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Die Geschlechtsliebe

Das Geschlechtsleben des Menschen ist ein Thema, über das zu schreiben schwierig ist. Die Natur selbst hat uns ohne Zweifel eine gewisse Verschwiegenheit und Zurückhaltung auf diesem Gebiete auferlegt. Ein gut Teil davon ist freilich Prüderie. Der Geschlechtstrieb nimmt, ohne dass von ihm gesprochen würde, einen so grossen Raum im Gedanken- und Gefühlsleben der Menschen ein, und die Worte, die über das Thema zur Verfügung stehen, sind so spärlich und so wenig entsprechend, dass alles, was darüber gesagt wird, dem Missverständnis ausgesetzt ist. Aus den einfachsten Bemerkungen werden die ungehörigsten Folgerungen gezogen und überall Zweideutigkeiten gewittert; die wohlüberlegteste und bedingteste Verfechtung der Freiheit wird als Empfehlung ungezügelter bandenloser Lust ausgelegt; und die Perspektive des litterarischen Ausdrucks wird gänzlich verkehrt.

Die übliche Weise, an die Fragen des sexuellen Lebens heranzutreten, ist thatsächlich so, als ob von einem geheimnisvollen Fetisch die Rede wäre. Und das darf uns nicht einmal in Erstaunen setzen, wenn wir bedenken, welch eine ungeheure Rolle das Geschlecht im Weltleben spielt, wie tief es seit den ältesten Zeiten nicht nur mit den persönlichen Trieben und Entschlüssen der Menschen, sondern auch mit ihren religiösen Empfindungen und Riten verwoben ist.

Nächst dem Hunger ist der Geschlechtstrieb zweifellos das primitivste und gebieterischeste unserer Bedürfnisse. Aber im civilisierten Leben kommt der Geschlechtstrieb wahrscheinlich noch viel mehr zum Bewusstsein als der Hunger. Denn die Nahrungsbedürfnisse der Menschen werden in den neueren Gesellschaftsstadien verhältnismässig befriedigt, während die geschlechtlichen Begierden im Gegenteil durch Gesetz und Sitte zurückgedrängt und an der Befriedigung gehindert werden – und eben darum das Gedankenleben um so intensiver in Anspruch nehmen.

Das Wesen dieser Begierden zu verstehen, für ihre Aeusserung wie für ihre Beherrschung das Mass zu finden, ihre persönliche sowie ihre sociale Bedeutung zu erkennen, ist ein furchtbares Problem für jeden Jüngling wie für jedes Mädchen, für jeden Mann und für jedes Weib.

Es finden sich auch zweifellos in beiden Geschlechtern einige wenige Individuen, die die Leidenschaft kaum fühlen – die niemals »verliebt« waren und kein starkes geschlechtliches Verlangen empfinden – aber es sind ihrer nur wenige. Im Leben ist die Geschlechtsleidenschaft eine Sache der allgemeinsten Erfahrung; und im allgemeinen kann man es auch als durchaus wünschenswert bezeichnen, dass jeder Erwachsene ein gewisses Mass wirklicher Erfahrung darüber habe. Es mag Ausnahmen geben, aber der Instinkt ist wie gesagt ein so tief in der menschlichen Natur begründeter und so allgemeiner, dass sowohl zum Verständnis des Lebens – des eigenen Lebens so wie des der Anderen und der gesamten menschlichen Natur – als auch für die rechte Entwicklung der persönlichen Fähigkeiten jedes einzelnen solche Erfahrung in der Regel unerlässlich ist.

Und hier möchte ich im Vorübergehen bemerken, dass in einem höher entwickelten socialen Zustand, wie die Zukunft ihn bringen wird, dieses Bedürfnis sicherlich anerkannt werden und – während an freiwilligem Cölibat keinerlei Stigma haften wird – der Zustand erzwungenen Cölibats, in dem heute eine sehr grosse Zahl von Frauen lebt, als ein nationales Unrecht angesehen werden wird, ein Unrecht, das fast ebenso schlimm ist wie die Prostitution – zu der es in gewissem Grad das Gegenstück oder vielmehr eine notwendige Begleiterscheinung bildet.

Die Natur allerdings – und mit diesem Ausdruck personificieren wir hier die mehr unbewussten, wenngleich durchaus menschlichen Instinkte und Kräfte – sorgt schon in ihrer Weise dafür, dass das Geschlecht nicht vernachlässigt werde. Sie hat ihre eigenen Zwecke zu verfolgen, Zwecke, die in gewissem Sinn mit dem Individuum nichts zu thun haben, sondern der Erhaltung der ganzen Rasse gelten. Aber sie arbeitet gleichsam im rauhen Block, mit furchtbarem Zuge fährt sie über uns hin, ohne viel Rücksicht, ohne Anpassung an die in jüngerer Zeit entwickelten bewussteren und geistigeren Ideale der Menschheit. Der junge Mensch, den der Geschlechtstrieb und seine Leidenschaft heftig ergreift und beherrscht, sieht sich plötzlich titanischen Kräften gegenüber, den titanischen, aber unter dem Bewusstsein wirkenden Kräften seines eigenen Wesens. Er »liebt«, er fühlt einen übermenschlichen Trieb, und das ist natürlich, denn er fühlt sich plötzlich eins mit kosmischen Energien und Essenzen, Gewalten, die die Zukunft der Rasse schaffen, und deren Wirkungen sich über ungeheure Strecken des Raumes und tausendjährige Zeitperioden dehnen. Er blickt in die Abgründe und Tiefen seines eigenen Wesens und zittert mit einer Art ehrfürchtigen Schauders vor diesen Enthüllungen. Und was er nun von sich selbst empfindet, das empfindet er gleichermassen von der, die solche Leidenschaft in ihm erweckt hat. Die Blicke zweier Liebenden dringen tief unter die Oberfläche der Erscheinung, viele Zeitalter tief in die Gründe ihres Wesens ein und wecken Myriaden von Träumen längst verklungener Generationen auf.

