Väter, zwischen deren Kindern die Verbindung geschlossen werden soll. Als wir eintraten, war er gerade im Gespräch mit dem Gesandten der Republik begriffen, doch als er uns mit den Zeugen kommen sah, befahl er ihm, sich ins Nebenzimmer zurückzuziehen. Er entfernte sich auch sofort, doch habe ich leider Grund zu der Annahme, daß er den unberufenen Lauscher gespielt und sich zum Mitwisser unseres Geheimnisses gemacht hat. Urteilen Sie selbst! Wir überreichten dem Erzbischof unsere Erklärung auf zwei von uns unterzeichneten Scheinen, wofür er uns eine Bescheinigung ausstellte. Er überhäufte uns mit Glückwünschen zu dem freudigen Ereignis, und während er uns noch zur Tür begleitete, bemerkte er, daß es auf der ganzen Welt keine Familie gäbe, die uns unsere Rechte streitig machen könnte. ›So ist also‹, rief er mit erhobener Stimme, ›die Republik nun endgültig um die Hoffnung betrogen, daß das Lehen ihr wieder anheimfallen könnte.‹ Dann sagte er noch, daß er selbst dem Herzog die Freudenbotschaft bringen und ihm die glücklichen Eltern vorstellen wollte. Doch sollten wir ihm zuvor den Neugeborenen bringen, damit wir erst feststellen könnten, ob die Reise seiner Gesundheit auch keinerlei Schaden zufügen könnte. Wir waren sehr schlecht beraten, als wir auf seine Wünsche eingingen. Dann gelobten wir uns gegenseitig Schweigen und verließen ihn.

Kurz darauf lieferten wir ihm unsern kleinen Schatz aus. Er sagte, daß der kleine Rote zu unserer Beruhigung dicht an seinem Bett schlafen sollte. Die Stunde der Abreise zum Herzog wollte er uns brieflich mitteilen, er freue sich schon darauf, ihm dies kostbare Geschenk zu überbringen, und zwar sollte das schon in der nächsten Woche geschehen. Wir kehrten ein wenig unzufrieden mit diesem Aufschub nach Hause zurück, doch hüteten wir uns, das den Erzbischof merken zu lassen, denn Sie wissen ja selbst, wie überempfindlich diese Herren sind!

Am Tage darauf begab sich der Erzbischof auf seinen Landsitz und erst fünf Tage später kamen in seinem Auftrag zwei Alfaquins, die uns in einem goldenen Kästchen die Asche unseres Lieblings, unseres Herzens, unserer Seele, unseres Lebens und unserer Hoffnung überbrachten. So war denn das Teuerste, was wir auf Erden besaßen, dahin. Er schrieb uns, daß unser Kind ganz plötzlich am Schlage verschieden sei. Er selbst wäre davon so erschüttert, daß er glaubte, er könnte nicht drei Tage mehr leben. Dies Ereignis war nun das allgemeine Tagesgespräch und der Herzog wollte von mir selbst alle Einzelheiten wissen. Wie er mir sagte, wurde er durch dies Unglück stärker wie alle andern betroffen, denn ich wäre verpflichtet gewesen, den Kleinen ihm und nicht dem Erzbischof zu übergeben. Im weiteren Verlauf seiner grausamen Vorwürfe verbot er mir dann noch, je wieder vor seinem Angesicht zu erscheinen.

Der Erzbischof war, wie alle Welt sagte, untröstlich über diesen Verlust. Er wurde krank und starb vor Kummer, denn er erklärte sich selbst als den einzig Verantwortlichen für dies große Unglück. Aber erst, als er bereits tot war, empfanden wir Mitleid mit ihm. Man sagte, daß er tatsächlich gestorben wäre, weil er sich soviel Vorwürfe machte, denn er durfte den Kleinen keineswegs mit sich auf das Landgut nehmen, sondern er mußte ihn sofort dem Herzog übergeben. Doch ersparte man auch uns die Vorwürfe nicht, man verdammte uns mit erhobener Stimme, daß wir, um uns bei ihm lieb Kind zu machen, den Kleinen ihm übergeben hätten.

Es war dreißig Jahre nach diesem Ereignis, mein teurer Albert, und wir hatten uns schon mit unserem Schicksal abgefunden, da bekam ich einen Brief, in den ein zweiter eingeschlossen war. lesen Sie ihn und sagen Sie selbst, ob ich nicht ein Recht habe, tiefbetrübt zu sein! Derjenige, der ihn mir übersandte, ist ein Notar. Er teilte mir mit, daß kürzlich ein Alfaquin gestorben wäre, dessen gesamte Habe man versteigern mußte, um seine Schulden zu bezahlen. Zwischen seinen Habseligkeiten fand sich der eingeschlossene Brief, der an mich adressiert und mit dem heiligen Wappen gesiegelt war. Er mache sich ein Vergnügen daraus, ihn mir zu übersenden. Ich lese Ihnen den Brief wörtlich vor, er ist von dem Erzbischof unterzeichnet, der angeblich vor Kummer gestorben war: ›Mein Herr! Ich fühle, daß ich sterben muß, denn man hat mich wahrscheinlich vergiftet. Doch kann ich ohne Eure Verzeihung nicht vor Gottes Richterstuhl erscheinen. Vergebt mir, ich flehe Euch an, das abscheuliche Verbrechen, das ich begangen habe! Ich bin ein Feigling und Verräter und habe vor vier Tagen Euer kleines Kind an den Gesandten der Republik verkauft. Euer kleiner Roter ist am Leben, so schwor er mir wenigstens bei seinem Leben. Die Asche, die man Euch sandte, war von einem andern Kind. So schickt denn diese betrügerischen Aschenreste in die Grüfte, wo man das gewöhnliche Volk beizusetzen pflegt!‹

Nicht wahr, nun werden Sie mir meinen Kummer vergeben? Zwar will ein kleines Fünkchen Hoffnung sich in meine Seele schleichen, mein Sohn lebt vielleicht noch. Wenn aber der unselige Erzbischof vom Minister vergiftet worden ist, wie es tatsächlich den Anschein hat, wie sollte er dann wohl mein Söhnchen verschont haben?! Wenn die Republik sich den Anspruch auf das Lehen sichern wollte, dann hatte sie am Tode meines Kindes ein viel größeres Interesse als an dem des Erzbischofs. Es ist wahr, der Henker selbst hat einen Eid darauf geschworen, daß man das Kind eines natürlichen Todes sterben lassen wolle. Aber wer könnte doch an die Schwüre eines Giftmörders glauben? Wir kennen ja die schrecklichen politischen Prinzipien dieser Republik, die jedes Verbrechen gestattet, sofern es nur dem Staate Nutzen bringt. Ja, wenn es einen wirklichen Gewinn für die Republik bedeutet, dann verliert es sogar den Namen des Verbrechens. Der Minister kann sich meines Sohnes nur bemächtigt haben, um der Republik die Rückgabe des Lehens zu sichern. Es ist ganz unwahrscheinlich, daß er ihm um seines Eides willen das Leben geschenkt haben sollte! Aber selbst wenn er noch lebte, was könnte ich tun? Wo mag er sein? An wen könnte ich mich wenden, um das zu erfahren? Soll ich dem Herzog dieses unerhörte Verbrechen anzeigen? Oder soll ich tiefstes Schweigen über alles bewahren? Soll ich zum Minister gehen, der noch hier lebt, und ihn fragen, was aus meinem Sohn geworden ist? Dann würde ich erst recht das Leben meines unglücklichen Sohnes gefährden, wenn er überhaupt noch am leben ist. Dann wäre er durch meine Schuld dem Tode verfallen. Ich fühle ja, ich müßte irgend welche Schritte tun, aber ich möchte sie nachher nicht zu bereuen haben! Können Sie mir nicht einen Rat geben, teurer Albert? Oh, tun Sie es!«

Alle diese meiner eigenen Natur so fremden Ruchlosigkeiten, deren ich bisher kein Wesen für fähig gehalten hätte, entsetzten mich im höchsten Grade. Ich konnte mir nicht denken, daß ich dem Minister sollte irgendeinen Rat geben können. Mein Vater hatte mir einst ein Trauerspiel zu lesen gegeben, darin kamen auch furchtbare Missetaten vor. Doch hatte ich das für dichterische Erfindungen gehalten. Aber was war das im Vergleich zu dem Furchtbaren, das mir mein armer Freund eben berichtet hatte! Nur zu sehr begriff ich seinen entsetzlichen Kummer. Da er mich um Rat gebeten hatte, mußte ich auch einen Rat finden, – wie hätte ich ihn ohne Trost seiner furchtbaren Verzweiflung überlassen können! Ich sagte, daß ich mir zwar nicht denken könnte, daß man seinen Sohn am Leben gelassen hätte. Sollte man aber diesen großen Fehler begangen haben, so müßten wir Mittel und Wege finden, um ihn zu entdecken. Um ihn dann wieder zu bekommen, müßte man allerdings über die Sache das tiefste Schweigen beobachten. Im allgemeinen wäre ich der Meinung, daß die ihm zugegangene Nachricht ihn eher trösten wie betrüben sollte. Auf alle Fälle versprach ich ihm, ernstlich über den Fall nachzudenken. Es gelang mir, ihn durch meine Worte ein wenig zu beruhigen, und dann gingen wir zum Prinzen und beschäftigten uns mit unsern Logarithmen.

