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Der Todesengel.

Im Wartezimmer des Arztes, an dem runden, mit Büchern und Zeitschriften bedeckten Tisch, saß ein kleines Mädchen von etwa sieben Jahren. Das zarte Gesichtchen, auf das der rote Seidenschirm der hohen Lampe einen rosigen Schimmer zauberte, war freundlich und sympathisch und machte den Eindruck, als sei die Kleine etwas Feineres, als ihre Kleidung vermuten ließ; aber die schwarze, abgetragene Jacke, darunter das verwaschene Kattunkleidchen, an dem die meisten Knöpfe fehlten, und vor allem die Schuhe sprachen nur zu deutlich von der Armut ihrer Trägerin: Kinder, deren Hände nicht schneeweiß gewaschen sind, deren Haare in ungekämmten Strähnen um das Köpfchen hängen, deren Augen mit altklugem Ernst oder mit unkindlicher Trauer in die Welt schauen, – kurz Kinder der Not und des Elends pflegen stets entweder zu große oder zu kleine Schuhe zu haben. In diesem Falle waren sie viel zu groß und schienen Lust zu haben, sich jeden Augenblick von den kleinen Füßen loszureißen, die unruhig hin und her schlenkerten. Immer wieder blickte das Mädchen ängstlich zur Tür, die zum Sprechzimmer des Doktors führte und hinter der leise Stimmen zu hören waren. Jetzt endlich tat sich diese Tür auf, der Doktor, ein junger, hochgewachsener Mann blickte ins Wartezimmer und machte dem Kinde ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Die Kleine sprang auf, eilte auf ihn zu und blieb dann stumm vor ihm stehen.

»Nun, Mädelchen, wo tut's denn weh?« fragte der Doktor freundlich, die vermeintliche Patientin aufmerksam betrachtend; die aber schüttelte nur schweigend den Kopf, während ein paar große Tränenperlen langsam über die blassen Bäckchen rollten. Das machte den Doktor ungeduldig.

»Warum weinst du denn gleich, Kind?« rief er ein wenig ärgerlich, »sag' doch lieber, was du von mir willst! Hast du Schmerzen? Oder ist vielleicht zu Hause jemand krank?«

»Ja, zu Hause,« flüsterte das Mädchen, schnell mit der schmutzigen Hand über die nassen Augen fahrend, »die Mutter.«

»So so! Wo wohnt ihr denn?«

»Weit, hinter der Lampenfabrik.«

»Also in der Mühlgasse; welche Nummer?«

»Nummer? – Mutter wohnt doch – wohnt doch – die Nummer weiß ich nicht, aber ich führ' Sie hin.«

Der Arzt sah auf die Uhr: halb sechs. Seine Sprechstunde war zu Ende, er konnte also gleich mit der Kleinen gehen. »Gut, ich komme,« sagte er, nach dem Pelzrock greifend. Über das Gesicht der Kleinen huschte es wie ein frohes Lächeln, rasch knöpfte sie die Jacke zu, zog das grauwollene Tuch, das ihr in den Nacken gerutscht war, über den Kopf und schlüpfte geschmeidig wie ein Kätzchen unter dem Arm des die Tür öffnenden Doktors aus dem Zimmer.

Draußen war es bitter kalt. Silbern glänzte das Mondlicht auf die Schneedecke, die unter den Füßen der Vorübergehenden und den leicht dahingleitenden Schlittenkufen laut knirschte und knisterte. Die Kleine lief, ohne sich umzublicken und zuweilen über ihre großen Schuhe stolpernd, so eilig vor dem Doktor her, daß er ihr kaum folgen konnte. »Nicht so schnell!« wollte er ihr zurufen, da fiel es ihm ein, daß sie von ihm die Heilung der kranken Mutter erwartete, und er beschleunigte seinen Schritt. Ein warmes Gefühl der Freude überkam ihn bei dem Gedanken, daß seine leidenden Mitmenschen sich an ihn wie an einen Retter und Tröster wenden durften und daß ihre Hoffnung auf seine Hilfe oft genug keine vergebliche gewesen war. Vielleicht konnte er auch heute wieder helfen ... Freilich, auf irdischen Lohn würde er diesmal wohl schwerlich rechnen können; seine kleine Führerin sah nicht danach aus, als könnten ihre Eltern mit klingender Münze für ärztlichen Rat danken.

Jetzt blieb die Kleine stehen – einen Augenblick nur. Ein verlangender Blick flog zu der hell erleuchteten Auslage des Konditorladens hin, an dem sie eben vorübergingen, dann lief sie wieder schnell weiter.

»Das arme Ding hat heute vielleicht nicht einmal was Rechtes gegessen,« fuhr es dem Doktor durch den Sinn, »ich sollte ihr eigentlich etwas kaufen.«

Aber es ging ihm mit diesem barmherzigen Gedanken, wie es uns Menschen in ähnlichen Fällen so oft geht: eine Art von Trägheit, von Energielosigkeit, vielleicht auch die uneingestandene Furcht, sich lächerlich zu machen, hinderten ihn, dem guten Einfall die Ausführung folgen zu lassen.