Für einen Augenblick lässt er sich gehen, er frohlockt in dem Gefühl grenzenloser Kraft, das ihn erfüllt – er fährt dahin, wie ein Mensch von einem reissenden Strom hinabgerissen wird, viel zu berauscht von dem Jubel der Bewegung, um daran zu denken, wohin er fährt – aber im nächsten Augenblick entdeckt er, dass er in unmögliche Situationen gestürzt wird, Situationen, gegen die sein eigenes sittliches Bewusstsein, ebenso wie das in Gesetzen und Sitten verkörperte sittliche Bewusstsein der Gesellschaft sich sträuben. Und er entdeckt vielleicht, dass die Befriedigung seines stürmischen und gebieterischen Triebes unverträglich ist mit der Wohlfahrt des Weibes, das er liebt. Seine eigene Leidenschaft reckt sich vor ihm in die Höhe wie ein ungeschlachter Riese, den er oder die Rasse, zu der er gehört, Menschenalter vorher geschaffen haben mögen, wie Frankenstein seinen gespenstigen Diener schuf – über den er aber jetzt Herr werden muss, wenn er es nicht über ihn werden soll; und so erwächst in ihm der furchtbarste Kampf – zwischen seinem in die fernste Urvergangenheit zurückgreifenden titanischen instinktiven, unter dem Bewusstsein schlummernden Wesen und zwischen seinem viel später entwickelten, mehr specifisch menschlichen und sittlichen Ich.

Während der Triumph der Geschlechtlichkeit die ganze Natur erfüllt und durchströmt, während die Blüten der Pflanzen ihre farbigen Sterne und Strahlen in einer wahren Ekstase der Zeugungslust zur Sonne kehren, während die Nüstern der Tiere sich dehnen, und ihre Leiber unter dem Sturm der Leidenschaft von einer stolzen und feurigen Schönheit belebt werden; während selbst der Mensch, der liebt, umgewandelt wird und in den grossen Herrlichkeiten der Berge und des Himmels etwas wahrnimmt, wozu er den Schlüssel früher nicht besass – fällt es uns dennoch auf, dass gerade beim Menschen der magische Stab der Natur plötzlich zerbricht, und Zweifel, Spaltung und Kampf dort auftreten, wo eine Art unbewusster Harmonie gewaltet hatte.

Und der Grund hiervon ist nicht weit zu suchen. Denn als wir – ein oder zwei Seiten vorher – die geschlechtlichen Bedürfnisse der Menschen und ihre Nahrungsbedürfnisse miteinander verglichen, liessen wir einen grossen Unterschied unberücksichtigt, und zwar den, dass die Nahrung – der Gegenstand des Hungers – keine eigenen sittlichen Rechte hat und sich ohne Bedenken solcher Art aneignen lässt, (dies gilt natürlich nicht von animalischer Nahrung), während der Gegenstand des Geschlechtstriebes eine Persönlichkeit ist, die wir zu unserem eigenen Genuss und Vorteil nicht gebrauchen dürfen, ohne das Gesetz der Gleichheit in grässlicher Weise zu verletzen. In dem Augenblick, in welchem der Mensch sich halbwegs zum Bewusstsein dessen erhebt, dass alle anderen gerade solche Rechte haben, wie er selbst, in dem Augenblick stossen seine Liebesbedürfnisse auf dieses furchtbare Problem. Seine Bedürfnisse sind nicht geringer – vielleicht sogar grösser – geworden als vorher, aber eine tödliche Bestürzung ergreift ihn bei dem Gedanken, dass es etwas noch grösseres giebt, als sie, das ihnen entgegentritt.

Heine, glaube ich, sagt irgendwo, dass der Mensch, der unglücklich liebt, dennoch fühlt, dass er einem Gotte gleicht. Das Citat ist nicht ganz richtig. Heine sagt: Wer zum ersten Male liebt, sei's auch glücklos, ist ein Gott. Dann erst vielleicht, wenn der gewaltige Strom der sexuellen Liebe gehemmt wird und mit anderen Gebieten seines Wesens in Konflikt gerät, dann erst wird die ganze Natur des Menschen, sein sexuelles wie sein sittliches Wesen, unter dem furchtbaren Drang und der Qual bewusst und enthüllt in Flammen ihre göttliche Art. Das ist das Werk des Künstlers, der unsterbliche Seelen schafft und die natürliche Liebe zu einer weit vollkommeneren Liebe entwickelt. »In tutti gli amanti« sagt Giordano Bruno, »è questo fabro Vulcano«, »In allen Liebenden offenbart sich der Olympische Schmied«.

Der Gegenstand dieses Kampfes oder zum mindesten dieser Differenzierung zwischen den sexuellen Instinkten des Menschen und seinen moralischen und socialen Instinkten ist es, der uns hier beschäftigt. Ich glaube, es ist ganz klar, dass, wenn das Thema der Geschlechtsliebe vernünftig erörtert werden soll, das heisst weder mit abergläubischer Scheu noch mit Cynismus, wir zugeben müssen, dass beides, sowohl die Befriedigung der Leidenschaft wie ihre Nichtbefriedigung, beides wünschenswert und schön sein kann. Beide haben ihre Folgen, und der Mensch ist berufen, die Früchte, die aus beiden Erfahrungen erwachsen, zu ernten.