Von allen Angehörigen des sechzehnten Stammes hatte mein Onkel Tolomäus, Cäsars siebenter Sohn, mir stets besondere Freundschaft entgegengebracht. Bei ihm hatte ich den ersten Mathematikunterricht genossen und wir waren tiefbetrübt, als wir erfuhren, welche Bestimmungen Ihr über unsere beiden Stämme getroffen hattet, und daß wir also nun für immer scheiden sollten. Ich stand mit diesem mir so teuren Oheim in regstem Briefwechsel und wir teilten uns alles mit, was uns zustieß oder uns bewegte. Wir bedienten uns zu diesem Zwecke einer Geheimschrift, die nur wir beide kannten. Zwar ist ja schließlich jede Geheimschrift zu entziffern, aber immerhin hätten wohl 1000 Gelehrte fünfzig Jahre mit eiserner Beharrlichkeit sich in dies Problem vertiefen müssen, ehe es ihnen gelungen wäre, unsere Geheimschrift zu entziffern.

Ich schrieb also an diesen Oheim, daß der Gesandte der Republik am Hofe seines Herzogs, der schon seit fünfzig Jahren diesen Posten innehatte, dem Rat der Siebzehn einen Roten überantwortet hätte, der, wenn man ihn nicht ermordet hätte, als Staatsgefangener gehalten würde. Da ich annahm, daß der Gesandte ihn erst im Reifealter auf die Reise geschickt haben würde, gab ich ihm diesen Zeitpunkt ungefähr an. Ich sagte ihm dann noch, daß er mir den denkbar größten Dienst erweisen würde, wenn er den Aufenthaltsort dieses gefangenen Megamikren entdecken könnte. Er selbst würde sich dazu beglückwünschen, wenn er erst wüßte, um was es sich hier handelte. Indem ich ihn dann noch bat, sich der gleichen Geheimschrift zu bedienen, schloß ich meine Zeilen.

Er schrieb mir zurück, die Sache wäre allerdings nicht so einfach wie der pythagoreische Lehrsatz. Doch wollte er tun, was er könnte. So lange ich nicht den Namen des Gefangenen zu wissen wünschte, glaubte er immerhin noch an die Möglichkeit, ihn zu entdecken. Seinen Namen jedoch würde er nicht ermitteln können.

Bald darauf erhielt ich einen zweiten Brief von ihm. Er erzählte mir darin, daß der Unzertrennliche des Oberstaatsanwalts sich in einen jungen Riesen verliebt hätte, den er häufig besuchte. Eines Tages, als er ihn dort wußte, sagte er sich gleichfalls dort zum Mittagsessen an und lernte in ihm einen großen Schwätzer kennen. Darauf hätte er ihn dann seinerseits zum Mittag eingeladen, ihm auch einen Besuch mit seinem Neffen gemacht und diesen gebeten, den verliebten Megamikren zu veranlassen, ihn seinem Unzertrennlichen, dem Oberstaatsanwalt, vorzustellen. Dieser höchst fanatische Megamikre schien von der Bekanntschaft meines Onkels Tolomäus sehr befriedigt zu sein, er bildete sich nämlich ein, ein großer Wasserbaumeister zu sein, und dankte seinem Unzertrennlichen wiederholt, daß er ihm die Bekanntschaft eines so berühmten Riesen vermittelt hätte. Im dritten Briefe schrieb mir Tolomäus dann, daß er die Rede auf die Staatsgefangenen gebracht hätte. Bei dieser Gelegenheit erzählte ihm der Staatsanwalt von einem jungen Roten von hervorragender Schönheit, der in einem der festesten Kerker der Republik verborgen gehalten würde. Dieser junge Megamikre kenne nicht einmal seinen eignen Namen, und Gott und Welt, Leben und Tod seien ihm völlig fremde Begriffe. Vor zwanzig Jahren war dieser schöne Gefangene ihm von einem Sekretär der Staatskonservatoren übergeben worden. Alles war höchst geheimnisvoll zugegangen und er wußte nur, daß der Wagen, der ihn nach der Hauptstadt der Republik brachte, von der Hauptstadt des Lehens gekommen war. Der Gefangene wurde von einem verbrecherischen Wärter, der ihm als Amme diente, begleitet. Dieser Wärter bekam geringere Nahrung wie der Gefangene, der gut verpflegt wurde. Von außen hatte er das Gefängnis gesehen, doch hineinzukommen, war eine bare Unmöglichkeit. Übrigens hatte er bei der Einlieferung festgestellt, daß der Gefangene kaum das Reifealter erreicht haben konnte, er hatte das an seinen Brüsten gesehen, die bei einem Roten erst nach einem Jahr, vom Beginn der Säugezeit an gerechnet, weiß werden.

Ich schrieb nun an meinen teuren Oheim, daß seine Weisheit mir tatsächlich durch diese Ermittelungen einen ungeheueren Dienst geleistet hätte. Doch bat ich ihn nun vorsichtshalber, seine Intimität mit dem Oberstaatsanwalt möglichst wieder zu lösen, wie ich ihn auch ersuchte, die Freundschaft zwischen dessen Unzertrennlichem und dem jungen Riesen nach Möglichkeit einzuschränken. Auch diese Wünsche, schrieb ich ihm, lägen mir sehr am Herzen. Ich übertrug nun die Briefe in gewöhnliche Schrift und gab sie dem Minister zu lesen. Er geriet vor Freude fast außer sich und faßte neue Hoffnung. Doch leider befand sich sein anderes Ich zur Zeit gar nicht wohl und das dämpfte seine Freude. Er zeigte mir ein kleines Buch, darin er den Geburtstag seines Sohnes verzeichnet hatte. Dort bewahrte er auch den Schein des verbrecherischen Erzbischofs auf, den ihm dieser bei der Einlieferung ausgestellt hatte. Wir waren fest davon überzeugt, daß wir in dem geheimnisvollen Gefangenen den Sohn des Ministers finden würden. Doch bat ich den mir so teuren Megamikren, nichts zu unternehmen, was ich nicht geraten und gebilligt hätte, denn sonst lief mein ganzer Plan Gefahr, zu scheitern. Meine Schritte durften nur vom Verstande, nicht aber vom Gefühl geleitet werden, die überdies eigentlich immer sich im Widerspruch befinden. Der Minister unterwarf sich willig meiner Führung, da er, wie er sagte, sich keinen besseren Berater wünschen konnte.

Ich brauchte nicht lange Zeit zur Überlegung, sondern schrieb dem Herzog einen kurzen Brief, daß ich ihm eine Sache von größter Wichtigkeit mitzuteilen hätte und ihn daher um eine Unterredung ohne Zeugen bäte. Daraufhin sandte mir der Fürst ein versiegeltes Briefchen, das nur die Worte enthielt: »Morgen, am Tage des Staubes, werde ich um die fünfzehnte Stunde in meinem Fischotterbau an der Schleuse mit den drei Öffnungen sein!« – Dieser Fischotterbau war hundert Klafter tief und bestand aus einem Gemach, von dem die dritte Schleuse das Wasser fernhielt. Vier schwarze Karfunkelsteine leuchteten dort und die Luft trat durch Luftschächte von einem kleinen Hofe des herzoglichen Palastes ein, der jedermann unzugänglich war. Auf diese Weise war ein ganz verborgener und geheimer Schlupfwinkel entstanden. Ich war gerade bei dem Minister und legte die Bescheinigung des Erzbischofs wie auch die Briefe meines Onkels sorgfältig in ein wasserdichtes Kästchen. Dann forderte ich den Minister, dem ich das Briefchen des Herzogs zeigte, auf, mich zu begleiten, obwohl er nicht vor dem Herzog erscheinen durfte. Am nächsten Morgen warfen wir uns bei der Schleuse ganz nackt in die Fluten und fanden den Herzog gleichfalls ganz nackt vor. Sein Geheimpetschaft war mit einer goldenen Kette an seinem Hals befestigt. Er war höchlichst überrascht, mich mit dem Minister erscheinen zu sehen, doch ließ ich ihm gar keine Zeit, etwas zu äußern. Ich erzählte ihm in aller Kürze die ganze Geschichte und legte ihm die Briefe vor. Dann bat ich ihn, mir die nötigen Vollmachten auszustellen und mir die Erlaubnis zu geben, seinen Sohn mit mir zu nehmen. Dieser würde sein Nachfolger auf dem Throne werden, selbst wenn es mir das Leben kosten sollte, und niemals würde irgend jemand erfahren, daß ich mit Wissen des Herzogs gehandelt hätte. Nach einer Viertelstunde hatte sich der Herzog soweit gesammelt, um mir zu antworten. Er sprach: »Ich überlasse Ihnen alles, tun Sie, was Sie für gut halten. Meiner weitestgehenden Unterstützung und tiefsten Dankbarkeit dürfen Sie sich stets versichert halten! Im übrigen müssen Sie in der Hauptstadt der Republik mit allergrößter Vorsicht zu Werke gehen, denn selbst die Kieselsteine haben dort noch Ohren. Sie werden auf Schritt und Tritt von Spionen umgeben sein! Sie wissen, daß ich meinen Sohn niemals besuche, obwohl ich ihn zärtlich liebe und seinen Charakter bewundere. Ich wollte meinen Schmerz nicht immer aufs neue aufwühlen und jetzt muß ich erst recht vermeiden, ihn zu sehen, damit ich nicht etwa Argwohn errege! Sie müssen ihm sagen, daß ich alles weiß, und daß ich Ihnen sein Leben befohlen habe, das mir von dieser Stunde an teurer wie mein eignes ist. Sie, teurer Albert, stehen im Begriff, mir für meine letzten Lebensjahre ein Glück zu verschaffen, wie ich es noch nicht gekannt habe, und ich flehe Gott an, Sie zu behüten, denn wenn Ihr großes Unternehmen mißlänge, so würde ich der Verzweiflung zum Raube fallen. Ich hänge jetzt mein Geheimpetschaft um Ihren Hals. Wenn mein Sohn das sieht, wird er wissen, daß er Ihnen in allen Dingen gehorchen soll. Dies Siegel wird mir die Echtheit und Unverletztheit Ihrer Briefe verbürgen; sein Ebenbild wird wiederum Ihnen das gleiche gewährleisten! Mein teurer Minister, du warst bisher so unglücklich wie ich, komm jetzt und küsse mich!« Mit diesen Worten verabschiedete er sich von uns, indem er auch mich noch umarmte.

