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Die Freiheit des Weibes

Aus allem bisher Gesagten geht klar hervor, dass das Weib heute nichts notwendiger braucht und auch nach nichts eifriger strebt als nach den Mitteln, sich unabhängig zu machen, und zwar fürs ganze Leben. Wenn ihre Stellung sich je ernstlich bessern soll, so muss sie dem Mann unter gleichen Bedingungen begegnen und als ein Wesen, das seinen Schwerpunkt in sich selbst hat, ihr natürliches Verhältnis zu ihm finden können, muss vor allem auch vollkommen frei über sich selbst und ihre Sexualität verfügen können, nicht wie heute gezwungen sein, über sich verfügen zu lassen wie eine Sklavin.

Ja, wenn der Mann ein ideales Wesen wäre, dann könnte seine Gefährtin allerdings einer rücksichtsvollen Behandlung als gleichwertiges Geschöpf gewiss sein, ohne auf absoluter ökonomischer Unabhängigkeit bestehen zu müssen; da das nur zu offenbar nicht der Fall ist, so bleibt ihr heute nichts anderes übrig, als die Kriegsflagge der »Frauenrechte« zu entfalten, und wie öde und ermattend es auch sein mag, sie muss die ganze bittere Reihe von Kämpfen durchmachen, bis einst auf dem Boden eines besseren Verständnisses der Friede wieder geschlossen wird.

Aber nie darf vergessen werden, dass nur durch grosse sociale Veränderungen, die weit über die Sphäre der Frauen hinausreichen, die vollkommene Emancipation der letzteren zu stande kommen kann. Solange nicht das ganze kommerzielle System, auf dem das Leben der heutigen Menschen beruht, mit seinem Tausch und Kauf menschlicher Arbeit und menschlicher Liebe um des Gewinnes willen abgeschafft ist, und solange nicht ganz neue Ideale und Sitten das Leben beherrschen, solange werden die Frauen nicht wirklich frei werden. Darum müssen sie dessen eingedenk sein, dass ihre Sache auch die des unterdrückten Arbeiters auf der ganzen Erde ist, und der Arbeiter darf nie vergessen, dass ihre Sache auch die seine ist. Die vollkommene Freiheit des Weibes ist zuletzt nur auf der Basis einer kommunistischen Gesellschaftsordnung möglich, die allein ihr den Unterhalt während der Periode der Mutterschaft sichern kann, ohne sie zur Abhängigkeit von der Willkür eines Mannes zu zwingen. Wenn auch das gegenwärtige Streben der Frauen nach selbständigem Erwerb und ökonomischer Unabhängigkeit ein gesundes Zeichen und ein notwendiger Zug der Zeit ist, so ist doch klar, dass damit allein das Problem nicht gelöst sein kann, weil gerade während der schweren Zeit der Mutterschaft, in denen der Unterhalt am nötigsten ist, das Weib am wenigsten fähig ist, ihn selbst zu erwerben. (S. Anhang.)

Und zuletzt wird immer die Mutterschaft die grosse und unvergleichliche Aufgabe des Weibes bleiben, und eines Tages werden die Menschen einsehen, dass eine gesunde Mütterlichkeit eine der ersten Notwendigkeiten ist, für die in der Gemeinschaft Sorge getragen werden muss, und deren richtige Erfüllung, wenn sie auch nicht das einzige ist, was in Betracht kommt, bereits die höchste und weiteste Kultur in sich schliesst. Das wird manchen vielleicht so selbstverständlich scheinen, dass sie sich darüber wundern werden, dass ich es hier ausspreche, aber wenn sie nur einen Blick auf die landläufigen Ideale rings um uns werfen, wenn sie sehen, was Whitman »die unglaublichen Schranken und Netze von Gedankenlosigkeit, Putzsucht und jeder Art dyspeptischer Blutleere«, nennt, in denen die heutigen Frauen leben, wenn wir das absolute Fehlen aller Erziehung für Mutterschaft und die immer steigende physische Unfähigkeit für sie sehen, wenn wir sehen, dass die Frauen sogar diejenigen missbilligen, die die Probe zu leicht bestehen, dann erkennen wir erst, wie wenig die heutige Vorstellung von einer richtigen Lebensführung des Weibes mit der gesunden Erfüllung ihrer höchsten und vollkommensten Leistung zu thun hat. Ein Weib, das durchaus fähig ist, Kinder zu gebären, sie zu behüten und zu belehren, und starke und gesunde Bürger einer grossen Menschenwelt aus ihnen zu machen, ist der entfernteste und extremste Gegensatz zu dem taubenhaften Püppchen oder der demütigen Magd, die der Mann infolge einer Art falscher irregeleiteter geschlechtlicher Zuchtwahl seit so vielen Jahrhunderten als sein Ideal angesehen und entwickelt hat.

