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Viertes Kapitel

Vom Träumen zum Wachen.

Nach dieser ersten Visite vollzog sich in Karl Seymours Lebensführung einiger Wandel. Die Welt sah und hörte auch mehr von ihm, denn Mrs. Montgomery sang Lobeshymnen auf ihren Lieblings-Löwen weit und breit in der Gegend. Die Leute hatten ihn gern, diesen armen, stolzen jungen Künstler und hofierten ihn trotz seiner Armut.

Die Damen schwärmten für sein hübsches Gesicht und waren froh darüber, ihn überall zu sehen, schwärmten auch für seine hochedle Genialität und freuten sich der Begegnung mit ihm. Auserwählte Gesellschaft suchte um die Erlaubnis der Besichtigung seiner Gemälde nach, und verschiedene Kunstkenner ließen allerhand schmeichelhafte Bemerkungen über dieselben fallen.

Er war nicht, wie die übrigen Leute, nach Newport gekommen zur Erholung, sondern um sich von der merkwürdigen Scenerie der Gegend hier Kenntnis und Vorteil zu schaffen; er arbeitete auch fleißig mit kalter, unentwegter Energie. In seiner Arbeitszeit fing er an, die Gewohnheit anzunehmen, daß er Käthe Davenants Gesicht auf Papierstückchen skizzierte, die er dann mit leisem Spott gegen sich selbst zerriß, wobei er sich dann neugierig fragte, ob er denn etwa auch so schwachherzig wäre wie die anderen Männer. Auf seinem Kaminsims stand eine kleine Büste der Clytia – ein zierlicher Kopf, dessen Gesicht reine Linien aufwies, und der auf Schultern saß, die aus dem Kelch einer Lilie heraus wuchsen. Diese sternenäugige Clytia hatte er käuflich erstanden, weil er sich einbildete, sie gliche Käthe Davenant. Es war dieselbe weiche Senkung der Lippen, dasselbe zart geformte Kinn, dieselbe zart geformte Kehle, dieselben reichen krausen Wellenlinien des Haars – die man ja immer auf den Köpfen griechischer Statuen beobachtet. Zuweilen, wenn er müde und abgespannt war, blieb er vor der Clytia-Büste stehen und heftete den Blick auf sie. Aus dem ruhigen, wie Schnee so weißen Gesicht schöpfte er gleichsam höhere Eingebung. In Gesellschaft traf er Miß Davenant häufig, und ein schwacher Instinkt von halb zur Erkenntnis gelangter Vertrautheit der Beziehungen wuchs zwischen ihnen auf. Es war eine gefährliche Lage, in welcher er sich befand, und zwar um so gefährlicher, weil er sich ihrer Gefährlichkeit nicht bewußt war. Er dachte, es wäre bloß ihre Schönheit, die ihn so fesselte. Er dachte, seine Bitterkeit wider die Fehler, welche die Leute ihr nachredeten, würde ihn retten und ihn stark erhalten; er dachte alles mögliche, nur nicht die Wahrheit, und erlaubte solcherart dem Strom der Ereignisse, ihn weiter dem gemeinsamen Strudel entgegen zu schwemmen.

Mrs. Montgomery hatte eine ganz wunderbare Vorliebe für ihn gefaßt und bevorzugte ihn offenkundig, wie sie nie zuvor einen anderen Mann bevorzugt hatte. Wenn sie ihm in Gesellschaft begegnete, pflegte sie ihm einen Sitz an ihrer Seite anzubieten und ihn der vollen Wohlthat ihrer Erfahrung teilhaftig zu machen, indem sie sich mit seltsamem Feuer und scharfem Witz, der echt und weltkundig über die Maßen war, mit ihm unterhielt.

»Ich liebe, Männer, die sich ihr Glück selbst schmieden müssen,« sagte sie einmal zu ihm, während sie ihre hübsche Hand auf seine Schulter legte und auf ein Bild sah, das auf seiner Staffelei stand – »ich bin der Leute, die im Schoß des Glückes, und mit Vermögen schon in der Wiege, geboren werden, sattsam überdrüssig. Käthe ist als Mädchen ganz genau so, wie Sie als Mann sind.«

Karl lachte leicht und fragte in welcher Hinsicht denn Miß Davenant genau so sei wie er.

