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Min Hüsung

Auch ein Kriegsschicksal

Buchschmuck: Paul Hartmann

Nun sind es noch drei Wochen. Dann wird alles wieder aus dem Haus hinausgetragen, was wir mit so viel Mühe und Liebe, mit so viel Jubel und Hoffnung einst darin untergebracht hatten.

Es ist noch nicht lange her, und wie eine Welle der Freude strömt es aus jenen Tagen zu mir herüber. Viele Jahre hatten wir geprobt und waren umhergewandert … Zigeuner der Sehnsucht, deren Zelt in allen Winden stand. Im Brausen der Großstadt hatten wir gewohnt und waren Frieden suchend in ein verschlafenes Provinznest gezogen; es hatte uns zurückgetrieben in die Nähe Berlins, und von Vorort zu Vorort waren wir geirrt, bis unsere Sehnsucht nach Ruhe, nach einem Heim, das niemand uns nehmen konnte, nach einem Garten, der uns gehörte, geradezu unsinnig geworden war.

Aber niemals hatten wir die Stätte gefunden, wo wir ruhevoll den Stab hätten in die Erde stoßen mögen … untrüglich geführt von der inneren Stimme, die da gesprochen hätte: Hier ist der Grund, in dem ihr wurzeln sollt! Durch Gitter fremder Gärten sahen wir oft sehnsüchtig in schöne grüne Stille, Zaungäste des Lebens. Was uns gefiel, war immer zu teuer; was uns erschwinglich war, gefiel uns nicht.

Und dann, mit einem Male, war doch das Rechte da. Der lose Kobold Zufall stellte es uns gerade vor die Nase. Erst ein kurzes Erschrecken, in dem das Herz still zu stehen schien; ein unsichres Zögern und Rechnen, eine heimliche Angst; darüber endlich, immer stärker werdend, die Zuversicht: es wird gehn! es muß gehn!

Wie ein Marder bin ich an dem Haus vorbeigeschlichen … tage- und wochenlang. Da lag es: ein wenig verwahrlost, ohne Liebe gehalten, mit etwas zu schmaler Front, aber doch fest und stattlich, ohne Türmchen und Firlefanz, weit in den Garten zurückgebaut und gleichzeitig, da es erhöht stand, hinüberschauend auf die stille grüne Straße. Immer besser gefiel es mir in seinen ruhigen Linien, und einmal … ich weiß es noch genau, es war in der Dämmerung … da schien es mir plötzlich entgegenzuwachsen und mich zu rufen.

Nimm mich! bat es … wage es mit mir und traue mir! Alle, die bisher in meinen Mauern schliefen, sind mir fremd geblieben, wie ich ihnen. Sie haben gewohnt in mir wie in einer Herberge – von Anfang an gewiß, daß sie nicht bleiben würden. Wie hätten sie da ein Herz für mich haben sollen! Ader ich brauche eine Hand, die mich pflegt und hält! Ich will es Dir lohnen mit Wärme, Hut und Behagen!

Da hab ich mich halten müssen, um die Arme nicht zu spannen und auszubreiten. In allen Muskeln hat es mir gezuckt, und im Sturmschritt bin ich nach Hause gekommen: ich nehme es … ich will es wagen!

Es war kein leichter Entschluß. Denn ich sah es wohl: das Haus war von vornherein zu teuer. Nicht an sich … bewahre! … nur für uns arme Kirchenmäuse. Aber es lag alles so günstig. Wir sollten erst Frühling und Sommer, Herbst und Winter zweimal und dreimal darin erleben; wir durften es erproben in allen Jahreszeiten, bevor wir zuzugreifen brauchten. Und wenn wir uns anstrengten, wenn wir tapfer und zäh waren, dann konnten wir es am Ende doch schaffen!

Herrgott, wie einem da schon vorher die Kräfte wuchsen! Wie man die Hände ballte, als ob man sich selbst seine Stärke zeigen müßte!

Eigentlich war es mir gerade so recht: daß ich mir das Haus erst erkämpfen sollte durch Arbeit und Entbehrung. Daß es nicht blank und neu und fertig da war, sondern daß es meine Liebe und Mühe verlangte, um alles zu werden, was es sein konnte.

Ich wußte wohl, es würden Stunden kommen, wo es nur Last und Sorge war. Es würde Nächte kosten, ungezählte, am Schreibtisch durchwacht und verbracht. Es würden Jahre kommen und schwinden, bevor ich aufatmen durfte.

Aber stand ich nicht noch in Säften und Kräften? Und war das Ziel das heiß ersehnte, nicht des Schweißes wert?

