Jacob Burckhardt
Die Zeit Constantins des Großen
Jacob Burckhardt

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wie stand es aber mit dem einst so mächtigen Priestertum, welches diese Religion verwaltete, mit den Druiden? Vor Zeiten hatten sie mit den Adligen einen herrschenden Stand ausgemacht; diesen blieb Herrschaft und Kriegsmacht, ihnen das Richteramt und die Pflege der geheimen Wissenschaften, der gewaltigen Superstitionen, womit sie das ganze Leben des Volkes umsponnen hielten. Ihr Bann war die schrecklichste Strafe; wen sie von den Opfern ausschlossen, der galt als unrein und rechtlos. Als Geweihte der Gottheit waren sie frei von Abgaben und Kriegsdienst. Vielleicht gehörten zu ihren Heiligtümern (oder Tempeln, wenn man so sagen darf) beträchtliche Domänen, jedenfalls aber Schätze in edeln Metallen, deren Fülle sprichwörtlich geworden war.

Aus dieser hohen Stellung waren jedoch die Druiden längst verdrängt, ohne dass man genau sagen könnte, seit wann und wie. Schon die unermesslichen Erpressungen Caesars hatten gewiss auch jenen Tempelschätzen gegolten und damit tatsächlich der Macht der Druiden, welche überdies durch die Vermischung des römischen Götterdienstes mit dem ihrigen und durch die Einführung römischer Priestertümer mehr und mehr beeinträchtigt wurden. Unter Augustus und Tiberius verraten sich Zuckungen der Unzufriedenheit; wenigstens soll der letztere sich veranlasst gefunden haben, »die gallischen Druiden und derartige Wahrsager und Ärzte aufzuheben«Plin., Hist. nat. XXX, 4. – Wie weit der Druidismus bei den verschiedenen Aufständen Galliens beteiligt war, bleibt durchaus ungewiss.. Sie dauerten aber doch fort, selbst nachdem Claudius »ihre furchtbar grausame Religion, deren Begehung bereits Augustus den römischen Bürgern untersagt, gänzlich aufgehoben hatte«Sueton., Claud. 25.. Damit sind die Menschenopfer gemeint, wozu bei Claudius noch der Widerwille gegen die gefährlichen Amulette kommen mochte, welche die Druiden im Gebrauch hielten, zum Beispiel Eier gewisser Schlangen, wodurch man sich den Sieg in jedem Streit und den Zugang zu Fürsten gesichert glaubtePlin., Hist. nat. XXIX, 12.. Der Stand als solcher musste jetzt freilich seinen Zusammenhang verlieren, die druidischen Tagsatzungen zwischen Dreux und Chartres allmählich eingehen, das Wandern der Druidenzöglinge nach dem seither ebenfalls römisch gewordenen Britannien aufhören, nachdem die Insel seit unvordenklichen Zeiten als die hohe Schule aller druidischen Weisheit gegolten – aber es gab doch noch fortwährend Druiden bis in die christliche Zeit hinein, ohne Zweifel, weil das Volk des von ihnen gepflegten Aberglaubens im täglichen Leben nicht entbehren wollte. Leicht kann man sich ihre Lage im dritten Jahrhundert vorstellen: die gebildete Welt hat sich längst dem römischen Wesen in die Arme geworfen und steht in keinem Verhältnis mehr zu dem altnationalen Priesterstande; dieser hat darob seine höhere gemeinsame Weihe eingebüsst, und es ist aus dem Priester ein Beschwörer, Quacksalber und Wahrsager geworden, wie teilweise in Ägypten. Vorzüglich machten sich die Druidinnen als die Zigeunerinnen des sinkenden Altertums bemerklich. Aurelian befragte ihrer mehrere – möglicherweise ein ganzes DruidinnenkollegiumWenigstens eine Druis antistita (und damit eine Ihr untergebene Anzahl von Priesterinnen) ist bewiesen durch eine Metzer Inschrift, bei Orelli Nr. 2200. Aber sie trägt den griechischen Namen Arete, und die Weihung, wozu sie »ein Traumgesicht aufgefordert«, gilt dem Silvanus und den Nymphen. – Das Folgende aus Hist. Aug., Aurelian. 44. Alex. Sev. 59 II. Numerian. 14. – Ammians Darstellung des Druidenwesens (XV, 9) ist offenbar aus viel ältern Quellen genommen, welche zugleich diejenigen Strabos waren, und hat für das vierte Jahrhundert gar keine Geltung. – über die Nachfolge im Reiche, und zwar sicher nicht bloss im Scherze, denn der Scherz auf diesem Gebiete war gefährlich. Sonst gaben sie ihre Weissagungen auch ungefragt, wie jenes rücksichtslose Weib, das dem Alexander Severus auf gallisch zurief: »Ziehe hin, hoffe keinen Sieg, und deinen Soldaten traue nicht!« – oder wie jene druidische Wirtin im Tungernland (bei Lüttich), mit welcher der damalige Unteroffizier Diocles, der spätere Diocletian, seine tägliche Kost verrechnete. »Du bist zu geizig, zu sparsam!« sagte sie. »Ich will freigebig sein, wenn ich einmal Kaiser bin«, antwortete er. »Spotte nicht«, erwiderte die Wirtin, »du wirst Kaiser werden, wenn du einen Eber erlegt hast.«

