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VI.

Die Zeitungen schrieben lange Spalten. Wozu sind Zeitungen da? Sie schrieben von Dingen, die sie verstanden, und von solchen, die sie nicht verstanden. Von Dingen, die sie wußten, und von solchen, die sie nicht wissen konnten, – über letztere am besten. Denn was man nicht weiß, darüber kann man phantasieren, so daß es mit glänzenden Augen gelesen wird und viel Zeilenhonorar einbringt.

Gevatter Schneider sagt zu Gevatter Schuster: »Hast du gelesen, was in der ›Zeit‹ über den Weichensteller steht? – Einsam auf seinem verantwortungsvollen Posten in der Nacht, todmüde nach einem sechzehnstündigen Arbeitstag, eine kranke Frau und sieben hungrige Kinder in dem kleinen engen Haus, – Hunderte und aber Hunderte von Menschenleben sind seiner Hut anvertraut. Ist es da zu verwundern, daß er einen Fehlgriff tut?«

Der ›Tag‹ war bis ins Tiefste erschüttert. Sein eigener Chefredakteur war mit im Zuge gewesen. Er brachte einen Artikel über den unersetzlichen Verlust, den das Land beinah erlitten hätte. Wenn etwas das Vorhandensein einer göttlichen Vorsehung beweisen konnte, so war es in Wahrheit der Umstand, daß ein junger Mann in einem Anfall von Ausgelassenheit die unfreiwillige Ursache zur Lebensrettung so vieler wertvoller Mitbürger geworden war. Wie aber verhielt es sich mit dem Streik der Bahnarbeiter? Der Streik war am selben Abend ganz unerwartet erklärt worden: die Nachtschicht war nicht auf dem Arbeitsplatz angetreten. Ein seltsames Zusammentreffen; denn gesetzt, das Unglück wäre geschehen; so wäre der Zug in voller Fahrt über die Arbeiter hinweggegangen. »Wir haben niemanden im Auge, wir verdächtigen keinen, doch in dieser Zeit der Sabotage, müssen wir – worauf wir die Regierung immer wieder hingewiesen haben – mit allen Möglichkeiten rechnen. Bevor man einem pflichttreuen Angestellten die Schuld gibt, – und mit falschem Mitleid dienstliche Ueberanstrengung vorschiebt, um die Eisenbahnverwaltung zu treffen, wie der ›Lokalanzeiger‹ es in seiner Morgennummer für gut befindet – sollte man in Erwägung ziehen, ob es nicht noch andere Spuren gibt, als die, die auf den Weichensteller weisen.«

Die Leute lasen es mit runden Augen. Hinten auf der Straßenbahn sagte Gevatter Schuster zu Gevatter Schneider: »Hast du gelesen, daß es Sabotage war? Auch bei uns gehen heutzutage schlimme Dinge vor.« Und zu Hause sagten sie zu ihren Frauen: »Eine tolle Sache. Also nicht mal mit der Eisenbahn kann man heutzutage mehr fahren.«

Eine kleinere Zeitung wußte von verdächtigen Personen zu berichten, die man an den Schienen entlang hatte schleichen sehen, – und die Konkurrenz wußte sogar, daß eine Verhaftung stattgefunden hatte, die Zeitung aber hatte der weiteren Untersuchungen wegen strengste Diskretion versprechen müssen. Andere Zeitungen vergaßen ganz von Schuld und Verantwortung zu sprechen, so benommen waren sie von der wunderbaren Fügung. Für die Kirchlichen war es ein großer Tag.

In dem Wettlauf der Presse wurde ein kleiner unansehnlicher Mensch, auf den keiner gehalten haben würde, Nummer eins. Es war Jensen von der Provinzpresse. Die Zeitung ›Mittel-Seeland‹ sprach nicht von Verantwortung, nicht vom Weichensteller, nicht vom Streik, nicht von Verbrechen. Sie begnügte sich damit zu berichten, wie alles zugegangen sei, – etwas nüchtern und langweilig, wie man es von der Provinzpresse nicht anders gewöhnt war – danach aber folgte ein Verzeichnis sämtlicher Reisenden, die im Zuge gewesen waren – Namen. Adresse und alles.

An jenem Abend läutete das Telephon der Zeitung ›Mittel-Seeland‹ unausgesetzt. Väter, Mütter, Onkel, Tanten, Bräutigame und Freunde wollten Bescheid haben.

Jensen antwortete allen geduldig und bekümmert. Groß aber war sein Triumph, als sogar Avnsöe ihn antelephonierte, ihm gratulierte und bat, ob er das ganze Verzeichnis ohne Quellenangabe nachdrucken dürfe – er wäre ja selbst mit dabei gewesen.