Wir dürfen vielleicht sagen, dass im Menschen eine Art Umwandlung der Essenzen des Lebens beständig vor sich geht und allezeit vor sich gehen kann. Wollust und Liebe – die Aphrodite Pandemos und die Aphrodite Urania – können in geheimnisvoller Weise ineinander übergehen und für einander eintreten. Vielleicht sind die körperlichen Liebesinstinkte und das ätherische menschliche Sehnen nach dem Einswerden der Persönlichkeiten im tiefsten und wesentlichen Eins und nur verschiedene Offenbarungsformen des gleichen kosmischen Vorgangs. Wie dem auch sein mag, es ist jedenfalls ziemlich klar, dass irgend eine tiefe Verwandtschaft zwischen beiden besteht. Die tägliche Erfahrung zeigt uns, dass die schrankenlose Befriedigung rein physischer Begierden den Menschen gleichsam bis zur seelischen Dürre erschöpft und ihn seiner höheren Liebeskräfte beraubt; während auf der anderen Seite, wenn die physische Befriedigung versagt bleibt, der Körper von den Wogen der Erregung überwältigt wird – manchmal in einem gesundheitsschädlichen und gefährlichen Grade. Und doch mag diese in Aufregungen beruhende Liebe, gerade weil ihre Aeusserung gehemmt oder beschränkt wird, sich zu Zeiten in das alles durchdringende feine Fluidum der geistigen Liebe verwandeln.

Mark Aurel citiert einen Ausspruch des Heraklit, nach welchem es der Tod der Erde sei, Wasser zu werden (die Umwandlung des Festen ins Flüssige) und der Tod des Wassers die Verwandlung in Luft (Verdampfung), der Tod der Luft aber die Verwandlung in Feuer (Verbrennung). So giebt es im menschlichen Körper sinnliche Elemente, Gefühls-Elemente und geistige und noch andere Elemente, von denen man sagen mag, dass ihr Tod auf dem einen Felde nichts anderes als ihre Umwandlung und sodann ihre Wiedergeburt in anderen Regionen bedeute.

Es ist leicht zu erkennen, dass ich keineswegs die Ansicht vertrete, dass die niedrigeren, das heisst die mehr physischen Aeusserungen der Liebe etwa ertötet werden sollen, um die Entstehung ihrer geistigen und dauernderen Erscheinungsformen zu erzwingen. Die Natur, die langsame und allmähliche Entwicklungen liebt, duldet so gewaltsame Methoden nicht; ich will hier nur andeuten, dass wir Gründe haben, an die Umwandlungsfähigkeit der verschiedenen Formen der Leidenschaft zu glauben, dass wir Gründe haben, anzunehmen, dass die Aufopferung einer niedrigeren Phase des Gefühls manchmal die einzige Bedingung ist, unter der eine höhere und dauerndere Phase erreicht werden kann, und dass darum die Zurückhaltung – die zu Zeiten absolut notwendig ist – ihre Vergeltungen und Entschädigungen mit sich bringt.

Jeder, der einmal erkannt hat, wie herrlich die Liebe in ihrem Wesen ist, und wie unzerstörbar sie ist, der wird kaum irgend etwas, das zu ihr führt, ein Opfer nennen; und der ist in der That ein Meister des Lebens, der die gröberen Begierden seines Leibes hinnimmt und, ohne sie abzuweisen oder zu verdammen, sie mit vollem Bewusstsein in die seltensten und duftendsten Blüten menschlicher Gefühle umzuwandeln weiss.

