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X.

Spatzen haben für das Jüngste des Weichenstellers gezwitschert.« sagte Johan Lind, als er mit Gerda beim Abendessen saß.

Sie sah erstaunt auf und vergaß die Tasse an den Mund zu setzen.

»Die Spatzen zwitscherten uns in den Hof hinein, wo die Statue von Mutter und Kind stand.«

»Und was weiter?«

»Beim Anblick der Statue mußtest du an die Frau des Weichenstellers denken.«

Gerda wurde rot und blickte in ihre Tasse hinein.

Kurz darauf aber hob sie den Kopf und sah ihn ernst mit ihren großen klaren Augen an.

»Nein,« sagte sie und schüttelte den Kopf, »die Statue hat mich nicht auf den Gedanken gebracht.«

»Was denn?«

Sie wurde wieder rot.

»Das kann ich nicht sagen.«

»Mir kannst du alles sagen.«

»Es war –« und sie vertraute ihm mit abgewandtem Gesicht an, daß sie kein Kind bekommen würde. Darum hätte sie an die Frau denken müssen: sie hatte sich schon so darauf gefreut, Mutter zu werden.

Er stand auf, sagte gesegnete Mahlzeit, zündete sich eine Zigarre an und setzte sich in den Stuhl am Fenster.

Er dachte an Massen und das, was sie zusammen besprochen hatten. Dabei schlief er ein. die Zigarre fiel auf den Fußboden.

Leichte, schwebende Schritte erreichten sein Ohr. Ich komme, dachte er und erwachte.

Um ihn herum war es dunkel. Er sah weder einen Kirchengang, noch eine Wölbung, weder einen Turm, noch eine Turmtreppe. Da entsann er sich, wo er war. Die leichten Schritte rührten von Gerda her. die das Geschirr in die Küche trug. Er hörte, wie leise sie auftrat: das Licht hatte sie gelöscht, damit er ruhig schlafen konnte.

Gerda hatte beschlossen, daß sie ihn, der sie verschmäht hatte, vergessen wollte.

Er ist meiner nicht würdig, dachte sie, während sie Staub wischte.

Im Zimmer war eine Milchstraße von tanzenden Staubsternen. Ihr blondes Haar, das sich im Nacken und an den Schläfen kräuselte, funkelte von Millionen Fixsternen: ihre klaren Augen strahlten das Licht über einer Anzahl von toten Monden zurück, die sich sinnlos im Raum drehten.

Eine schimmernde Kristallkugel fiel auf die verstaubte Aurikel, die ihre Blätter im Windzug am Fenster bewegte, während sie mit dem Staubtuch in der Hand stehen blieb und geblendet auf einen dunklen Kopf starrte, der in der Werkstatt auf der anderen Seite des Hofes sichtbar wurde.

Dann aber sah sie, daß es ein ganz anderes Haus war, ein schmutziges Haus, mit vielen Fenstern, und aus dem einem reckte sich ein rotbärtiger Bursche in Hemdärmeln und nickte ihr zu.

Da schloß sie hastig das Fenster, wischte die Kristallkugel von ihrer Wange und begann wieder eifrig Staub zu wischen.

Er ist es nicht wert, dachte sie wieder, im nächsten Augenblick aber befand sie sich in einem dunklen Torweg, die Arme um seinen Hals, die Lippen auf den seinen. Diesmal rollte keine Kristallkugel über ihre Wange, zornig preßte sie die Lippen zusammen und warf den Kopf in den Nacken.

»Ich gab ihm alles, was ich besaß, und er hat mich verschmäht. Es soll vorbei sein.«

Was hatte der andere nicht alles für sie getan, obgleich er sie gar nicht kannte. Gegen ihn wollte sie gut sein, ihm eine Häuslichkeit geben.

»Das alles hättest du haben können!«

Das Herz brannte ihr von neuem, diesmal aber vor gekränktem Stolz.

Sie nahm den Brief aus ihrer Tasche, wo er seit dem Unglückstage zusammengeknüllt gelegen hatte, zerknitterte ihn in der Hand, ergriff Johan Linds Streichholzschachtel, die neben seiner Pfeife auf dem Tisch lag, eilte zum Ofen, und bevor sie noch Zeit fand zu bereuen, zündete sie den Brief an allen vier Ecken an.

Die Hand zitterte ihr, während sie zusah, wie die Flammen über die großen schwerfälligen Schriftzüge eilten, die sie einst geliebt hatte.

Als das Feuer den Brief verzehrt hatte, und nur ein Häufchen schwarzer, wehmütiger Asche übrig war, krümmte ihr Herz sich wie das Papier, aber nur einen Augenblick; darauf preßte sie die Lippen zusammen und schlug die Ofentür zu.