»In ihrer Denkweise,« erwiderte Mrs. Montgomery, »und in ihrem Stolze und ihrer Zuversicht auf sich selbst. Ich will nicht sagen, daß sie diese ihre charakteristischen Eigenschaften offen zeigt. Dazu hält sie zu viel auf Popularität und außerdem hält sie ja auch die Gesellschaft in Schranken.«

Also Käthe hielt auf Popularität und liebte es bewundert zu werden. Karl gedachte wieder an die »belle Marquise« und vergaß an diesem Tage, seinen Blick auf die Clytia-Büste zu lenken. Aber am Abend sprach er bei Miß Davenant vor. Es war nicht von vornherein seine Absicht gewesen, das zu thun; da ihn aber sein Spaziergang hinüber nach Bay View führte, so änderte er seinen Sinn und faßte den Entschluß, den Besuch zu machen. Vor dem hintern Wohnstubenfenster befand sich ein seltsam geschnitzter Balkon, und Käthe war auf ihn hinaus getreten, um die Sonne über den niedrigen Hügeln nach dem Fort hin untergehen zu sehen. Sie wußte nicht, daß Seymour das Haus betreten hatte. Sie trug ein dünnes, lustiges weißes Kleid und Rüschen von zarter weißer Spitze, die sich um Hals und Armgelenke schlossen. Eine große Lilie mit goldenem Herzen lehnte an den dicken, dunklen Rollen ihres Haars, und der letzte, blendende Schimmer von Sonnenschein umflutete sie in einer Beleuchtung, die in ihrer Stärke geradezu fabelhaft war. Sie stand vornüber gebeugt und stützte sich auf das Geländer, den Blick in die weite Ferne hinaus gerichtet, als hätte sie ihrer selbst vergessen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, ihre Augen sanft geweitet.

Die nämliche Müdigkeit oder Erschöpftheit lag auf ihren roten Lippen, die eine herbe Krümmung aufwiesen, die dem Manne, der sie beobachtete, gar viel erzählte. Klein Käthchens Gesichtchen hatte niemals so traurig ausgesehen wie dieses Gesicht hier; in gewissem Grade aber war es ihm ums Herz, als wenn er ihr jetzt näher wäre. Woran dachte sie? Das war die Frau doch nicht, welche die gesamte Männerwelt »die Circe« nannte! Er stand eine Weile lang stillschweigend da, ohne daß er bemerkt wurde. Dann lenkte irgend eine unabsichtliche Bewegung ihre Aufmerksamkeit auf sich; sie stutzte – und drehte sich nach ihm herum. Und dann – dann sah er etwas, was er vordem nicht bemerkt hatte. In ihren Augen standen Thränen: die Wimpern waren feucht. Einen Augenblick lang war sie halb verlegen, im nächsten aber sammelte sie sich wieder und trat mit ausgestreckter Hand vor, verhältnismäßig, aber doch noch nicht ganz wieder der Herrschaft über sich sicher.

»Ich bitte um Entschuldigung,« sagte sie mit Lächeln. »Ich wußte nicht, daß Sie hier seien. Ich betrachtete die untergehende Sonne und hing sentimentalen Gedanken nach, die mir über der Erinnerung an ein Stückchen Poesie, das ich 'mal irgendwo gelesen oder gehört, kamen:

Es gießt ihren Goldglanz über das Meer
Die untergehende Sonne;
Und mir tritt wieder vors Auge hehr
Der frühen Jugend Wonne.«

Mit schwacher Verwunderung blickte er auf sie nieder.

