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VIII.

Jetzt muß es sein, denkt Johan Lind. Er wagt es nicht länger aufzuschieben.

Die Frau des Weichenstellers erwartet, daß er sein Versprechen hält.

Er hat Jensens Liste genau studiert, ob nicht einer der vielen Namen ihm etwas sagen würde. Aber nein, sie waren nichts als große und kleine Buchstaben.

Da hat er bei sich gedacht: Ich fange mit den Vornehmsten an. Habe ich sie gewonnen, werden die anderen schon folgen.

Da sind zwei, Etatsrat Jakob und Finanzminister Daa.

»Ein Mann, der das Ruder Backbord legt, wenn Steuerbord kommandiert wird, ist rettungslos verloren. Denn wenn das Schiff im letzten Augenblick durch einen Zufall gerettet wird, gehört das Verdienst nicht ihm. Mag er zur Hölle fahren, wir können ihm nicht helfen.«

So werden beide antworten. Denn sie haben viele Leute unter sich und das Wohl des Landes ruht auf ihren Schultern. »Und waren Sie nicht selbst mit an Bord? Es ist dem Steuermann verboten, mit jemandem zu sprechen, wenn er am Ruder steht. Erledigt. Hier sind zwanzig Kronen für die Witwe – wollte sagen für die Frau! – Guten Tag, mein Herr, bitte der Nächste!«

So würde es gehen. Sie hatten ja das Pferd mit dem Todesreiter nicht gesehen, konnten sich nur an die Hand halten, die den Fehlgriff getan hatte.

Auf der Liste stehen auch eine Baronesse und ein Graf. Sie werden ihn mit Interesse anhören, werden bedauern und seufzen, werden den Weichensteller nicht zur Hölle schicken, obgleich sie selbst im Zuge waren, aber sie werden ihn für krank erklären; und einem kranken Mann kann man nicht das Amt eines Weichenstellers überlassen, – »das können Sie nicht von uns verlangen, guter Mann«.

Der Graf wird vielleicht durch seinen Gärtner der sterbenden Frau etwas Geflügel und Obst senden lassen, und die Baronesse einige Blumen für den bescheidenen Sarg. Mehr kann man nicht von ihnen verlangen.

Johann Lind ging die Liste durch, bis er zu dem Wechselmakler Adolf Massen kam. Hier machte er halt. Das war ein junger Mann und ein Spieler. Mit Verantwortung nahm der es nicht so genau.

Er hatte die Notbremse gezogen, hatte alle gerettet. War er nicht wie ein Vater und Aufrechterhalter geworden? Wenn die Hand nicht fehlgegriffen hätte, wäre er heute nichts weiter als Adolf Massen, ein Schieber, er würde dem armen Tropf, der ihm zu seiner hervorragenden Rolle verhelfen hatte, gewiß etwas gönnen.

Johan Lind rief in der Bredgade an, wo Herr Massen sein Kontor und seine Junggesellenwohnung hatte, und bekam von der Haushälterin den Bescheid, daß Herr Massen so beschäftigt sei, daß er für Privatangelegenheiten nur morgens von acht bis neun Uhr zu sprechen wäre.

Die Abende gehören natürlich seiner Freundin, dachte Johan Lind und erinnerte sich der schlanken, pelzgekleideten jungen Frau, die sich an Massens Arm klammerte, als er und seine Gesellschaft eiligen Schrittes den Bahnhof verließen.

Gerda und Johan Lind machen jeden Morgen einen Spaziergang.

Heute begleitet sie ihn durch die Stadt, er soll um acht Uhr bei Massen sein.

Neben dem großen Marktplatz liegt flimmernder Nebel. Vielleicht wird er zu Regen, vielleicht zum stillen Frost werden. Im Nebel bereitet sich alles vor. Wenn er sich lichtet, liegt das leuchtende Leben da.

Die Pflastersteine sind feucht von einem seltsam gelblichen Glanz; man muß sich hüten, daß man nicht ausgleitet, wenn man Vorübergehenden ausweicht.

Was soll er sagen? Wie wird es gehen?