Am längsten muss das Druidentum sich in den Gegenden gehalten haben, welche noch jetzt teilweise ihre keltische Nationalität und Sprache bewahren, also in der Bretagne und im westlichen Teil der Normandie. Noch im vierten Jahrhundert lernen wir eine von hier stammende Druidenfamilie kennen, deren Mitglieder zu den gelehrtesten Rhetoren der Schule zu Bordeaux gehörten. Es gab ihnen eine gewisse Weihe, dass man wusste, das Priestertum des keltischen Sonnengottes Belenus sei in ihrem Hause erblich gewesen. Allein sie fanden – bezeichnend genug – ihren Vorteil darin, dieses ganze Verhältnis zu gräzisieren und sich Phoebicius und Delphidius zu nennenAuson., Prof. Burd. 4 u. 10..

Vermutlich hielten die Druiden, wo sie noch existierten, nach Kräften den Kultus im Gange, welchen das gemeine Volk noch bis tief in die christlichen Jahrhunderte hinein den gewaltigen, formlosen Steindenkmälern des alten Keltentums widmete, jenen Pfeilern, Decksteinen, Spindeln, Steinbänken, Feengängen usw., wo des Nachts Lichter und Opfer brannten und Gelage gefeiert wurden. Darauf bedeckt tiefes Dunkel den Untergang des keltischen Heidentums; in späterer Zeit leben dann, durch die Ferne vergrössert, die Druiden als Riesen, die Druidinnen als Feen fort, und über die Steindenkmale, wo es nicht recht geheuer ist, spricht die Kirche ihren vergeblichen ExorzismusVgl. Schreiber, a. a. O., S. 76..

Während Maximian Gallien zur Botmässigkeit brachte, trat ein Abfall Britanniens einS. vor allem Gibbon, Kap. 13, wo von den frühern etwas zu phantastischen Darstellungen des Carausius das Bewährte gesichert ist. – Das Material in der Abhandlung von Genebrier, im 6. Bd. der Zusätze zur Hallischen Welthistorie. – Die Hauptquellen sind die Panegyriken II bis V., welcher einerseits wohl das Nachspiel ausmacht zu der rettenden Usurpation der Dreissig Tyrannen unter Gallienus, andererseits aber das Vorspiel war zu dem definitiven Verlust Britanniens, wie er etwa hundertvierzig Jahre später eintrat.

