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Die Fürstin Gallitzin und Overberg.

Während der ersten Zeit nach ihrer Aussöhnung mit der Kirche war der Fürstin nach ihren eigenen Worten zu Mute wie jemand, der »auf einmal aus einem anhaltenden großen Lärm in große Stille gerät«. Alle Sorgen und Wünsche ruhten, sie kannte nur noch das einzige Bestreben: nicht nur dem Namen nach, sondern auch durch jedes ihrer Worte und Werke eine wahre Christin zu sein. Allmählich jedoch beschlich sie die Furcht, daß sie, die doch schon so manche Selbsttäuschung erlebt hatte, vom rechten Wege abermals abirren könnte, wenn sie sich nur auf das eigene Gewissen verließe. »Ich fürchtete jetzt überall nichts mehr als mich selbst«, berichtet sie in ihren Aufzeichnungen, »in dieser Not erwachte das Verlangen nach Leitung.« Sie sehnte sich nach einem Seelenführer, dem sie volles Vertrauen schenken durfte, der sie durch kluge Ratschläge und liebevolle Zurechtweisung leiten und ihre bange Seele vor dem bösen Feinde behüten sollte. Als der einzige, dem sie dieses Recht mit Freuden übertragen, dem sie von Herzen gern unbedingten Gehorsam gelobt hätte, erschien ihr ein Mann, von dem sie einst bewundernd ausgerufen hatte: »Gott hat ihn zum Magneten unter die Unmündigen und Säuglinge seiner Kirche gesetzt!« Dieser Mann war Bernhard Overberg, dessen Namen das Münsterland als den seines größten Wohltäters neben Fürstenberg nennt.

siehe Bildunterschrift

Bernhard Overberg.
Nach einem Gemälde von Meyboom

Als Sohn eines armen, mit seiner Ware das Land durchziehenden Krämers war Overberg am 1. Mai 1754 im Dorfe Voltlage im Osnabrückschen geboren. Trotz zarter Gesundheit mußte er schon früh mit Hand anlegen im Haushalt der Eltern, zumal er für das Lernen wenig Begabung zu haben schien: acht ABC-Bücher waren schon verbraucht, und noch immer konnte der kleine Bernhard nicht lesen. Und doch war es sein heißer Wunsch, Priester zu werden. Während er die Herde des Vaters hütete, träumte er nur davon, wie er dereinst im heimatlichen Dorfe Pfarrer sein werde, und Tag für Tag bat er Gott voll kindlichen Vertrauens, er möge es doch so einrichten, daß sein Wunsch in Erfüllung gehe. Und siehe da, das Lernen wurde ihm leichter und leichter, und bald machte er so gute Fortschritte, daß die Eltern beschlossen, ihn studieren zu lassen. Unter mancherlei Schwierigkeiten, die nur durch den rastlosen Fleiß des jungen Studenten bewältigt werden konnten, kam dieser Entschluß zur Ausführung, und am 20. Dezember 1779 wurde Overberg zum Priester geweiht. Er erhielt eine Stelle als Kaplan in Everswinkel, die ihn trotz ihrer geringen Besoldung völlig befriedigte, weil sie ihm Gelegenheit gab, sich dem Unterrichte der Jugend zu widmen. Denn selten wohl hat es einen so großen Kinderfreund gegeben wie ihn, und selten hat einer es so gut verstanden, mit den Kleinen umzugehen, sie zu lehren und zu leiten. Im Umgang mit ihnen fühlte er sich als »Bewahrer eines Schatzes, den unser Heiland sich durch sein Blut erwarb, und der tausendmal köstlicher ist als alle Schätze der Erde zusammen«, als »Geleitsmann und Reisegefährte vieler jungen, unerfahrenen und unbesonnenen Pilger zu ihrem Vaterlande, dem himmlischen Jerusalem«.

Als Freiherr von Fürstenberg sich nach einem geeigneten Leiter für die von ihm geplante Normalschule umsah, richtete sich seine Aufmerksamkeit auf Overberg. Er überzeugte sich durch Anhören einer Religionsstunde von der vortrefflichen Unterrichtsmethode des jungen Kaplans und forderte ihn dann auf, sich an die Spitze der neuen Anstalt zu stellen. Overberg folgte der Berufung nur zagend und nach mancherlei Einwendungen; in seiner Bescheidenheit hielt er sich für ganz unfähig, ein so verantwortungsvolles Amt auszufüllen. Doch die Zukunft zeigte, daß Fürstenberg mit dieser Wahl keinen Mißgriff getan hatte: aus Overbergs Bemühungen um das Volksschulwesen erblühte dem Münsterlande reicher Segen. Schon seine Persönlichkeit an und für sich wirkte veredelnd auf seine Schüler wie auf jeden, der mit ihm in nähere Berührung kam. Die liebevolle Hingabe an seinen Beruf, die Milde und Güte seines Herzens, die Zartheit seines Gemütes, kurz, sein ganzes, von tiefster Frömmigkeit durchleuchtetes, schlicht-freundliches Wesen konnte auf niemand ohne Eindruck bleiben.