So hab' ich's gewagt. Mit Mut und Vertrauen sind wir mitten in die Arbeit hineingesprungen und haben unsere Schultern unter die liebe schwere Last gestemmt.

Niemals war ein Umzug und Einzug so fröhlich. Über die Rasenflächen des Gartens sprangen die Füße der Kinder, und drinnen klang das Hämmern der Handwerker aus allen Zimmern. In Hemdsärmeln stand ich selber auf Bücherkisten und klopfte Nägel in die Wand: voll heimlichen Stolzes, daß ich viel öfter den Nagelkopf traf als meine Finger. Vor neuen Aufgaben stellen sich neue Fähigkeiten ein.

Das Haus schien noch kein rechtes Vertrauen zu haben. Es sah mürrisch, kalt und teilnahmslos unserer Arbeit zu … fast wie ein mißtrauischer, oft enttäuschter Mensch, der nicht glauben will. Aber von Tag zu Tag ward es freundlicher. Wie es auflebte! Wie still und stolz es allen verliehenen Schmuck trug! Wie aus dem lieblos und gleichgültig Behandelten langsam, im Wandern der Wochen, etwas Neues ward! Es war Mauerwerk gewesen, und nun zum ersten Mal, ward es ein Heim … geliebt von denen, die es bewohnten. Jeden Abend hörte es, mit leisem knistern der neuen Tapeten, aufmerksam zu, wenn wir Pläne schmiedeten: was alles mit der Zeit noch zu tun wäre, wie wir es pflegen und verschönen, wie wir den Garten betreuen und halten wollten.

Ach, wir haben nicht Tausende, sondern Zehntausende dabei ausgegeben … wir haben den Obstgarten des Nachbars dazu gekauft, wir haben für den Winter Zentralheizung legen lassen, wir haben Warmwasserversorgung eingeführt und unter kluger Ausnützung des Vorhandenen einen architektonisch meisterhaften Umbau vorgenommen – versteht sich, alles nur in den Träumen dieser Abendstunden. Ein ganz besonderes Glück hat uns vor allem der Saal bereitet … der Saal, den ich meiner kleinen Frau geschenkt habe. Sie hat nämlich im Elternhaus einen Saal gehabt … einen großen kühlen, in dem es »immer nach Weihnachten roch«. Denn alle Christfeste ihrer Kindheit waren darin gefeiert worden. Einen Sommer hat dieser Saal ihrer Erinnerung nicht gekannt, davon weiß sie nichts. Sie sieht nur immer die Doppeltanne mit den Lichtern, die hoch in einer Ecke steht. Und als ich einmal so ganz heimglücklich war, ging mir das Herz über und ich sagte freigebig: »Ich schenke Dir einen Saal … einen Weihnachtssaal … wir wollen ihn anbaun!«

Da sind ihr vor jäher Freude fast die Tränen ins Auge geschossen. »O, einen Saal!« sprach sie und fiel mir glückselig um den Hals.

Dagegen hat es einen kleinen Zank über die Rosensorte gegeben, die wir aus dem Mittelbeet vor der Veranda anpflanzen wollten. Ich war durchaus für die alte Madame Caroline Testout. Irgendwo hatte ich gelesen, es sei noch immer die dankbarste Schnittrose. Meine Frau aber hatte sich auf eine andere Art festgelegt … ich glaube, es war Kaiserin Augusta Viktoria. Es ging hin und her, jeder sagte dem andern einen gewissen Eigensinn und eine erstaunliche Unkenntnis der Rosazeen nach, und wir trennten uns an diesem Abend sehr kühl. Bis zum nächsten Morgen aber hatte sich jeder zum Standpunkt des andern entwickelt, und eben wollte ich mich lächelnd zu Augusta Viktoria bekennen, als meine Frau beim Kaffee-Einschenken sagte: »Du hast eigentlich recht … wir wollen doch Madame Caroline Testout nehmen!« Nun hätten wir beinahe wieder gestritten, wenn nicht der Hühnerstall, den wir unbedingt bauen wollten, alles andere in den Hintergrund gedrängt hätte.

Scheint es mir heute nur so oder lag wirklich ein Glanz über diesen Tagen? Alle paar Minuten muß ich die Feder hinlegen und daran denken, wie froh und ausgefüllt wir waren. Das Pläneschmieden … das Pläneschmieden ist ein so großes Glück. Und kostet rein gar nichts! Ich glaube, selbst in verklungenen Zeiten, als wir noch Brautleute waren und uns unsere junge Wirtschaft ausmalten, hatten wir kaum die gleiche Freude. Wie das gemeinsame Ziel bindet! Wie wir aus unseren Abendträumen die frische Kraft gewannen zur Arbeit des Tages! Wie wir uns die Seele immer von neuem mit Hoffnung, Mut und Glauben füllten!