Sie eilten weiter. Die Straßen wurden immer einsamer und finsterer, die Häuser immer niedriger und armseliger, hohe Bretterzäune umgrenzten weite Bauplätze oder enge Höfe. An einem solchen Zaun machte die Kleine endlich Halt, und als der Doktor zu ihr trat, sah er, daß sie wieder weinte.

»Was ist denn, Kind? Frierst du so sehr?«

Sie drückte den Zipfel ihres Tuches an die zitternden Lippen und zeigte stumm auf ein Pförtchen im Zaun. Der Doktor begriff, daß sie an Ort und Stelle angelangt waren. Er öffnete das Pförtchen und folgte dem wieder voranhuschenden Kinde über den dunklen, verschneiten Hof, der zwischen zwei Häusern eingeengt einsam dalag und in dessen Hintergrunde ein paar trüb erleuchtete Fenster sichtbar wurden. Die Kleine verschwand in der Tür eines niedrigen Häuschens und gleich darauf trat dem Arzt eine alte, vergrämte, nachlässig gekleidete Frau entgegen, die ihn mit zitteriger Stimme bat, näher zu treten, indem sie eine zweite Tür aufstieß. Tabaksrauch und Petroleumdunst schlugen dem Doktor entgegen, als er die Schwelle überschritt. An dem unsauberen Holztisch, auf dem einige Flaschen und Gläser standen, saßen drei Männer und zwei Frauen, trinkend, rauchend, laut schwatzend und lachend. Auf des Doktors Gruß erhob sich einer der Männer, ein starker, finster blickender Bursche mit abgearbeiteten Fäusten, mit denen er dem Eintretenden einen Stuhl hinschob.

»Bitte Platz zu nehmen, Herr Doktor!« sprach er mit schwerer Zunge.

»Wo ist die Kranke?«

»Sie schläft jetzt, ja, sie schläft. Bitte nehmen Sie nur Platz!«

Des Doktors schneller Blick überflog die halbtrunkene Gesellschaft am Tische, die seine Gegenwart kaum zu bemerken schien, wandte sich angewidert von ihr ab und suchte die alte Frau; die hatte sich auf die Ofenbank zurückgezogen und brütete stumpfsinnig vor sich hin. Seine kleine Führerin aber stand an der Tür zum Nebenzimmer und blickte flehend zu ihm herüber. Kurz entschlossen schob er den angebotenen Stuhl beiseite und folgte der Kleinen, die Tür leise hinter sich schließend.

In einer dumpfen, engen Kammer ruhte die Kranke auf unordentlichem Lager; die neben dem Bett brennende Talgkerze warf ein unsicheres Licht auf das blasse Antlitz, dem bereits die untrüglichen Anzeichen des nahen Endes aufgedrückt waren. Das kleine Mädchen hatte sich am Fußende des Bettes niedergekauert und schluchzte leise in sich hinein.

Der Arzt faßte nach der Hand der Kranken. Da öffnete die Frau die fieberglänzenden Augen, blickte ihn mit seltsamem Lächeln an und flüsterte geheimnisvoll:

»Nicht! Nicht stören! Sonst fliegt er am Ende wieder fort. Sehen Sie dort, dort steht er – –«

Sie versuchte sich aufzurichten, und wies mit der abgemagerten Hand in eine Ecke.

»O wie er schön ist, der Engel des Todes! Vertreiben Sie ihn nicht, – ich hab' ja so lange schon auf ihn gewartet! Sehen Sie den Palmenzweig in seinen weißen Händen?«

Ein rohes Lachen schallte aus dem Nebenzimmer herüber und ließ die Kranke zusammenfahren; mit einem Wehlaut sank sie in die Kissen zurück, während ihr Kind weinend ihre Füße umklammerte.

Der Arzt legte die Hand beruhigend auf die schweißbedeckte Stirn der Sterbenden.

»Der Todesengel bleibt,« sprach er tröstend, »ich muß ihm weichen. Gott sei mit Ihnen!«

Dann schritt er schnell zur Tür hinaus. Ohne die lärmende Gesellschaft eines Blickes zu würdigen, trat er auf die alte Frau zu und sagte laut:

»Gehen Sie zu der Kranken, sie hat keine halbe Stunde mehr zu leben.«

Mit kurzem Kopfnicken verließ er das Gemach, in dem es plötzlich still geworden war. Zum ersten Male im Leben war er froh, zu spät gekommen zu sein, zum ersten Male räumte er kampflos einem Mächtigeren den Platz am Krankenlager. Und während er langsam über den knirschenden Schnee seinem Heime zuschritt, war es ihm, als schwebe eine Lichtgestalt vor ihm her: ein ernster, schöner Engel mit einem Palmenzweig in den Händen ...

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