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Der kleine Gott der Liebe wird gewöhnlich als ein Kind dargestellt; und vielleicht mit Recht, wenn man sein unsicheres und hilfloses Walten im Menschengeschlecht bedenkt. Aber es mehren sich die Zeichen, dass eine neue Ordnung der Dinge im Verhältnis der beiden Geschlechter zu einander im Entstehen ist, und die folgenden Aufsätze sind – unter anderem – ein Versuch, die inneren Gesetze anzudeuten, die besser als unsere äusserlichen ihn vielleicht leiten werden, wenn er einst zu seinen Jahren kommt.

 

Einleitung

Die Zeit und das Problem

»Von den zwei Problemen, aus welchen die sociale Frage sich wesentlich zusammensetzt, ist das eine, das ökonomische Problem, der Gegenstand der eingehendsten Erörterungen gewesen ... Das andere, das Problem der Liebe, ist im allgemeinen entweder gänzlich vernachlässigt oder höchst unvollkommen behandelt worden; es ist viel komplizierter und schliesst Gefühlselemente in sich, welche es über den Bereich unserer Nationalökonomen und unserer Sociologen hinausführen; es scheint überhaupt unseren Zeitgenossen schwer zu fallen, ohne Schüchternheit zugleich und ohne Brutalität darüber zu sprechen.« Jacques Mesnil »Die Freie Ehe«, Verlag Renaissance (Otto Lehmann), 2. Aufl., 1905. Ich weiss nicht, ob es schon irgendwo so klar und scharf ausgesprochen wurde, wie in diesen Worten Jacques Mesnils: dass die sociale Frage aus zwei mindestens gleichwichtigen und gleich furchtbaren Problemen besteht, dem ökonomischen und dem sexuellen. Enthält das eine die Frage des Seins, so ist das andere die vielleicht noch wichtigere, weil primärere Frage des Werdens, die Frage der kommenden Generation, der Zukunft des Menschengeschlechts – sie bedeutet aber auch im Dasein jedes Einzelnen den Faktor, der für seine Entwicklung bedeutsamer vielleicht als alle anderen ist, auf die Bildung seines Wesens den mächtigsten und den intimsten Einfluss nimmt.

Alle Kultur, alle geistige Entwicklung beruht auf der Kritik unseres Daseins, auf der fröhlichen oder hämischen Beobachtung des Spiegelbildes, das unser vielgestaltiges Leben in unserem Geist zeichnet. Wir sind das bewusst gewordene Stück Natur. Ist der Erdball ein organisches Ganzes, so sind wir Menschen seine Nerven und sein Hirn. Ein sehr gering entwickeltes Hirn sicherlich und ein Spiegel, der die meisten Strahlen absorbiert oder unregelmässig zurückwirft, und nur trübe Zerrbilder giebt, ein Auge, das für die Fülle des Lichts unzugänglich und unempfindlich ist. Aber wir können diesen einmal eingeschlagenen Weg der Kritik nicht mehr verlassen, seitdem wir aus dem unbewussten Dasein, das wir einst führten, herausgetreten sind – welche Qualen und Irrtümer er auch mit sich bringen mag. Wir müssen über unser Dasein klügeln, so gut wir es können; das Denken ist unser mächtigstes Mittel geworden, unsere Waffe und unser Verräter, unser Feind und unser Trost. Wenn wir fehlgehen, mögen wir uns mit den tiefen Worten Emile Verhaerens trösten: »que la force et que la vie sont au delà des vérités et des erreurs!«

Wohin wären wir sonst auch gekommen? Ja, wohin sind wir gekommen? Wie ist es möglich gewesen, dass uns Lebende so oft vor dem Leben selbst ein Grauen befällt? Dass wir so viel in unserem Leben für schlecht, hassenswert, verrucht erklären? Dass dieser Gedanke, in dem etwas Gottloses liegt, die Grundanschauung aller Ethik und aller Religionen werden konnte? Wie kam es vor allem, dass es uns vor den Quellen unseres Lebens selbst zu grauen begann und wir unsere tägliche irdische Schöpfung als etwas Beschämendes und Schimpfliches anschauen lernten und es täglich gelehrt werden? Dass wir gleichsam mit tausend Händen nach unseren eigenen Blüten schlagen und sie selbst zerstören, sie in unterirdischen Winkeln und Höhlen treiben lassen und zur Fäulnis verdammen, und sie doch weder ertöten noch entbehren, ja nicht einmal unsere Freude an ihnen ganz verleugnen können? Nur sie zu einer widerlichen Lust, der vor sich selber ekelt, zu verkehren, ist uns gelungen. Wie ist es möglich, dass wir Liebeslieder singen und doch ein Liebesleben führen, wie das, welches heute geführt wird, und eine Sittenlehre haben, gleich der, die heute herrscht?

Ein solches Netz von Verlogenheit, eine solche Furcht vor der Wahrheit, und solch eine Ehrfurcht vor dem Schein wie auf diesem Gebiet des Lebens, herrscht auf keinem andern. Und ganz besonders in den »gebildeten« Klassen, zu denen darüber am schwersten zu sprechen ist. Ihre ganze gesellschaftliche Kultur, vor allem die der Frauen, beruht vielfach auf dem Verbergen und auf dem Weggleiten über die heimlichen Abgründe ihres Lebens. Wie viel Tausende tragen ein brennendes und quälendes Büsserhemd auf dem Leibe, die ihre Qual mit keinem Zucken des Mundes verraten wollen. Aber die Quellen des Lebens lassen sich nicht verleugnen, und ihre Antwort auf die Erniedrigung, die sie erfahren, ist Elend und Degeneration.