Wir schafften auch tüchtig voran. Jede Woche kam eine Kleinigkeit hinzu … ein dritter hätte es wohl nicht gemerkt, wir aber sahen es mit heimlichem Stolz. Unsere Mühe steckte darin, unser Abgespartes, manchmal auch unser Leichtsinn. »Es bleibt uns ja«, sagte man sich; »es ist ja nicht so, als ob man es in ein fremdes Haus gesteckt hätte.« Einst, einst würde es unser eigen sein!

Doch grade da, als unsere Blütenträume am schönsten prangten, geschah ein Brausen wie eines gewaltigen Sturmes, und mit schüttelnder Gewalt, alle persönlichen Wünsche und Hoffnungen zurückdrängend, kam der Krieg.

An alles hatten wir gedacht … nur an den Krieg nicht.

Es schien, als wäre den menschlichen Zielen plötzlich der Sinn geraubt. Sie wurden gleichgültig und fremd. Die Pflugschar Gottes blitzte und zog breite blutige Furchen. In Qual und Druck, in Rausch und Glut kamen und gingen die Tage. Rechts und links rauschten die Fahnen Sieg. Und als Hindenburg zwischen den Seen in der ersten glückhaften Masurenschlacht die Russen geschlagen hatte, da bin ich Sohn der ostdeutschen Erde, taub für alles andere, zum Stellmacher gelaufen und habe mir im Garten einen riesigen Fahnenmast aufrichten lassen. Sein goldener Knauf glänzte in der Sonne, und drei Tage lang flog unter dem Knauf das schwarzweißrote Tuch durch Sonne, Wind und Regen.

Einst, sprach ich zu mir selber und sah empor, wenn ein Vierteljahrhundert über Sieg und Todesnot der Tapferen verrauscht ist, werden Enkel, heute noch ungeborene, um mich herumstehen, und ich, ein alter Mann, werde ihnen die verblichene Fahne zeigen: sie hat – glorreichen Angedenkens – zum ersten Mal in Lüften gespielt, als Ostpreußen frei ward! Dann werden die jungen Enkel neugierig und mit einem Schauer der Ehrfurcht das Tuch befühlen, als trüge es noch etwas an sich vom Atem weltgeschichtlicher Tage …

Ja, damals war der Krieg noch wie ein Rausch für uns. Und Weihnachten … Weihnachten sollte alles vorüber sein!

Aber das Blut der Völker färbte den Winterschnee und troff in das Blühn des Frühlings. Es rauchte durch Sommer und Herbst, es rauchte durch einen neuen Winter. Da ward der Krieg alt und schwer.

Das Hüsung stand noch immer fest und trotzig auf seiner Anhöhe, doch die Träume an den Abenden hatten keine Flügel mehr. Sie nahmen wohl hin und wieder einen Anlauf, aber sie sanken merkwürdig schnell zu Boden, als fehlte ihnen die frühere Schwungkraft. Keiner sprach darüber. Wozu auch? Es half ja doch nichts. Millionen trugen die gleiche Last und kämpften sich mit zusammengebissenen Zähnen durch die schweren Monate.

Und die bittre Teuerung stieg von Tag zu Tag. Die Frauen taten Wunder, aber sie konnten aus der Eins auf die Dauer keine Drei machen. Am Ende mußte man doch seine Spargroschen anbrechen, um das liebe bischen Leben weiter zu erhalten.

Als ich die ersten Kassenscheine von der Bank holte, tat ich es scheu und schämte mich dessen wie eines Unrechts. Es war ein Verrat an der Zukunft, ein Verrat an unserem Hause. Noch war der Schaden ja nicht groß, er ließ sich wieder einbringen, die besten Vorsätze hielten Wache davor.

Aber es ging, wie es immer geht: der zweite Schritt machte sich ganz von selbst, und mit jedem ward der Widerstand geringer. Man ergibt sich zuletzt in ein Schicksal, das stärker ist. Man fühlt mit einem Male, daß man nicht mehr Schläger ist, sondern nur noch Ball.