Wir weihten nun den Unzertrennlichen des Ministers in das Geheimnis ein und ich machte beiden klar, daß wir in der folgenden Woche, und zwar in Gesellschaft des Prinzen, abreisen müßten. Wenn sie mich nach meinem Plan fragten, wußte ich nicht, was ich sagen sollte, denn ich hatte keinen. Das einzige, was ich bisher beschlossen hatte, war, daß wir unerkannt nach der Hauptstadt der Republik gelangen mußten.

Es ist ja richtig, daß man erst eine Sache überlegen und dann handeln soll. Doch in diesem Falle gab es nur die Möglichkeit, Schritt für Schritt vorwärtszugehen. Nur der Zufall konnte mir zu Hilfe kommen; und wenn ich erst lange zögern wollte, so konnte ich überhaupt nichts erreichen.

Der Prinz, den Ihr hier vor Euch seht, war natürlich äußerst überrascht, als ihm der Minister und ich alle diese ihm bisher noch unbekannten Einzelheiten seines Lebens mitteilten. Er sah uns sprachlos an, aber in seinem Gesicht arbeitete eine mächtige Bewegung.

»Wie,« sagte er, »mein Unzertrennlicher lebt, wie ich selbst lebe, und wir sind nicht zusammen!! Wer sollte uns denn hindern, uns zu vereinigen? Das spricht ja allen Naturgesetzen Hohn! Solange wir nichts voneinander wußten, mochte es noch hingehen. Aber wenn erst der eine von der Existenz des andern unterrichtet ist, dann würde er den Tod einem Leben ohne seinen Unzertrennlichen vorziehen! Ich bete deinen Sohn an,« wandte er sich nun an den Minister, »und ich werde ihn aus der Gefangenschaft befreien und ihn dem Leben zurückgeben. In meinen Armen soll er seines Lebens erst froh werden. Der Riese Albert wird uns helfen und wir werden ihm in allen Stücken gehorsam sein. Wagt er sein Leben, so wollen auch wir das unsre aufs Spiel setzen, und wenn uns das Unternehmen gelingt, dann weiß ich nur zwei Dinge, die ihn entschädigen können. Das eine ist das Bewußtsein, daß wir ihm unser Glück verdanken, das andere, daß wir hinfort in ihm unsern Herrn und Meister sehen werden. Weiter habe ich nichts zu sagen!« –

Hier unterbrach Albert seine Erzählung, um den Prinzen und den Minister um Entschuldigung zu bitten, wenn er seine Worte sowie die ihm gemachten allgemeinen Versprechungen wiederholte. Er gab ihnen die Versicherung, daß er nichts fordere und dessen nur Erwähnung täte, um mir einen Begriff von ihren Tugenden zu geben. Der Prinz bat ihn, mich über alles zu informieren und keinen Umstand zu beleuchten zu vergessen. Jener fuhr deshalb in seinem interessanten Bericht fort.

Der Prinz hatte sich durch seine kleine Ansprache selbst aufs höchste begeistert. »Wir werden somit in vier Tagen abreisen, mein Prinz,« sprach ich zu ihm, »saget mir nur, ob Ihr über erprobte treue Diener verfügt.« – »Seit zweiundzwanzig Jahren«, antwortete er, »habe ich nur den Minister und seinen Unzertrennlichen gesehen, desgleichen meine Diener, mit denen ich stets zufrieden gewesen bin; jedoch habe ich bisher niemals Gelegenheit gehabt, sie auf ihre Treue hin zu erproben. Ich weiß, daß sie gerne bei mir bleiben, ich glaube auch, daß sie mich lieben, sie erwarten mit Recht alles Glück von mir. Ich weiß, daß ich sie alle hierlassen könnte und daß es nicht nötig ist, ihnen die Wahrung eines Geheimnisses erst ausdrücklich zu befehlen. Es genügt vielmehr, wenn ich ihnen sage, sie sollten während der Zeit meiner Abwesenheit zu niemand über meine Person sprechen, ich wollte meine Tage damit verbringen, das mir noch Fremde in der Welt, die Bergwerke, Verbindungen der Flüsse und all die Schönheiten, die ich nur erst vom Hörensagen kenne, in Augenschein zu nehmen. Dabei verstünde es sich natürlich von selbst, daß ich sie bei meiner Heimkehr für ihre Treue belohnen würde. Ich werde mich jedoch hüten, ihnen zu sagen, daß mein Vater von meiner Reise unterrichtet ist, andererseits liegt für mich kein Grund vor, sie durch eine Lüge vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Ihre Religion legt ihnen die Pflicht auf, nichts zu wissen, weder das eine noch das andere. Meine Edelleute, meine Alfaquins, meine Musikanten, Physiker und Geometer vertragen sich ziemlich gut miteinander.« – Ich sagte ihm nunmehr, daß ich nichts weiteres benötige und ihn bäte, sich für mich zu der Stunde bereitzuhalten, die ich ihm in vier bis fünf Tagen angeben würde, denn ich beabsichtigte nicht, mich vor der Abreise nochmals bei ihm sehen zu lassen. Ferner bedeutete ich ihm, daß es nicht nötig sei, daß er sich nochmals zum Minister begäbe, den er im Augenblick der Abreise bei mir finden würde. Mit fester Stimme antwortete er, daß er sich an meine Vorschriften halten werde.

Ich begleitete den Minister nach Hause, nachdem ich sein zweites Ich über alles informiert hatte. Er meinte, daß man ganz ohne Dienerschaft reisen und jener überhaupt keine Veranlassung geben solle, Vermutungen über Ziel und Zweck der Reise anzustellen, damit es vollkommen verborgen bleibe, daß sie mit mir reisten. Der Unzertrennliche antwortete, daß es aller Welt bekannt sei, daß sie Familienangelegenheiten in dem sehr entfernt liegenden Königreich Dreiundzwanzig zu erledigen hätten. Die Ankunft eines falschen Kuriers könnte dazu beitragen, den angestrebten Zweck zu erreichen; sie aber würden ihrem Hausmeister in der harmlosesten Weise sagen, er möge das Hauswesen bis zu ihrer Rückkehr in guter Ordnung halten. Er hielt es für ratsam, mit der Post vor aller Augen abzureisen; nachdem er dann drei oder vier Poststationen gefahren sei, wollte er Pferde kaufen und seinen Wagen bespannen lassen, der ihn dann an den Platz führen sollte, wo ich auf ihn warten würde. Ich stimmte diesem Plane, der mir ausgezeichnet erschien, bei und dann trennten wir uns, nachdem ich ihnen noch gesagt hatte, daß sie tags darauf ein Briefchen erhalten würden, worin ihnen schriftlich Tag, Ort und Stunde des Treffpunktes bezeichnet werden sollte.

