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XV.

Zwischen den Fenstern in ihrem Wohnzimmer hängt ein Spiegel über einer niedrigen Konsole. Dort steht sie und spiegelt sich, als sie nach Hause gekommen sind. Er hat seinen Ulster über einen Stuhlrücken gehängt und die Gaskrone angezündet. Sie probiert, ob sie die Korallenkette, die Johannes ihr geschenkt hat, fest um den Hals tragen soll – wie sie es bei einer Dame im Restaurant gesehen hat –, oder ob sie über den Ausschnitt hängen soll.

Er begegnet ihrem Blick im Spiegel, – und bevor er es selbst weiß, hat er den Arm um ihre Schulter gelegt und hebt ihren Kopf zu sich hinauf.

Als er sich aber vorbeugt, um sie zu küssen, wird er von einem erstaunten Blick in ihren Augen zurückgehalten. Sie wehrt sich nicht, der Blick aber schiebt ihn von sich, erschrocken, betrübt, bittend.

Seine Arme senken sich, als ob er sich an etwas vergriffen habe.

Die Wirklichkeit, kalt, grau und armselig, verscheucht einen Traum.

Wie konnte er sich einbilden, daß er etwas anderes für sie war, als die Planke für den Ertrinkenden.

Sein Gemüt zieht sich so seltsam zusammen, als ob etwas, das in seinem Innern geschmolzen war, plötzlich wieder gefröre.

Er setzt sich müde, sie aber bleibt hoch aufgerichtet stehen, mit großen Augen, die Hand um die Kehle.

»Jetzt bin ich wieder ein alter Mann,« sagt er und nickt ihr beruhigend zu.

Da reißt sie sich die Korallenkette vom Halse, wirft sie auf den Tisch, beugt sich hastig herab, umfaßt seinen Kopf und küßt ihn.

Jetzt blickt er erstaunt auf. Er sieht, daß sie die Augen schließt, ihre Lider beben wie in Angst.

Er schiebt sie behutsam von sich, sitzt einen Augenblick und sieht auf sein Leben zurück.

Sie hat sich auf den anderen Stuhl gesetzt, das Gesicht in seinen Ulster vergraben, der über der Lehne hängt.

Er sieht, daß sie weint. Aber er hat einen Trost bereit.

»Du – Gerda – Johannes hat sich nach dir erkundigt. Ich hätte es dir schon früher sagen sollen.«

»Ach,« – sie schüttelt trotzig den Kopf – »das ist es gar nicht! Warum aber kann ich dich, der du so gut gegen mich bist, nicht lieben?«

Sie hebt den Kopf und sieht ihn hilflos an, mit verweinten Augen.

»Weil man nur den lieben kann, der für einen bestimmt ist.«

»Nein,« sagt sie trotzig und trocknet sich die Augen, »das ist vorbei. Wenn du nicht gewesen wärest, hätte ich mich erhängen, oder an den ersten besten auf der Straße verkaufen können. Er hat mich ja verschmäht.«

Johan Lind überlegt. Da ist der Zwangsgedanke wieder; ohne daß er es weiß, hat er ihn überlistet.

»Ich sollte das Werkzeug sein.«

»Wozu?«

Sein Blick sucht in weiter Ferne.

»Ich alter Karikaturenzeichner sollte verhindern, daß die Kehrseite deines Lebens nach außen kam.«

Sein Blick fällt auf die Kette, die auf dem Tisch liegt. Er nimmt sie und befestigt sie um ihren Hals.

Sie versteht ihn nicht.

Plötzlich aber hebt sie den Kopf und erstarrt wie ein überraschtes Tier im Walde.

Mit offenem Munde lauscht sie zum Fenster.

Jetzt hört er es auch. Ein Signal, zwei lange und zwei kurze Pfiffe.

Sie stürzt ans Fenster und kämpft mit der Gardine.

»Was ist das?« fragt er.

»Er ist es!« flüstert sie, und endlich findet sie die Schnur.

Als der, den sie eben erst verleugnete, unten auf der Straße das alte Signal flötete, war sie sofort bereit.

Von der stillen Straße klingt eine gedämpfte Stimme herauf.

Johan Lind kann nicht hören, was sie sagt; er hört nur, daß Gerda aus vollem Herzen ja, ja antwortet.

Das Fenster wird geschlossen, die Gardine zugezogen. Gerda eilt mit roten Backen zur Gangtür.

Schritte auf der Treppe – ein Murmeln im Dunkeln, bei dem Johan Linds Herz mitschlägt – eine Stille, die den Augenblick fast sprengt –, und in der Tür steht ein junger, breitschultriger Mann, die Mütze in der einen und eine Handtasche in der anderen Hand.

Er hat dunkles, kurzgeschnittenes Haar, tiefliegende, schwerblickende Augen, einen Knabenmund, stark, gut und doch schwermütig. Er ist so groß, daß er fast den ganzen Türrahmen füllt, seine Hände sind groß und grob. Dort steht er und vergißt zu grüßen, während er zu ergründen versucht, was es für ein Mann ist, bei dem Gerda wohnt.