Von einem bestimmten Tage an habe ich jedenfalls zu rechnen aufgehört. Ich wußte nicht mehr und wollte nicht mehr wissen, wie es mit mir stand. Sicher war nur das Eine, daß wir sachte, sachte die Hoffnung auf unser Hüsung verzehrten. Die unersättlichen Mäuler der Kinder halfen dabei mit unbekümmerter Kraft. Sie knabberten den Kuchen in Gottes Namen an, sie schlugen eine Bresche hinein, gegen deren wachsende Größe ich mich im holden Selbstbetrug blind machte. Erst als der Sommer blutig in den dritten Kriegsherbst überging, hab' ich der harten Wahrheit ins Auge gesehn: ich konnte das Haus nun nicht mehr kaufen!

Dem Besitzer tat es leid. »Schade«, sagte er, »ich hätte es gern in guten Händen gewußt. Aber ich kann ihm den neuen Herrn nicht aussuchen.« Und seufzend stellte er es zum Verkauf.

Wir hatten es vorausgesehn. Es war ja selbstverständlich. Dennoch fühlten wir es wie einen dumpfen Schlag gegen das Herz. Noch einmal bäumte sich unsere letzte Widerstandskraft auf, als müßten wir durch einen kühnen Gewaltstreich dem drohenden Schicksal zuvorkommen.

Ach, es war aussichtslos! Nur ein Wunder konnte uns noch helfen. Da haben wir des Abends die Hände still in den Schoß gelegt und uns wieder an Träume geklammert. Sie waren nicht mehr die schönen gesunden Kinder einer tatfrohen Sehnsucht, sie brachten nicht mehr die stärkende Freude mit, – nein, sie hatten jetzt ein wenig Fieberaugen, sie waren voll kranker Unruhe und heimlicher Ausschweifung.

Vielleicht erinnert sich einer an das kostbare Schmierenstück, das vor Jahrzehnten auf österreichischen Provinzbühnen gespielt wurde. Abend, Sturm, Schneegestöber – in einsamer Hütte sitzen sorgenvoll die armen Köhlersleute – plötzlich klopft es, und herein tritt, dicht in den Mantel gehüllt, ein Fremder, ein Jäger, der sich verirrt hat. Er wird von der Armut gewärmt und gelabt, man teilt das kärgliche Mahl mit ihm, man erzählt ihm treuherzig von den harten Gläubigern, die kein Mitleid haben. Und als der Jäger gestärkt wieder aufbricht, dreht er sich in der Tür noch einmal um. »Liebe Leute«, sagt er in wohlgesetzter, nur etwas Weanerischer Rede, »liebe Leute, ich danke euch! Fragt nicht, wer ich bin. Ihr werdet es nie erfahren. Aber ihr sollt von mir hören. Alle euere Sorgen nehme ich an mein landesväterliches Herz. Ich bin euer guter Kaiser Franz Josef!« Der Mantel gleitet ab, im Schmuck der blitzenden Orden steht die apostolische Majestät da, den linken Fuß vorgesetzt und die rechte Hand aufs Herz gelegt, eine rote und grüne bengalische Flamme brennen links und rechts in den Kulissen auf, und die armen Köhlersleute sinken geblendet, mit Freudentränen, in die Knie und singen (unter Mitwirkung des p. t. Publikums): Gott erhalte Franz den Kaiser! –

Zwischen diesem dramatischen Meisterwerk und meinen wundersüchtigen Träumen bestand eine geheime Verwandtschaft.

Zwar habe ich selbst in den üppigsten Phantasien niemals den alten Franz Josef bemüht, überhaupt keinen Kaiser und König. Aber ich habe mir so gedacht: Wenn ich nun zum Beispiel ganz ehrlich über mein Hüsung schriebe … jedes Wort müßte gleichsam in Wonne und Weh, in Leid und Liebe getaucht sein, so daß man selbst in kalten schwarzen Druckbuchstaben mein Herz fühlte. Das würden dann tausend, zehntausend, fünfzigtausend oder gar noch mehr Leute lesen, und einer davon, dem zuckt es vielleicht um die Lippen und er denkt sich: ich will mir einmal einen Spaß machen!

Lieber Gott, die Menschen spaßen ja verschieden. Der eine hat sein Vergnügen daran, Bilder oder Briefmarken oder Notgeld oder Vivatbänder zu sammeln, der zweite freut sich am Reisen und der dritte züchtet Rosen. Warum, frag ich, sollte nicht irgend jemand sich den Spaß machen, einem deutschen Dichterlein auf die Beine zu helfen? Unmöglich wäre das doch nicht. Dieser große Unbekannte sitzt vielleicht gerade behaglich im Ledersessel, als ihm der prachtvolle Einfall kommt. Und plötzlich lacht er, zieht nachlässig sein Scheckbuch heraus und sagt sich: Was wird der dumme Kerl brauchen? Zehntausend? Schreiben wir zwanzig … es kommt ja nicht darauf an!