»Solche Gedanken kommen uns allen manchmal,« sagte er. »Und vielleicht sühnen solche weiche Momente manche unserer verwichenen Sünden.«

»Ja,« antwortete sie träumerisch, den Blick wieder hinaus auf die untergehende Sonne richtend. »Ich gedachte dessen, wie voll unser Leben ist des nutzlosen Sehnens und müßigen Klagens. Ich dachte, daß wenn ich bloß wieder ein kleines Kind sein könnte – wenn ich bloß wieder ein kleines Kind sein könnte.« – –

Die Stimme versagte ihr. Ein Seufzer, halb ein Schluchzen, stieg in ihrer Kehle herauf. Dann fing sie plötzlich wieder an zu sprechen:

»Sie denken jedenfalls, daß ich erschöpft und müde bin, nicht wahr? wenn aber die erste Frische vorüber ist dann ist die Welt oben – die Welt, wissen Sie, und Gewinn und Verlust wird das Exempel, nach welchem wir Weltmenschen rechnen. Darüber dachte ich nach, als Sie kamen, und – vergaß meiner selbst. Ich freue mich, daß gerade Sie mich überraschten, Mr. Seymour,« setzte sie hinzu mit sanftem, offenem Lachen, »und nicht meine Tante. Ich bin nicht oft sentimental, wenn ich's aber bin, dann mag ich nicht leiden, daß meine praktische Verwandte davon Zeugin ist.«

Karl lächelte leicht. Er konnte diese Empfindung ohne Mühe verstehen.

»Sie wünschen,« sagte er nach einer Pause, »wieder ein Kind zu sein. Darf ich fragen, wo sie Ihre Kindheit verlebt haben?«

Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich.

»Ja« sagte sie endlich mit leiser Stimme. »Das kleine Bild, das Ihr Interesse in solchem Maße erweckte, zeigt einen der liebsten Plätze meiner Kinderzeit. Neun Jahre meines Lebens habe ich dort zum mindesten geweilt.«

»Das zu hören freut mich,« sagte Karl. »Seltsamerweise ist es auch die Stätte, wo sich ein romantisches Verhältnis meines Lebens abgespielt hat.«

»Mr. Coyne hat mir davon erzählt,« sagte Miß Davenant rasch. »Arme kleine Käthe!«

»Weshalb, arme kleine Käthe?« fragte er, sie neugierig musternd. »Sie war in jenen Tagen ein sehr glückliches Kind.«

»Aber sie muß jetzt eine Frau sein. Denken Sie doch – so alt, wie ich bin. Malen Sie sich doch Ihre kleine Zauberin aus als Fischers- oder Seemannsfrau, mit einer Stentorstimme! Haben Sie die Kleine gern gehabt, Mr. Seymour?«

Der erste Teil ihrer Rede war leicht und neckisch gewesen: der letzte schien das Ergebnis einer plötzlichen Regung zu sein, und ihre süße Stimme sank fast zu einem Zittern herab, als sie die Schlußfrage stellte. Alles Blut in Karl Seymours Körper schien ihm zum Herzen zu strömen. Zweifel und Gewißheit stritten sich in seinem Herzen, und bei den letzten Worten ihrer Rede schien der Zweifel fast ganz niedergekämpft zu sein.

»Sie gern haben?« sagte er, und seine Stimme schien nicht ganz frei von einem gewissen Grade von Leidenschaft. »Sie gern haben? O! ich habe sie noch immer gern! ich liebe sie noch immer! Meine harmlose kleine Käthe mit ihrem reinen Herzen war die erste Liebe meines Lebens: Manchmal glaube ich, sie wird auch meines Lebens letzte Liebe sein.«

Miß Davenant gab erst keine Antwort. Nach einer Pause aber begann sie, wie sinnend, von neuem zu sprechen.