Seit Probus war die Insel, wie auch die gallischen Küsten, umschwärmt von Piraten, welche bald als Franken (und dann als Salier), bald als Sachsen bezeichnet werden. Gegen sie bedurfte man einer Flotte, welche in der Tat zu Boulogne (Gessoriacum) ausgerüstet wurde; den Befehl derselben vertraute Maximian dem seekundigen und tapfern, auch noch im Bagaudenkrieg erprobten Carausius an, einem Menapier (Brabanter) von dunkler, vielleicht kaum römischer Herkunft. Dieser begann bald ein sonderbares Spiel mit seiner Stellung zu treiben. Er liess die Piraten ungestört ihre Ausfahrten bewerkstelligen und fing sie erst bei der Rückkehr auf, um die ihnen abgenommene Beute für sich selbst zu behalten. Sein Reichtum erregte Aufsehen, und Maximian, der alles erfahren, hatte schon Befehl gegeben, ihn zu töten, allein Carausius wusste ihm zuvorzukommen. Durch Freigebigkeit hatte er seine Soldaten sowohl als die Franken und Sachsen selbst an sich zu ketten vermocht, so dass er noch in Gallien sich zum Kaiser aufwerfen konnte (286), doch nicht, um sich hier zu halten. Er fuhr mit der ganzen Flotte nach Britannien hinüber, wo die römischen Truppen sich sofort für ihn erklärten, so dass das ganze Land in seine Gewalt kam, während Maximian das notwendigste Mittel zu seiner Verfolgung entbehrte. Sieben Jahre lang beherrschte er die damals reiche Insel, indem er die Nordgrenze gegen die alten Feinde, die Caledonier, verteidigte; auch Boulogne mit der Umgegend behielt er als Absteigequartier und als Stützpunkt für seine Kaper bei, wie zu Ende des Mittelalters Calais diese Stelle vertrat. Als Herr Britanniens suchte er nun zwar die römische Bildung und Kunst zu erhalten, allein seinem Bündnis mit den Franken in den Niederlanden zuliebe trug er und seine Römer doch ihre Tracht und nahm ihre junge Mannschaft in sein Heer und auf seine Flotte, wo sie alle römische Kriegsübung lernen konnte. Es ist keine Frage, dass England bei einer längern Isolierung unter ihm und ähnlichen Nachfolgern barbarisiert worden wäre, ehe es die römisch-christliche Bildung, das wichtigste Erbteil des alten orbis terrarum, in sich aufnehmen und verarbeiten konnte. Von der andern Seite ist es ein imposanter Anblick um diese Insel, wie sie zum erstenmal in der Geschichte ihrer künftigen Seeherrschaft sich plötzlich bewusst wird, weil ein kühner Empörer von ihr aus die Mündungen der Seine und des Rheins beherrscht und die ganze Küste des Ozeans in Schrecken hält. – Seine Popularität konnte übrigens nur darauf beruhen, dass die Piraten, jetzt in seinem Dienst, die Küsten nicht mehr belästigten, und dass er zugleich die Nordgrenze verteidigte.

Maximian musste eine neue Flotte rüsten (289), aber sein Versuch scheint unglücklich abgelaufen zu sein; der Usurpator hatte alle erfahrenen Seeleute bei sich. In der Besorgnis, dass derselbe seine Herrschaft noch weiter ausdehnen möchte, entschlossen sich die Kaiser (290) zur Abfindung mit ihm; er behielt die Insel und den Titel Augustus, wenigstens konnte man es nicht verhindern, dass er sich fürderhin wie bisher so nannte. Am allerwenigsten war man aber gewillt, ihm den Raub auf die Länge zu lassen. Sobald die beiden Caesaren adoptiert waren, brach man wieder mit ihm, gleichviel unter welchem Vorwand, vielleicht bei Anlass von Boulogne (293). Constantius Chlorus musste diese Stadt belagern; die carausische Flottenstation im Hafen liess sich geduldig den Eingang desselben durch einen Damm verschütten und fiel in die Hände des BelagerersPanegyr. V (Eumen. Constantio), c. 6, wo Dinge mit Stillschweigen übergangen sind, ohne welche man diese Kriegstat unmöglich beurteilen kann.. Vielleicht war es der Rückschlag dieses Ereignisses auf die Stimmung Englands, welcher einem vertrauten Gefährten des Usurpators, Allectus, den Mut zu dessen Ermordung gab, worauf Volk und Soldaten ihn ohne weiteres anerkannten. Jetzt nahm sich Constantius die Müsse, für die künftige Eroberung Britanniens eine weite, zuverlässige Basis vorzubereiten und sich vor allem die rechte Flanke zu sichern durch Unterwerfung derjenigen Franken, welche das Bataverland besetzt hielten. Er schlug sie (294) und verpflanzte einen grossen Teil in das römische Gebiet, um Trier und Luxemburg. Zugleich wurde eine neue Flotte gerüstet, und zwei Jahre später (296) war alles bereit zum Hauptangriff. Allectus hatte eine Beobachtungsflotte bei der Insel Wight aufgestellt, aber der kaiserliche Admiral Asclepiodotus, der am Seineausfluss unter Segel gegangen war, konnte unter dem Schutz eines dichten Nebels glücklich an derselben vorbeikommen und irgendwo an der Westküste landen, wo er sofort seine Schiffe hinter sich verbrannte, wahrscheinlich, weil seine Mannschaft zu gering war, um sie in ein Angriffsheer und in ein Schutzkorps für die Flotte zu teilen. Allectus, der den Hauptangriff des Constantius mit der Boulogner Flotte in der Gegend von London hatte erwarten wollen, verlor die Haltung, indem er sich nun unvorbereitet nach dem Westen werfen musste, wo er den Asclepiodotus unterwegs traf. Ein vielleicht ganz unbedeutendes Treffen zwischen ein paar tausend Mann, in welchem Allectus fiel, entschied das Schicksal Englands, so dass Constantius bei seiner Landung in Kent bereits allgemeine Unterwerfung vorfand. Der Lobredner tröstet sich über das in diesem Krieg geflossene Blut damit, dass es nur das Blut gemieteter Barbaren gewesen sei.