Das Nervensystem und die Sexualität der heutigen Frauen sind in den reicheren Klassen durch ein Leben und durch Beschäftigungen ruiniert, die alle möglichen Reize mit sich bringen und das Gefühlsleben steigern, ohne jene Kraft und Kühnheit zu entwickeln, die nur aus einer geregelten und gesunden Thätigkeit entspringen; sie sind bei den Armen meist gleichfalls ruiniert durch übermässige Arbeit unter den für die Gesundheit ungünstigsten Bedingungen, so dass ein Weib, das wirklich und vollkommen Gattin und Mutter wäre, fast zu den unbekannten Dingen gehört. »Eine unvernünftige Erziehung, elende sociale Bedingungen (Nahrung, Wohnung, Beschäftigung) erzeugen« – ich citiere Bebel – »schwächliche blutarme Geschöpfe, die einfach unfähig sind, die Pflichten der Ehe zu erfüllen. Die Folgen sind Menstruationsleiden und Störungen in den verschiedenen Organen, die mit den sexuellen Funktionen in Zusammenhang stehen, Störungen, die die Mutterschaft gefährlich, ja oft unmöglich machen. Statt einer gesunden, frohen Lebensgefährtin, einer tüchtigen Mutter, einer Gehilfin, die den Ansprüchen, die an ihre Thätigkeit gestellt werden, gerecht wird, hat der Gatte eine nervöse, reizbare Frau, die beständig in ärztlicher Behandlung steht und zu gebrechlich ist, um den geringsten Zug oder ein Geräusch zu ertragen.«

Das moderne Weib erkennt sehr wohl, dass es keinen energischen Fortschritt für ihr Geschlecht geben kann, solange man dieser Frage nicht gerade und kühn ins Gesicht sieht, deren Lösung eine Lebensführung des Weibes verlangt und auch herbeiführen wird, die von der gegenwärtigen sehr verschieden sein wird. Sie bedarf eines Lebens, das weit mehr in der freien Luft verbracht wird, mit wirklichen körperlichen Uebungen, tüchtiger körperlicher Entwicklung, einem gewissen Mass regelmässiger physischer Arbeit, sie muss die Gesetze der Hygiene und Physiologie kennen, sie braucht einen viel weiteren geistigen Ausblick, grösseres Selbstvertrauen und kräftigere Natürlichkeit. Aber sie fühlt auch, dass, sobald alles dies ihr einmal gewährt ist, sie nicht länger die Leibeigene des Mannes, sondern seinesgleichen, seine Gefährtin und Kameradin sein wird.

Es ist klar, dass, ehe solch eine neue Auffassung ins Leben tritt, das arme, kleine, verkümmerte Ideal »der Dame«, das die Gesellschaft solange beherrscht hat, ins ferne Dunkel verschwinden muss. Die Leute spotten heute über all die neuen Entwicklungen und Erscheinungen, die die Bewegung zeitigt, aber was, fragen wir, kann eine halbwegs gescheite Frau von ihrer gegenwärtigen Stellung denken? Von den halb spöttischen Galanterien und heroischen Höflichkeiten des konventionellen Männchens – die so deutlich sagen, dass sie nur eine leere Verbeugung vor der Schwäche und Unfähigkeit sind; von dem ungeschriebenen Gesetz, das sie, wenn sie irgendwie zur Gesellschaft gehört, zwingt, die Augen zu senken und sich eine affektierte Sprechweise anzueignen, damit es jedem offenkundig werde, dass sie nicht frei ist; das ihr jedes natürliche und aufrichtige Betragen, jede lebhafte Geberde als unziemlich und verdächtig untersagt, so verdächtig, dass sie an einem öffentlichen Orte ohne weiteres das Einschreiten des Polizeimannes nach sich ziehen kann; was kann sie von all der unaufhörlichen Verlogenheit denken, in der sie leben muss, den Lügen, die zu zahllos sind, als dass man sie aufzählen könnte; was kann sie von alledem denken, als dass es eben unerträglich ist? Das moderne Weib ist verständig genug, um zu erkennen, dass sie, ehe sie in solchen elenden Fesseln weiter lebt, das Brandmal auf sich nehmen muss, Dinge zu thun, die sich »für eine Dame nicht schicken«, und nur dadurch, dass sie dieser Gefahr trotzt, kann sie sich ihren gebührenden Platz in der Welt und eine wahrhafte Kameradschaft mit jenen Männern erringen, die selbst nicht willens sind, die gewöhnlichen Gentlemen zu spielen.