Jensen gestattete es, als aber kurz darauf der Kollege vom ›Lokal-Anzeiger‹ am Telephon war, ließ er wie zufällig ein Wort darüber fallen. Am nächsten Morgen stand Jensens Verzeichnis in allen Zeitungen der Stadt mit Quellenangabe, nur der ›Tag‹ hatte sie ohne Quellenangabe nachgedruckt, indem er so tat, als ob man in der Morgennummer keinen Platz dafür gehabt habe. Es war eine Blamage.

Johan Lind las das Verzeichnis von denen, die dabei gewesen waren. Er fand Gerdas Namen, doch ohne Adresse, nur Nyköbing stand da, die Stadt, wo ihre Tante wohnte.

Was hatte der Bahnbeamte mit seiner Laterne gesagt?

»Es ist eine Vorsehung – daran ist nicht zu rütteln.«

Der Tod zögerte auf seinem hohen Pferd – eine merkwürdige Erinnerung –

Und warum mußte ich gerade in dieser Nacht unterwegs sein, ich, der ich sonst um elf Uhr in meinem Bett zu liegen pflege?

Was sollte ich auf der öden Landstraße, wo ich nichts zu tun hatte?

Warum kam ich mit dem Weichensteller ins Gespräch?

Das junge Mädchen bedurfte der Hilfe.

Warum aber war gerade ich dazu ausersehen?

Im selben Augenblick schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf: die Sache hat noch eine andere Seite, eine, die auf dich gerichtet ist. Ich hatte ja auch Hilfe nötig.

Vielleicht sollte ihm geholfen werden, indem er ihr half.

Es war wie ein Lichtschimmer. Denn sein Wunsch, zu helfen, war nicht durch Ueberlegung geboren worden, er war nicht durch Vorsatz entstanden, sondern unmittelbar seinem Herzen entsprungen, – handelte so nicht einer, der auserwählt ist?

Das alles dachte er bereits an jenem Morgen, als sie in der Wirtschaft beisammen sahen, und sie plötzlich vor Ermattung zusammenbrach. Während sie so saß, den Kopf auf dem Holztisch, in schwerem, tiefem Schlaf, hatte er zuerst versucht, das Zufallsspiel zu ergründen.

Abends aber, als er allein in einem bescheiden möblierten Zimmer in der Danmarksgade saß, das er durch ein Aushängeschild gefunden hatte, – und als er ihr, die das Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des dunklen Ganges bekommen, gute Nacht gesagt hatte – da blieb er noch eine Weile in dem alten Plüsch-Lehnstuhl sitzen, zog die Zeitungen aus der Tasche, die er unterwegs gekauft hatte und las über das Eisenbahnunglück.

Und da begann er von neuem über das seltsame Spiel zwischen zwei Zufällen zu grübeln. Der eine Zufall wollte den Tod und bediente sich der Müdigkeit eines armen Weichenstellers, – der andere wollte das Leben und gewann das Spiel durch den zufälligen Uebermut eines jungen Mannes.

Die Vorsehung im Streit mit sich selbst? – Oder sollte durch den Schreck Nachdenken geweckt werden?

War es eine barmherzige Vorsehung, die den Menschen eine Frist gönnte?

Wurde sie auch ihm zuteil, obgleich er nicht mit im Zuge gewesen war? War das Wesen, das nebenan in seiner Hut schlief, – eine Erhörung seiner Bitte um eine Frist?

Am nächsten Morgen stand in der Zeitung, daß der Weichensteller im Verhör gewesen und ausgesagt hatte, daß er zur rechten Zeit draußen gewesen sei, um die Weiche zu stellen. Da sei ein Mann gekommen, ein Geistlicher oder ein Professor, der ein Gespräch mit ihm angefangen habe: warum seine Kartoffeln noch draußen seien – und wieviele Kinder er habe – und wie verantwortungsvoll seine Stellung wäre. Das könne einem Menschen, der nicht gewohnt sei, sich über derlei Dinge Gedanken zu machen und schon genug Sorgen habe, wohl den Kopf verdrehen; denn im Hause habe seine Frau gelegen und das achte Kind erwartet. Als sie das siebente kriegte, wäre sie mit knapper Not mit dem Leben davongekommen, und der Arzt hatte gesagt, wenn es noch mal so weit käme, stehe er für nichts ein. Der Kopf sei ihm so voll gewesen und das Geschwätz des Fremden habe ihn ganz verwirrt.

Als Johan Lind das las, war es ihm, als ob eine kalte Hand sich über seinen Nacken legte. Auserwählt – dachte er – um einen anderen Menschen unglücklich zu machen, – schuldig, ohne eine Schuld begangen zu haben.

Die Hand, die ihn für das Unglück auserwählt hatte, suchte sich einen anderen, um die Notbremse zu ziehen. Die Passagiere des Zuges waren mit dem Schreck davongekommen, nur einer hatte nicht teil an der Barmherzigkeit – der treue Weichensteller mit seinen sieben Kindern und seiner todgeweihten Frau. Und er, der ihm wohl wollte, war dazu ausersehen worden, ihm das Unheil zu bringen.