So lange diese Dinge nicht den Kindern und jungen Leuten offen – allerdings in verständiger und verständnisvoller Weise – mitgeteilt und klargelegt werden, so lange lässt sich nicht erwarten, dass etwas anderes als die äusserste sittliche Verwirrung und Unvernunft auf dem Gebiet des geschlechtlichen Lebens herrschen kann. Dass wir es zulassen, dass unsere Kinder ihre Informationen über die heiligsten, tiefsten und für das Leben bedeutsamsten aller menschlichen Funktionen aus der Kloake gewinnen, dass wir zugeben, dass sie von den Lippen der Unwissenheit und des Lasters erfahren, was sie in reiner Art von den Lippen der Eltern hören sollten, das wird einmal unglaublich erscheinen und beweist sicherlich den tief eingewurzelten Unglauben und die Unreinheit unseres inneren Lebens. Und doch ist ein Kind, das im Alter der Pubertät steht, in dem sein tief verborgenes sexuelles Sein und sein Gefühlsleben sich eben entfalten, im höchsten Masse fähig, die Bedeutung des Geschlechts in der feinsten Weise zu empfinden, es von der liebevollsten und reinsten Seite zu verstehen – meist in viel höherem Masse, wie die Dinge heute liegen, als sein von der Welt befleckter Vater oder Erzieher; und es kann die Unterweisung, wenn sie mit Liebe und Verständnis gegeben wird, empfangen und verarbeiten, ohne dass sein Schamgefühl im geringsten erschüttert oder verwirrt werden müsste – jenes Schamgefühl, das eine so natürliche und wertvolle Schutzwehr der frühen Jugend ist. Man müsste das Kind zuerst ganz offen über seinen körperlichen Zusammenhang mit seiner eigenen Mutter belehren, ihm sagen, wie lang es in ihrem Körper geruht, und welch ein tiefes und heiliges Liebesband Mutter und Kind infolgedessen verbinden; dann eine Zeit später müsste man ihm die Vaterschaft erklären, ihm sagen, wie die Liebe der Eltern füreinander der Entstehungsgrund seiner eigenen Existenz war: das sind ganz gewiss leichte und natürliche Dinge – zum mindesten für den jungen Geist – und sie erregen in ihm kein Erstaunen und keinerlei Gefühle des Unpassenden, sondern nur Dankbarkeit und eine Art zärtlichen Erstaunens. S. Anhang. Dann später, wenn die speciellen sexuellen Bedürfnisse und Sehnsüchte sich entwickeln, müsste man Knaben und Mädchen über die weiteren Details unterrichten, und sie über die Hut und das richtige Verhalten in Bezug auf ihre eigene Sexualität aufklären, sie auf die Bedeutung und die Gefahren einsamer schädlicher Gewohnheiten aufmerksam machen, wo solche bestehen; und ihnen ernst sagen, dass Selbstbeherrschung notwendig und jeder Geschlechtsverkehr ohne persönliche Neigung niedrig ist; und ohne ein unnötige Askese zu predigen, müsste man ihnen zeigen, dass die physischen Begierden sich in psychische Neigungen ableiten lassen und welch ein grosser Gewinn damit erreicht werden kann. All dies sind Dinge, die die jungen Leute beiderlei Geschlechts, wenn sie nicht geradezu elend veranlagt sind, leicht zu verstehen und zu würdigen im stande sind, und die für sie von unschätzbarem Wert sind, die ihnen Jahre an Kämpfen in den ekeln Sümpfen des Lebens und die Vergeudung kostbarer Lebenskraft ersparen können. Dann endlich, wenn die sittliche Reife erlangt ist, müsste man sie die Hoheit menschlich reiner Beziehungen erkennen lehren – nicht etwa das Ersticken des sinnlichen Verlangens, sondern die richtige Verwertung dieses Agens im Menschenleben, indem es stets dem Wohl und der Wonne des anderen zu dienen bestimmt wird. So wird das menschliche und menschenwürdige Element der Liebe entwickelt, bis das Haschen einer unfrohen Lust, das keine Rücksicht auf den nimmt, von dem sie gegeben oder vielmehr genommen wird, oder die Hingabe des eigenen Leibes aus irgend einem anderen Grunde, als aus tiefster Liebe, so erzogenen Menschen unmöglich wird.

Dann aber ist zwischen Liebenden eine Art kraftvoller Enthaltsamkeit sehr zu empfehlen – aus allen Gründen, besonders aber darum, weil es ihre Freude und ihr Wohlgefallen aneinander aus der Region der Eintagsdinge – die sich nur zu bald in öde Gleichgültigkeit und Uebersättigung wandeln – in die Region dauernder Werte erhebt, sie jedenfalls dem ewigen Reiche um einen Schritt näher bringt. Wie berauschend, wie durchdringend – gleich dem köstlichsten Wein – ist die Liebe, in der die Sexualität durch die Magie des Willens in geistige Bande und in Bande seelischen Empfindens umgewandelt ist! Und welch ein Verlust vom blossen Standpunkt der Klugheit und der Oekonomie der Lust ist ihre ungezügelte Vergeudung in physischem Genuss! Nichts ist so zu fürchten im Schicksal jedes Liebespaares als gerade das – die Vergröberung und Herabwürdigung ihrer Liebe S. Anhang.: das ist der Felsen, an dem so viele Ehen scheitern.

Alles physische Verlangen ist von einem Element der Illusion umgeben, ähnlich der, deren Opfer das Kind wird, das eine schöne Blume, die es erblickt, augenblicklich ergreift und in wenigen Sekunden die Form und den Duft zerstört, die es anzogen. Nur der erlangt die volle Herrlichkeit, der sich ein wenig zurückhält, und nur der besitzt in Wahrheit, der stets bereit ist, im Notfall nicht zu besitzen.

Auf der anderen Seite müssen wir uns davor hüten, zu glauben, dass die sinnlichen Begierden von Natur aus unrein, ja dass sie an ihrer Stelle anders, denn wunderbar und wünschenswert wären. Jeder Versuch, sie absolut zu verleugnen oder zu verachten, den Individuen oder ganze Völkerschaften durch längere Zeit fortsetzten, hat nie zu etwas anderem geführt, als zu einer Entkräftung des Menschentums, der natürlichen Folge der Verweigerung seines Entwicklungsmaterials. Und sehr oft führte der Versuch sich selbst ad absurdum, indem er zu Excessen als Reaktionserscheinungen trieb. Es darf nie vergessen werden, dass die physische Basis unser ganzes Leben hindurch von der höchsten Bedeutung bleibt, und dass sie die Nahrungsstoffe und das Material liefert, ohne das die höheren Kräfte nicht existieren, zum mindesten sich nicht gehörig offenbaren können. Intimitäten, die lediglich auf geistige und sittliche Verwandtschaft gegründet werden, sind selten tief und von langer Dauer; wenn die physische Grundlage nicht in irgend einer Art vorhanden ist, sterben solche Beziehungen leicht hin, wie schlecht gewurzelte Pflanzen. In vielen Fällen – besonders bei Frauen – bleibt das Wesen des Menschen unverständlich, oder wird niemals wirklich offenbart, so lange nicht die sexuelle Empfindung – wenn auch noch so leicht – berührt und erweckt wird. Ausserdem müssen wir bedenken, dass, wenn zwischen zwei Menschen eine vollkommene Intimität bestehen soll, der Natur der Sache nach ihre Körper einander nicht versagt bleiben dürfen. Die körperliche Intimität und Zärtlichkeit muss nicht das sein, was sie zusammenführt; aber wenn sie versagt wird, so wird diese Versagung jedes Gefühl von Ruhe und Zutrauen ausschliessen und die ganze Verbindung zu einer ruhelosen, vagen, unvollendeten und unbefriedigten machen.