Zuerst begab ich mich nunmehr in das kleine Haus, das mir mein Vater überlassen hatte und in dem ich niemals irgendwelchen Besuch empfing. Ich bewahrte daselbst meine mathematischen Werkzeuge, meine Bücher und Manuskripte auf und hatte dort auch eine kleine Druckerei. Ich hatte zwei buntgefleckte Diener, deren Zuverlässigkeit ich wiederholt erprobt hatte; derjenige, den ich Euch an der Färbung der Pupillen bezeichnete, war einer davon. – Ich ließ zwei Kisten von sechseinhalb Fuß Länge bauen. Diese Kisten waren in der Mitte geteilt und bildeten so zwei Räume, wovon der eine für meine Frau, der andere für mich vorgesehen war. Für diejenigen, welche die Kisten öffneten, erweckte es den Anschein, als seien dieselben mit Papieren angefüllt. Ferner waren in diesen Kisten rechts und links Nischen eingebaut, in denen ich meine Nahrung, meine Pistolen, Munition, meine Wäsche, mein Geld und meine Papiere mit allem nötigen Schreibzeug unterbringen konnte. Schließlich waren vier Luftschächte und ein notwendiger Ausgang in diesen Wohnkisten vorgesehen. Ich schrieb meinem Vater, er möge bis zu meiner Rückkehr auf meine Familie Obacht geben; hierbei hatte ich mich jedoch darüber vergewissert, daß mein Brief erst nach meiner Abreise eintreffen würde. Ich lieh mir Geld, sowie für eine große Summe Diamanten von einem meiner Vettern, ohne ihm natürlich etwas von meinem Geheimnis zu verraten, denn dies ist das einzige Mittel, sich seines Schweigens zu versichern. Ich schrieb in unsrer Geheimschrift an meinen getreuen Tolomäus, er möge mir ein Haus bezeichnen, das an einem Wege läge, wo ein mit zehn Pferden bespannter, mit zwei Kisten beladener und von fünf Dienern gefolgter Wagen ungesehen in der fünfzehnten Stunde passieren könnte; in dem Hause müßte Stallung und Raum für drei Herrschaften sein. Ich bat ihn, mir die Antwort durch die Post der meinem Wege am nächsten gelegenen Hauptstadt zu senden. Diesen Brief schickte ich per Post, ein Duplikat davon auf einem anderen Wege. Dann kaufte ich zehn Pferde und schrieb an den Prinzen, er möge allein zum Schwimmen an der Stelle ans Ufer kommen, wo er das Gerüst einer blauen Mühle In einer Höhe von ungefähr acht Fuß erblicke, dies alles zu einer Stunde, die ich ihm bezeichnete. Ebenso verfuhr ich mit dem Herrn Minister, der, da er im Wagen saß, uns schwimmend nicht hätte einholen können. Ich bezeichnete ihm Ort und Stunde, wo er ein Ruderboot ohne Bemannung vorfinden werde. Durch einen kleinen Kanal würde er an unseren Garten gelangen können, wo ich mich aufhielt. In die beiden Kisten tat ich alsdann Blei, entsprechend dem Gewicht meiner Frau und dem meinigen, und sandte diese Kisten nunmehr aufs Zollamt. Hier öffnete man sie, sah nichts als Papier und schloß sie wieder zu. Dann versiegelte man sie, wog sie ab und stellte eine entsprechende Beglaubigung darüber aus. Nachdem nun die Kisten vom Zoll zurückgekommen waren, öffnete ich erst seitwärts die eine und ließ Kassandra eintreten, dann die andere, in die ich mich selbst einschließen ließ, nachdem ich zuvor die drei adelgeborenen Persönlichkeiten durch verschiedenfarbige Lacke in Buntgescheckte umgewandelt hatte. Dies war so vorzüglich gelungen, daß sogar die zwei Diener es erst auf der ersten Raststation bemerkten. Als wir dann aus der Stadt heraus waren, verließen die drei Maskierten den Wagen, was den wachsamen Dienern gefährlich erschien; als sie aber bemerkten, daß die Betreffenden angemalt waren, beruhigten sie sich. Ich konnte mich also auf ihre Verschwiegenheit verlassen.

Nach vierzehn Tagen erreichten wir die Grenze des Lehens, denn wir kamen nur in kleinen Tagereisen vorwärts und mußten immer die gleichen Pferde benutzen. Wir rasteten ausschließlich in ländlichen Gehöften, wo wir eine zehnstündige Ruhepause machten. Ich konnte mit Vergnügen konstatieren, daß Kassandra sich ebenso wohl befand wie ich und der Aufenthalt in der Kiste uns in keiner Weise unbequem wurde. Wir schliefen darin fast ebenso gut wie in unseren Betten und hatten sie durch doppelte Kissen aus Flachs ausgepolstert.

An der Grenze des Lehens wurden die versiegelten Kisten respektiert, an der Grenze der Republik dagegen wurden sie geöffnet und gewogen. Der Herr Minister verfuhr gnädig mit jenen Leuten und nachdem er angeordnet hatte, daß neue Siegel angebracht wurden, fertigte er uns ziemlich schnell ab, da ja kein Grund zum Argwohn vorlag. Das beste Mittel, sich die Zollbeamten geneigt zu machen, ist, daß man den größten Respekt vor ihnen zur Schau trägt. Ist man ihnen gegenüber jedoch hochfahrend und impertinent, so tun sie ihr möglichstes, um den Reisenden zu schikanieren.

Am achtzehnten Tage kamen wir in der Stadt an, wo wir im Postbureau den Brief des Tolomäus vorfinden sollten. Diese Stadt lag zwanzig Meilen von der Hauptstadt entfernt. Bei einem Bauernhause hielten wir an. Es war zwei Ortschaften vor dem betreffenden Platze gelegen. Der Herr Minister begab sich in Begleitung eines Buntgefleckten dorthin und brachte mir den Brief. Tolomäus schrieb mir, daß er alle Tage einen Diener an das Tor schicken werde, durch das ich kommen würde, auf diese Weise wäre ich sicher, ihn zu treffen. Ich hatte alle Signalements gegeben und er versicherte mir, daß er den Wagen an den bestimmten Ort führen werde, ich brauche mich um nichts zu kümmern, sondern mich nur führen lassen. Ferner bekundete er, daß ich ihn selbst dort vorfinden werde und er meinen zweiten Brief auch erhalten habe.

Da wir durch den Übergang über einen Fluß ungefähr eine Stunde verlieren würden, so fuhren wir um fünf Uhr ab und kamen dadurch zur bestimmten Zeit in der Hauptstadt an. Nach Abfertigung im Zollamt setzte unser Wagen seinen Weg fort. Kaum hatten wir hundert Schritt zurückgelegt, als ein gelber Megamikre – es war der, den Tolomäus gesandt hatte – dem Prinzen im Übermut eine Ohrfeige gab mit den Worten: »Kamerad, du brauchst mir nur zu folgen und ich versichere dir, du wirst trotz der späten Stunde mit mir zu Abend essen!« Der Prinz war über diese drastische Art, seine Zuneigung zu bezeigen, zwar etwas erstaunt; als er aber die Sache begriff, lachte er, und wenn er später daran zurückdachte, amüsierte es ihn stets von neuem. Der Wagen folgte nunmehr dem Führer, der aus einer anderen Pforte der Stadt gekommen war und nach siebzehn Stunden bei einem kleinen Hause anhielt, dessen Tür man nach unserem Eintreten vorerst verschloß. Der Herr Minister gab mir daselbst zuerst das Zeichen, daß er Tolomäus bemerke. Ich öffnete nunmehr mein Gefängnis und er war mir beim Heraussteigen behilflich. Wir umarmten uns, bevor ich jedoch ein Wort sprach, öffnete ich die Kiste, in der sich meine Frau befand, die Tolomäus alsdann in die Arme schloß.

Währenddessen trugen meine Buntgescheckten und der Gelbe dafür Sorge, daß der Wagen in der Remise und die Pferde im Stall untergebracht würden; mein Onkel aber lud uns ein, ins Haus zu kommen.

Als er sah, daß meine angeblichen Diener Miene machten, uns zu folgen, sagte er in englischer Sprache zu mir, ich möge ihnen befehlen, oben zu bleiben. Ich rief die Diener zusammen und sagte meinem Onkel, daß es Rote seien und einer von ihnen der erbberechtigte Prinz des Republiklehens wäre. Nachdem jener ein Bad genommen, überzeugte sich mein Onkel von der Wahrheit dieser Behauptung und ich stellte ihm nunmehr die anderen, bereits demaskierten Personen mit Namen vor. Ein vorzüglich erfrischender Wohlgeruch stärkte uns derart, daß wir, ohne Ermüdung zu spüren, unsere ganze Geschichte erzählen konnten, die ich fest und klar mit den Worten schloß, daß es unsere Absicht sei, den hochgeborenen Gefangenen aus der grausamen Tyrannei zu befreien, die ihn eingeschlossen hielt, und daß der Grund für unsere Vorsicht einzig darin zu suchen sei, daß wir alles vermeiden wollten, was unsere Freunde irgendwie hätte in Gefahr bringen können. Aus diesem Grunde hätten wir auch bei unserem Wege durch die Republik aufs peinlichste alles vermieden, was ein Mißlingen dieses großen Unternehmens hätte veranlassen können.