»Guten Abend!«

Johan Lind streckt ihm seine Hand hin, der andere legt die seine zögernd hinein.

»Sie sind Johannes?« sagt Johan Lind und lächelt, während Gerda klopfenden Herzens neben dem runden Tisch vorm Sofa steht und es den beiden überläßt, sich zurechtzufinden.

»Johannes – und wie weiter?« fragt Johan Lind; seinen Nachnamen hat er nie gehört.

»Zischler.«

Der Blick des jungen Mannes hat etwas Gewinnendes, etwas, das Johan Lind an den Weichensteller erinnert, er ist dunkel, als ob seine Seele in Not sei, und plötzlich sieht er, wie es um den hübschen, jungen Burschen, der dort gegen die Tür lehnt, bestellt ist. Er ist übermannt. Auf der niedrigen, breiten Stirn spiegeln sich die Schweißperlen im Licht der Gaskrone, und die hängenden Schultern scheinen sich gegen etwas zu stemmen, das ihn in die Knie gezwungen hat. Er ist drauf und dran, umzusinken.

»Der Name klingt fremdländisch.« sagt Johan Lind, um das Schweigen zu brechen. Der junge Mann antwortet nicht. Vielleicht hat er seine Worte gar nicht gehört.

»Aber Sie sind ja auch aus Rußland.«

»Meine Mutter war Dänin.«

»Ich weiß.«

Jetzt hat auch Gerda es gesehen.

»Was fehlt dir?« fragt sie angstvoll und legt ihre Hand auf Johannes' Arm.

Er blickt von ihr zu Johan Lind. Seine Augen fragen: Wer ist er? Was machst du bei ihm?

Johan Lind versteht. Er schiebt einen Stuhl hin.

»Nehmen Sie Platz,« sagt er, »sind Sie nicht hungrig? Soll Gerda Ihnen etwas zu essen bringen?«

»Nein, danke.«

Er kommt nicht näher. Kann er sich nicht dazu bequemen – oder fürchtet er, daß seine Knie ihn nicht tragen werden?

Johan Lind überlegte einen Augenblick. Dann blickt er in die gequälten Augen und beantwortet ihre Frage:

»Gerda führt mir das Haus. Wir trafen uns auf der Eisenbahnstation. Sie –«

Gerda weiß, was jetzt kommen wird. Sie war verlassen von dem, den sie liebte, wird er sagen. Aber Johannes dauert sie, er sieht so leidend aus.

»Wie hast du mich gefunden?« unterbricht sie schnell und zieht ihn zum Stuhl.

»Ich habe deinen Namen heute morgen in der Zeitung gelesen.«

»Haben Sie sich neulich nicht auch bei dem Journalisten Jensen erkundigt?« sagt Johan Lind in leichtem Tone.

Die dunklen Augen sehen hastig auf, als fürchteten sie einen Hinterhalt.

»Ja.«

Gerda kann es nicht länger ertragen, er sieht so verändert aus. Sie will seinen Kopf zwischen ihre Hände nehmen und sagen, daß alles vergessen sein soll. Zu fragen wagt sie nicht. Daß sie alles zu wissen verlangte, hat sie ja damals getrennt. Er muß es ihr von selbst sagen. So ist er.

Da fällt ihr Blick auf den alten, braunen Handkoffer, der seiner Mutter gehörte, den er neben den Stuhl gestellt hat, und die Angst schlägt über sie zusammen.

»Willst du fort?«

Er wagt ihrem Blick nicht zu begegnen, sieht mit gesenkten Lidern vor sich nieder. Das junge Gesicht erstarrt wie eine Maske. Nur der Mund bebt von angestrengter Selbstbeherrschung.

Gerda sitzt hochaufgerichtet im Sofa, den Kopf vorgebeugt und starrt den Mann, der sie verschmähte, aus großen blassen Augen an. Das Blut entweicht aus ihrem Gesicht, ihre Lippen werden weiß.

Johan Lind will aufspringen und sagen:

Unsinn – Kinderstreiche – er reist natürlich nicht fort; aber er kann nicht. Das junge Gesicht dort lügt nicht.

»Warum,« flüstert Gerda.

Keine Antwort. Vielleicht wagt er die bebenden Lippen nicht zu öffnen, aus Angst, daß er dann alles sagen muß.

Während sie sitzt und den Mann anstarrt, der nur gekommen ist, um sie von neuem zu verlassen, denkt sie, wie oft sie sich gelobt hat, ihn zu vergessen. Sie preßt die Lider zusammen, sie will nicht weinen. Der furchtbare Kampf hilft ihrem Trotz. Soll sie zu Johan Lind gehen, die Arme um seinen Hals legen, und zu dem anderen sagen: reise nur, ich habe dich längst des anderen wegen, der mich aufgenommen hat, als du mich verschmähtest, vergessen, ich habe ihm all das gegeben, was ich dir zu geben bereit war. Reise nur und laß dich nie wieder sehen. Ob er dann nicht aufsehen, alles Schwere von sich abwerfen und bleiben – bleiben würde? Und alles sollte vergessen sein.