Fürstin Amalie war durch Fürstenberg auf den edeln Mann aufmerksam gemacht worden; sie hatte die Religionsstunden besucht, die er an Sonntagnachmittagen in der Kirche des sogenannten französischen Klosters armen Kindern erteilte und zu denen sich auch viele Erwachsene einfanden; er war es gewesen, der ihr während ihrer großen Krankheit die Trostmittel der Kirche angeboten hatte, bei ihm hatte sie schließlich ihre Lebensbeichte abgelegt, und er hatte ihr auch seither als Beichtvater helfend und ratend beigestanden. Als nun der Wunsch nach noch festerer Seelenführung in ihr erwacht war, schrieb sie an Overberg einen ausführlichen Brief (am 10. Januar 1789), worin sie ihm von ihrem Streben, sich nach Maßgabe ihrer Kräfte Gott ganz darzubringen, erzählte, um dann fortzufahren: »Ich kenne aber dieses Maß meiner Kräfte und mich selbst überhaupt zu wenig, um ohne Führer auf diesem Wege richtig und ruhig wandeln zu können, und bin jetzt überzeugt, daß Gehorsam und Unterwerfung meiner Einsicht der einzige Weg der Beruhigung und Heiligung für meinen wankelmütigen, oft so unsichern Geist ist ... Ich fühle jetzt, daß ich eines geistlichen Freundes und Vaters, im eigentlichsten Sinne, wie Franz von Sales es meint, bedarf, dem ich nicht allein meine Sünden beichten, sondern dem ich mein ganzes Herz öffnen, das Gute sowohl als das Böse darin frei zur Beurteilung und Aufsicht aufzuheben geben, von dem ich zu meinem Wandel Verhaltungsbefehle mir holen, und der aus christlichem Eifer, ungeachtet meiner Unliebenswürdigkeit, genug mich lieben könne, um auch außer der Beichte und unaufgefordert, wie Väter mit ihren Kindern zu tun pflegen, mich zu beobachten, zu prüfen, zu strafen, zu trösten, zu ermahnen, kurz, für meine Seele wie für die seinige zu sorgen. – Diesen Mann voll Salbung und Liebe, der schon lange, indem er mir in seiner Sanftmut und heiligen Einfalt die rührendsten Seiten meines Heilandes lebhaft darstellt, der überhaupt den Bedürfnissen meines Herzens zu entsprechen scheint, habe ich gefunden. Nicht meinem Gefühl und meiner Neigung allein traute ich in dieser wichtigen Wahl dessen, dem ich meinen Willen abzutreten entschlossen bin; ich habe gebetet, gewartet und wieder gebetet und immer denselben Mann im Grunde meiner Seele wiedergefunden.« Es bleibe nur noch die Frage, ob dieser Mann die Sorge für ihre Seele übernehmen wolle, und diese Frage könne nur er, Overberg, beantworten. Seine Entscheidung wolle sie als ein Zeichen des göttlichen Willens aufnehmen. Sie schließt mit den Worten: »Ewig Ihre ehrfurchtsvolle Freundin, und so Gott will, stets gehorsames Kind – Amalie.«

Nach reiflicher Überlegung und Beratung mit einem verständigen Freunde erklärte Overberg sich bereit, den Wunsch der Fürstin zu erfüllen, und so wurde denn am 12. Januar 1789 ihr Bund mit dem »Vater«, wie sie Overberg fortan nannte, geschlossen, um bis an ihren Tod ungestört fortzubestehen. Overberg zog in das Haus der Fürstin und wurde von ihr und ihren Kindern mit der größten Ehrerbietung behandelt. Sie unternahm nichts Wichtiges, ohne sich zuvor mit ihm zu beraten, und war er anderer Ansicht als sie, so unterwarf sie sich gehorsam seinem Ausspruch. Sie gestand ihm alle ihre Fehler, betete mit ihm und holte sich bei ihm Trost in Leibes- und Seelennöten, Dr. Katerkamp, der viele Jahre Zeuge des innigen Freundschaftsbundes sein durfte, vergleicht ihn mit der Seelenfreundschaft zwischen dem hl. Franz von Sales und der hl. Johanna Franziska von Chantal, oder zwischen dem hl. Hieronymus und der hl. Paula. Und die Fürstin selbst sagt in ihrem Tagebuch vom 31. März 1791: »Die Harmonie zwischen Vater und mir ist jetzt so groß, daß, wenn ich an die große Hilfe, an den Trost und die Erleichterung denke, die mir dadurch zufließen, diese Reflexion jeden aufkeimenden Gedanken von Klagen über die übrigen Beschwernisse, die mich etwa drücken, sogleich zurückweist.«