Tolomäus sagte, daß die Sache ihn äußerst interessiere und von seiner Seite alles geschehen würde, was uns unser Vorhaben erleichtern könnte. Vor allem sei es äußerst wichtig, daß wir uns versteckt hielten, was an dem Orte, wohin er uns zu führen gedenke, leicht ausführbar sei. Er sagte uns, daß der hochwürdige Statthalter von Euch selbst den Befehl erhalten habe, mir behilflich zu sein, wenn ich durch seinen Ort kommen sollte; ich hatte also nichts zu befürchten. Tags darauf gingen wir mit einer Barke über den Fluß; die Ruderer waren unsere eigenen Diener und Tolomäus bezeichnete uns den Ort, wo der vornehme Gefangene untergebracht sein sollte. Wir stiegen fünfzig Schritt zu dem Gefängnis herunter, und da es bereits zu vorgeschrittener Stunde war, so kehrten wir mit unseren vornehmen Buntgescheckten zu Fuß nach Hause zurück; auf diese Weise lernten wir endlich den Weg kennen. Dies war auch notwendig.

Als wir zu Hause saßen, sagte er mir, daß zufolge meines weisen Rates die intime Freundschaft mit dem Oberstaatsanwalt recht frostig geworden sei. Dieser Megamikre, meinte er, sei der Hüter aller Staatsgefangenen der Republik. Er war für sie verantwortlich, bekümmerte sich aber nicht um sie, da es seit einer beträchtlichen Zahl von Jahrhunderten niemals vorgekommen war, daß ein Gefangener aus seiner Haft entwichen war. Hieraus zog der Oberstaatsanwalt den Schluß, daß dies überhaupt eine Unmöglichkeit sei. Tolomäus sagte mir, daß er, um ihn überhaupt aus seiner Reserve herauszubringen, die gegenteilige Ansicht vertreten habe. Hierdurch aufgestachelt, hatte der Oberstaatsanwalt, um ihn von seiner Meinung zu überzeugen, Tolomäus in sein Boot genommen und sie waren an jene Stelle gefahren, von wo aus er ihm den Ort zeigen konnte, an dem die wichtigsten Gefangenen untergebracht waren. Bei dieser Gelegenheit gab er ihm auch eine ausführliche Beschreibung der inneren Einrichtung dieser Gefängnisse. Es war ein viereckiges Erdgeschoß, bestehend aus drei Stockwerken, deren jedes sechzehn viereckige Verließe von zwei Fuß Höhe enthielt. Alle waren voneinander getrennt, vier Fuß breit und ebenso lang. Die Verließe waren durch eine kleine Phosphorlaterne erhellt, mit Ausnahme derjenigen, die sich im obersten Stockwerk befanden und in die das Tageslicht durch eine kleine vergitterte Öffnung fiel. Der Fußboden jedes Stockwerks war zwei Fuß dick und bestand aus Ziegeln, die mit Hanf verbunden waren. Die vier Zellen in der Mitte des Karrees waren von einer zwei Fuß hohen Galerie umgeben, welche mit den Türen sämtlicher sechzehn Zellen in Verbindung stand. Diese Galerie war in Kreuzgänge geteilt, deren jeder sechsundzwanzig Fuß lang war, die Mauer der Gefängnisse aber war einen Fuß stark. An der Vorderseite jeder Zelle befand sich ein zwei Fuß breites vergittertes Fenster von einem Fuß Höhe, demnach mußten die vier mittleren Zellen je vier haben. Die vier an den Enden des Vierecks gelegenen Zellen hatten nur zwei Fenster, die acht andern mußten endlich drei Fenster haben, da ihre vierte Wand auf den Gang mündete, der sämtliche Zellen einschloß. Die vier Eckzellen hatten nur zwei Fenster, weil nur zwei ihrer Wände auf die Galerie mündeten, die beiden anderen stießen an den Laufgang. Die Front dieses Vierecks lag längs des Flusses. Die andere Seite hatte eine kleine Tür, die auf einen zwanzig Fuß breiten Hof mündete, der alle drei Seiten des Vierecks umschloß. Zu diesem Hofe gelangte man durch eine kleine Tür am untersten Ende der Stadtboulevards und jedermann, der durch diese Straße ging, konnte die Tür sehen, doch wagte niemand, sie näher in Augenschein zu nehmen, denn zwölf mit Hellebarden bewaffnete Megamikren bewachten sie Tag und Nacht und wurden zu zweit alle Stunden abgelöst.

Der Sohn des Ministers, den Ihr hier seht, befindet sich in dem linken Eckgefängnis, demjenigen also, welches auf den Fluß zu liegt und im tiefsten Teil des Gebäudes, nämlich im dritten Stockwerk, untergebracht ist. Tolomäus zeigte sich nunmehr dem Oberstaatsanwalt gegenüber davon überzeugt, daß dieses Gefängnis unzugänglich sei, falls sich nicht noch ein anderes Stockmerk darunter befände. Man antwortete ihm, daß dies nicht der Fall wäre, und da die ganze Erzählung so eingehend an Ort und Stelle geschehen war, man sich außerdem im Kahn dem Gefängnisblock gegenüber befunden hatte, so glaubte Tolomäus sicher zu sein, daß er den Ort nicht vergessen hätte und die Stelle bestimmt wiederfinden würde. Der Wall, von dem aus man den Gefängnishof sehen konnte, wurde von einem Posten bewacht, der niemand vorbeiließ.

Das ganze Heer der Wachen bestand aus 216 Bastarden sämtlicher Farben. Es war eine der 24 Kompanien, die zusammen immer eins der 5 Regimenter der Republik bildeten. Diese Regimenter aus 5424 Infanteristen standen unter dem Befehl eines Generals, dem 24 Obersten unterstellt waren. Von diesen hatte wieder jeder 6 Hauptleute unter sich, die ihrerseits ihre Befehle an je 3 Leutnants erteilten. Sämtliche Offiziere dieser 5 Regimenter waren Bastarde; den Edlen erschien der Dienst als ihrer Würde nicht angemessen.

Die vier anderen Regimenter, die die Republik unterhielt, standen in Garnisonen an den vier Grenzen des Reiches. Diese Regimenter waren dazu berufen, Gewalt vor Recht zu setzen, was sie Souveränität nannten. Hierdurch unterschieden sie sich von den anderen Herrschern, die sich im Falle von Rechtsstreitigkeiten an fünfzehn Richter wenden, von denen jeder einer unparteiischen Macht unterstellt war. Sie sagten, daß die Klugheit es nicht zuließe, das als vollkommen legitim erkannte Recht der Unsicherheit eines Urteils auszusetzen, das, wenngleich von gelehrten rechtschaffenen und unparteiischen Richtern gefällt, dennoch unrichtig sein könnte. Die Republik war durch den Widerstand, den sie dem heiligen Stuhle von Heliopalu leistete, schon längst in den Bann getan worden. Das aber focht sie wenig an und ihr Erzbischof war gar nicht böse darüber, daß er dadurch in Religionsangelegenheiten freie Hand behielt. Sie hatte sehr erfinderische und geschickte Theologen eingesetzt, die jedesmal, wenn die Republik es verlangte, den Beweis für die Richtigkeit ihrer Meinung durchzuführen verstehen, auch wenn diese Meinung derjenigen des Hofes von Heliopalu widersprechen sollte.

Aus all diesem werdet Ihr ersehen können, daß die Republik das Gesprächsthema der ganzen Welt bildete, und man gern gesehen hätte, sie wäre monarchistisch geworden. Es fehlte nicht an Bürgern alter, ehrgeiziger und reicher Familien, die sich gern die souveräne Macht angeeignet hätten, die Regierung hielt sie jedoch von allen öffentlichen Ämtern fern, die sie vielleicht für ihre Zwecke hätten mißbrauchen können, und bewachte ihre Schritte aufs sorgsamste. Der Oberstaatsanwalt, der ein böser und unwissender Despot dieses Prinzips war, unterhielt sich mit meinem Onkel Tolomäus über Politik, um ihn glauben zu machen, daß er ein tiefer Denker sei. Eines Tages fragte ihn dieser mit den äußerlichen Zeichen großer Ehrerbietung, weshalb die Republik nicht lieber alle Staatsgefangenen sterben ließe, anstatt sich die Mühe aufzuladen, immer an sie denken zu müssen, indem man sie leben ließe. »Was sagt Ihr da,« meinte der Oberstaatsanwalt, »die Regierung ist die Milde selbst, die wird niemals die Kinder der Sonne zum Tode verurteilen, solange es Gott nicht selbst befiehlt. Die Gefängnisse sind Einrichtungen des Mitleids, der Barmherzigkeit und Milde!« –