Ich muß den Zusammenhang finden, dachte er; es war nicht Neugierde, keine eitlen Gedanken waren es, sondern bittrer Ernst.

Ich will versuchen, ihm auf die Spur zu kommen, dachte er und senkte den Kopf unter der Bürde.

Von einem heimatlosen Wanderer wurde er zu einem Gottessucher.

Auch andere suchten. Die Behörde, die dazu verpflichtet war. Der Nachtwanderer, von dem der Weichensteller ausgesagt hatte, wurde durch die Zeitungen aufgefordert, sich beim Untersuchungsrichter zu melden.

Johan Lind stellte sich ein und gab seine Erklärung ab, Auge in Auge mit Sankt Peter. Er sagte unter Eid aus, daß er gesehen habe, wie der Weichensteller mit beiden Händen um eine Hebestange gegriffen und sie in eine andere Lage gebracht habe: ob vorwärts oder rückwärts, das könne er nicht sagen.

Man dankte ihm für seine Aussage und ließ ihn gehen. Tags darauf stand sein Name und seine Aussage in allen Zeitungen. Keiner ahnte, daß der einsame Nachtwanderer, der in der Danmarksgade 27, zweiten Stock wohnte, der berühmte Mann aus der alten Villa in der Lindenallee sei.

»Rentier Lind,« schrieb die ›Zeit‹, »scheint eine philosophisch veranlagte Natur zu sein.« Und der ›Tag‹ wollte Tränen in seinen Augen gesehen haben, als der arme Weichensteller um Unterbrechung des Verhörs bat, weil seine Frau im Sterben läge. Unter dem Publikum, das dem Verhör beiwohnte, war auch Journalist Jensen aus der Provinz.

Das Eisenbahnunglück gehörte ihm und er hatte die Absicht, es bis aufs äußerste auszunützen. Er wußte besser Bescheid als andere und hatte es in allen Phasen studiert, – hatte er nicht das Verzeichnis der Passagiere gebracht, woran kein anderer gedacht hatte?

Er war bei jedem Verhör zugegen, studierte technische Handbücher in der Universität und schrieb so bedächtig fachgemäß über Weichensysteme, daß sogar der technische Direktor der Eisenbahngesellschaft eine Widerlegung schreiben mußte.

Es war ein großer Augenblick für Jensen aus der Provinz gewesen, – alle in der Hauptstadt erinnerten sich seiner von der Zeit her, als er noch beim ›Tag‹ war. Sogar Avnsöe schluckte die Blamage mit der Passagierliste hinunter und nickte ihm kameradschaftlich zu, wenn sie sich auf der Straße begegneten.

Jensen war im Begriff ein großer Mann zu werden; und wie es zu gehen pflegt: wenn Menschen Glück haben, dann steigt das Gute in ihnen auf; so auch bei Journalisten. Jensen hatte nicht nur Verstand und Ehrgeiz, sondern auch ein Herz. Nachdem er den Weichensteller zweimal im Verhör gesehen und gehört hatte, wie todmüde und hilflos er auf alle Fragen dasselbe antwortete, da beschloß Jensen, ihm zu helfen und einen Artikel aus seinem Elend zu machen, der ihnen beiden zugute kommen sollte.

Er lenkte die Aufmerksamkeit der Leser auf ein seltsames Zusammentreffen. Wenn man »das von uns veröffentlichte Personenverzeichnis, das – wenn wir uns recht entsinnen – auch vom ›Tag‹ nachgedruckt wurde, – genauer betrachtet, so sieht man, daß außer dem Redakteur des ›Tag‹ und anderen verdienstvollen Mitbürgern, auch Männer im Zuge waren, deren Mitarbeit an der Wiederherstellung geordneter Zustände in Europa allgemein bekannt ist. Natürlich kann auf den biederen dänischen Arbeiterstand kein Schatten von Verdacht wegen Sabotage fallen; wäre es aber nicht möglich, daß für ausländische Rechnung und durch fremde Hand ein Attentat verübt wurde, in der Absicht, wenn auch nicht gerade den Redakteur des ›Tag‹, so doch einige von den hervorragenden Männern, die im Zuge gewesen waren, aus dem Weg zu räumen?«

Darauf antwortete der ›Tag‹, daß es für gewöhnliche Sterbliche nicht ersichtlich sei, was die Herren Bolschewisten gegen ein ehrbares dänisches Komitee haben könnten, das nichts getan hatte und auch nichts tun konnte. Dagegen schiene das hauptstädtische Klima einen schlechten Einfluß auf Jensens geistiges Gleichgewicht zu haben, was der ›Tag‹ bereits bei früherer Gelegenheit festgestellt habe, und man riet ihm dringend zu Luftveränderung.

Jensen bewies, daß er die Bedingungen hatte, ein guter Journalist zu werden: er steckte die Bemerkung ein, um seine Gegner bei einer späteren Gelegenheit aus dem Hinterhalt anzugreifen.


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