Im Lichte dieser Ausführungen wird man erkennen, dass, was man Askese und was man Sittenlosigkeit nennt, in der That nur zwei Seiten ein und derselben Tafel sind. So lange das Streben nach blosser Lustbefriedigung stark und ungehemmt besteht, solange wird auch der entgegengesetzte Trieb zur Askese sich behaupten – und mit Recht, denn sonst würden wir gar bald auf phaetontischer Bahn kopfüber dahinschiessen. Die Askese hat ihren guten Zweck – wie der Sinn des Wortes selbst andeutet – als Uebung; aber sie darf nicht als ein erstrebenswertes Ziel an sich angesehen und erhoben werden, denn das ist ein gerade so schlimmer Fehler wie der Sturz ins entgegengesetzte Extrem. Freilich, wenn das Wohlsein und das Glück des Geliebten wirklich das hauptsächliche Ziel wäre, das wir im Auge haben, wenn wir lieben, dann würde es uns an Gelegenheit zur Selbstbeherrschung nicht fehlen, und eine unnatürliche Askese wäre überflüssig. Wir harren alle der Zeit, in der der feindliche Kampf zwischen diesen zwei Seiten der unvollkommenen Menschennatur in der echten und vollkommenen Liebe Frieden finden wird; gegenwärtig aber und solange diese Zeit nicht gekommen ist, ist dieser Kampf zweifellos eine der einschneidendsten Thatsachen unserer Erfahrung, eine Thatsache, der man nicht ausweichen, vor der man nicht die Augen schliessen darf, der man im Gegenteil kühn ins Antlitz schauen muss. Denn sie ist beinahe an sich eine sexuelle Erscheinung, ein sexueller Akt, durch den die menschliche Natur gleichsam entzweigerissen wird; und hie und da mag es sich ereignen, dass gerade durch diesen Riss, der sein Menschentum spaltet, ein neuer unsterblicher Mensch geboren wird.

Die Geschlechtslust ist in manchem Sinn typisch für jede Lust und ihr Schicksal. Das Gefühl der Unbefriedigung, das ihr so oft folgt, ist das gleiche, das jeder Lust folgt, die begehrt und gesucht wird und nicht ungesucht kommt. Diese Unbefriedigung liegt nicht im Wesen der Lust sondern im Wesen des Verlangens, des Suchens. So oft es nach äusseren Dingen trachtet, täuscht das »Ich« (das ja in Wirklichkeit alles in sich schliesst und keines Dinges bedarf) sich selbst, verlässt sein wahres Heim, zerreisst sein eigenes Wesen und giebt einen Riss oder eine Lücke in seinem eigenen Sein zu. Das ist vermutlich auch der Ursprung und die Bedeutung des Wortes »Sünde«: die Spaltung, die »Sonderung« des eigenen Wesens, und der Schmerz, der damit verbunden ist. Sie beruht ganz und gar im Aufsuchen dieser äusseren Dinge und Wonnen, nicht – tausendmal sei es gesagt – in den äusseren Dingen und Wonnen selbst. Sie sind alle durchaus schön und der Gnade voll; so stehen sie in ungezählten Reihen um den Thron und bringen ihre Huldigung dar – unser ist es, sie zu empfangen. Aber dass wir ausgehen und ihnen nachjagen, dass wir uns selbst zwieteilen und zerreissen lassen durch den Reiz, den sie auf uns üben, das ist eine Verkehrung der göttlichen Ordnung.

Zu diesem Abfall von unserem wahren Ich verführt und versucht uns nichts so sehr wie die Geschlechtslust – sie ist der Typus der Maya, der Illusion, die die Welt umhüllt; und doch wandelt sich die Schönheit des Geliebten und der ganze Wonneschauer der körperlichen Vereinigung in Staub und Asche, wenn sie um den Preis der Verunreinigung und der Illoyalität auf höheren Gebieten erkauft werden, – der Illoyalität, die auch eine solche gegen den Menschen ist, dessen irdische Liebe begehrt wird. Denn im Menschen lebt etwas, das höherer und dauernderer Natur ist, und das, sobald er in den Wirbelstürmen körperlicher Lust dahintreibt, furchtbare Qualen erleidet, im Augenblick wo es erkennt, dass es ja eigentlich etwas ganz anderes als diese physischen Empfindungen begehrt hat! Dann kommt der Kampf um die Wiedergewinnung des verlorenen Paradieses, die furchtbaren Anstrengungen, beide Naturen in sich zu versöhnen, ein Kampf, durch welchen das Centrum des Bewusstseins mählich von dem vergänglicheren Teil unseres Wesens in den beständigeren versetzt wird, während dem sterblichen und wandelbaren sein gebührender Platz in den Aussenräumen und Vorhöfen des Tempels zugewiesen wird.