Wahrlich, es muss eine merkwürdige geheime plastische Kraft in unserer Phantasie liegen, die die Dinge umformt, die zum mindesten die tausend geistigen Verbindungsstränge, durch die die »Dinge« zu unserer Welt werden, gestaltet: – und die Welt wird, wie wir sie schauen. Wir sehen Fäulnis, und um uns wird Fäulnis; wir sehen Heiligkeit, und um uns wird Heiligkeit. So hat auch Natalie im Wilhelm Meister das Princip aller Erziehung ausgesprochen: »Behandelt die Menschen so, als ob sie schon so gut wären, wie ihr sie haben wollt. Es ist der einzige Weg, sie dazu zu machen.«

Wir haben mit uns selbst, mit unserem eigenen Leibe das Gegenteil gethan. Und wir sind glücklich niedrig geworden. Ich fühle sehr wohl, dass ich hier Unberührbares berühre, dass ich sehr viel, was ich hier sagen möchte, nicht aussprechen kann. »Ein gewisses natürliches Schweigen ist mit dem Gegenstande verbunden«; mit diesem Gegenstand, mit dem alle sittlichen und alle religiösen Fragen unlösbar verknüpft sind, der die Quelle alles Lebens und aller Symbole, die Quelle des Leibes, wie des Geistes ist. Nur müsste es ein Schweigen der Scheu und der Ehrfurcht sein, und nicht ein Schweigen der Scham und der Erniedrigung. Aber nichts kann sonderbarer sein, als die verlegene Haltung, die die meisten Menschen ihm gegenüber einnehmen. Sollen wir hier von der Wissenschaft sprechen? Die Wissenschaft ist nur eine logische Ausführung und Bearbeitung der Intuitionen des Menschengeschlechts. Wenn Schiller in seinem Gedichte die beiden welterhaltenden Motive kurz als »Hunger« und »Liebe« bezeichnete, so sagte er bereits dasselbe, was Mesnil in den citierten Worten über die sociale Frage sagt, und etwas, was wir eigentlich alle wissen. Aber das Selbstverständlichste ist gar oft das Erstaunlichste. Der Hunger ist anerkannt und wird wissenschaftlich bearbeitet – die Liebe bleibt dem Roman überlassen. Vielleicht ist das gut. Die Wissenschaft muss Probleme vernachlässigen, die ihr zu kompliziert sind – das Leben ist ihr immer zu »unwissenschaftlich« gewesen. Eine eigentümliche Steifheit, ein Formalismus von höchst konventionellen Spielregeln, macht sie dem Leben gegenüber hilflos, und was in ihrem Namen auf diesem Gebiet bisher geschrieben worden, ist meist erschreckend durch das geringe Verständnis und die brutale Flachheit der Anschauung. Aber auffallend ist, dass wir auch im Leben aller Sexualität gegenüber die Stellung unreifer und unklarer Geschöpfe haben, dass wir in den Erörterungen und im täglichen Gespräch ihr ebenso sorgfältig aus dem Wege gehen, als wir beständig um sie herum schleichen, dass die Erziehung des einen Geschlechts, wenn auch in einer ganz und gar verfehlten Weise, auf ihr begründet ist, die des andern sie ausschaltet, dass sie beständig oberflächlich gepriesen und in ihrem Wesen gelästert wird – dass fast alle Menschen zu einer unglaublichen Begriffs- und Gefühlsverwirrung darüber gekommen sind. All unsere Spiele von der Kunst bis zu jedem Pfänderlösen haben die Liebe zum Leitmotiv – in unserer Theorie wollen wir ihr, die unser Leben beherrscht, so wenig als möglich einräumen. Kein Mensch mehr kann ruhig und rein über das Thema sprechen oder denken, aber ein ungesundes beständiges Grübeln und Flüstern ist geblieben, oder ein hässliches Lachen. Aus dem Gott ist ein rosenbekränztes Tier geworden – und selbst die Rosen sind nur papierne.

Wenn wir von einem »Problem« oder einer »Frage« sprechen, so deuten wir damit an, dass der herrschende Zustand uns unhaltbar erscheint, auf einem Gebiet, dessen Wichtigkeit uns bewusst geworden ist. Dass Wunsch und Erfahrung sich zu stark widersprechen. Unsere Zeit ist die Zeit der bewusst gewordenen Probleme. Eine furchtlose Kritik, der geheiligte Worte und Traditionen nicht mehr imponieren, hat sich aller Gebiete bemächtigt. Und wer die Entwicklung verfolgt hat, der weiss, dass sie, die das Negativste schien, sich über alle Massen fruchtbar erwiesen hat, dass sich eine Begeisterung mit ihr vereinigen lässt, die ihr zu widersprechen scheint, ja dass das Wesen aller grossen und ehrlichen Kritik Begeisterung, die Sehnsucht nach den wahren Werten ist. Die Romane, die Dramatik und unzählige kritische und reformatorische Publikationen der Kulturvölker beweisen, wie stark und schmerzlich die Unhaltbarkeit der gegenwärtig herrschenden Sitten und Lebensformen auf dem Gebiete des Geschlechtslebens empfunden wird. Der Grund liegt vielleicht darin, dass die Jugend heute mehr zum Worte kommt als früher, dass Menschen über dieses Thema, sprechen, die noch nicht in Formen erstarrt und in Konzessionen erschlafft sind. Aber nicht viele wagten noch die ganze Tragweite der Frage zuzugestehen, und wie Mesnil klar auszusprechen, dass sie der ökonomischen Frage völlig gleichwichtig ist – ja, dass eine Lösung der ökonomischen Frage allein den Menschen keine Erlösung bringen würde, solange sie für ein befreites Leben nicht erzogen und reif geworden sind. Nur die Erziehung zu reineren Anschauungen und zu einer grösseren Auffassung des eigenen Daseins kann helfen.