Johan Lind weiß, was in ihr vorgeht. Er beugt sich vor und legt seine Hand auf Johannes' Schulter.

»Wenn ich störe, bin ich gern bereit, in mein Zimmer zu gehen.«

Johannes schüttelt abwehrend den Kopf, als fürchte er ein Alleinseins mit ihr mehr als alles andere.

»Ich liebe Gerda, als ob sie mein Kind wäre, und was Sie ihr und mir sagen, ist so gut aufgehoben, als ob Sie es Gott gesagt hätten.«

»Gerda!«

Johannes streckt ihr über den Tisch hinüber seine Hand hin. Als er aber ihrem Blick begegnet, zieht er sie entsetzt zurück.

Er sitzt eine Weile und seufzt vor sich hin, wie ein Kind, das keine Tränen mehr hat. Darauf wendet er sich an Johan Lind.

»Ich wollte nur wissen, wie es ihr geht, sie noch einmal sehen.«

Dann steht er langsam auf und sieht sich im Zimmer um. Sein Blick begegnet dem Johan Linds. Ich kann nicht anders handeln, sagt dieser Blick, seien sie gut gegen sie und haben sie Dank dafür, sagt der Blick.

Auch Gerda hat sich erhoben, ohne daß sie es selbst weiß. Sie steht mit vorgeschobenem Kopf, als ob sie auf dem Sprunge sei. Und sie ist es auch, aber noch in diesem Augenblick weiß sie nicht, weshalb. Will sie sich vor ihm niederwerfen und ihn anflehen zu bleiben, weil sie nicht ohne ihn leben kann, oder will sie ihm zurufen: geh, ich verschmähe dich, wie du mich verschmäht hast, um dann verzweifelt zusammenzubrechen, wenn die Tür sich hinter ihm geschlossen hat.

Es läutet draußen an der Haustür.

»Gott sei Dank!« denkt Johan Lind und ist der Unterbrechung froh.

Er geht hinaus, um zu öffnen.

Es ist ein Arbeiter, der es eilig hat.

»Ich sollte von dem Weichensteller Andresen grüßen und diesen Brief abgeben.«

Bevor Johan Lind noch Zeit gehabt hat zu fragen, ist er schon wieder fort.

Als er den Brief in seiner Hand hält, weiß er, daß er ein Unglück enthält.

»Er ist von dem Weichensteller,« sagt er zu Gerda.

Sie versteht ihn nicht, es ist kein Platz dafür in ihrem Gehirn. Auch sieht sie nicht, daß seine Hand zittert.

Als er den Brief gelesen hat, behält er ihn in der Hand und bricht wortlos zusammen.

Jetzt sieht sie, daß sein Mund bebt, daß er nach dem Stuhl tastet und sich setzt.

Auch Johannes sieht es. Er beugt sich vor, als ob er über seine Schulter hinweg den Brief lesen wollte; aber er tut es nicht.

»Was ist geschehen?«

Johan Lind faßt sich und liest vor:

»Ich teile Ihnen mit, daß ich morgen nicht kommen kann, denn meine Frau ist heute nachmittag gestorben, und ich will ihr folgen. Sie können mich in dem großen Mergelgrab auf Hans Jensens Feld finden. Meine Kinder sollen ihren Vater nicht hängen sehen. Ich möchte Sie bitten, sich der sieben Kinder anzunehmen. Geld genug ist ja da. Das achte soll Ihr Fräulein haben, wenn sie will, sie sagte neulich: Ich wollte, es wäre meins. Leben Sie wohl alle beide und alle Menschen, die es gut mit uns gemeint haben. Aber es sollte nicht sein. Amen. Peter Magnus Andresen.«

Keiner von ihnen sagt etwas, was sollen Worte, wenn bereits alles gesagt ist?

»Ich hatte nicht genug mit meinen eignen Angelegenheiten,« seufzt es in Johan Linds Herzen. Er ist tief unter einer Schuld gebeugt, und weiß doch nicht, was er Böses getan hat. Was war das? Der junge Mann, der neben ihm steht, hat sich über den Stuhl geworfen.

Dort liegt er, seine schweren Arme auf dem Tisch.

»Ich hab es getan,« schreit er auf, »ich habe die Weiche umgestellt.«

Der ganze junge Körper wird von Schluchzen geschüttelt.

Johan Lind versteht ihn nicht. Dann aber ist es, als ob eine Bürde von seinen eigenen Schultern genommen würde. Eine unsagbare Erleichterung durchrieselt ihn: Ich habe keine Schuld.

Nur einen Augenblick. Dann wandern seine Augen von dem Schluchzenden zu Gerda, die ihre Arme nach ihm ausgestreckt und seinen Nacken mit ihren heißen Händen umklammert hat. Er sieht das Entsetzen in ihren Augen und denkt nicht mehr an sich.

»Mein ist die Schuld,« schluchzt die junge verquälte Seele, »ich habe sie beide getötet.«


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