Doch als er dann den Scheck in einen Briefumschlag stecken will, fällt ihm ein, daß er sich durch seinen Namen ja verrät. Er klingelt also nach dem Diener – es ist selbstverständlich, daß dieser großartige Mensch einen Diener hat! – und läßt in Tausendmarkscheinen die Summe von der Bank holen. Siegelt sie eigenhändig ein, nachdem er einen Zettel mit den schlichten Worten: »Von einem Menschenfreunde« dazu gelegt hat, versieht den Geldbrief mit meinem Namen und Wohnort, die vom Verlag zu besagtem Zwecke jederzeit zu erfahren sind, und übergibt den Geldbrief unserer vortrefflichen Reichspost.

Den ganzen Tag schmunzelt er, wenn er an meine Überraschung denkt. Wenn er sich das ausmalt, wie ich die Hülle noch ohne Verständnis, aber mit merklichem Herzklopfen aufschneiden, wie ich mit zitternden Händen die Scheine herausnehmen und den Zettel lesen, wie ich plötzlich in ungeformten Urlauten aufschreien werde. Wetter noch einmal, sagt er sich, der dumme Kerl wird mir doch nicht überschnappen?!

Nein, nein, Hochzuverehrender, ich übernehme jede Gewähr! Nur eine Stunde, eine kurze Stunde will ich haben, wo ich versuchen kann, die Wände emporzuklettern, auf dem Kopf zu stehn, meine Frau als Bündel durch den Garten zu tragen, meine Kinder an den Haaren zu nehmen und sie mit den Köpfen zusammenzustoßen! Aber dann werde ich ganz gewiß still sein und sogar meinen Nächsten davon laufen, weit, weit in einsame Wälder hinein, wo es nur die Bäume sehn und hören, wenn mir Tränen ins Auge springen und die Worte im Munde zerbrechen. Ich würde die Bäume schütteln … mit Riesenkraft! Ich würde mir selber in Arme und Beine kneifen, um mir zu beweisen, daß ich nicht träume.

Seltsam, daß dies bisher noch keinen gelockt hat! Ich glaube, wenn ich ein Millionär wäre, würde ich mir solchen Spaß nicht entgehen lassen. Warum spaßt keiner mit mir so? Es ist wohl ein bischen lächerlich, aber ich denke oft daran.

Natürlich … man wartet nicht geradezu auf das Wunder; man weiß, es trifft ja doch nicht ein; man spöttelt im Geheimen über sich selber. Immerhin: eine ganz, ganz kleine Möglichkeit läßt sich nicht ausschließen.

Auf jeden Fall spitze ich mir täglich um zwölf Uhr am Fenster den Bleistift an. Um zwölf Uhr geht nämlich meistens der Geldbriefträger vorüber. Und einmal blieb er wirklich an meiner Gartentür stehn und klingelte.

Es ist ja Unsinn, beruhigte ich mich selber, Du wirst doch im Ernst nicht glauben, daß – –!

Aber als ich mir blitzschnell überschlug, daß ich von keiner Seite irgendein Honorar zu erhalten hatte, wuchs hinter äußerer Beherrschtheit meine innere Aufregung noch gewaltiger an. Es mußte sich um etwas Unerwartetes handeln – und warum, zum Henker, sollte es nicht der Geldbrief sein? Solche Fälle märchenhafter Überraschung kamen vor: der Dichter Robert Hamerling z. B. hat von einer unbekannten Gönnerin sogar alljährlich eine sehr beträchtliche Liebesgabe ins Haus geschickt bekommen.

Der sympathische Gruß des Geldbriefträgers unterbrach diese sich eilig abhaspelnden Betrachtungen. Wie alle seine Berufsgenossen hatte der Mann etwas Nettes und Umgängliches. Er war sozusagen menschlich veredelt durch das Gefühl, tagtäglich als Freudenbringer seine Runde machen zu dürfen. Mit herzlichem Wohlwollen schwang er mir eine Postanweisung entgegen und erkundigte sich, ob ich Hartgeld oder Scheine wünschte. Es war eine Postanweisung über fünf deutsche Reichsmark, die der Klein-Marauner Anzeiger für einen Gedichtnachdruck sich zu übersenden beehrte.