Unter den Schriften, die in jüngster Zeit auf diesem Gebiete veröffentlicht wurden, ist durch ihren Verfasser wie durch ihre erschreckende Tendenz die vor kurzem im Verlage von Eugen Diederichs in Leipzig unter dem Titel »Die sexuelle Frage« erschienene Broschüre bemerkenswert, die eine Zusammenstellung aller Aeusserungen des Grafen Leo Tolstoi über das Geschlechtsleben der Menschen enthält. Niemand wird den hohen Ernst und die tiefe Menschenliebe des grossen Russen verkennen, niemand ohne Ehrfurcht vor seiner Persönlichkeit seine Worte hören, die sicherlich die Früchte eines grossen Lebens und tiefer Einblicke in das Thun und Wesen der Menschen sind. – Und doch scheint uns sein Buch ein verhängnisvolles und verderbliches, gegen das jeder gesunde und rein empfindende Mensch sich auflehnen muss. Denn die Anschauung, auf der es beruht und aus der es entsprungen ist, ist eine jener Anschauungen, die den Menschen entheiligt und erniedrigt haben, die ihn immer wieder in die gleiche Folterkammer eines unlösbaren Zwiespalts zurückzwingen, die Unmögliches von ihm verlangen und dadurch zu heuchlerischen Kompromissen treiben. Sein Buch beruht ganz und gar auf jenem verhängnisvollen Dualismus der Anschauung, der sich mit furchtbarer Folgerichtigkeit aus den Anschauungen der Menschen in ihr Leben übertragen und das Dasein jedes einzelnen, sowie der ganzen Gesellschaft zersetzt hat, und gegen die der ganze sittliche und geistige Kampf unserer Zeit geführt wird. Nicht als Erster, aber in ausserordentlich scharfen und überwältigenden Worten sagte es Mesnil: »Es scheint, als hätte das Christentum einen Zwiespalt in unserem Wesen bewirkt und wir das Bewusstsein der Einheit unseres Wesens verloren. Es hat die Menschen gelehrt, dass sie aus zwei feindlichen Prinzipien zusammengesetzt seien: der Seele und dem Leib, dem Geist und dem Fleische, dem Engel und dem Tiere, und hat so den Widerstreit in ihr innerstes Leben getragen: der Geist hat über das Fleisch zu triumphieren; das Fleisch ist der Dämon, ist das Böse, ist das niedrige Prinzip, man muss es unterjochen. So sprechen alle Christen, ob sie nun Gläubige der römischen Kirche seien oder Schüler Tolstois. Diese Trennung in Gut und Schlecht, Seele und Leib, rein und unrein, ist dem Menschen verhängnisvoll gewesen, sie ist für ihn die Quelle unaufhörlich erneuerter Leiden geworden, sie hat ihn in einen ewig unfruchtbaren Kampf mit sich selber verwickelt. Das Christentum hat aus dieser Trennung ein Dogma gemacht; indem es den Triumph dessen zu sichern suchte, was es das Gute nennt, hat es die Wichtigkeit und die Gewalt dessen gesteigert, was es für das Schlechte erklärt. Der Dämon ist mächtig und furchtbar, er bedroht uns ohne Ende, er wohnt in uns, und wir müssen beständig auf der Hut sein, um seinen Fallstricken zu entgehen; oft scheint er mit Gott selbst, wie ein Gleicher mit Gleichem, zu paktieren. Das Fleisch ist das Produkt der Erbsünde, es gehört Satan an, es ist das Gebiet der Wollust, der schrecklichsten der Todsünden. Der Christ wird von unreinen Geistern verfolgt, er hat Angst vor sich selber, Angst vor seinen Instinkten, vor seinen Begierden, er möchte sie gerne unterdrücken, aber sie erheben sich nur um so gebieterischer; dann übertreibt er ihre Macht vor sich selber: sie sind nur natürlich, aber sie erscheinen ihm monströs, sie wirken auf seine Einbildungskraft, und je mehr er versucht, sie zurückzudrängen, um so hartnäckiger kehren sie wieder, sie entarten, sie nehmen ungeheuerliche und bizarre Formen an, mit der Zeit gehen sie in Verderbnis über. Dieser Anschauung verdanken wir die ausserordentliche Häufigkeit der sexuellen Perversität; indem sie die fleischlichen Genüsse vollkommen von der Liebe trennte, diese wie ein göttliches Prinzip darstellte und jene als den Ausdruck der Tierheit, hat sie den Menschen in Wahrheit verdorben und erniedrigt. Die Moral unserer jungen Leute, die ihnen gestattet, vor jungen Mädchen die Sentimentalen, die Keusch-Liebenden zu spielen, während sie gleichzeitig ihre Sinne in der brutalsten Weise bei der Prostituierten befriedigen, ist ein direktes Produkt dieser Weltanschauung; das Fleisch und der Geist sind von verschiedener Natur: man muss das Vieh wohl befriedigen (da man es nämlich nicht dahin gebracht, es zu bändigen), sobald es gesättigt ist, entfaltet der Engel mit Leichtigkeit seine Flügel!

Selbst die Menschen, deren Ansichten den christlichen Ideen ganz entgegengesetzt sind, zeigen, dass sie keineswegs vom Einfluss dieser Ideen frei sind, sobald sie die Frage der Liebe berühren: es ist ihnen nicht möglich, sie natürlich und gesund zu behandeln und mit dem ganzen Zartgefühl, das dafür erforderlich ist ...«

In der That, die Menschen sind unrein geworden und führen ein Doppelleben, sie haben aus sich selbst minotaurische Geschöpfe gemacht, mit einem sinnenden Menschenhaupt und einem greulichen Tierleib. Hin und her getrieben in Verzweiflung zwischen der Wonne und Erhebung der Liebesempfindungen und den Schändlichkeiten, die an ihnen haften, haben sie eine irdische und eine himmlische, eine reine und eine unreine, eine erlaubte und eine verbotene Liebe erfunden, und sie schwärmen für die eine und schwelgen in der andern, so dass ihr ganzes sexuelles Leben etwas unsagbar Verlogenes wird – sie sind decent in ihren Reden in der Familie und in der Gesellschaft, und voll Schändlichkeit in ihren Reden, wenn sie »unter sich« sind, und derselben Dinge, deren sie sich in dem einen Zimmer schämen, deren rühmen sie sich in dem anderen.