Die Lust müsste als eine natürliche (und in der That unvermeidliche) Begleiterscheinung des Lebens auftreten, als etwas, das ungesucht kommt, und dem wir uns mit einem unbefangenen Glauben hingeben, das aber niemals als ein Ziel an sich begehrt werden darf. Aus der Verkehrung dieses Gebots ist die Unreinheit der Sinne entsprungen. Das Geschlechtsleben unserer Tage ist unrein bis ins innerste, soweit das Gebiet der civilisierten Völker reicht. Ueberall und überall ist es vom Gedanken der Lust, des Vergnügens befleckt und zugedeckt wie von einer Schlammschicht. Nicht aus hoher Freude, nicht aus Wonne und Uebermass der Lebenslust, nicht als stolzes Verlangen nach der Zeugung herrlicher Kinder, nicht als Symbol und Ausdruck der tiefsten Seelenverbindung tritt es auf – sondern zur Befriedigung eines Bedürfnisses! Darum verleugnen wir es in unseren Gedanken und decken es zu mit falscher Scham und cynischem Unglauben, – denn wir wissen wohl, dass es eine schändliche Lüge ist, einen socialen Akt eines privaten Interesses wegen zu vollziehen. Darum verhüllen wir unseren Leib in einer Art religiöser Scheu mit erstickenden Kleidern und wahren ihn vor dem Ansturm des grossen reinigenden Lebens der Natur, darum ist er mit Unreinheit und Krankheiten behaftet und ein Gegenstand kitzelnder Gedanken und einer raffinierten und überreizten Lüsternheit, wie er sie nackt nie erwecken würde. Die Haut wird krankhaft und verdorben und nimmt eine tote bleiweisse Farbe an, die sonderbar genug für schöner erklärt wird, als das reiche rosige Braun, das an den den Strahlen minder ausgesetzten Stellen zarter und lichter wird, und das unser Leib annehmen würde, wenn er durch den täglichen Gruss der Sonne und des Windes gestählt würde. Die geschlechtlichen Umarmungen selbst empfangen nur selten die Segnung der grossen Mutter Natur, in deren Gegenwart allein, unter der flammenden Sonne oder unter dem hohen Zeltdach der Gestirne, umflutet von der düftedurchwogten Luft, ihr Sinn völlig verstanden werden kann: sondern sie finden in mit schmutzigen Möbeln vollgestopften Höhlen statt und werden mit allem, was unschön ist, in Verbindung gebracht.

Selbst die Litteratur, von der man hätte erwarten können, dass sie einen würdigen Ausdruck für solch einen Gegenstand bewahren würde, spiegelt durch ihr Schweigen oder durch ihre Lüsternheit nur zu deutlich den herrschenden Geist des Unglaubens wieder. Wenn wir gesunde, gläubige, starke und ruhevolle Worte darüber finden wollen, müssen wir durch die ganzen Sümpfe und Moore civilisierten Geschreibes zurückwaten und mühsam durch ihre öden Wüsten ostwärts bis zum ersten Dämmern der arischen Rassen wandern.

In einer der Upanischaden der heiligen Vedischen Bücher (dem Brihadaranyaka Upanischad) findet sich eine schöne Stelle, in der der Mann, der einen edeln Sohn zu zeugen begehrt, belehrt wird, welche Gebete er den Göttern darbringen muss, wenn er sein Weib umarmt. In ursprünglichen, einfältigen und ruhevollen Worten wird ihm gesagt, wie er in solchen Augenblicken zu den verschiedenen göttlichen Mächten, die das Schaffen der Natur leiten, zu flehen habe: zu Wischnu, dass er den Leib der künftigen Mutter bereite, zu Prajápati, dass sie über den Einfluss des Samens wache, und zu den anderen Göttern, dass sie die Frucht wohl nähren mögen u. s. f. Nichts – ich urteile nach der einzigen Uebersetzung, die ich gefunden, einer lateinischen – nichts könnte ruhiger, reiner, einfältiger und frömmer sein, und es wäre besser, wenn solche Lehren noch heute bewahrt und befolgt würden. Aber heute sind wir so weit herabgekommen, dass ein Mann wie Max Müller in seiner Uebersetzung der heiligen Bücher des Ostens sich nicht dazu verstehen konnte, diese und einige wenige ähnliche Stellen ins Englische zu übersetzen, sondern sie im ursprünglichen Sanskrittext giebt! Man hätte denken sollen, dass als Professor der Universität zu Oxford, doch wohl sans peur et sans reproche, und in seinem Beruf damit beschäftigt, eine Uebersetzung dieser Bücher für Lernbegierige zu schaffen, es seine Pflicht gewesen wäre und sein Entzücken hätte sein sollen, gerade solche Stellen wie diese lesbar zu machen, die die reine und fromme Empfindungsweise der Frühzeit in so vollkommener Weise wiedergeben, – es wäre denn, dass auch er diese Empfindungsweise für unrein und unfromm hielt; dann hätten wir in der That ein Mass für den Tiefstand der öffentlichen Anschauung, die seinen Geist so lenken konnte. Was die einzige deutsche Uebersetzung des Upanischad angeht, die ich finde, so versagt sie an denselben Stellen in derselben schwächlichen Weise, und wiederholt ihr »nicht wiederzugeben«, »nicht wiederzugeben« wieder und wieder, bis wir zuletzt zum Schlusse kommen, dass der Uebersetzer recht hat, und dass solche Einfalt und Heiligkeit der Empfindung in unsrer korrupten Zeit nicht wiederzugeben ist.

