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Die Ehe – ein Blick in die Zukunft

Es würde mich nicht wundern, wenn mancher Leser vermuten würde, dass der Verfasser zur Antwort auf diese letzten Fragen sich für ein rücksichtsloses Auflösen aller Bande erklären wird – denn es ist immer leicht, aus den einfachsten Ausdrücken die weitesten Schlüsse zu ziehen.

Aber solch ein Schluss würde voreilig sein. Es kann meiner Meinung nach keinem Zweifel unterliegen, dass der Zwang der Ehebande – ob er nun ein moralischer, socialer oder nur legaler Zwang sei – in vielen Fällen wohlthätig wirkt; obschon auch das jedem klar sein dürfte, dass es für die Ehe um so besser sein muss, je mehr dieser Zwang eine moralische oder sociale Form annimmt und aufhört, ein rein gesetzlicher zu sein. Denn um so mehr wird das innere Band und nicht äussere Motive ihre Basis bilden. Ich bin auch ganz überzeugt, dass Veränderungen, die zu einem flüchtigen und unaufhörlichen Wechsel in den Liebesverbindungen führen würden, für den Charakter wie für die Wohlfahrt und das Glück eines Volkes verhängnisvoll sein müssten. Wenn wir uns auch der Erkenntnis nicht verschliessen können, dass die Ehe – um eine Stätte der Liebe zu werden – viel freier werden muss, als sie heute ist, so müssen wir doch auch einsehen, dass ein gewisses Mass äusseren Druckes – zumindest wie die Dinge heute nun einmal liegen – nicht ohne Nutzen sein mag. Dieser äussere Druck trägt z. B. viel dazu bei, die Liebeserfahrung und Romantik auf eine einzige Person zu konzentrieren, und dies mag zwar manchmal einen Verlust in der Weite des Erfahrungsgebietes bedeuten, aber es bedeutet dafür einen Gewinn an Tiefe und Intensität; in vielen Fällen würden beide Teile, wenn nicht irgend eine Fessel bestünde, sobald die erste Leidenschaft verflogen, und die unvermeidliche Zeit der Reibung begonnen hat, in einem zornigen Augenblick leicht auseinander eilen, während sie gerade dadurch, dass sie gezwungen sind, ihre gegenseitigen Fehler eine Zeitlang zu ertragen, eine der besten Lehren des Lebens lernen, nämlich eine zärtliche Nachsicht und Rücksicht, die sich mit der Zeit so manchmal zu einer reineren und vollkommeneren Liebe vertieft, als die erste war, – einer Liebe, die nicht nur auf der ersten körperlichen Intimität beruht, sondern durch Jahre gemeinschaftlicher Erfahrungen, untrennbar geeinter Erinnerungsbilder, geteilter Arbeit und gegenseitiger Verzeihung konzentriert und gesteigert worden ist. Und endlich drittens macht die Existenz eines bestimmten Bandes, einer gegenseitigen Verpflichtung, die sonst nur allzu geläufige Vorstellung unhaltbar, dass die Lust allein der Zweck der Verbindung der beiden Geschlechter ist – eine phantastische und betrügerische Vorstellung, die, wenn sie je einmal den Kopf hoch und das Gebiss zwischen die Zähne bringen würde, den Wagen der Menschheit in unsinnigem Lauf zerschellen müsste.

Aber all das zugegeben, muss auch klar und scharf ausgesprochen werden, dass all dieser äussere Zwang, alles Einmischen der öffentlichen Meinung in die Beziehung zweier Menschen nur einen erziehlichen Wert haben kann; die Hauptfrage bleibt immer, ob unter diesem Zwange oder ohne diesen Zwang eine wirkliche Ehe besteht; ein inneres Band, das in den Persönlichkeiten der beiden Gatten begründet ist, das sich zuletzt über allen Zwang hinausheben und als solches fühlbar machen muss, und das Männer und Weiber einst in die Lage versetzen wird, ihre Beziehungen zu einander selbst zu bestimmen, ihre Wege in Freiheit zu wandeln, ohne durch all diesen Druck und diese Stösse von aussen gequält und belästigt zu werden.

Es würde wahrlich kaum der Mühe verlohnen, über dieses Thema überhaupt zu schreiben, wenn wir an die Möglichkeit einer solchen wirklichen Ehe nicht glauben würden. In der That zweifle ich auch gar nicht daran, dass, je mehr die Menschen über diese Dinge nachdenken, und je mehr Erfahrung sie darüber haben, sie um so mehr erkennen und empfinden müssen, dass es eine dauernde, das ganze Leben – ja vielleicht viele Leben – umfassende Verbindung zweier Menschen giebt, die auf verborgenen Elementen einer tiefen gegenseitigen Anziehung und Uebereinstimmung der Wesen beruht; und je grösser ihre Erkenntnis wird, um so höher müssen sie die Beständigkeit und Loyalität stellen, die solche Verbindungen zusammenhält, im Vergleich zu jenen flüchtigen Leidenschaften, die sie nur zu zerstreuen und zu zerstören geeignet sind.