Tolstoi aber sagt ihnen, um sie zu bessern, noch einmal und noch nachdrücklicher: »Lasst das Schwärmen, alle Liebe ist unrein! es ist immer das Tier, das geniesst – der sittliche Mensch kann vor seiner Geschlechtlichkeit nur Abscheu empfinden, wer diesen Abscheu nicht fühlt, ist krank, ist verdorben. Und jeder Mensch soll trachten, alle Freude, die er aus seinem sexuellen Leben schöpft, in sich zu ertöten und es als ein notwendiges Uebel, eine unvermeidliche Schmach zu empfinden!«

Wir wollen gar nicht davon reden, wie niederdrückend und wie widernatürlich der Gedanke ist, dass das, was in der ganzen Natur den Gipfel des Lebens und der Freude bedeutet, für den Menschen die tiefste Erniedrigung sein soll. Der Trieb, der die Blüte und das Feuer der Welt ist, der »die Pflanzen sich in farbigen Streifen und Sternen der Sonne zukehren lässt, in einer wahren Ekstase der Zeugungslust, und die Nüstern der Tiere dehnt und ihren Körper mit einer stolzen und feurigen Schönheit belebt,« soll für den Menschen das Zeichen der Schmach und der Verdammnis sein? Wenn das Bewusstsein und die Erkenntnis uns das gebracht haben, dann sind sie wahrlich der Fall des Menschen gewesen, und wir müssen Pflanze und Tier als hoch über uns stehend, beneiden! Das soll der Weg zu einer sittlichen und reinen Zukunft des Menschen sein – das soll der Gott gewollt haben, der ihn schuf, der in ihm sich offenbart hat?

Die logische Konsequenz der Tolstoischen Anschauung ist denn auch nicht die Vervollkommnung, sondern das Aufhören des Menschengeschlechtes, der Enthaltsamkeitsselbstmord der ganzen Menschheit als ihr höchstes sittliches Ideal und ihre unabweisbare Pflicht, und nur durch ein ziemlich hässliches Sophisma kommt Tolstoi darüber hinweg: er sagt, dies sei wohl das Ideal, ein Ideal sei aber das, was nie erreicht werde. Wohl, das nicht erreicht wird – aber ein Ideal, das nicht erreicht werden soll, ist ein Widersinn und hebt sich selbst auf.

Tolstois Lehre ist nichts anderes, als ein nochmaliger grosser Versuch jener zweitausendjährigen Sisyphus-Arbeit, jenes schrecklichen Missverständnisses des Apostels – die uns immer nur zu dem gleichen elenden Resultat der Verlogenheit führen kann. Einige wenige gelangen zu einer vielleicht heiligen, jedenfalls aber furchtbaren und naturwidrigen Askese – die fast immer voll Unreinheit ist, denn was war schlimmer als die Phantasien der Büssermönche? Die meisten aber kehren zum Kompromiss zurück – zur Anbetung des Engels und Sättigung des Tieres, und immer wird der Satz Nietzsches von ihnen gesagt werden können: »Diese enthalten sich wohl – aber die Hündin Sinnlichkeit blickt mit Neid aus allem, was sie thun!«

Man könnte sagen: Die Menschen sind so, sind Minotauren, halb Tier, halb Engel, oder Tiere auf dem Weg zum Engelwerden – und darum muss auch ihr Leben ein tragisch zwiespältiges sein, und darum ist dieser Dualismus der Anschauung entstanden. Man könnte das sagen: aber dann weg mit dieser verlogenen Sittlichkeit, weg mit dieser Reinheitsheuchelei und weg vor allen mit der Tyrannei der gesättigten oder neidischen Tiere, die nach jedem reinen und freien Menschen bellen und Steine werfen, weil sie ihn nicht verstehen oder weil er sie beschämt!

Es giebt aber zum Glück noch eine andere reinere und grössere Anschauung, eine Anschauung, die bescheiden und hoffnungsvoll zugleich ist, die uns als das nimmt, was wir sind, die das Tier nicht verwirft und den Engel nicht leugnet, die keinen so bösartigen Unterschied zwischen ihnen findet und den verhängnisvollen Zwiespalt nicht entstehen lässt, die sich nichts vorlügen will und die dennoch sagt: Alles Hohe ist uns erreichbar und auf den natürlichsten Wegen: Wir sind, was wir aus uns machen.

Gegenüber jenem asiatischen Schreckbild, jener scheinbar hochfliegenden Theorie, die aus Uebersättigung und Verzücktheit geboren ward, die uns hinaufzuführen vorgiebt, während sie uns in der That tiefer hinunterdrückt, ertönen frohere Stimmen aus dem Westen, die uns gesündere und fruchtbarere Wege weisen. Ich lege das Buch eines englischen Autors in deutscher Uebersetzung vor: »Love's Coming of Age« von Edward Carpenter. Es ist nicht das erste Werk des Verfassers, der, gleich seinem Lehrer Frederick Denison Maurice erst Geistlicher und dann Socialreformer ward. Auf seine merkwürdigen und bedeutenden Bücher: »Englands Ideal«, »Die Kultur, ihre Ursachen und ihre Heilung«, »Engels-Flügel« u. a. kann ich hier nicht eingehen. Ich hoffe, auch sie – zusammen mit einem Freunde – in deutscher Sprache herauszugeben. Es sind lauter lebendige Bücher über lebendige brennende Fragen unserer Zeit, umfassende, weitausgreifende Bücher über die socialen Zustände, über unsere Kultur, unsere Sittlichkeit, unsere Justiz, unsere Wissenschaft, unsere Kunst und ihr Verhältnis zum Leben unserer Zeit, Bücher voll überraschender Gedanken und grosser Anschauungen, sowie ein Band schöner Dichtungen in der Form der Rhapsodien Walt Whitmans. Das eine seiner Werke, das gleich dem Buche Tolstois dem sexuellen Problem gilt, habe ich übersetzt, und da der englische Titel sich nicht wörtlich wiedergeben liess, ihn sinngemäss in den Worten: »Wenn die Menschen reif zur Liebe werden ...« übertragen. Dieser Titel sagt genug: Die Menschen von heute sind in ihrem Liebesleben ebenso unreif und rückständig, als in ihrem ökonomischen, in ihrem politischen, in ihrem socialen Leben.