Dass neue Regeln für das richtige Benehmen im Verkehr der Geschlechter sich einbürgern müssen, Regeln, die nicht auf verhüllter Lüsternheit, sondern auf offener gegenseitiger Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegründet sein werden, ist klar genug. Der Ruf nach Gleichheit, der heute den Philister zur Tollwut bringt, wie ein rotes Tuch den Stier, braucht ihn nicht zu erschrecken. Dass das Weib schwächere Muskeln hat als der Mann, und dass es eine Reihe von Leistungen, auch solche geistiger Natur giebt, für die sie weniger geeignet ist, geradeso wie es andere giebt, für die sie besser geeignet ist, ist ohne weiteres zuzugeben; aber das bedeutet in der Sprache aller wirklich guter Manieren nichts anderes, als dass es specielle Gebiete giebt, auf denen die Männer den Frauen behilflich sein können, ebenso wie es andere giebt, auf denen die Frauen sich den Männern hilfreich erzeigen können. Alles, was darüber und über den freundlichen Austausch gleichwertiger Dienste hinausgeht, alles, was in den konventionellen Formen im Hause oder in der Oeffentlichkeit darauf hinausläuft, dass man mit dem Weib allenthalb Nachsicht haben muss (weil sie allenthalb unfähig ist), ist eine Beleidigung – und die Frauen selbst werden sich sicherlich hüten, solch eine beleidigende Höflichkeit zu ermutigen.

Ich denke, die Zeichen der Revolte von seiten der »Damen« – einer Revolte, die lange auf sich warten liess, aber nunmehr sich bereits über die ganze Linie ausbreitet – sind deutlich genug. Wenn wir aber den zweiten Frauentypus, der in den früheren Ausführungen erörtert wurde, das Weib, das für das Haus und den Gatten arbeiten muss, betrachten, dann finden wir wenig Anzeichen einer bewussten Bewegung. Und das ist nur natürlich. Das Leben der im Haus robotenden Frau gleicht zu sehr dem einer Sklavin, wird viel zu sehr in ewiger Plage aufgezehrt und viel zu wenig von Kenntnissen erleuchtet, als dass sie sich von selbst zur Vorstellung einer anderen höheren Existenzweise erheben könnte. Trotzdem ist unschwer zu erkennen, dass allgemeine und sociale Veränderungen darauf hinarbeiten, auch ihre Befreiung herbeizuführen. Eine verbesserte Häuserkonstruktion, öffentliche Bäckereien und Wäschereien und, was viel wichtiger ist, rationellere, einfachere und gesundere Ideen über Nahrung und Einrichtung zielen dahin, die Arbeiten in Küche und Haus sehr beträchtlich zu vereinfachen; und wie konservativ die Weiber in ihren Gewohnheiten auch sind, wenn diese Veränderungen bis an ihre Thür gebracht werden, können sie nicht umhin, ihre Vorteile einzusehen. Immer mehr übernehmen öffentliche Institutionen die Kosten und die Verantwortlichkeit für die Ueberwachung, die Pflege und Erziehung der Kinder; und hie und da können wir bereits die ersten Zeichen einer Tendenz zur Vereinigung mehrerer Haushaltungen beobachten, die durch die Einführung gemeinsamen Lebens und vernünftiger Arbeitsteilung unter den Frauenzimmern vermutlich viel dazu beitragen wird, ihr Los heiterer und leichter zu gestalten. Aber all diese Veränderungen werden nicht viel nützen, solange nicht das überarbeitete Weib selbst zur Erkenntnis erwacht und auf ihren Rechten auf ein besseres Leben besteht, und solange der Mann nicht zur vollen Anerkennung ihres Anspruches gezwungen wird. Und hier und dort wird sicherlich der Mann selbst das Seinige thun, um seine Genossin zu dieser Erkenntnis zu erziehen. Ich kann keinen Grund finden, warum er nicht, wo es angeht, einen Teil der häuslichen Arbeit übernehmen, warum er nicht seinerseits ein gewisses Mass von Intelligenz und Mühe der Führung des Hauses widmen sollte, noch warum das Weib, das auf diese Weise mehr Freiheit gewinnt, nicht gelegentlich, und wo ihre Talente es wünschenswert machen, bezahlte Arbeit ausserhalb des Hauses finden und so zur Erhaltung der Familie sowie zu ihrer eigenen Sicherung und zur Stärkung ihres Unabhängigkeitsgefühls beitragen sollte. Die übermässige Differenzierung, die heute zwischen den Arbeiten der beiden Geschlechter besteht, bedeutet die Verewigung der Sklaverei des Weibes und ist gleichzeitig ein Hauptgrund des Missverständnisses zwischen ihr und dem Mann und des geringen Interesses, das jeder Teil an der Beschäftigung des anderen nimmt.