Die tiefe Aufregung der sexuellen Reife ist bei allen Männern, die eine gewisse Stufe der sittlichen Entwicklung erreicht haben, und sicherlich bei fast allen Frauen von einer gewissen Romantik und einer zärtlichen, sehnsüchtigen Empfindung für den Geliebten begleitet, Gefühle, die fortdauern und noch lange nicht vergessen sind, auch wenn die sexuelle Anziehung ihre erste Kraft verloren hat. Und das ist es, was in glücklichen Fällen die Basis einer Erscheinung bildet, die man fast eine einsgewordene Persönlichkeit nennen könnte. Dass es einen anderen Menschen in der Welt gebe, mit dem man ganz offen verkehren kann, vor dem nichts verborgen bleiben müsste, dessen Leib einem so teuer ist, in allen seinen Teilen, wie der eigene, dem gegenüber alles Gefühl von Mein und Dein aufhört, in dessen Geist die eigenen Gedanken natürlich überfliessen und eine neue Beleuchtung empfangen, mit dem uns ein zärtlicher Widerhall der Sympathie in allen Freuden und Schmerzen und Erfahrungen des Lebens verbindet, – das ist vielleicht einer der höchsten Wünsche der Menschenseele. Es ist aber klar, dass solch ein Zustand nicht mit einem Sprunge erreicht werden kann, sondern das allmähliche Resultat von Jahren innig verschlungener Erinnerungen und Liebesbeweise sein muss. Die Liebe muss die Grundlage solch einer Verbindung sein, aber Geduld und zarteste Rücksicht und Selbstbeherrschung muss unablässig am Werk sein, um den Bau zu vollenden. Zuletzt kennt jeder der beiden Liebenden das geistige Wesen des anderen, seine körperlichen und geistigen Bedürfnisse, seine Wünsche, seine traurigen und freudigen Erinnerungen fast so genau wie seine oder ihre eigenen – und das ohne Vorurteil zu seinen eigenen Gunsten, ja noch eher mit einem Vorurteil zu Gunsten des anderen; und vor allem erkennen beide im Laufe der Zeit, und vielleicht nicht ohne Zweifel und Prüfungen, dass das tiefe Bedürfnis, das grosse Verlangen nacheinander, das sie zusammenhält, nicht in die Lüfte verflattern kann, sondern um so stärker und unauflöslicher wird, je mehr die Jahre vorüberziehen. Ein süsses, unwiderstehliches Vertrauen breitet sich über ihre Beziehungen zu einander, das dieses gedoppelte Leben gleichsam mit Weihe umgiebt, beiden das Gefühl verleiht, dass nichts sie mehr trennen kann, und wenn der Tod einen von beiden wirklich (oder wenigstens dem äusseren Scheine nach) hinweggenommen hat, dem anderen nicht den geringsten Wunsch weiterzuleben lässt. Es ist bemerkenswert, dass das frühere Ritual unserer Kirche die Worte: »Bis der Tod uns abruft« (»Till death us depart«) hatte und erst 1661 die neue Lesung »Bis der Tod uns trennt« (»Till death us do part«) eingeführt wurde (Englische Eheschliessungsformel).

Eine so vollkommene und herrliche Verbindung ist, wenn sie auch nicht immer verwirklicht wird, doch der ehrliche Wunsch all derer, die über diese Dinge überhaupt viel nachgedacht haben. Jedem leuchtet ein, dass sie eine weit grössere und dauerndere Befriedigung und Freude am Leben gewähren muss, als eine noch so grosse Zahl frivoler Verhältnisse. Sie empfiehlt sich dem gesunden Verstand der modernen Seele, wenn man solch eine Wortverbindung gebrauchen darf, von selbst und bedarf nicht erst der künstlichen Autorität der Kirche oder des Staates. Aber ebenso selbstverständlich ist – so selbstverständlich, dass ein Kind es einsehen müsste – dass eine gewisse vernünftige Geduld und Selbstbeherrschung nötig ist, um sie zu verwirklichen; – und auch das scheint mir, wie schon früher bemerkt, ganz einleuchtend, dass es Fälle geben kann, in denen ein wenig äusserer Zwang durch die Meinung der Gesellschaft, ja selbst durch ein wirkliches Gesetz, von grossem Nutzen sein kann, z. B. wo es sich um schwächere Persönlichkeiten handelt, deren zu geringe Macht über sich selbst einer äusseren Stütze bedarf.

Die moderne monogamische Ehe, wie sie Kirche und Staat bescheinigen und sanktionieren, ist zwar zweifellos im Hinblick auf dieses Ideal gedacht, zeigt sich aber in der Regel ganz und gar unfähig, es zu, erreichen. Dadurch, dass sie in einer sehr grossen Zahl von Fällen Verbindungen sanktioniert, die auf nichts anderem gegründet sind, als dem äusseren Zwange und der Formel der Kirche und des Staates, schuf sie etwas, was von Natur aus als schlecht und entwürdigend erkannt werden musste, während sie selbst in den glücklicheren Fällen durch eine zu grosse Exklusivität sich selbst zu einer verhängnisvollen Enge und Dumpfheit verdammte.