»Du bist wohl nicht ganz zufrieden?« fragte meine Älteste, die mit der Schulmappe im Arm gerade in mein Zimmer trat, als der Postbote verschwand.

»Nein,« erklärte ich geknickt, mit blutiger Selbstverhöhnung, »ich habe von einem unbekannten Herrn noch eine wichtige Sendung vergebens erwartet.«

Und das Mädel erwiderte mit altklugem Trost: »Der Herr wird halt auch im Kriege sein!«

O du heilige Einfalt! Ja, der Herr wird im Kriege, der Herr wird sicher schon totgeschossen sein, und ich werde wohl immer vergeblich auf seinen »Spaß« warten müssen …

Seitdem begann dieser Abendtraum zu verblassen und anderen Platz zu machen. Es gab so allerhand hübsche Gedanken, in die man sich verdröseln konnte.

Da hatte meine Zeitung z. B. eine große Rechnung über die Gesamtkosten der zwei verflossenen Jahre des Weltkrieges ausgestellt. Die Haare konnten einem zu Berge stehn. Gesetzt den Fall, sagte ich zu meiner Seele, die kriegführenden Mächte schenkten mir nur die Kosten einer einzigen Minute. Ob das wohl langen würde? Und ich rechnete die Riesensumme mit Geduld und Mühe auf Monate, Tage, Stunden, Minuten um.

Wahrhaftig, es war kaum glaublich: jede Minute kostete Hunderttausende! Eine halbe Minute, eine Viertelminute, eine Achtelminute, eine paar Sekunden würden mir genügen! Niemand würde es merken, wenn ein paar Sekunden auf allen Fronten einmal kein Schuß fiele, einmal Kampf und Kriegsarbeit und was sonst dazu gehört, aussetzte. Es wäre so prachtvoll vernünftig, wenige Atemzüge lang würde kein Mensch getötet oder verwundet werden, alle würden zufrieden, und ich selber würde hochbeglückt sein.

Aber glaubt man, daß dieser vernünftige Einfall auch nur die geringste Aussicht auf Annahme hat? Ich für meinen Teil habe – so schmerzlich es klingt – keine Hoffnung. Und ähnlich stand es mit all den hübschen Plänen, die uns während der Abendstunden durch den Kopf schossen. Wir machten erst gar keinen Versuch, sie den zuständigen Stellen vorzulegen. Wir warteten dumpf, was nun kommen würde. Warteten wie die Spreu auf den Windstoß, wie der Würfel auf die Hand des Spielers.

Was kam, waren die ersten Käufer. Sie besahen das Hüsung, beklopften es, schätzten es ab. Sie gingen durch alte Zimmer und durchwandelten den Garten.

Gottlob, das Haus gefiel den wenigsten! Ale wollten Türme, Zinnen und Erker; sie wollten offenbar mehr eine Moschee als ein Wohnhaus. Aber ob sie auch nicht wiederkamen: sie trieben mich noch einmal aus dem untätigen Warten empor. Es mußte etwas geschehn, und wäre es nur, damit man noch irgendeine Hoffnung behielt.

Also, mein Freund, sagte ich zu mir selber, Du wirst jetzt Lotterie spielen! Aber wenn schon, dann gleich ordentlich. Man biete dem Glücke die Hand! Das Geld, das du da liegen hast, langt für dein Haus doch nicht mehr; es kann dir aber durch einen Zufall höchst beträchtliche Summen einbringen. Man hat Lotterien, die einen Haupttreffer von einer halben Million ausspielen – ganz abgesehen davon, daß dazu noch die Prämie von 300 000 Mark kommen kann. Und wenn du wirklich dein Geld verlierst – laß es laufen! Das schmutzige Zeug ist doch nur dann schön, wenn man sich Lebendiges dafür eintauschen kann: einen Garten, durch den die Füße deiner Kinder springen, ein Haus, das dir ein »Heim« wird, ein Buch, das dir das Herz weit macht.

Schön. Die Hauptsache ist immer, daß man sich selbst überzeugt. Und ordentlich aufgekratzt bin ich an den neuen Versuch – den letzten – herangegangen. Es war vielleicht nicht richtig, daß ich einem alten Bekannten davon erzählte. Sie glauben stets ein gutes Werk zu tun, wenn sie einem schon vorher die Freude verderben.

»Komm mal mit,« sagte der Bekannte und führte mich in sein Haus.