Constantius musste der Insel dieselben Vorteile zu gewähren suchen, die sie unter Carausius genossen: hauptsächlich den Schutz nach aussen und dann die öftere Residenz. Ersteres wurde ihm bei der jetzigen Demütigung der Franken nicht schwer; in letzterer Beziehung teilte er sich bei ruhigen Zeiten zwischen Trier und York, wo er auch starb (306).

So war denn die sehr bedeutende römische Kultur gerettet, welche damals zwischen England und dem jenseits des Hadrianswalles gelegenen Schottland, dem jenseits der Meerenge liegenden Irland einen so bedeutenden, bis auf den heutigen Tag fühlbaren Unterschied machte. Die Schicksale des fünften Jahrhunderts kamen zu spät, um ihre mächtigen Spuren gänzlich zu zerstören.

Unsere Aufgabe wäre nun vor allem, den damaligen Zustand der Germanen zu schildern, nicht nur an den Reichsgrenzen, sondern soweit in den Norden und Osten sie sich überhaupt verfolgen lassen. Als künftige Erben des Reiches verdienten sie die genaueste Betrachtung, auch wenn zufällig die Zeit Constantins für sie eine Zeit des Zurückschreitens und der innern Zerrüttung gewesen sein sollte; selbst die flüchtigsten Notizen und Andeutungen müssten uns von grösstem Werte sein, um das ewig verschwimmende, zerrissene Bild jener grossen Völkertafel, soweit es irgend möglich, herzustellen.

Allein der Mut zu dieser Arbeit entsinkt dem Verfasser, angesichts einer seit vielen Jahren erhobenen wissenschaftlichen Diskussion über die grössten Hauptfragen der alten germanischen Geschichte, in welche er auf keine Weise berufen ist hineinzureden. Die Resultate von Jakob Grimms »Geschichte der deutschen Sprache« würden nämlich nicht bloss die bis jetzt geltenden Annahmen über die Westgermanen mannigfach umgestalten, sondern auch die alten Donau- und Pontus-Völker, vor allem die Dacier und Geten, selbst die Scythen dem deutschen Stamm in näherm oder entfernterm Grade zuweisen, und insbesondere die Geten mit den spätern Goten identifizieren. Damit würde die ganze bisherige Ansicht über Macht und Ausdehnung der Germanen verändert und nicht minder die Urgeschichte der Slaven umgewandelt, welche als die Sarmaten des Altertums zwischen und unter jenen Germanenvölkern wohnend zu denken wären.

Wenn wir aber auch für das halbe Jahrhundert von Diocletian bis zum Tode Constantins die Sitze, Wanderungen und Mischungen wenigstens der Grenzvölker von den Niederlanden bis ans Schwarze Meer genau nachweisen könnten, so blieben doch als grosses Rätsel die innern Zustände übrig. Wer gibt uns Kunde von der Gärung und Neugestaltung des germanischen Wesens seit den Zeiten des Tacitus? Von den Ursachen der grossen Völkerbünde? Von dem plötzlichen Eroberungsdrang der Pontus-Goten im dritten Jahrhundert? Von ihrem nicht minder auffallenden StillesitzenDie Ausnahme s. unten, S. 119f. in der ersten Hälfte des vierten? Wer leiht uns einen Maßstab für das weitere oder geringere Eindringen römischer Sitte in den germanischen Grenzländern? Ja, selbst von Sitte und Zustand der ins römische Reich aufgenommenen Germanen, sowohl der Soldaten als der Kolonen ist uns wenig bekannt. – So mag es denn auch genügen, wie oben die Kämpfe an der Rheingrenze, so auch die übrigen Kriege am Nordsaum des Reiches nur kurz zu erwähnen. Eine grosse Bedeutung können die letztern, nach der Einsilbigkeit der QuellenDie Stellen gesammelt u. a. bei Manso, Leben Constantins, und bei Clinton, Fasti Rom., passim. Vgl. auch Ammian. Marc. XXVIII, 1. zu schliessen, ohnedies kaum gehabt haben; fast alle Nebenumstände, sogar Ort und Stelle, bleiben völlig dunkel.