Bei einem historischen und physiologischen Ueberblick über die ganze Frage könnte man natürlich einwenden, – und vermutlich nicht ohne ein Korn Wahrheit, – dass der Mann von Natur aus und durch seine Bedürfnisse polygamisch ist. Man muss auch nicht glauben, dass die Polygamie in gewissen Ländern und bei gewissen Rassen eine so entwürdigende und unglückliche Institution ist, wie manche Leute uns gerne glauben machen wollen. s. R. F. Burton's Pilgrimage to El-Medinah and Meccah cap. XXIV. Er sagt übrigens: »Soweit meine sehr begrenzten Beobachtungen reichen, ist Polyandrie der einzige Gesellschaftszustand, in welchem Eifersucht und Streitigkeiten aus sexuellen Ursachen die Ausnahme und nicht die Regel bilden«. Aber, wie Letourneau in seiner »Entwicklungsgeschichte der Ehe« ausführt, ist der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft, soweit wir zurückschauen können, eine fortschreitende Entwicklung von der Unterschiedslosigkeit zur Individualisierung gewesen, und wir dürfen wohl annehmen, dass mit dem weiteren Fortschritt unserer Gattung – denn jede Gattung wird in solchen Dingen sicherlich durch die Gesetze ihres eigenen Genius bestimmt – und je mehr das geistige Leben und das Gefühlsleben des Menschen im Verhältnis zur rein physischen Seite seiner Existenz sich ausbildet, um so mehr auch alle tiefer eingreifenden Verbindungen des Menschen mit anderen seiner Art sich individualisieren werden. Obschon man dagegen anführen könnte, dass der Mensch ein immer komplizierteres Wesen wird, und dass diese steigende Kompliziertheit ihn eher zu einer grösseren, als geringeren Zahl von Beziehungen treiben sollte, so lässt sich doch auf der anderen Seite der Schluss nicht abweisen: je tiefer und feiner nuanciert die Liebesempfindungen eines Menschen werden, um so unwahrscheinlicher wird es, dass mehr als ein Mensch sich findet, der seinen individuellen Forderungen entspricht, und seine Liebesverbindungen müssen daher um so dauerndere und festere werden. Vom Weibe kann man nicht behaupten, dass sie von Natur aus polyandrisch veranlagt sei, wie der Mann polygyn ist. Es giebt natürlich eine grosse Menge von Weibern, bei den civilisierten, wie bei den wilden Völkern, die in einem Zustand der Polyandrie leben; aber schon infolge ihrer geringeren sexuellen Bedürfnisse und der langen Perioden der Schwangerschaft ist eigentlich ein Mann für sie physisch ausreichend, und ihre Fähigkeit, in einem Mann aufzugehen, wird durch ihre hingebende und liebefordernde Natur vielleicht noch gesteigert.

So können wir denn sagen, dass bei beiden Geschlechtern die Entwicklung sich in der Richtung auf eine immer vollkommenere Ausbildung jener Doppeleinheiten von vermählten Paaren vollzieht. (Ich möchte das Wort Monogamie vermeiden, weil sich heute bereits so traurige Bilder daran knüpfen.) Und wenn wir es auf der einen Seite perhorrescieren, solchen natürlichen Verbindungen den Stempel einer erlogenen Unwiderruflichkeit oder einer dogmatischen Exklusivität aufzupressen, so wollen wir doch das allgemeine Streben und die Sehnsucht nach solchen Verbindungen als eine natürliche Thatsache anerkannt wissen, die von allen künstlichen Gesetzen unabhängig ist, gerade wie wir an den natürlichen Drang zweier Atome verschiedener chemischer Substanzen glauben, ein zusammengesetztes Atom oder Molekül zu bilden.

Es dürfte gar nicht schwer fallen, ganz jungen Leuten das Verständnis hierfür zu erwecken; ihnen begreiflich zu machen, dass, wenn sie auch in frühen Jahren mit einem gewissen Ueberschuss an Leidenschaft zu kämpfen haben mögen, der tiefste Wunsch ihres Wesens doch wohl auf eine dauernde Verbindung mit einer Genossin oder mit einem Genossen gerichtet sein wird, und dass sie, um dieses Ziel zu erreichen, lernen müssen, alle ihre Selbstbeherrschung gegen die ziellosen Fluten ihrer Triebe aufzubieten und all ihre Geduld und Zärtlichkeit zur Verwirklichung jener Verbindung, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Die meisten jungen Männer und Mädchen werden in dem sogenannten romantischen Alter die Bedeutung der Sache leicht würdigen können und diese Forderung einsehen, und sie würde ihnen einen viel tieferen und natürlicheren Begriff von der Heiligkeit der Ehe geben, als all die künstlichen Gewitter, die Kirche und Staat über diesen Gegenstand hinausdonnern.

Gewiss wird schon die Andeutung der blossen Möglichkeit, den Menschen in ihren geschlechtlichen Beziehungen eine grössere Freiheit der Wahl und der Erfahrung zu geben, manche Leute erschrecken. Aber ich glaube nicht, dass sie darum erschrecken, weil sie etwa nicht wüssten, dass die Männer sich bereits eine ganz beträchtliche Freiheit gestatten, und dass ein grosser Teil der unbestrittenen Schäden, die mit dieser Freiheit verbunden sind, daraus entsteht, dass sie nicht anerkannt, sondern prüde ignoriert wird. Sie erschrecken auch nicht deshalb, weil sie etwa nicht wüssten, dass eine grosse Anzahl anständiger Frauen und Mädchen entsetzliche Qualen und Angst erleiden, nur infolge der absoluten Unerfahrenheit in sexuellen Dingen, in der sie erzogen werden und leben müssen, – sondern ihr Erschrecken kommt daher, dass diese guten Leute der Anschauung sind, die geringste Erleichterung der formalen Schranken zwischen den Geschlechtern könne nichts anderes bedeuten (und auch gar nicht anders gemeint sein), als eine vollkommene Auflösung aller Bande und die ungezügelte Herrschaft der Gelüste. Sie sind überzeugt, dass nur die unnachgiebigste und quälendste Zwangsjacke die Gesellschaft vor Wahnsinn und Zerstörung behüten kann.