Und auf diesem Gebiet sind es insbesondere die Männer, die ja die heutige Geschlechtsmoral geschaffen und den Frauen, – die hierin, wie Carpenter sehr richtig ausführt, von Natur aus viel einheitlicher und reiner empfinden, schon weil sie die Frage viel ernster nehmen, – aufgezwungen und aufhypnotisiert haben. Diesen Gedanken, der im ersten Augenblick überraschen muss – da wir doch alle wissen, zu wie viel elenderer Verderbnis das Weib sinkt – halte ich für einen der schärfsten des Carpenterschen Buches. Auf die sogenannte Frauenfrage, die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter, will ich hier nicht eingehen. Ich habe meine Anschauungen seiner Zeit in einem Aufsatze »Frauenrecht und Logik« zu vertreten gesucht »Frauenrecht und Logik«, Verlag Renaissance (Otto Lehmann), 3. Tausend, 1905.; und in Carpenters Buch finden sich vortreffliche Ausführungen darüber. Eine Kapitelüberschrift seines Buches lautet: »Der Mann – das unreife Geschlecht« und die nächste: »Das Weib – das leibeigene Geschlecht« – dieses aber beginnt mit den Worten: »Der Mann unserer Zeit ist ein unreifer Mensch, und ein unreifer Mensch ist immer ein Tyrann ...« Wenn diese Worte nicht den Kernpunkt der ganzen Frage enthalten! Nichts freilich wird so ungern zugestanden werden. Aber hat er nicht recht? Die Männer wären nicht unreif einer Frage gegenüber, von der sie nicht gerade zu reden wissen noch wagen, obwohl sie eine der brennendsten in ihrem eigenen Leben, wie in dem ihrer Kinder, ja, der ganzen zukünftigen Menschheit ist? Welches bessere Zeichen der Unreife könnte es geben, als dass sie ihren Kindern nichts Ernstes darüber zu sagen wissen! dass Lehrer rot werden und ängstlich blättern, wenn sie in Gegenwart ihrer Schüler in einem antiken Schriftsteller auf freie natürliche Worte stossen! Ist das nicht das kläglichste Zeichen völliger sittlicher Haltlosigkeit dem Thema gegenüber? Heisst das nicht dem Kinde zu verstehen geben: du sollst das nicht rein betrachten! Und das Kind wäre so leicht für reine Anschauungen zu gewinnen. Natürlich hilft dieses armselige Schweigen nicht. Das Leben brennt trotzdem weiter, nur in trüben und unreinen Flammen.

Und so wächst jede neue Generation in das Schuldbewusstsein der früheren hinein, und in die Gesellschaftsordnung, die zur Aufrechterhaltung ihrer »Sittlichkeit« der Prostitution nicht entbehren kann. (»Vernünftige« Leute pflegen das sehr ernsthaft zu erörtern und zu begründen.) Und sie werden auf den unsaubersten Wegen in das zwiespältige Liebesleben eingeführt und acceptieren es auch – die bestveranlagten Knaben zunächst mit schmerzlicher Enttäuschung und später mit bereitwilliger Heuchelei. Für das andere Geschlecht aber haben die Männer eine eigene Erziehung und Behandlung normiert, die den psycho-physischen Zwiespalt, der in ihnen selbst herrscht und den Carpenter so vortrefflich darstellt, gleichsam in das weibliche Geschlecht projiziert und übertragen hat. Ihre ganze Idee vom Weibe läuft divergent – und merkwürdigerweise oft genug gleichzeitig in demselben Individuum – in ein unsinniges, leeres Idealisieren auf der einen und die tiefste Erniedrigung und Verachtung auf der anderen Seite auseinander. Im Leben trifft das alle Frauen. Ueber die scheinbare, durchaus erlogene Verehrung, die sie bei wirklicher Rechtlosigkeit geniessen, ist oft genug gesprochen worden. In den oberen Klassen, ist die ganze Erziehung von jenem blutlosen Ideal bestimmt. Natürlich nur äusserlich, nebenbei werden dem Mädchen genug, wenn nicht vernünftige, so doch geschäftliche Grundsätze eingeprägt. Jenes Ideal aber verlangt vor allem, dass das Weib den Schein erwecke, als ob alle Sexualität für sie nicht existierte! Ist das nicht der Gipfelpunkt menschlichen Unsinns? Wozu hat die ehrliche Natur zwei Geschlechter geschaffen? So weit es sich dabei um eine Decenz des guten Stiles handelt, die für den Mann ganz gleicherweise gilt, soll nicht dagegen gesprochen werden! Nichts liegt mir ferner als eine Apologie hässlicher Derbheiten. Nur müsste jenes Schweigen in einem Gefühl von Schönheit und Intimität, in der Ehrfurcht vor der tiefen Bedeutung der Liebe begründet sein und nicht in einer Scham, die eine uneingestandene Lüsternheit bedeckt.

Und gerade weil ein offenes und reines Erkennen des eigenen Wesens ihnen versagt ist, kommt ihnen auf hässlichen Schleichwegen des Wissens genug – ein verzerrtes Wissen ohne Ehrfurcht, und durch das künstliche Geheimnis entsteht ein unnatürlicher und gefährlicher Reizzustand. Die, deren Natur die reinste ist, werden später furchtbaren Kämpfen entgegengehen – Kämpfen, die ihnen durch eine klügere Erziehung oft genug hätten erspart werden können; und früher oder später werden auch sie zu Kompromissen der Resignation und der Verzweiflung getrieben.