»Die Markomannen wurden aufs Haupt geschlagen« – so lautet die für lange Zeit einzige Notiz über jenes Volk (299), welches unter Marc Aurel als Zentrum eines grossen Bundes das Römerreich mit Untergang bedroht hatte.

Die Bastarnen und Carpen, wahrscheinlich Gotenvölker an der untern Donau, werden (294–295) durch Diocletian und Galerius besiegt, und die ganze Nation der Carpen auf römischem Boden angesiedelt, nachdem hunderttausend Bastarnen bereits unter Probus dasselbe Schicksal gehabt.

Eine wiederkehrende Sorge verursachten die Sarmaten, wahrscheinlich ein slavisches Donauvolk. Diocletian kämpfte zuerst allein (289), dann mit Galerius gegen sie (294) und versetzte auch von ihnen viele in das Reich. Spätere Einfälle strafte Constantin durch einen Feldzug (319), welcher ihrem König Rausimod das Leben kostete; gegen Ende seines Lebens aber nahm er (334), wie es heisst, nicht weniger als 300 000 Sarmaten in das Reich auf, nachdem dieselben durch einen Aufstand ihrer Sklaven (offenbar eines früher unterjochten Volkes) aus der Heimat waren vertrieben worden. Leider fehlen zur Beurteilung solcher massenhaften Aufnahmen ganzer Völker fast alle erklärenden Nebenumstände, so dass wir weder die Grenzen des Notwendigen und Freiwilligen, noch die militärische und ökonomische Berechnung kennen, welche die römischen Herrscher dabei leitete. Ein einziger erhaltener Vertrag würde grösseres Licht auf diese Verhältnisse werfen als alle Vermutungen, welche den verlorenen Hergang aus Analogien wieder aufbauen müssenEs genügt hier, auf ein Meisterwerk rekonstruierender und dabei gewissenhafter Kritik zu verweisen, wie Gaupp, »Die germanischen Ansiedelungen und Landesteilungen in den Prov. des röm. Westreiches«. – Die ganze seit der ersten Auflage unseres Buches so ausserordentlich geförderte, aber noch nicht zum Abschluss gelangte Forschung über die Germanen der Völkerwanderung darf bei der uns vorgeschriebenen Kürze übergangen werden, indem die Berührungen mit den Germanen gerade in der langen Regierung Constantins relativ unbedeutend gewesen sind. Über die Germanen innerhalb des Reiches, als Kolonen, Kriegsmannschaft, Beamte und Hofleute, eine treffliche zusammenfassende Darstellung bei Richter, Das weströmische Reich (Berlin 1865), Buch I, Kap. 3..

Auch ein Goteneinfall (323) wird erwähnt, wahrscheinlich von einer andern Art als die frühern und spätern, ja vielleicht nur die Tat eines einzelnen Stammes, der durch geheimnisvolle römische Einwirkung über die schlecht bewachte Grenze gelockt wurde. Constantin soll die Feinde durch seinen Anzug erschreckt und dann durch eine Niederlage zur Zurückgabe der mitgeschleppten Gefangenen genötigt haben. Der Zusammenhang mit dem Angriff gegen Licinius (wovon unten) wirft ein überaus zweideutiges Licht auf diesen ganzen Krieg. – Einige Jahre später (332) zieht Constantin mit seinem gleichnamigen Sohn auf Ansuchen der bedrängten Sarmaten in das Land der Goten, etwa in die Moldau und Walachei, wobei hunderttausend Menschen (wahrscheinlich beider Parteien) durch Hunger und Kälte sollen umgekommen sein; unter den Geiseln erhielt man auch den Sohn des Königs Ariarich. Darauf erfolgte die schon erwähnte Einmischung in die Sache der Sarmaten und deren Verpflanzung.

Es bleibt nun immer die Frage, von welchen Goten und Sarmaten jedesmal die Rede seiWas z. B. in dem bekannten Kap. 21 des Iornandes nirgends gesagt ist. – Dass Constantin in der Kurie zu Konstantinopel gotischen Königen Statuen errichtete, vgl. Richter, a. a. O., S. 230, nach Themistius.. Denn diese Namen umfassen ganze Reihen von ursprünglich einigen, aber längst geschiedenen Stämmen, deren Bildungsstand vielleicht alle Stufen und Nuancen darstellte, welche zwischen einer fast römischen, städtischen Kultur und wildem Jägerleben in der Mitte liegen. Die Rückschlüsse, zu welchen zum Beispiel das Dasein und die Beschaffenheit der gotischen Bibel des Ulfilas (bald nach Constantin) berechtigt, würden eine sehr hohe Idee von der Bildung der betreffenden Stämme schon in constantinischer Zeit erwecken, während andere Spuren barbarischer Roheit verraten. Die vorhandenen einzelnen Züge zu einem Bilde zu verarbeiten, überschreitet jedoch unsern Zweck und unsere Kräfte.