Für jene aber, die den Thatsachen ins Angesicht zu schauen vermögen und sehen, dass das wirkliche Wesen der Ehe sich in den Seelen der Menschen immer mehr von der blossen Formel der Ehe scheidet und ihr entgegengestellt wird, deren erster Gedanke wird vermutlich ein Aufjauchzen sein, dass nach dieser jahrhundertelangen Ueberschätzung der blossen Form überhaupt noch Sinn für das Wesen des Bundes erhalten blieb. Und ihr zweiter Gedanke wird die Frage sein, wie man diesem Wesen seine natürliche Form, seinen natürlichen Ausdruck geben kann. Wenn wir uns einmal darüber klar geworden sind, dass die Bildung einer mehr oder weniger dauernden Doppeleinheit – für unsere Rasse und unsere Zeit – das natürliche Gesetz der emporführenden Wege, der geschlechtlichen Entwicklung ist, und dass diese Entwicklung sich, wieviel Ausnahmen ihr auch scheinbar widersprechen mögen, ohne Rücksicht auf alle künstlichen Schranken und Zwangsmassregeln, langsam aber unaufhaltsam vollzieht, – dann werden wir uns bei dem Gedanken an eine grössere Freiheit für diese Entwicklung nicht mehr die Haare ausraufen oder die Kleider zerreissen, sondern lieber darüber nachdenken, wie solch eine freie Bahn für sie am besten und vernünftigsten geschaffen werden kann.

Dieser Frage soll der Rest dieses Kapitels gewidmet sein. Und mit Rücksicht auf alles, was ich früher gesagt, wird es sich vermutlich ergeben, dass die Punkte, die als Mittel zur Erreichung dieses Zieles am meisten Beachtung verdienen, die sind: 1. die Forderung der Freiheit und Unabhängigkeit der Frauen überhaupt. 2. Die Schaffung irgend eines vernünftigen Unterrichts für Kopf und Herz der Jugend beider Geschlechter. 3. Die Anerkennung eines freieren kameradschaftlicheren, weniger ängstlich und kleinlich exklusiven Verhältnisses in der Ehe selbst. Und 4. die Abschaffung oder Abänderung der gegenwärtig geltenden abscheulichen Gesetze, die zwei Menschen in der gewissenlosesten Weise das ganze Leben aneinanderfesseln, auch wenn ihre Verbindung eine ganz und gar unnatürliche und unselige ist.

Jeder muss zugeben, dass der erste Punkt von grundlegender Wichtigkeit ist. Sowie wahre Freiheit nicht ohne Liebe, so kann wahre Liebe nicht ohne Freiheit bestehen. Man kann sich einem anderen nicht wahrhaft geben, wenn man nicht vorher in Wahrheit sein eigener Herr oder seine Herrin ist. Und zwar muss es nicht nur eine ganz selbstverständliche Sache werden, dass auch die Frauen nur von sich abhängig sind und über sich selbst ebenso frei verfügen können, wie die Männer, in allen Dingen, in allen sittlichen, socialen und ökonomischen Fragen – dies wird allmählich kommen – sondern es muss auch das Gesetz in einer ganzen Reihe von Fällen geändert werden, wo es hinter dem allgemeinen sittlichen Bewusstsein zurückgeblieben ist, wie z. B. in der heutigen Ehe, in der das Recht der Frau auf ihren eigenen Leib noch ganz im ungewissen ist, oder in der Politik, wo es ihr noch immer eine Stimme bei der Schaffung der Gesetze verweigert, die sie selbst zu binden bestimmt sind.

Was den zweiten Punkt anlangt, so wird heute niemand mehr ernstlich in Zweifel ziehen, dass es wünschenswert ist, Knaben und Mädchen über alle diese Dinge in angemessener Weise zu unterrichten. Das ist ein Punkt, über den ich genügend gesprochen habe, und der hier nicht weiter erörtert werden muss. Aber ausserdem ist es von grösster Wichtigkeit, – und, wie die Dinge heute liegen, vielleicht besonders richtig für die Mädchen, – dass jeder junge Mann und jedes Mädchen vom anderen Geschlecht persönlich genug sehe und wisse, und das frühzeitig genug, um sich ein gewisses Urteil über seine Beziehungen zum anderen Geschlecht und zu sexuellen Fragen im allgemeinen bilden zu können. Es ist einfach ungeheuerlich, es ist monströs, dass die erste zufällige geschlechtliche Erregung, deren wahre Natur eine ganz geringe Erfahrung erklären würde, unter Umständen das Schicksal zweier Menschen für das ganze Leben entscheiden soll. Aber je mehr die Geschlechter voneinander getrennt gehalten werden, um so überwältigender werden solche Erregungen, und um so unwissender sind beide Teile über ihre Bedeutung. Es ist zweifellos einer der grossen Vorteile einer gemeinsamen Erziehung beider Geschlechter, dass sie diese Gefahren bedeutend vermindert. Gemeinsame Erziehung, alle Spiele und Sporte bis zu einem gewissen Grade gemeinsam, und fort mit dem blödsinnigen Aberglauben, dass, weil Corydon und Phyllis sich zufällig einmal, vor dem Thore sitzend, geküsst haben, sie nun unbedingt ihr ganzes Leben zusammenleben müssen! Schon das wird eine erhebliche Besserung bringen. Auch wird ein vernünftiger Verkehr dieser Art zwischen den Geschlechtern keineswegs notwendig zur Vermehrung gelegentlicher oder geheimer geschlechtlicher Beziehungen führen. Aber, selbst wenn solche Dinge sich da oder dort einmal ereignen sollten, so würden sie nicht mehr jene verhängnisvollen und unverzeihlichen Sünden sein, als welche sie heute, wenigstens für Mädchen, angesehen werden. Die Anerkennung irgend eines allgemeinen vorehelichen Geschlechtsverkehrs wird dem Temperament nordischer Völker vermutlich alle Zeit fremd und widerstreitend bleiben. Aber es ist sehr fraglich, ob die Gesellschaft in ihrer tödlichen und fetischartigen Angst vor dieser Gefahr dadurch, dass sie die Jugend beider Geschlechter in Unwissenheit und Dunkel und in Abgeschiedenheit voneinander hielt, nicht ärgere Uebel und Leiden geschaffen hat, als die, die sie verhüten wollte, und ob sie dadurch, dass sie allen sexuellen Dingen eine so fieberhaft übertriebene Bedeutung gab, nicht auch diese besondere Gefahr, die sie so fürchtete, eher gesteigert als verringert hat.