»Wenn Ihr jenen Roten, der seinen Namen nicht kennt, seht, was sagt Ihr ihm,« fragte ihn mein Onkel, »und was sagt er Euch!« – »Nichts,« antwortete der Oberstaatsanwalt, »denn ich habe mich mit meinem Eide verpflichtet, dem Befehl der Konservatoren zu gehorchen. Es steht Todesstrafe darauf, den Gefangenen zum Sprechen zu veranlassen oder ihn anzureden. Ich darf niemandem sagen, daß ich einen Gefangenen wie diesen habe.« »Mein Herr,« sagte mein Onkel, »für diesen Posten ist ein Mann von ganz besonderer Klugheit erforderlich, und ich sehe daraus, daß die Regierung ihre Leute sehr gut kennt und nur solche in ihren Dienst stellt, die wirklich dazu geeignet erscheinen.«

»Sie machen mir Komplimente,« erwiderte der Oberstaatsanwalt, »ich tue nur meine Pflicht, bin sehr gewissenhaft und korrekt; im übrigen können Sie davon überzeugt sein, daß von meiner Seite alles geschieht, um den Gefangenen ihr Los zu erleichtern. Alljährlich sehe ich einmal nach meinem roten Namenlosen, um beim Schatzmeister den Schwur ablegen zu können, daß ich ihn lebend vorgefunden hätte. Der Schatzmeister gibt mir dann das Geld, das ich zur Beschaffung von Nahrung für den Gefangenen brauche. Der einzige, dem es erlaubt ist, mit dem Gefangenen zu sprechen, ist der Sekretär der Konservatoren; dieser begleitet mich alle vier Jahre, um den Gefangenen zu sehen, er fragt ihn dann, ob es ihm auch an nichts fehle, ob sein Wärter, der ein taubstummer Bastard ist, freundlich zu ihm sei usw., aber der junge Rote ist so dumm, daß er ihm keine Antwort gibt.« Diese Unterhaltung meines Onkels mit dem Oberstaatsanwalt bot allerlei Fingerzeuge für den Plan, den ich ihm dann acht Tage nach unserer Ankunft mitteilte und der von Erfolg gekrönt war.


Mein Enkel Albert fuhr also in seiner Erzählung fort.

Wie ich so in der Umgebung und in der Nähe des Gefängnisses umherstreifte, bemerkte ich ein alleinstehendes kleines Haus, vierzig bis fünfzig Schritt vom Bollwerk entfernt. In dieses Häuschen sah ich einen Buntgescheckten mit einem anscheinend ziemlich schweren Rucksack und zwei Schuhen in der Hand eintreten. Ich nahm an, daß es ein Schuhmacher sei. Zu meinem Gefährten sagte ich, daß, wenn es mir möglich würde, in den Besitz des Häuschens, das nur klein und billig sein konnte, zu gelangen, ich alle Hoffnung hätte, meinen Plan zur Befreiung des Gefangenen zur Ausführung zu bringen. Zuerst mußte man demnach den Buntgescheckten unter irgendeinem plausiblen Vorwand aufsuchen, um ein Bild vom Innern des Hauses und seiner vermutlichen Tiefe zu bekommen, vor allem jedoch um zu erfahren, wem es gehörte und welche Schritte für den Ankauf zu unternehmen wären. Es war der Herr Minister, der diese Aufgabe übernehmen wollte und sich mit dem Prinzen, nachdem sie gut angemalt worden waren, zu dem Bewohner des Häuschens begab, der tatsächlich ein armer Schuster war und dort mit seinem Unzertrennlichen, sowie zwei anderen Bunten, die als seine Gehilfen arbeiteten, lebte. Beim ersten Besuch kauften sie gewöhnliche Schuhe und bestellten zwei weitere Paar, die der Schuhmacher in acht Tagen liefern sollte. Während der letztere dem Prinzen und dem Unzertrennlichen des Ministers Maß nahm, forderte der Unzertrennliche des Schuhmachers den Minister auf, sein hübsches Haus zu besichtigen. Es hatte vier Klafter Tiefe und besaß drei Stockwerke, deren oberstes siebeneinhalb Fuß hoch war und natürliches Tageslicht hatte. Eine sehr dünne asphaltierte Decke trennte es von der dritten Etage. Die beiden unten gelegenen Stockwerke waren durch phosphorierende Leuchter erhellt, die man hinaustrug, wenn man zur Ruhezeit vollkommene Finsternis haben wollte. Die völlige Dunkelheit bedeutet für die Megamikren, besonders die Handwerker unter ihnen, das köstlichste Wohlsein. Ohne daß der Unzertrennliche des Schuhmachers besonders gefragt zu werden brauchte, erzählte er, daß das Haus ihnen gehöre, und daß sie reich wären, wenn der Edle, ihr Vater, dessen Namen er ebenfalls nannte, nicht drei rote Paare gehabt hätte, die ihm viel Geld kosteten, sehr ehrgeizig waren und sie natürlich nicht leiden mochten; deshalb hatten sie auch ihren Vater davon zurückgehalten, daß er ihnen etwas Gutes zukommen ließ.

Dies war also das Ergebnis des ersten Besuches. Am übernächsten Tage, als er die schon fertigen Schuhe abzuholen kam, äußerte er, daß ein ähnliches Haus wie dieses ihm sehr passen würde. Er sei nämlich Optiker und zur Ausübung dieses Handwerks brauche er einen taghellen Raum, um darin seine Gläser zu putzen. Der Schuhmacher meinte darauf, daß das Haus nicht teuer wäre, er habe es bei der Versteigerung für 600 Unzen erworben und sei bereit, es ihm gegen Zahlung dieser Summe zu überlassen. Der Minister erwiderte darauf, daß ein Hausankauf nicht so ohne weiteres vollzogen werden könne; man müsse in solchem Falle erst die Verkaufsvollmachten prüfen und sich vergewissern, ob der Verkäufer auch keine Hypotheken auf das Grundstück aufgenommen habe. Er sagte dies in geschäftsmäßig frostigem Tone, der Schuhmacher aber antwortete eifrig, daß er ihm die Urkunden zeigen wolle und daß er, bei der Gnade der Sonne, niemandem etwas schuldig sei. Wenn er zum Verkauf bereit sei, so geschähe das nur seinem Unzertrennlichen zuliebe, der gerne auf dem Lande wohnen möchte. Der Minister verhielt sich nachdenklich. Er antwortete nichts, sondern nahm das eine Paar Schuhe und ging mit dem Bemerken fort, daß er das andere Paar morgen holen werde. Tags darauf, als er wieder beim Schuhmacher war, zeigte dieser ihm die Urkunden und die notarielle Bestätigung, daß das Haus schuldenfrei wäre. Der Minister sagte nun, daß er das Haus samt der Einrichtung kaufen und mit dem Notar sprechen wolle. Der Schuhmacher erklärte sich bereit, ihm auch die Möbel abzulassen, und die Kaufangelegenheit wurde schon in den ersten Tagen der folgenden Woche erledigt. Er zahlte dem Schuhmacher in Gegenwart des Notars 820 Unzen und wurde unter einem gewöhnlichen Namen Besitzer des Hauses. Wie es im Kontrakt vorgesehen war, verließ der Schuhmacher das Haus am letzten Tage der Woche, um aufs Land zu ziehen.

Nachdem ich nun Herr des Hauses war, erforschte ich vor allem, ob tiefunterkellerte Gebäude zwischen dem Häuschen und dem Flußufer, auf das die Gefängnisse mündeten, lägen; ich konnte mich leicht davon überzeugen, daß dies nicht der Fall war. In zweiter Linie mußte ich mir über die Richtung und Entfernung Klarheit verschaffen, um danach die Länge des Verbindungsganges bestimmen zu können. Mein Haus war nur eine gute Diagonale von dem Gefängnis-Bollwerk entfernt; es kam also darauf an, den Bau mit größter Genauigkeit durchzuführen, um auch tatsächlich dahin zu kommen, wo ich hinwollte. Die hohen Wälle der Stadt und die große Menge der Beobachter hinderte mich, meine Maßnahmen auf gewöhnlichem Wege zu treffen. Ich sah mich deshalb zu einer List gezwungen.

Jeden dritten Tag des neuen Monats begeht das Volk mit allerlei Spielen; unter anderem war das Vogelspiel beliebt, das folgendermaßen vor sich ging: Man pflanzte am Ufer des Flusses eine Stange auf, an deren Spitze man einen Vogel mittels einer Schnur von ein Fuß Länge befestigte, jedoch so, daß ihm genügend Bewegungsfreiheit blieb, daß er ständig hin- und herflattern konnte. Vom andern Ufer des Flusses schossen Megamikren, die sich für geschickte Schützen hielten, Pfeile auf ihn ab. Der Besitzer der Stange und des Vogels, der das Spiel veranstaltete, mußte beide an denjenigen abgeben, dem es gelang, den Vogel zu treffen. Wer sich an dem Spiel beteiligen wollte, mußte eine kleine Münze zahlen. Oft kam es vor, daß der ganze Tag verging, ohne daß einer den Vogel getroffen hatte, dann kehrte der Besitzer vergnügt und mit seiner Tageseinnahme zufrieden heim; aber es geschah bisweilen auch, daß man seinen Vogel gleich zu Beginn des Spieles traf. Dann war er gezwungen, seinen Platz dem Sieger zu überlassen und mußte unter dem Gespött des Volkes abziehen. Der Sieger mußte nun seinerseits das Spiel für die anderen Schützen weitergehen lassen. Ich sagte also zu meinem getreuen Buntgescheckten, er müsse zum Festspiel des dritten Tages gehen; dazu würde ich ihm eine riesige Stange und einen prächtigen Vogel schenken. Er war hocherfreut und dankbar, daß ich ihm zu diesem Vergnügen verhelfen wolle.