Unsere allgemeinen Anschauungen, unsere Litteratur, unsere Gebräuche und Gesetze sind übersättigt mit der Vorstellung, dass das Geschlechtliche am Menschen unrein sei, und gestalten auf diese Weise die Rückkehr zur Reinheit immer schwieriger. Unsere Kinder müssen, wie schon bemerkt, ihre Kenntnisse über dieses Gebiet aus der Gosse schöpfen. Kleine Knaben, die in der Umgebung unserer Städte baden, werden von stumpfsinnigen Polizeimännern verjagt, die der Anblick eines nackten Körpers, und wäre es selbst eines Kindes, zum Rasen bringt. Jüngst mussten in einer unserer nördlichen Städte Männer und Knaben, die in einem öffentlichen und vom Stadtrat zu diesem Zweck bestimmten Teich baden sollten, obgleich sie verpflichtet waren, einen Schurz zu tragen, bis 9 Uhr abends warten, ehe man ihnen gestattete, ins Wasser zu steigen, aus Furcht, Frau Sittsam könnte ein Stücklein ihrer Leiber erblicken! und was Mädchen und Frauen betrifft, so ist ihre Hilflosigkeit und Angst auf diesem Gebiet ein sehr ernster Missstand, der von schweren Folgen begleitet ist.

Solange dieses schmutzige und unheimliche Empfinden gegenüber dem menschlichen Leibe nicht aufhört, solange ist keine Hoffnung auf ein einigermassen freies und schönes öffentliches Leben möglich. Zugleich mit der Reform und Wiedergeburt unserer socialen Ideen wird auch die ganze Auffassung der Geschlechtlichkeit des Menschen als einer Sache, die man zu verhüllen und deren man sich zu schämen habe, als einer unreinen Schacherware – wie sie es heute ist – anders werden müssen. Jene unschätzbare Freiheit und der Stolz, die die Basis aller wahren Mannheit und Weiblichkeit sind, werden auch diese intimste aller Beziehungen durchdringen müssen, um sie frei und rein zu erhalten – rein von dem verdammten Schachergeist, der alles Menschliche kauft und verkauft, und von der religiösen Heuchelei, die bedeckt und verbirgt; und eine gesunde Freude am eignen Körper und all seinen natürlichen Funktionen, seine Ausbildung und ein entschlossener Wille, ihn rein und schön, offen, gesund und frei zu erhalten, wird ein wichtiger und anerkannter Teil des nationalen Lebens werden müssen.

Möglich und sogar wahrscheinlich ist, dass mit der steigenden Intensität der Gemeinsamkeit des Lebens und der Interessen, mit der erhöhten Fähigkeit wahrer Kameradschaft und der Abnahme selbstsüchtiger Sorge und Aengstlichkeit die Wichtigkeit des sexuellen Aktes an sich immer mehr schwinden wird, bis er nichts als eben ein sehr specialisierter Faktor in der Gesamtfülle menschlicher Liebe wird. Es ist ja ganz sicher, dass, wenn die Vereinigung zweier Menschen in liebevollem Zusammenleben vollständig verwirklicht ist, das Bedürfnis der thatsächlichen körperlichen Vermählung viel von seinem Drange verliert, und es ist unschwer zu erkennen, dass in unserem gegenwärtigen socialen Leben der Mangel an jener lieberfüllten Lebensgemeinschaft – nach dem Gesetz der Umwandlung der Empfindungen – die stärkste Ursache für die Heftigkeit und Extravaganz niedrigerer Leidenschaften bildet. Aber wie immer die Dinge mit der weiteren Entwickelung der Menschen sich umgestalten mögen, daran kann kein Zweifel sein, dass vor allem anderen die geschlechtlichen Beziehungen der Menschen von der Vorstellung der Unreinheit befreit werden müssen, die heute an ihnen haftet, und wiederum wie einst mit einer Art religiöser Weihe umkleidet werden müssen: Das aber verlangt, wie ich bereits gesagt, ein freies Volk von Menschen, die stolz sind auf die Selbstbestimmung und Gotterfülltheit ihres Lebens und die Schönheit und Unverhülltheit ihrer Körper.

Die Geschlechtlichkeit ist die Allegorie der Liebe in der Körperwelt. Das verleiht ihr eine so ungeheure Macht. Das Ziel der Liebe ist Nichtdifferenzierung – absolutes Einswerden des Seins; aber absolutes Einswerden kann nur im Centrum des Daseins gefunden werden. Darum hat der, der einen anderen in Wahrheit gefunden hat, nicht nur diesen anderen und in diesem anderen sich selbst gefunden, sondern auch einen Dritten – der im Centrum aller Existenz weilt und den plastischen Stoff des Weltalls in einer flachen Hand hält und der Schöpfer aller sinnlich wahrnehmbaren Formen ist.

So ist auch das Ziel des Geschlechtstriebes Einswerden und Nichtdifferenzierung im Körperlichen – und im Augenblick, wo die Vereinigung vollzogen ist, tritt das Schaffen ein und die Zeugung sinnlich wahrnehmbarer Formen – im plastischen Stoff der geschlechtlichen Elemente.

In der tierischen und niedrigeren Welt – und wo immer die Kreatur unfähig vollkommener Liebe ist (die sie in der That in einen Gott verwandeln kann) – da erreicht die Natur das Nächstbeste durch die rein physischen Instinkte: das heisst, sie bewirkt die körperliche Vereinigung und erzeugt durch sie ein neues Geschöpf, das schon infolge seines Zeugungsprozesses dem Weltgeist und der Verwirklichung des ersehnten Zieles um einen Schritt näher kommt. Nichtsdestoweniger muss in dem Augenblick, wo jene andere Liebe und alles, was in ihrem Gefolge erscheint, sich verwirklicht, die natürliche geschlechtliche Liebe zurücktreten und etwas Sekundäres werden – denn der Liebende muss auf seinen Füssen stehen und nicht auf dem Kopf – sonst sind entsetzliche Verwirrungen und Aeonen füllende Qualen die Folge.