An dritter Stelle kommen wir dazu, dass in der Ehe selbst ein freieres, weiteres und gesünderes Verhältnis zwischen den Gatten herrschen muss, als heute im allgemeinen besteht. Wie anziehend in mancher Richtung das Ideal einer ganz exklusiven Verbindung auch sein mag, es läuft immer die verhängnisvolle Gefahr, auf die wir bereits hingewiesen haben, zu einer blossen stumpfen gepaarten Selbstsucht zu entarten. Aber die Liebe wird zuletzt nicht durch das genährt, was sie nimmt, sondern durch das, was sie giebt; und selbst die Liebe zwischen Mann und Weib kann nur genährt und gesteigert werden durch die Liebe, die beide anderen noch zu geben wissen. Wenn sie nicht im stande sind, aus ihrer geschlossenen Zelle herauszutreten, um auch noch anderen die Hand zu reichen und denen Liebesbeweise zu geben, die ihrer mehr bedürfen als sie selbst, oder wenn sie gar einander misstrauen, sobald eines von ihnen das thut, dann sind sie sicher nicht sehr geeignet, miteinander zu leben.

Eine Ehe, so frei, so spontan, so in sich selbst begründet, dass sie den Gatten weite Wege voneinander weg gestatten würde, sei es in gemeinsamen oder auch in ganz getrennten Aufgaben und Interessen, und sie dennoch all die Zeit im Band absolutester Sympathie zusammenhalten würde, eine solche Ehe würde gerade durch ihre Freiheit nur um so heisser anziehend, und gerade durch ihren Spielraum und ihre Weite nur um so reicher und lebenskräftiger, ja in gewissem Sinn unzerstörbar sein; gleich dem Verhältnis zweier Sonnen, die in fliessenden und rückkehrenden Kurven kreisen, sich nur voneinander entfernen, um mit vermehrter Schnelligkeit zu nächster Nähe zurückzukehren, und wenn sie beisammen sind, ihre Strahlen zum leuchtenden Glanze eines Doppelsterns vereinigen.

Die Unfähigkeit, diese so einfache Wahrheit zu erkennen oder zu verstehen, hat sehr viel dazu beigetragen, dass die monogamische Ehe ein solcher Fehlschlag geblieben ist. Die beschränkte physische Eifersucht, das erbärmliche Gefühl des Privateigentums an einem anderen Menschen, die öffentliche Meinung und gesetzliche Zwangsvorschriften haben alle gemeinsam daran gearbeitet, die Gattenliebe zu erwürgen und sie in Egoismus, Wollust und Niedrigkeit zu ersticken. Aber es ist doch sicherlich nicht so schwer (für die, die an eine wirkliche Ehe überhaupt glauben), sich ein so aufrichtiges und natürliches Vertrauen zwischen Mann und Weib vorzustellen, dass keiner von ihnen über die Freundschaft des anderen mit einer dritten Person gar so sehr erschrecken würde, noch sogleich schliessen würde, dass das nichts anderes als Untreue bedeuten könne; es ist nicht einmal schwer, sich vorzustellen, dass solch eine Freundschaft von beiden Gatten als Gewinn begrüsst würde. Und wenn es, für manche Leute, ganz unmöglich ist, in solchen Intimitäten etwas anderes zu sehen, als die Verwirrung aller geschlechtlichen Beziehungen und ein Chaos blosser tierischer Begierden, dann können wir nur erwidern, dass diese Anschauung mit verhängnisvoller Präcision die Denkungsart zeigt, die durch unser gegenwärtiges Ehesystem hervorgerufen wird. Wenn man an eine vernünftige Ehe überhaupt glauben soll, muss man doch den beiden Personen, um die es sich handelt, ein gewisses Mass von wirklicher Zuneigung, Ehrlichkeit, Verstand und Selbstbeherrschung zutrauen.