Hierauf ließ ich mich von meinem Buntgescheckten und seinem Unzertrennlichen im Kahn spazieren rudern. Nach einiger Zeit stieg ich dort ans Land, wo ich das erstemal in Gesellschaft von Tolomäus gewesen war, und überzeugte mich davon, wieviel Fuß der Gefängnishof von diesem Platze entfernt war. Nachdem ich dies genau wußte, kehrte ich mit meinem Kahn nach Hause zurück. Ich sagte dem Prinzen, daß ich mich auf ihn allein verlassen müßte, wenn es gälte, eine Maßnahme zu treffen. Alsdann berichtete ich ihm, daß ich von dem Platze aus, wo ich das Boot verließ, bis an die Grenze des Gefängnishofes 42 Fuß gemessen hätte, und daß nach Aussage des Staatsanwalts zu Tolomäus der Gefängnishof 20 Fuß Breite haben sollte, während die Gänge 2 Fuß maßen. Hieraus war zu schließen, daß unser Gefangener 90 Fuß von dem Orte, an dem ich ausgestiegen war, entfernt sein mußte, d.h. also 42 Fuß bis zum Hof, 20 Fuß Hofraum, 2 Fuß Laufgang oder Gefängnisgalerie, endlich 26 Fuß Gefängnisse. Da der Oberstaatsanwalt ihm gesagt hatte, daß der Gefangene in der Eckzelle der gegenüberliegenden Seite eingekerkert sei, so ergab sich das genaue Maß von 90 Fuß. Es erschien mir nunmehr erforderlich, daß das, was ich mit eigenen Augen bemessen hatte, vom Fluß aus nochmals kontrolliert würde. Hierzu war der Prinz als Megamikre und Geometer trefflich geeignet und ich konnte mich auf ihn verlassen. Um der Gefahr einer Beobachtung zu entgehen, mußte diese Messung mittels Meßstab unter Wasser vorgenommen werden. Am folgenden Tage gingen wir an diese Arbeit. Nachdem der Prinz an jener Stelle, wo man an den Fluß herankommen konnte, untergetaucht war, sah ich ihn nach kurzer Zeit schwimmend an jener Stelle auftauchen, an die ich mit meinem Kahn gerudert und die 90 Fuß entfernt war. Der Prinz hielt die Hand gegen das Flußufer und sagte: »Diese Hand bildet die Senkrechte zu dem Grad von 90 Fuß, darauf könnt Ihr Euch verlassen!« – Ich begab mich darauf an den bezeichneten Ort und grub ein so großes Loch, daß ich es mit Sicherheit am andern Tage wiederfinden mußte. Am selben Tage ließ ich durch meine Buntgefleckten Stangen suchen, von denen ich dann eine sehr hohe und gerade auswählte. Sie hatte 42 Fuß Höhe und ich machte mir daran ein Zeichen in der Höhe von 2 Fuß; desgleichen am unteren Ende der Stange. In diesem Abstand sollte sie in den Erdboden gerammt werden. Ich rief meinen Buntgefleckten, zeigte ihm die Stange und gab ihm an, bis zu welcher Tiefe sie eingepflanzt werden sollte, wobei ich ihn anwies, darauf zu achten, daß das Maß genau eingehalten werde. Ich begab mich selbst mit ihm an den Platz am Ufer und zeigte ihm das Loch, das ich gegraben hatte. Alsdann gab ich ihm zu verstehen, daß die Stange auf dem Platz am Ufer, vollkommen senkrecht zu jenem Loche, aufgepflanzt werden sollte. Er versprach, sich genau nach meinen Vorschriften zu richten und tags darauf wurde die Stange errichtet. Er begann diese Arbeit in der ersten Tagesstunde. Der Prinz nahm sie in Augenschein und bestätigte mir, daß die Stange vollkommen senkrecht zu dem Loche errichtet worden sei.

Jetzt begab ich mich zu meinem Häuschen und machte mir im Keller senkrecht ein Zeichen, von wo aus ich den Gang anlegen wollte. Als ich mich lang auf die Erde legte, konnte ich von dieser Stelle aus die Spitze der am Flußufer aufgepflanzten Stange erkennen. In geringem Abstande von mir hatte ich eine zweite, kleinere Stange errichtet, die sich genau auf der Linie zwischen meinem Auge und der großen Stange erhob. Ich erhob mich alsdann vom Boden und stellte fest, daß die kleine Stange genau 42 Fuß von meinem Beobachtungspunkte entfernt stand. Die Höhe dieser Stange betrug 8 Fuß, wurde also von der großen um 40 Fuß überragt. Hiernach bestimmte ich die Länge meines bedeckten Ganges auf 110 Fuß, wo ich sicher zu sein glaubte, an das Flußufer zu stoßen. Ich nahm das Maß von 110 Fuß, weil ich nicht an das ausgemauerte Flußufer stoßen, sondern mich unter dasselbe hindurch zu dem Gefängnis durcharbeiten wollte, um durch den Fußboden hineinzugelangen. Der Fußboden lag 10 Fuß tiefer als der Erdboden, ich begann deshalb meinen Gang zu 17 Fuß Tiefe auszubauen, um aufrecht darin gehen zu können. Selbst für den Fall, daß ich meinen Gang in einer Tiefe von 10 Klafter begonnen hätte, wäre ich doch sicher gewesen, die Richtung nicht zu verlieren; nichts ist bei den Megamikren so gut ausgebildet, wie der Sinn für Geometrie. Für unser Werk war Geduld und Genauigkeit erforderlich, deshalb machten wir uns gleich an die Arbeit.

Vor unserer Tür standen zwei Wagen mit je vier Pferden und unsere Buntgescheckten hatten die Aufgabe, die ausgeschachtete Erde fortzufahren, um sie auf die benachbarten Felder zu verstreuen. Wir verfügten über vier Buntgefleckte, zur persönlichen Hilfeleistung ließen wir jedoch nur den Gelben zu, für dessen Treue Tolomäus sich verbürgt hatte. Für die Ausschachtung waren wir nur vier Mann, denn meine Frau befand sich bereits in vorgeschrittener Schwangerschaft. Wir arbeiteten mit Hacken, Schaufeln, Spaten und Äxten, wir verwendeten zwei Fuß lange Bretter und Träger, hatten überhaupt alles Rüstzeug, dessen wir bedurften. Mein Gang wurde sechs Fuß hoch und zwei Fuß breit. Wir schachteten täglich sechsunddreißig Kubikfuß Erde aus, wodurch mein Gang um drei Fuß Länge täglich wuchs. Am sechsunddreißigsten Tage fand ich, daß die festgesetzte Länge des Ganges erreicht war, und ich war sicher, daß ich von der vorgesteckten Richtung nicht abgekommen sei. Fünfzig Holzbretter stützten die Erde, die wir über uns hatten. Der ganze Flächeninhalt der Ausschachtung betrug 1272 Kubikmeter Erde, die unsere getreuen Arbeiter nach und nach auf die benachbarten Felder abgetragen hatten. Es blieb mir jetzt eigentlich nichts mehr zu tun, als den Boden zu durchbrechen; zuvor wollte ich jedoch nochmals mit Tolomäus Rücksprache halten, und zwar an einem Orte unterhalb des Flusses, wo einem niemals jemand begegnete.

Nachdem ich ihm die näheren Umstände der Ausschachtung des Ganges erzählt hatte, war er ganz meiner Meinung, daß man jetzt daran gehen sollte, den Gang nach oben durchzubrechen, den Gefangenen zu entführen und ihn in das Haus zu bringen, das er uns zur Verfügung stellen wollte. Hier sollten wir uns mindestens einen Monat ganz ruhig verhalten und alles mit der gewohnten Umsicht einrichten. Er sagte mir, es sei ganz unnötig, mich nochmals zu vergewissern, ob ich auch nicht aus der Richtung gekommen sei; nur schwache Geister hätten nötig, sich wiederholt von der Richtigkeit dessen zu überzeugen, was doch augenscheinlich sei. Wenn mein Bericht in allen Punkten zuträfe, sei es ja ganz unmöglich, daß das Ende meines Ganges anderswohin auslaufen könnte, als eben auf den beabsichtigten Ort im Gefängnis. Anders sei es nur dann, wenn der Oberstaatsanwalt ihm etwas vorgelogen hätte; dies sei jedoch nicht anzunehmen, nachdem die Abmessungen, die wir unter Wasser vom Gefängnisblock aufgenommen hätten, vollkommen mit seinen Angaben übereinstimmten.