Auch dem Gegenbilde, den römischen oder römisch gewesenen Donaulanden Dacien (Siebenbürgen, Niederungarn, Moldau und Walachei), Pannonien (Oberungarn nebst den westlichen und südlichen Nachbargegenden) und Mösien (Serbien und Bulgarien) kann hier nicht die gebührende Beachtung zuteil werden, weil dem Verfasser die Übersicht der beträchtlichen neuern Entdeckungen in diesen Gegenden gänzlich fehlt. In der Zeit, um welche es sich hier handelt, waren dieselben eine Militärgrenze wie zum Teil jetzt, nur umgekehrt gegen den Norden, nicht gegen den Süden; seit Philipp dem Araber wollte der Waffenlärm hier gar nicht mehr verstummenPanegyr. III, (Genethl. Max.), c. 3 in quibus (provinciis) omnis vita militia est . .  . Als Schule von Helden wurden sie schon oben bezeichnet., und Aurelian hatte Dacien, die gefährliche Eroberung Trajans, bereits den Goten soviel als preisgeben müssen. Vorher aber und in den weniger bedrohten Gegenden auch nachher muss hier eine sehr bedeutende römische Kultur geherrscht haben, deren Wirkungen auf diesem von der Völkerwanderung ganz durchwühlten Boden nicht zu vertilgen gewesen sind und zum Beispiel in der romanischen Sprache der Walachen noch kenntlich fortdauern. Städte wie Vindobona (Wien), Carnuntum (St. Petronell), Mursa (Essek), Taurunum (Semlin) und vor allem Sirmium (Mitrovicz), dann weiter abwärts Naïssus (Nissa), Sardica (Sophia), Nikopolis am Haemus und das ganze reiche Itinerarium der Donau überhaupt lassen auf ein Dasein schliessen, welches an Fülle und Wichtigkeit vielleicht die Rheingrenze bedeutend überholte. Wenn einst moderne Hände den slavischen und türkischen Schutt von den alten Donaustädten wegräumen dürfen, so wird auch das römische Leben jener Gegenden wieder zum Vorschein kommen. Die Weltgeschichte hätte eine andere Wendung nehmen können, wenn es in diesen Landen einem kulturfähigen Germanenvolk durch Mischung mit den kräftigen Einwohnern des nördlichen Illyricums gelungen wäre, ein mächtiges und dauerndes Reich zu gründen.

Am Schwarzen Meer endlich treffen die Germanen nebst andern Barbaren mit den griechischen, meist milesischen KolonienFür das folgende s. Boeckh, Corpus inscr. Graec., vol. II, pars XI, bes. die Einleitung dazu. – Hallische Welthistorie, Zusätze, Bd. IV. zusammen, welche als nördlichste Vorposten des Hellenentums seit mehr als acht Jahrhunderten den Pontus zu einem »gastlichen« (euxeinos) machten. Ein Teil derselben hatte sich längst mit einigen barbarischen Stämmen zu dem sogenannten Bosporanischen Königreich verschmolzen, welches über die Hälfte der Krim und die jenseits der Meerenge von Kertsch beginnenden Abhänge des Kaukasus umfasste und also den Eingang des Asowschen Meeres, vielleicht auch beträchtliche Stücke von dessen Ufern beherrschte. Münzen und Inschriften gewähren eine Königsreihe ohne Unterbrechung bis auf Alexander SeverusMehrere Fürsten dieser Reihe führen merkwürdigerweise die nämlichen Namen, welche unter den längst erloschenen Königen von Thracien vorkommen: Cotys, Rhoemetalces, Rhescuporis., dann folgen zwischen Lücken die Namen Ininthimeuos, Teiranes, Thothorses, Phareanzes und unter Constantin 317 bis 320 nachweisbar ein König Rhadamsadis. Als Rom von den kleinen Königreichen seiner Ostgrenze eines nach dem andern zur Provinz machte, blieben nur Armenien und Bosporus verschont, welches sich dann mehr und mehr von Rom losgemacht und barbarisiert haben muss. Unter Diocletian erhoben die Bosporaner, mit Sarmaten verbunden, einen unglücklichen KriegConstantin. Porphyrog., De administr. imp. cap. 53 gibt eine Erzählung davon, deren Wert hier gänzlich dahingestellt bleibt. gegen ihre Nachbarn an der ganzen östlichen Seite des Pontus; Constantius Chlorus, der im nördlichen Kleinasien gegen sie im Felde stand, rief die Chersonnesiten auf, von Westen her in das bosporanische Land einzufallen, was denn auch mit vielem Erfolge geschah. Die Bosporaner mussten einen Vertrag eingehen, wobei sie fast die ganze Krim, bis auf die Gegend von Kertsch (Panticapaeum, die alte Hauptstadt des grossen Mithridat) an die Chersonnesiten verloren. Die griechische Kolonie hatte zu ihrem Glück ihre Lehnspflicht gegen das römische Imperium erkannt, während der Bosporusfürst bei der allgemeinen Not des letztern sich jeder Pflicht ledig glaubte. – Im Verhältnis zu den griechischen Küstenstädten hiessen diese Könige übrigens immer nur Archonten, welches in Hellas der Name der obersten Stadtbeamten zu sein pflegte; gegen die Nichtgriechen blieb es ihnen dafür übernommen, sich sogar »König der Könige« betiteln zu lassen, wie einst die Herrscher Persiens.