Aber nicht nur das Leben der Einzelnen, das ganze Geschlecht ist in zwei Gruppen geteilt, die es bei den Männern nicht giebt – in »Anständige« und »Verworfene«, in solche, von denen man spricht, und die, von denen man nicht spricht, die aber von den »vernünftigen« Leuten für genau so unentbehrlich gehalten werden, die die Basis von Schmutz und Verderbnis bilden, auf der unsere »sittliche« Gesellschaftsordnung errichtet ist. Freilich, die beiden Welten, das weiss jeder, sind nicht so strenge getrennt, denn die Männer haben ja alle eine »Vergangenheit« oder auch eine Gegenwart, und durch die konstante illegitime Verschwägerung, über die Multatuli so hübsch geschrieben hat, sind alle die vornehmen und sittenstrengen Männer und Frauen des oberen Kreises mit jenen elenden und verachteten Geschöpfen, alle, alle mehr oder minder intim verknüpft – oder verwandt, um es gerade heraus zu sagen – illegitim natürlich!

»Gott schuf sie – und sie sind eure Schwestern, euresgleichen – ob ihr es nun wollt oder nicht,« ruft Tolstoi. Er spricht als Christ. Aber wem wird es einfallen, solche Worte ernst zu nehmen? – Wir wollen diese Geschwisterlichkeit, die ja ein reines Hohnwort ist, wie die »Liberté, Egalité et Fraternité« auf den französischen Staatsnoten, lieber beiseite lassen. Aber wir können ruhig sagen: Die Prostitution ist einer der verlässlichsten Exponenten eurer Kultur, diese Geschöpfe zeigen die Höhe eurer sittlichen Entwicklung an, sie sind die lebendigen Zeugen und Verräter eures Liebeslebens, sie sind die Illustrationen eurer eigenen Geheimgeschichte. Und wenn ihr die elenden, geschminkten, totenähnlichen Gesichter in den Strassen eurer Grossstädte seht, so seht ihr eben in diesen Fratzen die Kehrseite eurer »Sittlichkeit« im Spiegel!

Und das wird nicht anders werden, solange es nicht für ein schändliches Verbrechen angesehen wird, einen Menschen zum blossen Werkzeug momentaner Lustbefriedigung herabzuwürdigen, ein viel abscheulicheres Verbrechen, als die Sklaverei, die Herabwürdigung des Menschen zum blossen Arbeitswerkzeug, die unsere modernen Gesetze mit Kerkerstrafen bedrohten. Frauen und Mädchen aber, – ich rede nicht von den einzelnen reiferen, kühneren, sondern von der grossen Menge – leben diesen Zuständen gegenüber, die ihnen unerträglich sein müssten, in einer merkwürdigen Gefühlsverwirrung, – in einem Zustand, der aus Abscheu, verschwiegenem Dulden und oft genug eigener innerer Verderbnis zusammengesetzt ist, einem Zustand, der gleichsam eine Entartungserscheinung infolge der durch Generationen fortgesetzten verkehrten Erziehung und Behandlung ist.

Es ist nicht meine Absicht, hier den Inhalt des Carpenterschen Buches voraus zu erzählen, das gelesen werden soll; Menschen, die wissen, wie wir leben, und die bedenken, wie wir leben könnten, werden es nur mit Erschütterung lesen können.

Was besonders anziehend darin erscheint, ist die Ruhe und der schöne Ernst der Darstellung – alle Aengstlichkeit, alle Apokryphität ist hier ausgeschlossen: so und nicht anders muss über das Thema geschrieben werden. Geradezu seherhaft erscheint manchmal der Einblick in die Geschichte des Menschenwesens, in die titanischen Kräfte, die in Zeugung und Werden, im Wandel der Geschlechter, in ihrer Leidenschaft und ihrem Leiden aus Urzeiten durch uns hindurch in allerfernste Nebelzeiten fortwirken. Dann die ausserordentliche Erkenntnis des Geheimnisses der fortwährenden Transformation physischer Vorgänge in psychische, auf der die Möglichkeit reinerer Zustände eben beruht. Manche Bücher ähnlicher Art sind ja bereits geschrieben worden, meist ebenso vortrefflich in ihrem kritischen Teil, als hilflos und utopisch in den positiven Ausblicken in die Zukunft. Carpenter hingegen übersieht den Entwicklungsgang der Menschen mit ruhigem Blick, und in den Kapiteln, die der Zukunft gelten, giebt er die Schlüsse, die aus der Evolution, soweit wir sie bisher verfolgen können, sich unabweislich zu ergeben scheinen. Aus der fortwährend sich steigernden Individualisierung der Persönlichkeit bei ebenso fortwährend gesteigerter Socialisierung der ökonomischen Existenz scheint ihm eine reifere und klarere Monogamie, eine Ehe, die auf tiefsten Wesensverbindungen und nicht auf Formen und Geschäften beruhen wird, die Hoffnung der Zukunft. Nichts liegt ihm ferner als einen rohen Animalismus zu predigen, im Gegenteil »eine Art kraftvoller Enthaltsamkeit selbst zwischen Liebenden« scheint ihm die einzige Gewähr, dass das sinnlich-seelische Band ein reines und freudiges bleiben kann, eine höchste Lust, der alle Lüsternheit fern ist. Aber das muss in den Kapiteln »Die Ehe – ein Blick in die Zukunft« und »Die freie Gesellschaft« gelesen werden. Freilich ohne gleichzeitige ökonomische und sociale Umwälzungen, ohne die Befreiung und Erhöhung des Menschen an sich, ohne eine vollständige Veränderung des rechtlichen und moralischen Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, ist jene Zukunft nicht erreichbar. Edward Carpenter ist ein Socialist – ein englischer Socialist, dem alle socialdemokratische Orthodoxie fremd ist. Aber der Gedanke Mesnils, dass die ökonomische Umwälzung allein nicht genügen wird, liegt unausgesprochen auch diesem Buche zu Grunde.