Der dritte Typus des Weibes der Gegenwart, die Prostituierte, stellt uns jene Frage, die nach den Worten Bebels das Rätsel der Sphinx ist, das die moderne Gesellschaft nicht lösen kann, das jedoch ungelöst sie zu zerstören droht. Die gewerbsmässige Prostitution ist die unvermeidliche letzte Folge unseres ganzen socialen Systems und gleichzeitig das Urteil, mit dem es sich selbst verdammt. Sie wogt durch unsere Gassen, sie hüllt sich in das Gewand der Anständigkeit unter dem Namen der Ehe; sie frisst sich in physischen Krankheiten und mit elendem Tode mitten durch uns hindurch, wird beständig gespeist durch die Unterdrückung und Unwissenheit unserer Weiber, durch ihre Armut und dadurch, dass ihnen die Mittel zur anständigen Unabhängigkeit versagt sind, und auch durch die heuchlerische Sittlichkeit, die Millionen von ihnen nicht nur verbietet, ihr natürliches Verlangen zu befriedigen, sondern überhaupt davon zu sprechen; und sie wird beständig ermutigt durch die harte Gleichgültigkeit einer Zeit, die die Männer daran gewöhnt hat, die kostbarsten Güter für Geld zu kaufen und zu verkaufen, z. B. die lebenslange Arbeit ihrer Brüder, – warum also nicht auch die Leiber ihrer Schwestern?

Dafür giebt es eben keine andere Lösung als die Freiheit des Weibes, von der allerdings die Freiheit des ganzen Volkes, der Männer wie der Weiber, und das endgültige Aufhören der Lohnsklaverei nicht zu trennen ist. Es giebt keine Lösung dafür, die nicht die Wiedereinsetzung der Worte »freies Weib« und »freie Liebe« in ihre wahre Bedeutung und Würde in sich schliesst. Darum darf jedes Weib, deren Herz um die Leiden ihres Geschlechtes blutet, nicht einen Augenblick zögern, sich, so weit sie irgendwie kann, als ein freies Weib zu erklären und als solches zu leben. Sie muss das ganze Odium, das sich an das Wort knüpft, auf sich nehmen, muss auf ihrem Rechte, so zu sprechen, so zu denken, sich so zu kleiden und so zu handeln, wie sie es für gut hält, bestehen, muss der Verachtung und dem spöttischen Lächeln trotzen und »ihr ganzes Leben opfern und zu Grunde richten«, wenn es sein soll, denn nur auf diese Weise kann die Befreiung kommen, und nur, wenn das freie Weib sich Achtung und Ehrfurcht erzwingt, kann die Prostituierte aufhören, zu existieren. Und darum soll auch jeder Mann, der für seine Gefährtin wirkliche Achtung empfindet, sie beschwören, so zu handeln, und niemals durch Wort oder That sie versuchen, das um eines Vorteiles willen zu gewähren, was nur als Geschenk kostbar sein kann; er sollte mit Freuden sehen, wenn sie sich ein wenig von ihm fern hält und selbständig zeigt; er sollte ihr helfen, auf eigenen Füssen zu stehen, und dann wird ihm trotz der kleinen Opfer von seiner Seite, die solch ein Vorgehen verlangen mag, erst aufdämmern, dass er eine wirkliche Gefährtin und Gehilfin auf der Bahn des Lebens gefunden hat.

Die ganze Geissel der gewerbsmässigen Prostitution ist nur daraus entstanden, dass der Mann auf sexuellem Gebiet die Herrschaft führt und die Regeln diktiert. Wahrlich, besser wären Saturnalien freier Männer und Frauen, als das Schauspiel, das unsere grossen Städte allnächtlich bieten. Gerade auf dem geschlechtlichen Gebiet sind die Instinkte des Weibes in der Regel so rein, so gerade, so tief in den Bedürfnissen der Rasse gewurzelt, dass sie ohne die Herrschaft des Mannes sicherlich nie eine solche Verkehrung erlitten hätten. Die Sexualität des Mannes ist eine ungeregelte Leidenschaft, ein individuelles Bedürfnis, ein rascher stürmischer Impuls; aber beim Weibe ist sie weit mehr ein konstruktiver Instinkt in der ganzen umfassenden Bedeutung dieses Wortes. Noch viel mehr als der Mann muss das Weib frei sein, das Problem ihrer sexuellen Beziehungen so zu lösen, wie es ihr am besten scheint, so wenig als möglich sollte sie durch gesetzliche, konventionelle oder ökonomische Rücksichten gehemmt und fast nur auf ihren angeborenen Takt und ihr Verständnis auf diesem Gebiet angewiesen sein. Einmal derart frei – frei von der pekuniären Abhängigkeit von ihrem Ehegatten, frei von der Geldsklaverei der Strasse, von den namenlosen Schrecken der öffentlichen Meinung und von der drohenden Wahl zwischen lebenslanger Jungfräulichkeit und lebenslanger Knechtschaft – wird sie nicht ihre Laufbahn, sei es nun die der Gattin und Mutter, sei es die einer freien Freundin, sei es die ruhiger Einsamkeit – weit besser selbst für sich wählen, als sie heute für sie gewählt wird? Wird sie dann nicht von selbst etwas mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse der Allgemeinheit, auf die Wohlfahrt der Kinder, auf die Ehrlichkeit und Dauer ihrer Beziehungen zu denen, die sie lieben wird, nehmen – und etwas weniger auf die erbärmlichen Motive des Geldprofits und der Furcht, die heute ausschlaggebend sind?