Doch wenden wir uns nochmals aus diesem kleinen Reiche nach Westen zurück. In dem reichen Kranze altgriechischer Kolonien, deren Fundstücke die Museen von Südrussland zu füllen beginnen, erwecken vor allem zwei unsere Teilnahme durch ihr eifriges Bemühen, das griechische Leben trotz der Umgebung rein und vollständig bei sich zu erhalten. Das siegreiche Chersonnesus, jetzt Sebastopol, war eine Kolonie von Heraklea am Pontus und dadurch mittelbar von Megara. Das nahe Vorgebirge Parthenium war die Stätte einer geweihten Erinnerung; hier stand noch der Tempel der strengen taurischen Artemis, welche bis zu Iphigeniens Priestertum durch Menschenopfer gesühnt werden musste; auf den Münzen der Stadt sieht man das Bild der Göttin. Unter der Römerherrschaft kam Chersonnesus noch einmal kräftig empor und erweiterte, wie gesagt, unter Diocletian sogar sein städtisches Gebiet, während es im Innern alle seine griechischen Einrichtungen und zu dem Siege die völlige Steuerfreiheit behieltUnter Constantin d. Gr., dem Chersonnesus einmal einen beträchtlichen Zuzug leistete, erhielt es noch weitere Ehrenrechte, eine goldene Kaiserstatue, besondere Siegel, Immunität für die Schiffe usw.. Die Bürger bilden noch einen Demos; unter den Archonten, welche an der Spitze des Rates stehen, ist einer, nach dessen Namen man die Jahre zählt wie in Athen; es folgen städtische Beamtungen aller Art, Strategen, Agoranomen, Gymnasiarchen, vorzüglich Ehreninhaber städtischer Leistungen, welche den einzelnen oft teuer zu stehen kommen mussten. Eine InschriftBei Boeckh, l. c. nr. 2099. Vgl. auch nr. 2097. aus der letzten heidnischen Zeit zum Beispiel verherrlicht den Demokrates, Sohn des Aristogenes, nicht nur wegen trefflicher Vorschläge, Volksreden und zweimaliger Bekleidung der Archontenwürde, sondern auch weil er aus eigenen Mitteln mehrmals um des gemeinen Besten willen als Gesandter zu den Kaisern (Diocletian und Constantius?) gereist, weil er Feste und öffentliche Dienste aller Art aus dem Seinigen bestritten und in allen Dingen gewissenhaft gewaltet, »dem Erhalter, dem Unvergleichlichen, dem Freunde der Heimat, der edle Rat und das hehre Volk, zu Bezeigung des Wohlwollens«. Sein Lohn war dieser Stein und die alljährliche, feierliche Verlesung eines besondern Ehrendekretes. – Wie die freien Reichsstädte im spätern Mittelalter, besass die Stadt die trefflichste Artillerie; im Kriege mit den Bosporanern rückte sie sogleich mit ihren Kriegswagen aus, welche Wurfmaschinen trugen; auch ihre Ballisten waren berühmt.