Wenn man übrigens in Betracht zieht, wie merkwürdig und unglaublich verschieden sich die Liebe bei den Menschen äussert, sobald das Gefühl einmal wirklich in Frage kommt und analysiert wird: wie die Liebeshingabe der Seele und des Leibes bei dem einen Menschen vollkommen anders ist als bei einem anderen, so dass die Sache beinahe einen verschiedenen Namen erfordert, wenn man sieht, wie die eine Leidenschaft vorherrschend körperlich ist und bei der anderen das Gefühl überwiegt, und wieder eine andere beschaulich oder vergeistigt oder praktisch oder sentimental ist; wie sie in dem einen Fall exklusiv und eifersüchtig ist und in dem anderen gastlich und frei u. s. w., – wenn man das alles bedenkt, muss es in der That voreilig scheinen, irgend welche starre und feste allgemeine Gesetze für die ehelichen Beziehungen aufzustellen oder zu behaupten, dass eine wahrhafte und ehrenhafte Zuneigung nur in dieser oder jener speciellen Form bestehen könnte. Gerade diese Verschiedenartigkeit der Liebe macht es vermutlich möglich, dass Eheleute mit ausserhalb stehenden Personen des anderen Geschlechts auf dem intimsten Fuss stehen und einander doch vollkommen treu bleiben können; und in gewissen seltenen Fällen werden sich selbst dreieinige und noch andere Beziehungen dauernd aufrecht erhalten lassen, aber nicht in der verlogenen und schimpflichen Weise, in der das heute geschieht.

Wir kommen nun zum letzten Punkt, nämlich zu den notwendigen Abänderungen der gegenwärtig geltenden Ehegesetze.

Soviel ist ziemlich klar, dass die Menschen nicht mehr lange darein willigen werden, sich unwiderruflich fürs ganze Leben zu binden, wie heute. Und in der That machen sich bereits Anzeichen in Fülle bemerkbar, dass die Anschauungen sich in dieser Richtung immer mehr ändern. Je mehr die Menschen die Heiligkeit und Natürlichkeit einer wahrhaften Verbindung erkennen, um so weniger werden sie gewillt sein, sich die Möglichkeit einer solchen durch einen künstlichen Vertrag auf Lebenszeit, den sie in ihren grünsten Tagen geschlossen haben, zu versperren. Das grosse Bollwerk der bestehenden Institution ist bis heute die Abhängigkeit der Frauen gewesen, die jeder Frau ein direktes und höchst materielles Interesse daran gab, die angebliche Heiligkeit des Bandes aufrecht zu erhalten, und jeden Mann, der ein wenig Edelmut besass, davon abhielt, eine Aenderung vorzuschlagen, die so ausgesehen hätte, als wollte er sich selbst auf Kosten des Weibes freimachen. Aber so wie diese thatsächliche Abhängigkeit der Frauen allmählich aufhört, und in demselben Masse, wie die grosse Thatsache der geistigen Natur jeder wahren Ehe zu hellerer Klarheit krystallisiert, in dem Masse werden auch die formellen Bande, die das Entstehen wahrer Ehen hemmen, allmählich zerbrechen und bedeutungslos werden.

Jede Liebe, die überhaupt tief empfunden wird, trägt ein transcendentales Element in sich, das es für zwei Liebende – selbst wenn sie nur durch eine vorübergehende geschlechtliche Anziehung zu einander getrieben werden – zur natürlichsten Sache in der Welt macht, einander ewige Treue zu schwören; aber etwas geradezu Diabolisches und Mephistophelisches liegt in dem Verhalten des Gesetzes, das sich in diesem kritischen Moment gleichsam von rückwärts heranschleicht und in dem Augenblick, wo es die beiden einander Treue schwören hört, sein Buch triumphierend zuklappt und ausruft: »So, jetzt seid Ihr verheiratet und fertig für den Rest Eures Erdenlebens.«

Was für thatsächliche Veränderungen in Gesetz und Sitten der kollektive Geist der Gesellschaft herbeiführen wird, das lässt sich heute natürlich nicht in seinen Details erkennen und vorausbestimmen. Aber, dass die Stromrichtung im allgemeinen zu grösserer Freiheit treiben wird und muss, das ist ziemlich klar. Ideal gesprochen liegt es auf der Hand, dass eine Verbindung, die sich irgendwie der vollkommenen nähert, vollkommene Freiheit zur Voraussetzung haben muss; und wenn es auch sehr glaublich und nur natürlich ist, dass ein Liebender aus der Fülle seines Herzens Versprechungen macht und sich binden will, so ist es doch fast unbegreiflich, dass ein nur irgendwie stolzer und zartfühlender Mensch, ein Mensch, der tiefer Empfindungen überhaupt fähig ist, vom Geliebten ein Versprechen verlangen könnte. Und da es unzweifelhaft eine gewisse natürliche Zurückhaltung und Verschwiegenheit in allen geschlechtlichen Dingen giebt, so wäre es vielleicht das richtigste in einer wahren Ehe, nichts zu sagen, keine Versprechungen zu machen, weder für ein Jahr, noch für Lebenszeit. Versprechungen sind immer von Uebel, und wenn das Herz voll ist, geziemt ihm Schweigen am meisten. In der Praxis indessen werden, – da eine Liebe solcher Art sich nur langsam verwirklichen und allgemein werden kann, da alle socialen Sitten sich nur langsam ändern, und da die teilweise Abhängigkeit und Sklaverei des Weibes noch eine gute Weile dauern wird, – während dieser Uebergangszeit wahrscheinlich formelle Verträge irgend einer Art noch beibehalten werden; siehe Anhang nur werden diese, wollen wir hoffen, ihren unwiderruflichen und starren Charakter verlieren und bis zu einem gewissen Grad den Bedürfnissen der vertragschliessenden Teile angepasst sein.