»Erledigt!« sagte sie und blickte sich in dem kleinen Zimmer um. Es war wirklich, als ob von dem alten Plüschsessel am Fenster mit der gehäkelten Decke auf der Rückenlehne, wo Johan Lind zu sitzen pflegte, Frieden zu ihr käme.

Im selben Augenblick begann der Kanarienvogel in ihrem eigenen Zimmer zu piepsen. Er hüpfte von Stange zu Stange und piepste jämmerlich, als fürchtete er, daß er wieder vergessen würde.

Während sie das Vogelbauer reinigte, überlegte sie. was sie alles für Johan Lind tun wollte. Sie wollte sein Haus versorgen und mit ihm spazieren gehen. Ein Kochbuch wollte sie sich kaufen, dasselbe, das Ida zu ihrer Konfirmation bekommen hatte. Sie würde das Kochen lernen, es hatte keinen Zweck, so viel Geld in den Restaurants auszugeben. Und wieviel konnte sie von ihm lernen! Sie verstand nicht alles, was er sagte, aber das schadete nichts.

Er war so viel gereist und hatte so viel gelesen und gedacht. Sie konnte gar nichts, nur liebhaben – und nicht einmal darauf legte man Wert.

Da war Johannes wieder – sie schob den Gedanken hastig von sich, es ging fast leichter, nachdem sie den Brief verbrannt hatte.

Er kann hundert Haushälterinnen bekommen, dachte sie, die tüchtiger sind als ich. Er braucht nur zu annoncieren. Aber er bekommt keine, die ihn lieb hat. Das kann man nicht kaufen.

»Hab ich ihn denn lieb?« fragte sie sich selbst. Da war Johannes wieder. Sie hatte sich so daran gewöhnt, nur ihn in der ganzen weiten Welt lieb zu haben. Jetzt mußte sie ihn also für immer vergessen.

Ihr Blick wurde wieder geblendet – es saß ihr im Halse. Sie preßte die Lippen fest zusammen und schluckte es hinunter.

Gewiß, ich habe ihn gern. Wie einen Vater – oder einen Onkel – oder einen guten Kameraden.

Seit sie ihm neulich ihre Enttäuschung anvertraut hatte, meinte sie, daß sie ihm alles sagen könnte. Manchmal, wenn er merkte, daß sie betrübt war, sah er sie so an. daß sie geradezu Lust bekam, die Arme um seinen Hals zu legen und all ihren Kummer an seiner Brust auszuweinen.

Wohl war er alt an Jahren, aber nicht alt an Gemüt. Und wie jung konnten seine Augen blicken, wenn er sich über etwas freute und es ihr erklärte, während seine weißen Finger auf der Tischplatte spielten. Seltsam, daß er Johan hieß, das war fast dasselbe wie Johannes.

Von neuem lief ihr Herz von dem alten Schmerz über; Tränen drängten in ihre Augen. Hätte der Vogel es nicht geahnt und im selben Augenblick seine allerhöchste Nummer zum besten gegeben, würde sie wieder geheult haben, obgleich sie sich doch gelobt hatte, daß es vorbei sein sollte.

Sie war so viel allein. Wenn sie bei Johan Lind war, konnte sie alles andere vergessen, oder wenn sie sich im Hause beschäftigte.

Am schlimmsten war es, wenn sie gute Nacht gesagt hatte und allein in ihrem Zimmer war. Dann strömte alles auf sie ein – ihre gemeinsamen Spaziergänge – seine dunklen Augen – sein leicht beweglicher Mund – seine starken Arme und seine Küsse.


Eines Abends drangen die Erinnerungen besonders heftig auf sie ein und bedrohten den Frieden, den sie sich mit Mühe errungen, seit sie den Brief verbrannt hatte.

Sie kämpfte, bis ihre Backen und Hände brannten und schließlich wußte sie sich nicht anders zu helfen als durch Flucht.

Sie war schon halb entkleidet, zog sich hastig wieder an und eilte zu Johan Lind hinein.

Erst als sie bei ihm im Zimmer stand – mit dunklen Augen und glühenden Wangen – und er aus dem Lichtkreis, den der grüne Lampenschirm auf den Tisch warf, zu ihr aufsah, besann sie sich: sie mußte einen Vorwand finden.

Er erhob sich, trat zu ihr, nahm ihre Hände und fragte sie, was geschehen sei. Sie sagte, sie fürchte sich.

»Wovor fürchtest du dich?«

Er strich ihr übers Haar.

»Mir war, als ob jemand an der Haustür rührte,« log sie.

Sie gingen zusammen hinaus, um nachzusehen, ob die Tür auch richtig verschlossen sei.

Er tröstete sie und sagte, daß sie ihn nur zu rufen brauche, wenn sie sich ängstigte. Er würde bei dem kleinsten Laut erwachen.