So ist es immer gewesen. Niemals wagte er sich auf den Augenblick zu verlassen, darum hatte er ihm so häufig seine Gunst versagt. Das hätte ich sagen, das tun müssen – der Augenblick aber war verpaßt, und er spähte vergeblich, ob er nicht noch einmal wiederkehren würde.

Der Augenblick ist eine Rose am Wege. Du mußt sie pflücken, wenn du vorbeigehst. Kehrst du zurück, hat ein anderer sie vielleicht genommen, die Blätter verdecken sie, oder der Besitzer ist gekommen und steht breit vor seiner Hecke.

In jener Nacht aber, als das Getöse erklang, da war er dem Augenblick gefolgt: er war so groß gewesen, daß er ihm den Atem benommen hatte.

Darum geht er jetzt hier, – mit ihr zur Seite: darum will er zu Wechselmakler Massen, den er gar nicht kennt, um ihm Worte zu sagen, die ihm selbst noch nicht bewußt sind. Merkwürdig, seit der Augenblick ihm einmal am Nacken gepackt hat, ist es, als ob er ihn gar nicht wieder loslassen will. Beständig ist er über ihm; und er sagt: Hier bin ich – folge mir. Er meint, daß er lebendiger, jünger, ja, viel jünger geworden ist.

Einst hatte er es so eilig, reiste viel und sah sich in der Welt um. Weiß er aber, was er nicht zu sehen bekommen hat? Vielleicht das Wichtigste von allem. Das Eigentliche, – das wirkliche Gesicht der Dinge.

Wer kennt den Tag, ohne die Stunden zu kennen? Wer lebt die Stunden, ohne die Minuten gelebt zu haben? Nicht die Schnur ist des Ansehens wert, sondern die Perlen, die darauf gezogen sind und sie verdecken.

Er will nicht überlegen, was er sagen soll. Mag es gehen, wie es kann und muß.

Hörte er nicht Musik in der Luft?

Es sind die Spatzen in den großen, kahlen Bäumen hinter dem Gitter der Heiligengeist-Kirche. Sie sitzen über dem Nebel und zwitschern von all' dem, was sie von dem Leben wissen.

»Hören Sie nur!« sagt Gerda und greift nach seinem Arm.

Sie bleiben stehen und lauschen. Die Straße ist fast menschenleer am zeitigen Morgen. Der Nebel ist auf den kahlen Aesten zu Nässe geworden. Wenn der muntere Chor dort oben, für den das Leben ein ewiger Morgen ist, mit den Flügeln schlägt, tropfen zarte Tränen auf den Fußsteig.

»Sieh die Kirche!« sagt er.

Diese Kirche hat er von jeher geliebt. Aus fernen Ländern hat er ihr manchen wehmütigen Gedanken gesandt. Sie steht dicht an der großen Landstraße, wo das Leben vorbeihastet. Seit Jahrhunderten hat sie dort gestanden und mit ihren hohen Fenstern auf die flüchtigen Augenblicke herabgeblickt. Die Stadt hat ihren Kopf gegen ihre stummen Mauern gelehnt, sich an ihrer Brust ausgeweint. Und die Kirche hat alles im treuen Herzen bewahrt. Seht, wie sie von Erinnerungen bebt im zunehmenden Morgenlicht, – hört, wie sie mit ihrem sanften Grün tröstet!

Sie hat sich Patina zugelegt, hat die Farbe der Hoffnung bekommen. Was singen die schlanken Türme den kranken Gemütern vor, was summen sie zur Begleitung des Spatzenchores? Es ist das ewige alte Lied des Trostes: Einst kommt der Tag!

Er erinnerte sich eines Traumes, den er vor vielen Jahren gehabt hatte.

Es war Abendandacht gewesen. Er stand noch und lauschte den verhallenden Orgeltönen. Da hörte er, wie der Kirchendiener mit den Schlüsseln rasselte und wie die letzte Tür ins Schloß fiel. Er war ganz allein.