Nicht minder griechisch hielt sich das einst mächtige alte OlbiaS. bes. die 36. Rede des Dio Chrysostomus., eine Gründung der Milesier (unweit des jetzigen Oczakow). Von ihrer ionischen Herkunft gaben die Olbiopoliten noch in Sprache und Sitte deutliche Kunde; sie wussten die Ilias auswendig und vernachlässigten dafür die nichtionischen Dichter; mehrere angesehene spätgriechische Schriftsteller waren von hier gebürtig. Die innere Einrichtung und die Beamtungen gaben denen von Chersonnesus nichts nach. Von den umwohnenden Barbaren wusste sich die Stadt meist ganz frei zu halten, bisweilen jedoch war sie denselben zinspflichtig. Noch Antoninus Pius sandte ihr Hilfe gegen die Tauroscythen; wie sie sich aber in der Folge mit der ringsum in Bewegung geratenen grossen Gotenmacht abfand, bleibt noch zu entdecken.

Wie zum Trotz gegen die dauernd bedrohte Lage hatten die Griechen, soweit ihre Ansiedlungen an der Nordseite des Pontus reichten, eine ganz besondere Verehrung gegen das höchste alte Heldenideal ihres Volkes, Achilleus. Er ist der wahre Herrscher des Pontus (Ποντάρχης), wie er in vielen Inschriften heisst; in Olbia wie in allen Städten der Küste prangten seine Tempel; ihm ward geopfert »wegen des Friedens, der Fruchtbarkeit und der Tapferkeit der Stadt«Boeckh, l. c. nr. 2076 seq. – Die Schilderung der Pontusgegenden bei Ammian. Marcell. XXII, 8.; festliche Wettkämpfe wurden ihm zu Ehren abgehalten im Spiel auf der Doppelflöte und im Diskuswerfen, vorzüglich berühmt aber war der Wettlauf der Knaben auf einer nahen Düne, welche den Namen »Laufbahn des Achill« führte, weil einst der Heros selbst hier einen Wettlauf angestellt haben sollte. Wohnten aber sonst auf der Düne Barbaren asiatischer Herkunft (das Völkchen der Sinder), so gehörte doch eine Insel des Pontus, Leuce, nicht weit von den Donaumündungen, ganz dem Schatten AchillsWenn die Beschreibungen der Alten wörtlich zu nehmen sind, so weiss man dieses Leuce gegenwärtig so wenig zu finden als die Inseln der Seligen und die der Hesperiden. Handelt es sich aber um eine Örtlichkeit überhaupt, an welche der Mythus und die Phantasie ihre Bilder knüpfen konnten, so genügt hiezu irgendeines der Inselchen an den Donaumündungen, vielleicht auch ein Punkt der jetzigen Düne. Ein Autor wie Ammian, welcher auf Leuce besteht, musste doch wohl einigen Bescheid wissen. – Die Stellen gesammelt u. a. bei Wernsdorf, Poetae Lat. minores, zum Avienus, vol. V. – Ein ähnlicher Glaube in betreff der Inseln um Britannien, vgl. Plutarch, De defectu orac. 18.. Ein weisses Felsengebirge (so lauten die Schilderungen) steigt aus dem Meer, zum Teil mit überhängenden Wänden; keine Wohnung, kein menschlicher Laut weder am Gestade noch in den einsamen Talschluchten; nur Scharen von weissen Vögeln umschweben die Klippen. Heiliger Schauer beseelt die Vorübersegelnden; wer die Insel betritt, wagt doch nie, die Nacht daselbst zuzubringen; wenn man den Tempel und das Grab Achills besucht und die seit alten Zeiten von frühern Besuchern niedergelegten Weihgeschenke betrachtet hat, so besteigt man abends wieder das Schiff. Das ist der Ort, welchen einst Poseidon der göttlichen Thetis für ihren Sohn verheissen hat, aber nicht bloss zu seinem Begräbnis, sondern damit er selig fortlebe. Und Achill wandelt hier nicht allein; allmählich gibt ihm die Sage zu Begleitern andere Helden und glückselige Geister, die auf Erden ein schuldloses Dasein geführt, und die Zeus nicht in dem dunkeln Orkus lassen will. Mit Andacht schaute man auf jene weissen Vögel, welche dem Anblick nach den Halcyonen ähnlich schienen; vielleicht war dies die sichtbare Gestalt jener glücklichen Seelen, nach deren Los gerade das späteste Heidentum sich am meisten sehnte.


 << zurück weiter >>