Solche Verträge könnten natürlich, wenn sie eingeführt werden, die mannigfachsten und in den einzelnen Fällen verschiedenartigsten Bestimmungen über die ehelichen Rechte, über die Dauer und die Auflösungsbedingungen, die Teilung der Güter, die Verantwortlichkeit für die Kinder und die Rechte auf sie u. s. w. enthalten. In gewissen Fällen siehe Anhang könnten sie möglicherweise einer späteren und dauernderen Verbindung vorausgehen; in anderen würden sie, für den Fall, dass die Ehe unglücklich ausgeht, Mittel vorsehen, sie zu trennen, ohne die wüsten Skandale der gegenwärtigen Scheidungsprozesse. Man kann indessen auch sagen, dass die öffentliche Meinung in unserem Lande, anstatt irgend ein neues Vertragssystem einzuführen, vielleicht einfach nur einer Erleichterung der Scheidung sich zuneigen dürfte; sobald diese – bei entsprechender Sorge für die Kinder – nur von der gegenseitigen Einwilligung abhängig gemacht ist, würde die Sache auf wenig mehr als eine Anmeldung und Protokollierung hinauslaufen und die Skandale des Prozessführens vermeiden. In jedem Fall aber glaube ich, dass die Eheverträge, wenn sie überhaupt beibehalten werden, mehr und mehr Angelegenheiten privater Verständigung werden müssen, soweit es sich um die Beziehungen zwischen den Gatten handelt; und in dem Mass, als die Frauen freier werden und fähiger, ihre eigenen Rechte wahrzunehmen und selbständig zu handeln, wird es auch wahrscheinlich so werden. In jeder halbwegs anständigen Gesellschaftordnung müsste es als unerträglich empfunden werden, dass der plumpe Störenfried Staat sich in die zarten Fragen des ehelichen Lebens überhaupt einmischt. Der heutige Zustand ist einfach widersinnig. Auf der einen Seite giebt das Gesetz, das seit unvordenklichen Zeiten zu Gunsten des männlichen Geschlechtes geschaffen worden ist, dem Ehemann barbarische Rechte über die Person seiner Gattin; auf der anderen Seite kommt es, um sie dafür zu entschädigen, mit den Narrenpossen der gebrochenen Eheversprechen; und in jedem Fall, sobald es einmal seinen Segen über ein Paar gesprochen hat, wie verhasst die Verbindung auch beiden Teilen werden sollte und wie klar ihre Verfehltheit auch vor aller Augen läge, schielt das blödsinnige Ding wie eine Eule auf sein eigenes Machwerk und erklärt sich ausser stände, den schädlichen Knoten wieder aufzulösen, den es einmal geknüpft hat.

Der einzige Punkt, der dauernd Anlass zur Einmischung des Gesetzes geben wird, und bei dem die öffentliche Autorität sich unzweifelhaft irgendwie fühlbar machen soll, ist die Frage der Kinder, aus welcher Verbindung immer sie nun entsprungen seien. Hier hört das Verhältnis der beiden Gatten auf, eine Privatsache zu sein und wird eine sociale Angelegenheit; nun handelt es sich darum, die Interessen des Kindes selbst und der Nation, deren künftiger Bürger das Kind ist, zu schützen. Jeder Ehevertrag und jeder Scheidungsantrag müsste, bevor er von der öffentlichen Autorität sanktioniert werden könnte, befriedigende Bestimmungen über die Obsorge und Erhaltung der Kinder in allen Eventualitäten enthalten; dabei aber darf nicht etwa die gesetzliche Distinktion zwischen »natürlichen« und »legitimen« Kindern aufrechterhalten werden, denn das ist doch ganz klar, dass, wie immer einzelne Menschen oder die ganze Gesellschaft über die Aufführung der Eltern denken mag, daraus in keinem Fall dem Kinde irgend ein Nachteil oder eine Rechtsverringerung erwachsen darf, noch dürfte es den Eltern, wo sie bekannt sind, gestattet sein, sich der vollen Verantwortung dafür, dass sie sie in die Welt gesetzt, zu entziehen. Wenn die guten Leute, die ein so schreckliches Geschrei dagegen erheben, dass Menschen eine Ehe eingehen, ohne das ganze Abracadabra des Gesetzes durchzumachen, unter dem Vorwand, »dass ihnen das Schicksal der Kinder so sehr am Herzen läge«, wenn diese einmal aufstehen und eine Abänderung des Gesetzes dahin verlangen würden, dass illegitime Kinder dieselben Personenrechte und dieselben Ansprüche an ihre Eltern erhalten, wie die legitimen, dann würden sie die Ehrlichkeit ihrer Sorge um die Kinder besser beweisen, als mit ihrer sittlichen Entrüstung, und dann würde auch in der That etwas im Interesse wirklicher Sittlichkeit gethan sein.