Der Punkt, auf den es ankommt, ist der, dass jene vornehmere Weiblichkeit, wie wir sie von der Zukunft erwarten, erstens die völlige, uneingeschränkte Freiheit des Weibes in der Verfügung über ihre eigene Geschlechtlichkeit zur Voraussetzung hat, und zweitens die sichere und überzeugte Erwartung, dass welche individuelle Verirrungen auch vorkommen mögen, sie im ganzen von dieser Freiheit einen vernünftigen und guten Gebrauch machen wird. Das scheint, wenn wir gleichzeitig eine halbwegs verständige Erziehung der Jugend in sexueller Hinsicht voraussetzen, keine zu grosse Anforderung an unseren Glauben an die Frauen. Wäre sie das, dann sind wir allerdings verloren, denn dann bleibt uns nichts übrig, als sie weiter in der Sklaverei zu halten, und die Gesellschaft in Form einer Hölle auf Erden, wie sie es heute grossenteils ist.

Und darum hat der Geist der Empörung, der sich jetzt allenthalben ausbreitet, etwas so Erfrischendes. Wir wollen hoffen, dass diese Empörung andauern wird. Und wenn sie selbst hie und da zu verzerrten oder falschen Situationen, zu zeitweiligen Missverständnissen führt – erklärte Feindschaft ist besser als geheuchelte Fügsamkeit! Zu lange haben die Frauen die Rolle blosser Anhängsel für den Mann gespielt, zu lange haben sie ihre eigene Individualität unterdrückt und seine Einbildung zärtlich gepflegt. Wenn sie eine eigene Seele haben wollen, so müssen sie sich frei machen, und das zum grössten Teil durch ihre eigenen Anstrengungen. Sie müssen kämpfen lernen. In seinem Gedicht »Ein Weib erwartet mich« entwirft Walt Whitman das Bild eines Weibes, das im schärfsten Gegensatz zu dem schwächlichen Durchschnittsideal steht, ein Weib, das »schwimmen, rudern, reiten, ringen, schiessen, laufen, schlagen, sich zurückziehen und sich verteidigen kann u. s. w.«, und in seinem Buche »Die Frau« verweist Bebel auf Sparta, wo der physischen Entwicklung beider Geschlechter die grösste Sorgfalt gewidmet wurde und Knaben und Mädchen nackt gingen, bis sie das Alter der Pubertät erreicht hatten und zusammen in allen körperlichen Uebungen, in Spielen, im Laufen und Ringen ausgebildet wurden, und er klagt darüber, dass heutzutage »die Vorstellung, dass auch die Frauen Kraft, Mut und Entschlossenheit nötig haben, als sehr ketzerisch angesehen wird«. Die Wahrheit ist eben die, dass Eigenschaften wie Mut und Unabhängigkeit bei einem Sklaven nicht willkommen sind, und darum hat der Mann sie durch so viel Jahrhunderte davon abgeschreckt – bis zuletzt das Weib selbst es sich einreden liess und glaubte, dass solche Eigenschaften »unweiblich« seien. Aber dieses Epitheton ist die vollkommenste Absurdität, denn wenn hingebende Zärtlichkeit und Liebe die Vollendung und der Stolz des Weibes sind, so kann auch nichts gewisser sein, als dass wahre Zärtlichkeit und Liebe nur bei starken und kräftigen Naturen gefunden wird. Die Hingebung eines servilen Geschöpfes, was ist sie wert?