All dies zusammenfassend, glaube ich sagen zu können, dass das primäre Ziel der Geschlechtlichkeit die Verbindung, das Einswerden, ist, und zwar die körperliche Vermählung als die Allegorie und der Ausdruck der wahren Vermählung, während die Zeugung ein sekundäres Ziel und Resultat dieser Vereinigung ist. Wenn wir zu den tiefsten materiellen Ausdrucksformen des Geschlechtslebens hinabsteigen – wie zu den protozoischen Zellen – so finden wir, dass sie, die Zellen, sich vereinigen, dass zwei Zellen zu einer einzigen werden, und dass als Resultat der Ernährung, die daraus folgt, diese gemeinsame Zelle nach einer gewissen Zeit (aber nicht immer!) durch Spaltung zu einer Anzahl nachkommenschaftlicher Zellen wird; und wenn wir auf der anderen Seite zum höchsten Ausdruck der Geschlechtlichkeit, den wir kennen, dem Gipfel der Liebe, emporsteigen, so finden wir, dass sie vornehmlich und wesentlich die Form eines Verlangens nach völliger Vereinigung und nur in weit geringerem Grade den eines Wunsches nach Fortpflanzung der Rasse annimmt. Wenn wir die Vereinigung als das wesentliche festhalten, so können wir die ideale Geschlechtsliebe als ein Gefühl des Kontaktes ansehen, das Leib und Seele völlig durchdringt – während die Geschlechtsorgane nur eine Specialisation dieser Vereinigungsmöglichkeit in der äussersten Sphäre sind: und sowie die Vereinigung in der körperlichen Sphäre zur körperlichen Zeugung führt – so führt die Liebe als Vereinigung auf geistigem und psychischem Gebiet zu Zeugungen anderer Natur.

Ich erwähne dies, weil es vermutlich einen bedeutenden Unterschied in unserer Auffassung und Würdigung des Geschlechtslebens macht, ob die eine Funktion oder die andere als die primäre angesehen wird. Unter ärztlichen und anderen Autoritäten scheint eine leichte Neigung zu bestehen, die wichtigen physischen Folgen und Reaktionen und selbst körperlichen Veränderungen, die der geschlechtliche Verkehr zweier Menschen zur Folge haben kann, zu übersehen und ihre Aufmerksamkeit allzu ausschliesslich auf die Frage der Zeugung und Schwangerschaft, auf alles, was mit dem kommenden Kinde zu thun hat, zu richten. In Wirklichkeit aber scheint es aus verschiedenen Gründen sehr wahrscheinlich Dies sind 1. die merkwürdigen noch nicht aufgeklärten Erscheinungen der »Telegonie«, die auch bei Tieren oft wahrgenommene Thatsache, dass die Kinder einer Mutter von einem zweiten Vater, dem ersten Vater ähnlich sind. 2. Das wahrscheinliche Fortbestehen, wenn auch in modificierter Form des ursprünglichen engen Zusammenhangs (wie bei den Protozoen) zwischen Copulation und Ernährung. 3. Die grosse Aktivität und Bewegung der Spermatozoen selbst., dass die Spermatozoen durch die Gewebe dringen und den ganzen Körper des Weibes beeinflussen, sowie dass der Mann winzige Zellen des weiblichen Körpers absorbiert, und sicherlich findet im allgemeinen auch ohne die thatsächliche Vollziehung des Geschlechtsakts ein Austausch vitaler und ätherischer Elemente statt, so dass man sagen kann, dass innerhalb jeder der beteiligten Personen durch den allgemeinen Einfluss, den sie aufeinander üben, ein Zeugungsprozess vor sich geht, der kaum minder bedeutsam ist, als jene mehr specialisierte Zeugung, die zur Fortpflanzung der Rasse führt.

Zuletzt aber, wenn wir das weite Gebiet des Liebeslebens als ein Ganzes betrachten, so stossen wir auf die gleichen Schwierigkeiten, die uns überall im modernen Leben begegnen – die ungeheuerliche Trennung eines Teils unseres Wesens vom andern: dass wir – zweifellos im notwendigen Verlauf der Evolution – uns gleichsam entzweigerissen haben, und »gut« und »böse«, Himmel und Hölle, geistig und körperlich und andere gewaltsame Unterscheidungen den getrennten Teilen aufgezwungen haben. Wir haben vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen, und wir haben's zu büssen! Der Herr hat uns in der That aus dem Paradies hinausgetrieben, in das Gebiet jenes »fabro vulcano«, der mit furchtbaren Hammerschlägen die Erkenntnis, was gut und böse ist, wieder aus uns heraushämmern muss. Ich fühle, dass ich dem schönen Gotte eine Rechtfertigung dafür schulde, dass ich auch nur einen Augenblick daran denken konnte, seine Seele vom Leibe zu trennen und im Verlauf meiner Ausführungen so gesprochen habe, als ob diese künstlichen Unterscheidungen irgend ein ewiges Element in sich trügen! Wird der Mann oder das Weib oder das Geschlecht von Männern und Weibern denn niemals kommen, für die die Liebe in all ihren mannigfachen Aeusserungen ein vollkommenes Ganzes sein wird, rein und frei und natürlich von Anbeginn? die sie gesund und gerade auffassen werden, wie sie ist, ohne sie mit Anschauungen, die nichts mit ihr zu thun haben, zu beflecken und zu verkehren?


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