Die Frage scheint mir heute vor allem eine Erziehungsfrage. Ich will die Ketzerei aussprechen, – die übrigens bereits William Morris ausgesprochen hat, – dass auch auf dem ökonomischen Gebiet nur die Erziehung eine Umwälzung vorbereiten und herbeiführen kann. Unsere ganze Erziehung, die ganze Aufgabe für den einzelnen wie für die ganze Menschheit muss sein: aus allen Kräften, die uns gegeben sind, Motoren zu machen und zwar Motoren zu unserer eigenen Erhebung und zur Erziehung eines Geschlechts grosser und vollkommener Menschen. Alle Kräfte, die uns gegeben sind, können wir missbrauchen oder verwerten, verkümmern oder entwickeln, und wir werden das immer in dem Mass und in dem Sinne thun, in dem wir ihren möglichen Wert zu betrachten gewohnt sind. Allen Erscheinungen und Mächten der Erde gegenüber, Talent und Schönheit, Reichtum und Wissen, ja unsern Fehlern und Mängeln, sowie dem ganzen Komplex, den wir unser Ich, unsere Persönlichkeit nennen, sind wir in der gleichen Lage: wir werden mehr oder minder das mit ihnen thun, das aus ihnen machen, wozu wir uns berufen und verpflichtet glauben, wozu starke psychische Eindrücke uns treiben, das heisst vor allem, wozu wir erzogen sind. Nicht, dass ich glauben würde, dass die Erziehung den Einzelnen wesentlich ändern könnte, aber die Erziehung der Generationen hat eine ungeheure Macht. Und auch die Erziehung des Einzelnen kann seinen Anlagen zum mindesten den Weg weisen – und die heutige Erziehung weist ihnen auf diesem Gebiete den schlechtesten Weg oder gar keinen, was meist dasselbe bedeutet. Die Macht der Erziehung, – ich verstehe darunter die ganze Beeinflussung – wird ebenso oft im ganzen unterschätzt, wie sie in Details überschätzt wird. Tradition und Erziehung haben uns die elendesten Popanze aufgezwungen und uns Vergewaltigungen unseres eigenen Wesens aus Eitelkeit und Konventionalität möglich gemacht, dass zu einem sittlichen und vernünftigen Leben kaum mehr Anstrengung und Selbstüberwindung nötig sein kann. Wir müssen von Jugend auf gelehrt werden – freilich widerspricht das dem ganzen System unserer Erziehung – alle unsere Kräfte zu entwickeln und auf hohe Ziele zu richten. Die Entwicklung der Kräfte verlangt – wenn auch in plumpen, ungeschickten, oft schädlich verkehrten Methoden – bereits die gegenwärtige Erziehung, aber die hohen Ziele fehlen. Sie stehen wohl in den Lesebüchern und werden gelegentlich vorgesagt, aber Kinder und Eltern, Lehrer und Schüler wissen, dass das Humbug ist, und dass Geschäft und Karriere und hinter den Coulissen Befriedigung der Sinne und der Eitelkeit die wahren Ziele sind, die oft genug offen als solche gelehrt werden. Unser gegenwärtiges Erziehungssystem ist ein solches der Entidealisierung und der Herabdrückung des moralischen Niveaus der bestveranlagten Kinder.

Das gilt ebensowohl für die Kräfte unserer Muskeln, wie für die unseres Hirns, wie vor allem für die unserer Sexualität, die vielleicht die wichtigsten sind, weil auf ihnen die Zukunft des ganzen Geschlechts beruht. Wir wissen das sehr wohl, und in manchen Büchern, meist apokryphen Publikationen hygienischer Natur, wird es in bald dumpfer und verschämter, bald in viel zu rüder Weise ausgesprochen – aber sehr selten sagt es der Vater seinen Söhnen und die Mutter ihren Töchtern. Denn sie sind selbst zu unrein oder zu verkehrt erzogen, um es ohne Scham sagen zu können! Und sie begehen lieber das furchtbare Verbrechen an den eigenen Kindern und überlassen die Belehrung über das Lebensgebiet, das für die Entwicklung seiner körperlichen und sittlichen Persönlichkeit das wichtigste ist, das ihm, wie sie wohl wissen, die tiefsten Aufregungen, die schwersten Konflikte bringen wird, das die intimste Beziehung, in die er zu anderen Menschen jemals treten kann, enthält, das die Basis der so oft heuchlerisch als »heilig«, als Fundament aller sittlichen Ordnung bezeichneten Familie ist – die Belehrung und Erziehung darin überlassen sie unbedenklich dem Zufall, und nicht nur dem Zufall, sondern wie sie wohl wissen, den schmutzigsten Einflüssen, den Gesprächen der Dienstleute und verderbter Mitschüler– und die ersten Liebeserfahrungen des Sohnes und künftigen Vaters überlassen sie dem Umgang mit den unreinsten und erniedrigtesten Geschöpfen. Und so wird das Gebiet seines Wesens, das für ihn das ernsteste, heiligste, unbefleckteste sein sollte – zum schmutzigsten und besudeltsten Winkel seines körperlichen und seelischen Lebens. Das sind die Folgen von Anschauungen, wie Tolstoi sie lehrt: denn was man immer wieder für unrein und schändlich erklärt – das wird mit unfehlbarer Sicherheit früher oder später unrein und schändlich werden. Gerade weil die Macht des Geschlechtstriebes eine so ungeheure ist, gerade weil er uns beständig so eigentümlichen Täuschungen und Selbsttäuschungen aussetzt, gerade weil er gleichzeitig eine solche Kraft und eine solche Gefahr ist, gerade darum muss er, wie jede ungeheure Kraft, mit besonderer Vernunft und Sorgfalt geleitet und erzogen werden – und nicht feig ignoriert und in den Schmutz getrieben, wie heute. Vieler Worte wird es nicht bedürfen. Nur der Geist muss ein anderer werden. Solange die Anschauung vorherrscht, die das sexuelle Leben als etwas Niedriges betrachtet – solange werden die jungen Leute im Zwiespalt zwischen der unwiderstehlichen Lust und den empfangenen Lehren immer wieder zu elender Lüge, zu äusserlicher Decenz neben innerer Verderbtheit getrieben werden. Wenn sie aber gelehrt worden sind, ihre Sexualität als ein kostbares Werkzeug der eigenen Vollendung und der Vervollkommnung des ganzen Geschlechts anzusehen, dann wird ihr ganzes Streben danach gerichtet sein, und dann wird es ihnen auch erst möglich sein, ein reines und kraftvolles Leben zu führen. Alle Kämpfe werden ihnen nicht erspart sein, aber es werden Kämpfe sein, die in einem ganz anderen Geist gekämpft werden. Das zum mindesten haben wir gesehen, dass das gegenwärtige System keine guten Früchte getragen hat. Nicht durch Selbsterniedrigung, nur durch eine höhere Selbstachtung kann der Mensch vorwärts gebracht werden.