Aus den hohen Fensterbogen hinter der Emporenkirche starrte das Dämmerlicht auf ihn herab. Er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Da erklangen Schritte durch das Mittelschiff, leichte, schwebende Schritte. Er folgte dem Laut, konnte aber niemanden sehen. Es muß doch jemand hier sein, dachte er, und beeilte sich. Die Schritte zogen ihn, zum Chor hinauf und zum Turm. Eine Tür wurde geöffnet und die Schritte stiegen in die Höhe. Im selben Augenblick wußte er, daß es eine Frau sei, die Frau, die er sein ganzes Leben lang gesucht hatte, die Frau aus seinem Kinderherzen, die die Menschen ihren guten Engel nennen, dachte er, und eilte hinter ihr her. Höher und höher stiegen sie, schließlich konnte er die grünen Türme unterscheiden, die sich von der herbstklaren Luft abhoben. Plötzlich aber verstummten die Schritte, die Stufen hörten auf. Die Abendluft berührte seine Stirn, er sah, wie eine weiße Gestalt sich um den Turm schwang und im Himmel verschwand. Er streckte die Arme aus und rief sie. Eine Stimme von oben sprach: Spring – spring mir nach! – Er aber wagte den Sprung nicht. Da erwachte er, in Schweiß gebadet.

Seltsam – an den Traum hatte er lange nicht gedacht. – War es diese Kirche gewesen? Er meinte bestimmt, daß es diese Türme waren, die er im Traum gesehen hatte. Der Traum war doch so lebendig gewesen, so wirklich, daß er noch jetzt, nach so vielen Jahren, die leichten, schwebenden Frauenschritte zu hören meinte.

Während sie vor der Kirche standen; kam ein Mann heraus und öffnete das große Tor an der Ecke.

Gerda war noch nie hinter dem Gitter gewesen. Der grüne Hof mit den alten, freundlichen Bäumen lockte sie; er erinnerte sie an die Stadt ihrer Kindheit. Sie wollte sehen, was auf der anderen Seite war.

»Wir wollen hineingehen,« sagte er.

Dabei erzählte er ihr, was die Kirche erlebt hatte. Von dem Kloster, das hier gelegen hatte, mit seinen Bogengängen und Brunnen. Von dem Heiligengeisthaus, das zuerst ein Krankenhaus für die Armen der Stadt gewesen war, dann ein Zuchthaus für die Verbrecher, dann eine Leichenkapelle für die Toten, und jetzt war es als Lesesaal und Volksbibliothek für die Lebenden zu neuem Leben erstanden.

»Was ist das für ein Denkmal?«

»Das ist ›der Tod und die Mutter‹. Das Denkmal ist zur Erinnerung an ein Findelkind-Hospital errichtet, das an dieser Stelle gelegen hat.«

Gerda stand lange davor, den Kopf gesenkt.

Er blickte verstohlen auf ihre klaren Augen unter den leicht gerunzelten Brauen.

Sie denkt an das Kind, dem sie selbst vielleicht Leben geben soll. Und an ihn, der sie verlassen hat.

Dann aber nahm die Statue auch seine Gedanken gefangen.

»Es ist nicht so schlimm,« sagte er, »daß das Kind stirbt; denn die Mutter glaubt, daß es in gute Hut kommt. Schlimmer wäre es, wenn der Tod die Mutter entführte und das Kind allein und hilflos zurückbliebe. Das hätte als Andenken an ein Findelkind-Hospital vielleicht besser gepaßt.«

Gerda blickte aus ihren Gedanken auf. Hatte sie seine Worte gehört? Sie schritt mit gebeugtem Kopf vor ihm, wie an jenem Morgen im ersten Dämmerschein aus der Landstraße.

Als sie die Gittertür erreichten, drehte sie sich noch einmal nach dem Mann mit der Sense um.

»Wenn die Frau des Weichenstellers stirbt,« sagte sie, »wer soll sich dann des achten Kindes annehmen?«

Er hatte sofort die Antwort bereit.

»Du!« sagte er.

Sie blickte auf, glühend wie eine junge Mutter, die schmalen Wangen von heimlichen Gedanken gerötet. Dann eilte sie über den grünen Rasen zurück, ein munterer und geschäftiger kleiner Vogel.


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