Wir vermieden die Gesellschaftsräume des Erdgeschosses. Er geleitete mich schweigend eine Treppe empor, wohin Gäste sonst nicht kamen, und öffnete mir eine Tür. Peinlich zu sagen und ich bitte schon jetzt jedermann um Verzeihung: es lag ein stilles, von unsrer Sterblichkeit zeugendes Örtchen vor meinen Augen.

»Hier«, sprach mein Führer, »siehst Du meine teuerste Tapete!«

Ich gebe zu, daß sie teuer war. Sie war außerdem bunt und geschmacklos, Sie bestand aus Lotterielosen, deren Nummern nicht gezogen worden waren. Sie spielte in allen Farben des Regenbogens und war offenbar mit Eifer zusammengesetzt für Minuten der Beschauung.

Aber was bewies sie im Grunde? Doch nur, daß manche Leute kein rechtes Glück im Spiel haben. Alljährlich gibt es dafür doch Dutzende von deutschen Mitbürgern, die geradezu Vermögen gewinnen. Man lernt sie zwar niemals kennen, aber sie müssen irgendwo vorhanden sein. Nun gut – lassen wir uns nicht bange machen! Versuchen wir, uns ihnen anzureihn!

Ich habe also Lose gekauft, Preußische, Sächsische, Ungarische; verbotene und erlaubte; Lose von Burgen- und Dombau-, von Wohltätigkeits- und Pferdelotterien, Lose in Violett, Grün, Blau, Grau und allen übrigen Abschattungen; Lose von einer Mark an aufwärts bis zu 250 Mark.

Es war eine recht sehenswerte Sammlung; wenigstens zwei Wände des oben mit Beschämung genannten Raumes hätte auch ich nach meiner Berechnung damit wohl tapezieren können. Und wenn man auch natürlich nicht abergläubisch ist: man benützt doch die Erfahrungen altgewitzter Spieler. Man freut sich, wenn recht viel »Sieben« in der Losnummer sind; man hat ein angenehmes Gefühl, wenn die Quersumme, die ja besonders wichtig ist, sich durch drei teilen läßt; man beherzigt die alte Regel, daß sich gerade im Spiel geliehenes Geld am besten bewährt und daß ausgesprochene Dummheit die Gewinnaussichten überaus günstig beeinflußt.

Vornehmlich von dieser letzten Erfahrung hoffte ich Nutzen zu ziehen. Meinem eigenen Schädelinhalt konnte ich zwar nicht mehr ganz trauen: das viele Bücherschreiben wirkt am Ende doch auf das Gehirn ein. Aber wir besitzen ein Dienstmädchen, das über die erforderlichen Eigenschaften in geradezu unwahrscheinlichem Maße verfügt. Ich will keine harten Ausdrücke in diesen Tagen des Burgfriedens gebrauchen. Ich will nur schlicht versichern, daß sie nie und nimmer zu den im Kriege so unbeliebten »Intellektuellen« gehört hat. Ich erbat mir ihre Hilfe und ließ sie eine Reihe von Losen ziehn.

Aber in unsern schweren Zelten ist selbst auf die Dummheit kein Verlaß mehr. Die Hand, die alltags ihren Besen führte, hatte Nieten gegriffen. Auch sonst war der Erfolg nicht ermutigend. Alles in allem gewann ich mehrere Freilose, einen Barbetrag von fünfzehn Mark und eine Reitpeitsche mit silbernem Knopf. Das Pferd dazu hätte ich mir kaufen können, wenn ich nicht gespielt hätte. Doch ich wollte ja überhaupt kein Pferd haben, sondern ein Haus. Und das Haus hatte ich auch durch den Schwabenstreich der Lotteriewut nicht retten können.

Seltsamerweise hatte ich danach ein tiefes Gefühl der Beruhigung. Das Geld war so ziemlich verputzt, aber ich durfte mir wenigstens sagen, daß ich nichts unversucht gelassen hatte. Es war geschehn, was überhaupt geschehen konnte. Das Schicksal hatte entschieden. Man mußte still halten.

Da hab ich meinem ältesten Mädel zum ersten Male gesagt, daß wir in Kürze wiederum weiter wandern müßten. Sie ist für ihr Alter schon ein ganz verständiges Persönchen. Mit ihren zwölf Jahren hat sie etwa sechs Umzüge mitgemacht. Als sie noch nicht zur Schule ging, fragte sie mich einst ernsthaft, ob es noch reichere Leute gäbe als uns. Das stolze Bewußtsein, die teuerste Puppe von allen ihren Freundinnen zu besitzen, legte ihr diese Frage nahe. Außerdem hält sie etwas von mir.