Der Aufmerksamkeit derer, die über diesen Gegenstand nachgedacht, ist es nicht entgangen, dass die Erhebung des Weibes und zu einem breiteren socialen Leben, wie sie hier gemeint ist, und wie sie übrigens der Lauf der Ereignisse bereits zeigt, aller Wahrscheinlichkeit nach einen tiefen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung des Menschengeschlechtes ausüben muss. Man hat darauf hingewiesen, dass bei den meisten der höheren Tiergattungen und auch bei vielen alten Volksstämmen die Männchen von den Weibchen nach dem Masse ihrer Tapferkeit, ihrer grösseren Kraft und Schönheit gewählt wurden, und dass dies zur Entwicklung eines Männertypus und eines Rassentypus überhaupt geführt hat, der, wenn auch dunkel und unbewusst, dem Ideal des weiblichen Geschlechtes entsprach. Aber sobald in der Geschichte der Menschheit die heutige, mit der Vorstellung des Eigentums untrennbar verbundene Liebe aufkam und das Weib das Spielzeug des Mannes wurde, hörte das auf. Da sie nicht länger frei war, konnte sie den Mann auch nicht wählen, sondern das Gegenteil trat ein, der Mann begann das Weib zu wählen, und zwar nach jenen Eigenschaften, die ihm passten. Das Weib aber begann sich zu schmücken, um seinem Geschmack zu entsprechen, und dementsprechend wurde der Frauentypus und infolgedessen auch der Typus der ganzen Rasse von dem Wege der früheren Entwicklung abgelenkt und verändert. Mit der Rückkehr der Frauen zur Freiheit wird das weibliche Ideal vielleicht wieder die Oberhand gewinnen. Und dann wäre es möglich, dass die würdigere und ernstere Empfindungsweise der Frauen in allen geschlechtlichen Dingen auch der geschlechtlichen Zuchtwahl, sobald die Frauen sie wieder ausüben werden, einen vornehmeren Charakter verleihen wird, als sie ihn heute, wo die Männer sie ausüben, trägt. So viel ist jedenfalls unschwer zu erkennen, dass Weiber, die wirklich frei sind, niemals die vielen erbärmlichen und unsauberen Männertypen zu ihren Ehegenossen erwählen würden, die heute alles durchsetzen zu können scheinen, noch darein willigen würden, von solchen Männern Kinder zu bekommen. Und wir können uns leicht vorstellen, dass der weibliche Einfluss auf diese Weise zur Entwicklung einer männlicheren und vornehmeren Rasse führen wird als die, die sich in unseren Tagen in einer auf Handel und Schacher begründeten Kultur gebildet hat.

Die moderne Frau, mit ihren Klubs, ihren Reden, ihrer Beteiligung an der Politik, ihrer Freiheit im Benehmen und im Kostüm ist im Begriff, mit erstaunlicher Schnelligkeit eine eigene öffentliche Meinung zu bilden, und sie scheint sich sehr ernstlich anzuschicken, dem Mann der Mittelklasse das Leben schwerer zu machen und ihn sogar an die Wand zu drücken! Was die Entwicklung der nächsten Jahre uns bringen mag, das können wir natürlich nicht genau sagen, aber offenbar wird es einige ganz lebhafte Kämpfe zwischen beiden Geschlechtern geben. Alles wird nicht in ruhigem Fahrwasser gehen. Die Frauen, die an der neuen Bewegung Anteil nehmen, setzen sich natürlich zum grossen Teile aus solchen zusammen, in denen der mütterliche Instinkt nicht besonders stark ist, und auch aus solchen, in denen der sexuelle Instinkt nicht überwiegt. Solche Frauen nun sind keineswegs die wahren Repräsentantinnen ihres Geschlechtes: manche von ihnen haben eher etwas Männliches in ihrem Wesen, manche sind »homogen«, d. h. eher zu Neigungen für ihr Geschlecht als das entgegengesetzte tendierend; manche sind hyperrationalistisch und haben nur eine einseitige Verstandeskultur; vielen scheinen Kinder mehr oder weniger eine Last, anderen wieder erscheint die Geschlechtsleidenschaft des Mannes geradezu als eine Impertinenz, die sie nicht verstehen und deren Bedeutung sie darum auch vollkommen verkennen. Es wäre unrichtig, zu sagen, dass die Majorität der Frauen, die heute in der Bewegung stehen, solchermassen aus der Art geschlagen sind, aber es kann kein Zweifel daran sein, dass eine grosse Zahl von ihnen es ist; und der Weg ihres Fortschrittes wird eine starke Kurve bilden müssen.