Wenn Overberg erkrankte, so pflegte ihn die selbst so oft leidende Fürstin mit Hingebung und fühlte sich »gar nicht recht«, bis er wieder genesen war; als sie einmal beide zugleich krank gewesen waren, schrieb sie während der Rekonvaleszenz an den Grafen Stolberg: »Es ist possierlich, uns beide herumschleichen zu sehen, wie ich mit noch wankenden Füßen und vorwärtsgebeugtem Leibe dem baumlangen Vater, der ganz zur Seite gebeugt seine armen Füße des Schmerzes im Rückgrat wegen kaum nachschleppen kann, zur Stütze diene und wir in diesem Aufzuge einen großen Teil des Tages die Stube auf und ab spazieren, da ihm diese, obschon mühsame Bewegung wohltut.«

Durch Overberg wurde die Fürstin, die sich für alles interessierte, was ihn beschäftigte, auch zu tätiger Anteilnahme an seinen und Fürstenbergs Schulreformarbeiten angeregt. Viele seiner pädagogischen und theologischen Schriften entstanden ja während der Zeit seines Aufenthaltes in ihrem Hause, und daß sie an einigen derselben, vor allem an der vortrefflichen »Anweisung zum zweckmäßigen Schulunterricht für die Schullehrer im Hochstift Münster« (1793), mitgearbeitet hat, geht aus folgender Tagebuchstelle hervor: »Zu allen obengenannten Arbeiten liegt fürnehmlich noch die so sehr eilige fürs Schulmeisterbuch auf mir, mit welcher es mir so gehet, daß ich wieder in Ansehung der Weisheit Gottes meine innere Erziehung betreffend viel lerne: nämlich ein oder zwei Tage bin ich ganz unerwartet so reich an Gedanken darüber, daß ich Bücher voll schreiben könnte und meine größte Mühe in der Auswahl besteht, so daß mir starke Anfechtungen von Selbstwohlgefallen kommen, von denen ich sehnlichst Befreiung wünsche. Sogleich schickt Gott mir wieder einen langen Zwischenraum von solcher Dürre, daß ich im Schweiße meines Angesichts kaum Linien zusammenbuchstabiere und mir innerlich ist, als hätte ich über diesen Gegenstand nie nachgedacht.«

Auch auf andere Weise suchte sie den Freunden bei ihren Bestrebungen um die Umgestaltung des Schulwesens beizustehen: sie besuchte häufig die Schulen, hörte eine oder die andere Unterrichtsstunde sowie die öffentlichen Prüfungen mit an, sprach nachher offen aus, was ihr an der Unterrichtsmethode gefallen habe und was ihrer Meinung nach anders gemacht werden müsse, und half bei der Abfassung der einzelnen Grundsätze für die berühmt gewordene Volksschulverordnung vom Jahre 1801. Für Schul- und Erziehungszwecke war ihr kein Opfer an Zeit oder Geld zu schwer. Sie beschenkte die Bauernkinder mit Büchern, unterstützte arme Lehrerfamilien, von denen sie durch Overberg erfuhr, und suchte auch ihren Bekanntenkreis zu ähnlichen Handlungen anzuregen. Man kann getrost behaupten, daß die Münstersche Schulreform in mancher Hinsicht unvollkommen geblieben wäre, wenn die Fürstin nicht mit Rat und Tat an ihrer Durchführung mitgewirkt hätte.