Unsere Aufgabe ist, unser Leben so reich und wertvoll als möglich zu gestalten. Wir haben nun einmal nichts anderes. Die tiefe cynische Skepsis, die sich seit Jahrhunderten eines grossen Teils der Menschen und vielfach der begabtesten bemächtigt hat, ist zuletzt nur ein Ausdruck der Leidensempfindung, die die Menschen beherrscht – jeder wirklich bittere Spott ist immer ein Ausdruck der Verzweiflung. Aber diese Skepsis, der wir ihren Erkenntniswert nicht absprechen wollen, hilft uns nicht: denn sie nimmt uns das Leben nicht, sie entwertet es nur. Und die Dinge sind nichts, sie sind das, als was wir sie anschauen.

Der ganze Kulturweg des Menschengeschlechts besteht in einer steigenden Veredelung und Erhöhung seines Daseins – ohne den Boden der Kraft, der animalischen Gesundheit, darüber zu verlieren. Es ist die Goethesche Spirale – der Rückkehr zum früheren Zustand auf einem höheren Plan. Tausend bedeutende Lichter und Erkenntnisse haben wir allen Gebieten unseres Lebens abzugewinnen, die herrlichsten geistigen Früchte, Kunstwerke und wunderbare, aus all diesen Elementen zusammengesetzte Lebenswerte von allen Zweigen zu pflücken verstanden. Freilich bisher nur in den feinsten, besten und stärksten Individuen unserer Gattung. Welchen Reichtum, welche intimen Genüsse, welches Funkeln von Geist und Anmut wissen begabte und erzogene, sympathisch aufeinander gestimmte Menschen aus dem blossen Gespräch und Verkehr zu gewinnen, was für Werte haben wir durch die Kunst sowie durch sittliche Grösse des Ertragens und Ueberwindens dem Unglück selbst, der Tragik unserer Existenz, abgewonnen! Und wenn wir die Liebespoesie aller Völker betrachten, wenn wir bedenken, in welcher innigen Beziehung das Geschlechtsleben und die psychischen Erregungen, die es mit sich bringt, mit aller Kunst, ja mit den meisten Schaffensgebieten des Menschen steht, so dürfen wir nicht sagen, dass wir es bloss erniedrigt haben. Aber wir haben uns diese Quelle gleichsam selbst vergiftet. Wie gross die Gefühls- und Begriffsverwirrung ist, die die ganze Menschheit ergriffen und durchsetzt hat, und welche erstaunlichen Widersprüche sie möglich macht, scheint sich mir in nichts so deutlich zu offenbaren, wie in der Thatsache, dass allgemein und überall das Verhältnis zwischen Mutter und Kind, Vater und Kind, Bruder und Schwester, als etwas besonders Heiliges, Reines und Ehrwürdiges angesehen, der Vorgang aber, durch den diese Verhältnisse entstehen, ohne den sie unmöglich wären, als etwas Unreines betrachtet wird. Wie viel reiner und höher erscheinen uns die alten gottesdienstlichen Riten, in denen die Zeugung verherrlicht wurde! Wir werden zu jener wahren Sakramentalität zurückkehren müssen, wenn auch als reifere Menschen und mit veränderter Auffassung, mit einer tieferen Erkenntnis der geistigen Elemente der Liebe, die jenen untergegangenen dem Faun näherstehenden Rassen nicht zugänglich war. Darüber hat Carpenter in dem Kapitel »Die freie Gesellschaft« sehr schön geschrieben.

Was bisher nur Vereinzelten gelang, muss einer immer grösseren Zahl möglich werden. Alle Dinge, die als unsere Feinde erscheinen, die uns belasten, die uns herabziehen, alle können richtig angeschaut, verwertet, Kräfte zu unserer Förderung werden. Sowie wir gelernt haben, die wildesten Kräfte der Natur, Feuer und Flut, Elektrizität und Dampf, die uns alle bedrohten, aus Feinden zu Dienern zu machen, nicht anders müssen wir es mit den Kräften unseres Leibes und unserer Seele machen. Das war das grosse, sittliche Geheimnis des Christentums, dass es aus Leid und Wunden, aus Niederlagen und Entwürdigungen, aus all den Zuständen, die die Antike verabscheute, sittliche Förderung zu ziehen vermochte, dass es die ideellen Energien, die in diesen Lebenselementen verborgen lagen, zu wecken und zu moralischen Kräften zu machen wusste. Und so ward der gefolterte und verachtete Sklave zum triumphierenden und verklärten Heiligen. Wir müssen noch viel weiter gehen. Wir müssen alle Einseitigkeiten der antiken wie der mittelalterlichen Weltanschauung abstreifen. Jede hat uns eine Entwicklungsrichtung, eine Steigerungsfähigkeit des menschlichen Wesens kennen gelehrt – das für uns Eines ist. Uns leuchtet eine neue geistig-irdische Vollkommenheit entgegen, – ein neues Ideal, das unsere Dichtung bereits hie und da zu offenbaren und darzustellen versucht. Und unsere Zeit, die begonnen hat, es zu erkennen, muss auch den Anfang dazu machen, es zu verwirklichen.

K. F.


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