Wenn man dagegen einwenden sollte, dass Privatverträge oder solche Erleichterungen der Scheidung, wie ich sie hier angedeutet, einfach dazu führen würden, dass die Menschen frivole, versuchsweise Verhältnisse eingehen und wieder abbrechen werden ad infinitum, so muss man wiederum bedenken, dass schon die Verantwortlichkeit für die entsprechende Aufziehung und Erhaltung der Kinder solch einem Treiben sehr ernste Schranken vorschieben würde. Und dann: zu glauben, dass irgend ein grösserer Teil des Volkes sein Heil in einer Art ehelichen Wechsellaufspiels finden würde, heisst glauben, dass die Masse des Volkes niemals auch nur die Rudimente des gesunden Menschenverstandes in solchen Dingen erworben hat oder gelehrt worden ist, heisst überhaupt einen Fall annehmen, für den sich in der Sittengeschichte aller Nationen oder Stämme, die wir kennen, kaum eine Parallele finden lässt.

Zum Schlusse muss es jedem einleuchten, dass sehr grosse Veränderungen zum Besseren auf dem Gebiete der Ehe nur als Begleiterscheinungen tiefgreifender Veränderungen des ganzen Gesellschaftszustandes eintreten können; und dass legislative Abänderungen allein nur einen sehr beschränkten Fortschritt herbeiführen können. Es ist überhaupt nicht sehr wahrscheinlich, dass, solange die gegenwärtige, auf dem Handel beruhende Gesellschaftsordnung fortdauert, die bestehenden Ehegesetze – die eben auf der Idee des Privateigentumes begründet sind – irgend eine sehr radikale Aenderung erfahren werden, obgleich sie immerhin bis zu einem gewissen Grad modifiziert werden mögen. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Gesetze bleiben, aber die Praxis sich ändern und in neue Sitten und Formen hinübergleiten wird. Wenn dann die neue Gesellschaftsordnung ersteht, deren Umrisse bereits innerhalb der Struktur der alten erkennbar werden, dann werden viele der Schwierigkeiten und Popanze, die heute einem gesünderen Verhältnis zwischen beiden Geschlechtern hemmend im Wege zu stehen scheinen, von selbst verschwinden.

Eins muss indessen gesagt werden: Wenn es auch absolut notwendig ist, dass Gesetz und Sitte freier und menschlicher werden, so kann man doch gerechterweise diese beiden alten Tyrannen nicht allein für all die Wirrungen und Bitternisse des geschlechtlichen Lebens verantwortlich machen. Millionen von Menschen leben zur Stunde, die niemals in glücklicher Ehe leben könnten, auch nicht unter den günstigsten Bedingungen, einfach weil ihre Naturen die Elemente nicht in genügender Stärke enthalten, die ihnen eine völlige liebende Hingabe an einen anderen Menschen möglich machen würden. Und solange das menschliche Herz das bleibt, was es ist, wird es natürliche Tragödien geben, die aus der Bereitwilligkeit oder dem Widerstand eines Menschen, den anderen freizugeben, entspringen werden, wenn der erstere findet, dass seine oder ihre Liebe nicht erwidert wird. Vielleicht eine der düstersten und unerforschlichsten dieser natürlichen Tragödien liegt für das Weib darin, dass der Mann, dem sie zuerst ihren Leib hingiebt, wie sein Charakter auch sein mag, einen so tiefen und unabänderlichen Anspruch auf ihr Herz gewinnt. Und während es, sowohl für den Mann wie für das Weib, fast unmöglich ist, sich selber oder das Wesen der Anderen wirklich zu verstehen, solange sie keine geschlechtlichen Erfahrungen haben, so ist es im Falle des Weibes nun einmal so, dass die Erfahrung, die ihr die Möglichkeit der Wahl erst geben sollte, sehr häufig die ist, die ihr Schicksal ein für allemal besiegelt. Sie offenbart ihr wie mit einem Blick die Tragödie eines ganzen Lebens, das vor ihr liegt, und das sie doch rettungslos auf sich nehmen muss. Wenn es absolut notwendig ist, dass diese natürlichen Tragödien nicht durch gesetzliche und amtliche Intervention überflüssig kompliziert und vermehrt werden, dass nicht jene zahllosen künstlichen Tragödien erzeugt werden, die so quälend sind, wenn wir sie auf der Bühne oder im Roman dargestellt finden, und so traurig, wenn wir sie im wirklichen Leben wahrnehmen, so lässt sich doch nicht verkennen, dass, solange nicht das tausendjährige Reich anbricht, diese natürlichen Tragödien immer da sein werden, und dass keine Institution der Ehe und kein Abschaffen einer Institution uns von ihnen befreien wird. Der vollständige und unwandelbare Abscheu davor, einen anderen Menschen »im Käfig zu halten« oder eine Liebe anzunehmen, die nicht vollkommen frei und spontan entgegengebracht wird, dieser Abscheu, der mehr und mehr das Kennzeichen, so wollen wir wenigstens hoffen, der menschlichen Liebe werden wird, wird auch unvermeidlich seinen Preis menschlichen Leidens kosten; aber die Liebe, die damit gewonnen werden wird, wird für den einzelnen wie für die ganze Gesellschaft zuletzt des Stachels wert gefunden werden und wird so hoch über jener anderen Liebe stehen, wie ein wilder Paradiesvogel, der ungeheissen aus dem Walde sich auf unsere Hände niederlässt, lieblicher ist als der gefangene Vogel, den wir mit verschnittenen Flügeln hinter den Stangen des Käfigs halten. Liebe ist zweifellos der letzte und schwierigste Gegenstand, den die Menschheit zu lernen hat; sie ist in gewissem Sinn das Fundament aller anderen. Vielleicht ist für die modernen Nationen die Zeit gekommen, wo sie aufhören, Kinder zu sein und einen Versuch machen, sie zu erlernen.


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