Overberg begleitete die Fürstin auch auf den Reisen, die sie teils ihrer Gesundheit wegen, teils zum Besuche von Freunden unternahm. Überall flößte sein bescheidenes, kindlich-frommes Wesen Liebe und Bewunderung ein. Graf Friedrich Leopold zu Stolberg, in dessen gastfreiem Hause zu Eutin er mit der Fürstin und deren Kindern im Sommer 1793 einige Zeit weilte, nannte ihn »Väterchen« oder »lieber, teurer Freund« und sprach von ihm als von einem »herrlichen, apostolischen Mann«, dessen Antlitz »eines raffaelischen Apostels« wert wäre. Ähnlich schrieb die Gräfin Stolberg in einem Briefe über Overberg: »Er hat ein Apostelgesicht und würde Raffaels Pinsel zum Muster gedient haben, wenn er zu seiner Zeit gelebt hätte.« Overbergs Demut, Festigkeit im Glauben und opferfreudige Nächstenliebe erschienen dem gräflichen Paare der Nacheiferung ebenso würdig wie sein Ausharren im Gebet, dem Stolberg eine große, fürbittende Kraft zuschrieb. – Doch nicht die vornehme Welt allein sah in dem edlen Priester einen »Engel des Friedens und der Güte«: in noch höherem Grade war er das den Hilfsbedürftigen, den Verachteten und Gedemütigten. Ging er durch eine von armen Leuten bewohnte Straße, so drängten sich die Kinder zutraulich an ihn heran, die Frauen traten herzu, um einen Rat zu erbitten oder für bereits empfangene Wohltaten zu danken, und kehrte er in eines der bescheidenen Häuser ein, so hielten dessen Bewohner das für einen besondern Segen. Häufig begleitete Fürstin Amalie ihn auf seinen Gängen zu Armen und Kranken, und die milde, tröstende Art, in der er mit ihnen umging, erfüllte die Fürstin immer von neuem mit dem Bestreben, es ihm darin gleich zu tun. Overberg seinerseits äußerte oft, daß er sowohl in der Geistesbildung wie in der christlichen Vollkommenheit durch sie gefördert worden sei, und nannte sie seinen irdischen Schutzengel. Sie sei unter allen lebenden Menschen seinem Herzen am liebsten und am verehrungswürdigsten, heißt es in einem seiner Briefe an den Grafen Stolberg; »Gott erhalte sie! Sie ist wahrlich in unserer Zeit ein Kleinod, aber noch zu wenig gekannt von vielen, denen es nützlich sein könnte, sie zu kennen«. Und als die Fürstin gestorben war, schrieb er an die Gräfin Stolberg: »Sie war mir Tochter und Mutter und Schwester und Freundin!«

Im Jahre 1809 wurde Overberg zum Regens des Priesterseminars in Münster, 1816 zum Konsistorial- und Schulrat, 1823 zum Ehrendomherrn ernannt. Würden und Titel nahmen ihm nichts von seiner Demut und seinem Arbeitseifer. Er blieb unermüdlich tätig für das Wohl der ihm anvertrauten Seelen, fuhr fort, Kranken- und Armenbesuche zu machen, zu predigen, zu lehren, und fand neben den Pflichten, die die Seelsorge ihm auferlegte, noch Zeit, die vielen Briefe zu beantworten, die von nah und fern mit Bitten um Rat und Hilfe an ihn gerichtet wurden. Es gab Tage, an denen er vom Morgen bis zum Abend kaum ein ruhiges Viertelstündchen für sich hatte, denn zu all der Arbeit kamen oft noch zeitraubende Besuche; galt es doch z. B. bei den Dorfschullehrern des ganzen Landes für ein Versäumnis, in Münster gewesen zu sein, ohne Overberg gesprochen zu haben. Und keiner von ihnen wurde von seiner Tür gewiesen, keiner konnte darüber klagen, kalt oder ohne Interesse für das, was ihn zur Stadt geführt hatte, empfangen worden zu sein. – Overberg setzte sein arbeitsames Leben auch noch fort, als seine Körperkräfte infolge seines hohen Alters und eines überaus schmerzhaften Fußleidens zu sinken begannen. Im Herbst 1826 rüstete er sich wie alljährlich zur Abhaltung der Prüfung in der Normalschule, die er nun schon 43 Jahre hindurch geleitet hatte, als ihn nach kurzem Krankenlager ein sanfter Tod ereilte (9. November). Drei Tage darauf wurde seine irdische Hülle unter allgemeiner Beteiligung der Bevölkerung zu Grabe getragen. Seine Gebeine ruhen jetzt in der Liebfrauenkirche zu Münster, wo sie am 1. Mai 1904 beigesetzt wurden. Im Hofe des Priesterseminars aber wurde ihm zu Ehren ein Denkmal errichtet, ein Obelisk, geschmückt mit Overbergs Bildnis in Marmor Dieses Denkmal mußte beim Neubau des Seminars in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entfernt werden; das Marmorrelief befindet sich jetzt über dem Hauptportal des Seminars, auf dem Platze vor demselben aber steht seit 1897 ein neues Monument zum Gedächtnis Overbergs, ein Marmorstandbild auf hohem Sockel. dessen Inschrift »Gottesfurcht ist die beste Schule der Weisheit; Demut führt am sichersten zu Ehre (Spr 15,33)« die treffendste Erklärung dafür gibt, wie es möglich war, daß der bescheidene, schlichte Mann ein Wohltäter des ganzen Münsterlandes werden und das Reich Gottes durch Wort und Tat fördern konnte.

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