»Es freut mich zu hören, daß Sie das Kind nicht vergessen haben. Der Gedanke, daß jemand sie treu und wahr geliebt hat, thut mir wohl. Arme, einsame, kleine Käthe! Ich habe mir immer vorgestellt, daß sie einsam gewesen sein müsse. – Wenn Sie ihr aber jetzt wieder begegneten, Mr. Seymour, nach allen den Veränderungen, die im Lauf der letzten Jahre an ihr eingetreten sein müssen, meinen Sie, daß sie Ihnen noch immer die ›Käthe Mavourneen‹ sein würde?«

»Ja,« sagte er. »Käthe Mavourneen auf ewig.«

»Wenn – wenn nun – angenommen nun, es hätten Umstände, Verhältnisse aus ihr eine Weltdame gemacht, ein Weib, dessen Leben voll irdischer Pläne steckt, und die im Rufe steht, eitel und herzlos zu sein – wie dann?«

»Sie könnte es nimmer sein,« sagte er; »nimmer ganz sein. Ich habe mir vorgenommen, ihr zu glauben, und auf sie zu bauen.«

Käthe hatte die Lilie aus ihrem Haar genommen und riß sie in Stückchen, warf die weißen Blumenblättchen über den Balkon und sah ihnen nach, wie sie langsam auf den Boden hinunter schwebten.

»Es heißt, Wahrheit sei wunderlicher als Dichtung,« sagte sie, »und ich glaube, so ist's auch. Wenn ich Ihnen nun sagen würde, Herr Seymour, daß ich von Ihrer kleinen Käthe was weiß –«

»Käthe! mein liebes Kind!« ließ sich da plötzlich hinter ihnen eine Stimme vernehmen – »ist das recht und billig, daß Du Herrn Seymour immer für Dich allein in Anspruch nimmst? Ich bilde mir ein, daß Mr. Seymour hergekommen ist in der Absicht, mir einen Besuch zu machen. Außerdem wartet Mr. Colycinth auf Dich. Hast Du vergessen, was Du ihm versprochen hast?«

Käthe drehte sich um mit ruhiger, unerschütterter Fassung.

»Gewiß nicht«, sagte sie. »Mr. Seymour? Sie entschuldigen mich wohl freundlichst? Ich habe Mr. Colycinth versprochen, heut Abend mit ihm auszufahren.«

Karl verneigte sich und wandte sich zu der Tante. Er blieb indessen nicht lange. Er war ergriffen und aufgeregt, wie er es nie zuvor in seinem Leben gewesen war. Wie, wenn er endlich – endlich sein geliebtes Kind, die Liebe seiner ersten Jugend, gefunden hätte! Für manche Männer würde das kindliche Verhältnis nichts weiter als ein interessanter Zwischenfall gewesen sein, auf den einen Rückblick zu werfen, Spaß und Vergnügen macht; für Karl Seymour aber war es eine ernste Wahrheit, ein Ereignis, das seinem ganzen Leben den Stempel aufdrücken sollte. Während er die Schritte heimwärts lenkte, dachte er über das alles nach. Jetzt konnte er sich erinnern, wie das Andenken an die unschuldigen Augen und keuschen Lippen ihn aufrecht erhalten und getröstet hatte; wie er geträumt hatte von dem kindlichen Gesicht, das sich einst an seine Brust gelehnt und dort Schutz gesucht hatte. Das sanfte, ferne Rauschen der Wogen rief ihm die Zeit in die Erinnerung zurück, da Käthe in seinen Armen eingeschlafen war und er sie ein paar Meilen weit über den Strand getragen hatte, wo er den Blick auf sie niedergesenkt und sich neugierig und verwundert gefragt hatte, ob es wohl auf Erden noch ein anderes Weib oder Kind geben könnte, das so schön und rein sei, wie dieses kleine Mägdelein. Wohlgemerkt! Nicht Käthe Davenant war es, von der er träumte, sondern Käthchen Ogilvie. Die Zeit war noch nicht gekommen, wo er verstehen konnte, daß er das Weib liebte um deswillen, was das Kind gewesen war. Von Zeit zu Zeit erschien etwas vor ihm undeutlich und unbestimmt, ein Gedanke oder so etwas, das sich beflissen zeigte, diese Weltdame, diese Circe, mit seinem treuen Kinde in Beziehung zu setzen; aber es war ihm doch nicht recht möglich, zu völliger Klarheit darüber zu gelangen, und so schweifte denn sein Geist fast unbewußt zurück zu dem alten romantischen Verhältnis seiner frühesten Jugend.


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