Von all diesen Vorwürfen dürfte der des Mangels an mütterlichem Instinkt der schwerste sein. Aber wer weiss, wie gesagt, wohin die Entwicklung führen wird und muss? Manchmal scheint es fast möglich, dass ein neues Geschlecht im Entstehen sein könnte – gleich den femininen Neutren der Ameisen und Bienen, das Geschlecht, das überhaupt nicht zum Kindergebären berufen ist, sondern mit einem ganz ausserordentlich vervollkommneten Instinkt zur sozialen Arbeit ausgestattet und für die Erhaltung jenes Gemeinlebens, das sich vorbereitet, vielleicht unentbehrlich sein wird. Jedenfalls zeigt sich deutlich, dass die meisten derjenigen Frauen und Mädchen, die sich – oft unter sehr ernsten Kämpfen – aus dem Puppenzustand der »Dame« befreien, von einer glühenden socialen Begeisterung erfüllt sind; und wenn sie sich auch persönlich in mancher Hinsicht von dem Durchschnitt ihres Geschlechtes unterscheiden sollten, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass ihre Bestrebungen zu einer ungeheueren Verbesserung und Hebung der Lage ihrer gewöhnlicheren und indolenteren Schwestern führen.

Und wenn es sich herausstellen sollte, dass ein gewisser Bruchteil des weiblichen Geschlechtes sich aus dem einen oder anderen Grunde nicht dem Werke der Mütterlichkeit widmen sollte, so wird dennoch der Einfluss dieser Klasse sehr viel dazu beitragen, dass für die anderen das Bewusstsein ihrer Mütterlichkeit ein weit höheres und würdevolleres wird. Und diese grösste aller menschlichen Aufgaben wird in Zukunft mit einer bewussten Intelligenz durchgeführt werden, die bis heute völlig unbekannt war, und wird sich von der Erfüllung eines blossen Triebes zur Vollendung einer herrlichen socialen Aufgabe erheben. Dann erst wird es der Wunsch und das Werk aller Mütter werden, die Seelen der Kinder ebenso zu schirmen wie ihre Körper, und ebensosehr darauf gerichtet sein, heroische wie glückliche Bürger der Welt zu schaffen. Denn was den mütterlichen Unterricht der Kinder anbelangt, so müssen wir gestehen, dass er im Laufe der letzten Zeiten etwas geradezu Erschreckendes geworden ist. Ob wir nun die Masse des Volkes oder die einzelnen besseren Klassen in Betracht ziehen, das erste und wichtigste Ideal, das die Mütter ihren Kindern einzuprägen suchen, ist die Notwendigkeit, sich das Leben so bequem als möglich zu machen, und das Wort, das die Mutter dem Sohne sagt, der das Haus verlädst, um in der grossen Welt seinen Weg zu machen, hat selten einen heroischeren Ton und Inhalt, als »Vergiss nicht warme Unterkleider!«

Hier könnte vielleicht jemand einwenden, dass, nachdem ich mich (wie im vorhergehenden Kapitel) bemüht habe, die geringere Fähigkeit der Frau zum abstrakten und generalisierenden Denken auseinanderzusetzen, es nicht gerade konsequent scheint, so grosse Erwartungen dahin auszusprechen, dass sie je ein bedeutendes aktives Interesse am socialen Leben nehmen werden; aber die Antwort darauf ist, dass sie ja bereits damit begonnen haben. Die sociale Begeisterung, wie die Frauen in England, Russland, und in den Vereinigten Staaten sie bethätigen, ist eine so grosse und heute bereits eine so tief begründete, dass es ganz unmöglich ist, sie für eine vorübergehende Erscheinung zu halten, und obgleich diese Thätigkeit in England und Russland auf die wohlhabenderen Klassen beschränkt ist, so können wir – aus einem wohlbekannten Gesetze der Ausbreitung socialer Bewegungen – leicht voraussagen, dass sie sich mit der Zeit zweifellos nach abwärts unter den Frauen der Nationen allenthalben verbreiten wird.