Wir beschlossen also den Durchbruch. Diese Aufgabe fiel mir ganz allein zu, denn erstens hätte ich meine Gefährten, die sich an der Entführung beteiligten, dadurch nur aufs Schafott bringen können und zweitens genügte ein Mann vollkommen, um das Loch durchzubrechen und langsam und geräuschlos sich emporzuarbeiten. Ich nahm nur eine Hacke mit eiserner Spitze mit mir, die mir dazu dienen sollte, ein rundes Loch von etwa einer Elle Durchmesser zu hauen, mehr war nicht nötig. Nach zweistündiger möglichst geräuschloser Arbeit traf meine Hacke auf einen Widerstand, der jedoch nicht nach Gestein klang, sondern weich wie Holz war. Jetzt unterbrach ich meine Arbeit und wir räumten die Erde fort und trugen sie in Körben hinaus.

Ein Holzboden – das gab mir zu denken. Mit Axt und Feile konnte ich hier nicht vorgehen, weil diese Werkzeuge zuviel Geräusch verursachten und ich ja nicht wußte, zu welcher Tageszeit die Wächter den Gefangenen das Essen brachten. Ein Geräusch mußte also auf alle Fälle vermieden werden, wenn ich nicht das endgültige Gelingen meines Vorhabens – in das Gefängnis einzudringen und den Gefangenen zu befreien – zweifelhaft machen wollte.

Endlich kam mir der Gedanke, den Fußboden durch ein ätzendes Wasser, das man hier aus Borar gewinnt, abbrennen zu lassen. Diese Lösung ist eine Art Salpeter, das sich in den Bergwerken von den Metallen absondert, dort eingesammelt wird, um daraus die besagte Lösung zu gewinnen, die selbst die härtesten Steine schmelzen läßt. Ich schrieb also meinem Onkel, er möge mir von diesem Wasser senden und auch einen großen Schwamm beifügen. Nachdem ich diese Utensilien erhalten hatte, machte ich mich gleich daran, den Schwamm in die Flüssigkeit zu tauchen, bis er recht gut vollgesogen war; dann hielt ich ihn gegen die runde Öffnung des Holzbodens. Ich konnte mit den Blicken verfolgen, mit welcher Geschwindigkeit das Holz weggefressen wurde, und als ich den Spaten ansetzte, fiel es wie Staub zu meinen Füßen. Dann tränkte ich den Schwamm von neuem und fuhr in derselben Weise fort. Inzwischen fand ich es sehr lobenswert, daß der Prinz sowie der Herr Minister und sein Unzertrennlicher sich damit beschäftigten, den Gang um zwei Fuß in der Höhe zu erweitern. Dieser Ausbau konnte nicht von Schaden sein, sondern konnte mir die Sache nur erleichtern. Am ersten Tage erweiterten sie meinen Gang um zwei Fuß und hoben acht Kubikfuß Erde heraus. Als ich tags darauf den Schwamm entfernte, konnte ich bemerken, daß er ganz mit Holz bedeckt war, das wie verfault aussah. Mit Leichtigkeit konnte ich das zernagte Holz abnehmen und zwei neue Bretter einschieben, da die Stützen zu kurz geworden waren.

Meine drei Arbeiter hatten an jenem Tage den Gang wieder um einen Fuß verlängert und konnten nach meiner Berechnung nicht mehr weit vom Fluß entfernt sein, höchstens noch einen Fuß. Ich gab ihnen also den Rat, recht vorsichtig zu Werke zu gehen, da sie andernfalls Gefahr liefen, den ganzen Gang unter Wasser zu setzen.

Am nächsten Tage fand ich den Balken wieder um einen halben Fuß fortgefressen und hielt es nun für ratsam, mittels einer vorzüglichen Bohrmaschine einen kleinen Raum freizulegen. Nachdem ich den Bohrer angesetzt und bei wiederholten Stichproben nur zermalmtes Holz zu Tage gefördert hatte, setzte ich den säuregetränkten Schwamm von neuem an und entfernte mich. Genau um zwölf Uhr kamen meine Gefährten mit der Nachricht, daß sie in einer Länge von drei Fuß an die Mauer gestoßen seien und deshalb ihre Arbeit abgebrochen hätten. Der Prinz hatte mit einem langen Schraubenbohrer die Mauer an verschiedenen Stellen untersucht und gefunden, daß sie zwei Fuß stark war. Als er den Bohrer herauszog, drang Wasser durch die Löcher in den Gang ein, doch konnten diese Öffnungen leicht verstopft werden. Eine Gefahr war somit nicht vorhanden und er war hocherfreut, mir bestätigen zu können, daß ich mich in meinen Berechnungen auch nicht um einen Zoll geirrt hatte. Daraus, daß ich mich in der Längenberechnung nicht getäuscht hatte, war zu schließen, daß auch die Richtung stimmen mußte, denn sonst wäre die Längslinie entweder zu lang oder zu kurz geworden. Natürlich war meine Freude groß.

Nachdem ich am anderen Morgen meine Vorrichtung an der Decke entfernt hatte, brauchte ich nur eine halbe Stunde, um ein Loch zu bohren und die Schraube herauszuziehen. Durch das Loch sah ich einen schwachen Lichtschein fallen. Ich legte mein Ohr darauf, aber kein Geräusch bekundete, daß auf der anderen Seite ein lebendes Wesen zu finden sei. Ich setzte den Schwamm an, nahm ihn nach fünf Stunden jedoch wieder fort, denn es war nur noch ein halber Zoll fortzunehmen, und das Werk war getan. So geschah es auch. Bevor ich aber vorging, legte ich mich bis zu der Stunde auf Posten, wo man dem Gefangenen Nahrung bringen würde. Diese Stunde mußte ich durchaus kennen, um jeden Zwischenfall zu vermeiden. Die schlug zwei Stunden vor Tagesanbruch; ich hörte eine Tür öffnen, vernahm Schritte und dann wurde die Tür wieder geschlossen. Hieraus folgerte ich nunmehr, daß man die Gefangenen immer zu derselben Zeit mit Nahrung versehen würde und hatte, wenn mich nicht alles täuschte, neunzehn Stunden zur Ausführung meines Planes vor mir. Zu meinen Gefährten aber sagte ich, daß ich nunmehr darangehen wollte, den Durchbruch zu riskieren, sie aber sollten dann hindurchschlüpfen, weil sie dazu ausersehen seien, den Roten zu entführen. Ich selbst würde auf dem Posten sein und Obacht geben, daß kein unvorhergesehener Zwischenfall einträte. Dann sollten sie mir den Roten herausreichen, damit ich ihn in meinen Armen aufnähme. Wie ich ihnen so meine Befehle gab und mir die Sache nochmals genau überdachte, kam mir plötzlich ein glücklicher Gedanke. Ich bat den Prinzen, das Loch, das er zugestopft hatte, wieder zu öffnen, was er auch, ohne nach dem Grunde zu fragen, sofort tat. Nach der eintretenden Wassermenge konnte ich berechnen, daß in weniger als zwanzig Stunden der Raum von hundert Kubikfuß gefüllt sein mußte. Das war mir gerade recht. In einer Viertelstunde war mein Loch bereits fertig und ich bemerkte einen Roten und einen Gelbbunten, die beide starr und unbeweglich das Loch anstaunten. Nun ergriff ich den Prinzen mit beiden Händen und stellte ihn hinein. Er reichte mir den Roten heraus, den ich seinem guten Vater übergab, und dann umarmte ich den Prinzen. Dann bat ich sie, den Befreiten zu Kassandra zu führen und zu mir zurückzukehren. Wir nahmen dann zuerst die Pfeiler fort, die die Bretterdecke meines Verbindungsganges stützten. Dann verbrachten wir zehn volle Stunden damit, das Loch wieder mit Erde zu füllen, wodurch den Fluten ein unüberwindlicher Damm entgegengesetzt wurde, so daß mein Haus nicht vom Wasser gefährdet wurde. Zwei Stunden genügten, um den reizenden und erstaunten Roten in einen Gelbbunten zu verwandeln, und dann sandte ich sie nach unserem ersten Nachtquartier. Mein Häuschen hatte ich verschlossen, nachdem ich mein gesamtes Eigentum fortgenommen hatte. Ich bestieg nun mit meiner geliebten Kassandra ein Boot und eine halbe Stunde darauf trafen wir bei den uns sehnsüchtig erwartenden Freunden ein. Ich benachrichtigte augenblicklich meinen Oheim, der es weise vermieden hatte, mich zu besuchen. Der Gelbe vermittelte unsern Briefwechsel. Schon eine Woche nach diesem Ereignis wurde Kassandra nur mit mir als einzigem Beistand von einem Kindchen entbunden. Unsere Freunde hatten nichts bemerkt, bis sie den Säugling an ihrer Brust sahen.


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