Nun jedoch, als ich ihr auseinandersetzte, daß der Krieg uns aus unserem »Hüsung« vertriebe und daß wir uns irgendwo in einer beliebigen Kleinstadt in einer bescheidenen Wohnung unterducken wollten, sah sie mich mit einem unsicheren Flimmern in den Augen an und fragte fast scheu: »Sind wir denn so arm?«

Ich wußte wohl, daß ihr in dieser Minute vielleicht die erste schwere Ahnung des bittren Lebenskampfes aufdämmern würde, aber ich habe tapfer genickt.

Da flog es wie der Anhauch einer Röte über ihr Gesicht; sie blickte mich halb an und doch halb an mir vorbei, und es war wohl nicht anders, als würde ich für sie aus einer stolzen Höhe herabgerissen, als empfände sie zum ersten Male das Sterbliche an ihrem Vater.

Doch dann, mit einem jähen Ruck, brennend in einem unbekannten Gefühl, kam sie zu mir. Sie ist eine herbe Norddeutsche, und die Küsserei ist des Hauses nicht der Brauch. Auch jetzt häkelte sie sich nur an meinen Arm heran und drückte ihre schmale kindliche Schulter fest dagegen. Wie lange? Ein paar Augenblicke. »Ich muß jetzt nach meinen Kaninchen sehn«, sagte sie dann und ging. Doch während der kurzen Zeitspanne war mein Herz warm und still geworden. Es tat über Sorgen einen leisen hohen Lobgesang und dachte: »Wenn Ihr nur mitkommt …!«

Mit solcher Stille im Herzen bin ich dann durch meinen Sorten gegangen … zum ersten Mal abschiednehmend. Sah mir das Haus von allen Seiten an, nickte der schönen hohen Blautanne zu und strich über den Stamm des Gravensteiner Apfelbaumes. Er hängt über und über voller Früchte. Alle meine sonstigen Obstbäume pflegen stets ein Jahr zu ruhn; nur hier der Gravensteiner hat Herbst für Herbst überreichlich getragen, als kenne er keine Erschöpfung.

Ist es ein Wunder, wenn ich ihm dankbar bin? An den heißen Sommertagen bekam er immer eine Kanne Wasser mehr als die anderen Bäume, und nun will ich wenigstens über seinen Stamm streichen. Er ist doch schon ein alter Freund. Er soll nicht glauben, daß ich ihn leichtsinnig verlasse. Er soll verstehn, daß es mir schwer fällt, und daß ich es ohne den Krieg wohl geschafft hätte, bei ihm zu bleiben.

Auch die anderen Bäume und Sträucher sollen das wissen: die Madame Caroline Testout, die noch auf dem Mittelbeet blüht, die breite Trauerweide, um deren Stamm die runde weiße Bank läuft, die Birken, die meine Pforte bewachen, selbst die alten Akazien, denen ich eigentlich etwas gram bin, weil sie mir den Boden allzusehr aussaugen.

Die Kinder sind traurig, weil sie ihre Kaninchen nicht mitnehmen sollen. Aber wie kann man solch Viehzeug in einer Mietswohnung unterbringen? Das geht doch wirklich nicht, und die Älteste – obwohl sie ein Tiernarr ist wie ihr Vater – findet sich langsam mit dem Gedanken ab. Sie hat mich gebeten, daß wir zum Abschied noch einmal abends auf der langen Bank unter der Akazie sitzen, daß sie ihr Lieblingskaninchen, das graubraune Peterlein mit den verwegen hängenden Ohren, auf dem Schoß haben darf und daß wir über das Haus fort in die Sterne sehn. Zuerst wollen wir das Reiterlein suchen, das über dem zweiten Deichselstern des großen Wagens steht. Die alten Perser nannten es den Augenprüfer, und die Kinderaugen fanden es von jeher schneller als ich. Dann werden wir auf der einen Seite des Wagens den Deichselbogen zum Arktur verlängern und auf der anderen Seite den Polarstern grüßen. Werden uns wie früher an der Kassiopeia freun und das goldne Stirnband der Andromeda blitzen sehn. Ja wenn es ganz klar ist, suchen wir auch den Andromedanebel.

Aber ich weiß nicht, ob ich das wünschen soll, daß der Himmel in Glanz und Klarheit leuchtet, daß das kleine Mädel mit dem braunen Kaninchen neben mir sitzt, und daß wir noch einmal die schönen, feierlichen Sterne anschaun, die über dem Hüsung in Ewigkeit strahlen.

Vielleicht ist es besser, wenn der Himmel über dem Hause verhängt bleibt.

*


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