So wichtig nun das allgemeine Streben der Frauen dieser Länder nach einer höheren Bildung und intensiveren Geistesentwicklung ist, so ist doch klar, dass die Erweiterung und Socialisierung ihrer Interessen nicht so sehr durch blosses Bücherstudium und durch das Ablegen von Prüfungen in nationalökonomischen und anderen Wissenschaften zu stande gebracht wird, als vielmehr durch die thatsächliche Erweiterung ihrer Interessen und ihrer Erfahrungen, die das Leben des Tages ihnen bringt. Die Bücherstudien sind ja sicherlich wichtig und sollen nicht vernachlässigt werden, aber vor allem will es das gebieterische Bedürfnis des Tages (und wenn die Männer irgend welchen direkten Einfluss auf das zukünftige Geschick des anderen Geschlechtes behalten wollen, so mögen sie darauf achten), dass die Frauen, die so lange auf die engste Schablonenthätigkeit und den kleinen Kreis des häuslichen Lebens beschränkt waren, die wirkliche Welt sehen, wie sie ist, und soviel Erfahrung in ihr sammeln, als irgend möglich ist. Die – jetzt Gott sei Dank bereits verflatternde – Theorie, dass man sie »unschuldig« erhalten müsse durch blosse Unwissenheit, hat zu viel von der »Engel- und Kretin«-Anschauung an sich. Das Leben der Aermsten und Elendsten sowie das der Paläste und Werkstätten kennen zu lernen, in alle Berufe und Geschäfte einzutreten, Doktoren, Wärterinnen u. s. w. zu werden, für sich selbst zu sorgen und den Männern gegenüber ihre Unabhängigkeit zu behaupten, zu reisen, sexuelle Erfahrungen zu machen, gemeinsam in Gewerkschaften und Genossenschaften zu wirken, an socialen und politischen Bewegungen und Revolutionen teilzunehmen, das ist es, was die Frauen jetzt gerade wollen und brauchen. Und deutlich genug zeigt sich, dass auch in unserem Lande eine solche Bewegung zumindest unter den wohlhabenden Schichten mit der allgemeinen Weltbewegung Schritt hält. Wenn die Existenz enormer Scharen von einzeln lebenden, ledigen Frauen, die wir heute von Renten und Dividenden leben sehen, vom socialistischen Standpunkt ein arger Missstand ist, wenn sie das ganze Land unsicher machen, die Theater, die Konzertsäle und alle öffentlichen Unterhaltungslokale im Verhältnis von dreien auf einen Mann füllen, die Züge besetzen, auf den Plattformen der Omnibusse sich drängen, auf Zweirädern unmittelbar unter den Köpfen der Pferde fahren, an den Strassenecken Reden halten und in allen Strassen vor den eleganten Auslagefenstern geradezu die Passage sperren, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass um der Ziele willen, die wir eben angedeutet haben, auch diese Gattung von Weibern auf dem geradesten Weg an der Arbeit ist: sie sammelt Schätze von Erfahrung, die es unmöglich machen werden, dass die Frauen je wieder zu dem engen und jämmerlichen Leben der Vergangenheit zurückkehren.

Vielleicht wird endlich, nachdem man durch Jahrhunderte die ganze Frage missverstanden und das weibliche Geschlecht zur Oberflächlichkeit und Erbärmlichkeit gezwungen hat, vielleicht wird es endlich der Welt aufdämmern, dass die Wahrheit gerade in der entgegengesetzten Richtung liegt: dass in manchem Sinn in der Natur des Weibes etwas viel Tieferes, Fundamentaleres und Primitiveres liegt als in der des Mannes, dass nicht die übersensitive, hysterische Kreatur, die unsere Civilisation nur zu oft aus ihr gemacht hat, das wahre Weib ist, – dass, obgleich, das Gefühlsleben bei ihr vorherrscht, in Wirklichkeit eine ruhige, weite Empfänglichkeit der tiefste Zug ihres Wesens ist. »Ihre Gestalt erhebt sich,« sagt Walt Whitman.

»Sie, weniger behütet als jemals und doch besser behütet als jemals, –
Die Unreinen und Befleckten, unter denen sie wandelt, machen sie nicht unrein und befleckt,
Sie kennt die Gedanken, da sie vorübergeht, nichts bleibt ihr verborgen,
Und dennoch ist sie nicht weniger freundlich und milde,
Sie ist die Meistgeliebte und ist's allenthalben – sie hat keinen Grund sich zu fürchten und sie fürchtet auch nichts.«

Die griechischen Göttinnen schauen herab und über die Zeitalter hin bis zu den fernsten Vorposten jenseits unserer Kultur; und schon blicken vom fernen Amerika, von Australien, Afrika, Norwegen und Russland und selbst in unserer eigenen Mitte aus dem Antlitz derer, die die Grenzlinien aller Klassen und Kasten überschritten haben, die Züge eines grösseren Frauentypus, eines furchtlosen und ungebändigten Weibes – die ersten Anfänge des Weibes der Zukunft uns entgegen, eines Weibes, das umfassendes Verständnis mit feiner Empfindsamkeit, die Leidenschaft für die Natur mit der Liebe zum Manne verbinden, die kleinen Dinge des Lebens beherrschen und doch, über alle lokale Enge und Konventionalität hinausgewachsen, uns helfen wird, die Todesbande, die unsere heutige Gesellschaft umklammern, zu lösen und die Thore für ein neues und weiteres Leben aufzureissen.


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