Sie lächelte ihm zu. Ob sie eine Weile bei ihm sitzen dürfe, bis sie wieder ruhig geworden?

Sie saßen und sprachen zusammen. Er erzählte von seinem Leben und von seinen Reisen. Die Uhr war schon nach zwei, als Gerda wieder in ihr Zimmer ging. Da war sie so müde, daß sie nur noch mit großen starren Augen lächeln konnte. Sie fühlte, daß sie gesiegt hatte, entkleidete sich schnell und schlief gleich ein.

Johan Lind aber lag wach, bis die Rathausuhr vier schlug.

Alte und neue Gedanken beschäftigten ihn. Sie gingen von Gerda aus und kehrten zu ihr zurück, – auf einem langen Umweg – durch sein Leben.

Er meinte, daß er ihre regelmäßigen Atemzüge durch die geschlossene Tür hören konnte. Er lauschte, bis er einschlief, und erwachte wieder aus einem Halbschlummer. Wieder hörte er die leichten, schwebenden Schritte aus dem Kirchentraum. Er richtete sich auf, da aber waren sie vorbei.

Sollte dieser Traum ihm von Gerda voraussagen?

Unsinn – er schüttelte den Kopf über sich selbst; der Gedanke aber ließ ihn nicht los.

Bedeutete die Dämmerung in der Kirche, die Abendluft, die seine Stirn berührte, daß er alt werden sollte, bevor diese Schritte auf seinem Weg erklangen?

Tor! Aber der Gedanke an sie, die seinem Schutz anvertraut worden war, ließ ihn nicht los.

Da war etwas in ihrem Blick, wenn sie unversehens aufsah, daß er sich nicht deuten konnte. Wie sie vorhin in dem Halbdunkel des Zimmers stand mit dem tiefen Blick, meinte er sie bereits einmal gesehen zu haben, vor langer Zeit.

Sprach Sehnsucht nach ihm, der sie verlassen hatte, aus ihrem Blick, wenn er so tiefblau und fern wurde?

Vielleicht ruft mein Name Erinnerungen in ihr wach. Johan – Johannes. Der erste Akkord einer Melodie, die sie nicht vergessen kann.

Was sagte sie an jenem Abend? – Ich will ihn vergessen, sagte sie.

Johan Lind kann nicht klug aus ihr werden. Denn sie spricht niemals von dem andern und ihre Stimmung ist gleichmäßig. Er hat sie lachen, hat sie bei ihrer Arbeit summen hören und sie hat dem Kanarienvogel sogar etwas vorgesungen.

Hat sie ihn vergessen, weil er sie verschmäht hat? Dann hat sie ihn nie wirklich geliebt.

Johan Lind reckt sich und atmet tief. Schon lange hat er sich nicht so jung und so stark gefühlt.

Er denkt an die Worte des Traumes und meint, daß er jetzt den Sprung wagen würde.

Hat er nicht bereits die Villa in der Allee und die Kartons an den Wänden verlassen und den Sprung ins Ungewisse gewagt, unter dem freien Himmel, der dunkel und voller Verheißung ist?

War sie, die er gefunden hat, nein, die ihm in der Nacht gegeben wurde, war sie die Einzige, die Frau seines Kinderherzens, die ihm endlich beschert ward?

Was aber soll sie mit einem alten Mann? Runzeln und Glatze bleiben, wenn die Jahre auch verwischt werden.

Bedeutet ihr Lächeln etwas anderes als Dankbarkeit und Kameradschaft?

Er prüft ihren Blick und ihre Stimme, wiederholt ihre Worte und sucht in seiner Erinnerung, wie es war, wenn ein junges Weib liebte. War sie nicht scheu und hütete ihren Blick und ihre Worte?

Er mußte an Lisa denken, in der letzten, in der einzigen Nacht. Er erinnerte sich ihrer bebenden Feierlichkeit, als brächte sie ihrer Liebe ein Todesopfer, und er erinnerte sich des Zwanges, der über ihm selbst lag, und des Erstaunens und der Besorgnis hinterher. Sein Gemüt war unsicher und zersplittert, wie die Zeit und der Kreis, dem er angehörte.

Nichts von alledem war bei Gerda oder bei ihm zu spüren. Vor der Stunde der Hingabe aber konnte er sich über ihre Gefühle auch nicht klar werden, denn erst dann verrät eine Frau, ob sie nur mit dem Körper und den Sinnen liebt.

Auf eine Probe aber wagt er es nicht ankommen zu lassen. Er wagt nicht zu nehmen, denn wenn er sich irrt, wird es ihm als Schuld angerechnet werden.

Und durch Jugend, die nur in den Tag hineinlebt. kann er sich nicht entschuldigen, kann nicht sagen: ich wurde ins Meer hinausgeworfen und hatte nicht schwimmen gelernt, wußte nicht einmal, wie tief das Wasser ist.


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