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Durch Nacht und Schnee.

Der stille Wintertag ging zu Ende. Obgleich die Sonne selbst nicht sichtbar war, schien's doch, als brächen durch die nebelerfüllte Luft leuchtende Strahlen, die die Herzen der Menschen mit freudiger Unruhe erfüllten, – war heute doch Weihnachtsabend. Arbeit gab's an allen Ecken und Enden, und doch arbeiteten die Leute mit ungewöhnlichem Eifer und merklicher Freude. Ein jeder tat seine Schuldigkeit; allerorten wurde geputzt und gescheuert, als wollte man der feierlich zur Erde herniedersteigenden Weihnachtsnacht zeigen, wie gern man sie empfing.

Auch beim Prednerhofbauern war alles zum Empfange des Festes bereit. Die Männer hatten schon am Nachmittage die Arbeit eingestellt, den Pferden Futter vorgelegt, die Badestube geheizt und die staubigen Arbeitskleider in der Ablegekammer verwahrt, damit sie ihnen während der Feiertage nicht unter die Augen kämen. Die Bäuerin und die Mägde hatten zwar noch alle Hände voll zu tun: während die Mädchen Fußboden, Tische und Bänke scheuerten, hantierte die Frau am Backofen. Das Schwarzbrot lag schon fertig gebacken auf dem saubern Tische, und soeben wurde appetitliches Feingebäck aus dem Ofen gezogen.

An einem Ende des Tisches stand, mit dem Ordnen der Brote beschäftigt, eine alte Frau, klein und gebückt, mit gutmütigem, ein wenig kummervollem Ausdruck in dem runzeligen Gesicht. Durch die offene Tür sah man ins Nebenzimmer: dort stand ein etwa zehnjähriges Mädchen auf einem Stuhl und bemühte sich, die Fensterscheiben blitzblank zu putzen.«

Die alte Frau war die Mutter des Prednerbauern. Gar viel des Schweren und Traurigen hatte sie in ihrem Leben durchgemacht, viel Mühe und Arbeit lag hinter ihr. Jetzt freilich – jetzt trat im Prednerhof allüberall Wohlstand und Behaglichkeit zutage. Der größte Schmerz der Alten war, daß ihr seliger Mann die guten Tage nicht mehr erlebt hatte. Sein Tod war für sie ein harter Schlag gewesen. Schweres Herzeleid hatte ihr dann ihre Tochter bereitet, die gegen den Willen der Mutter einen leichtsinnigen, arbeitsunlustigen Mann geheiratet hatte. Sie war wenige Jahre nach der Hochzeit gestorben, ihre kleine Anna als Waise zurücklassend, und der Mann hatte dann das dreijährige Mädelchen hierher auf den Prednerhof gebracht und war auf und davon gegangen; es hieß, er sei in eine ganz andere Gegend gezogen und habe dort eine zweite Frau genommen.

Die Großmutter liebte und pflegte das kleine Annchen, wie sie einst deren Mutter geliebt und gepflegt hatte. Und das Kind war dankbar dafür und teilte alle seine Freuden und Leiden mit der »lieben, lieben Großmama«. Wie oft erinnerte Annchen die alte Frau an die verstorbene Tochter, der sie wie aus dem Gesicht geschnitten war. Wie oft flüsterte Großmutter vor sich hin: »Ganz, ganz mein Mariechen. Dieselben blauen Augen, dasselbe gerade Näschen, dieselben goldblonden Haare. Nichts, nichts fehlt an der Ähnlichkeit.«

Im letzten Herbst hatte Anna in die Schule müssen. Mit welch schwerem Herzen ließ Großmutter sie ziehen und mit welcher Sehnsucht erwartete sie sie des Samstags Da die Bauernhöfe in Kurland im Lande zerstreut liegen, können viele Kinder den Weg zur Schule nicht täglich machen und werden für die ganze Woche im Schulhause einquartiert.! Und jedesmal gab's einen so tränenreichen Abschied, als gälte es eine Trennung auf viele Jahre und nicht auf wenige Tage. Wenn dann endlich wieder der Samstagnachmittag kam, wich Großmütterchen nicht vom Fenster, bis ihr Liebling, ein weißes Bündelchen auf dem Rücken, aus dem Tannenwäldchen trat und lustig dem Hause zueilte.

Die alte Frau hatte für nichts anderes zu sorgen als für die Enkelin, denn den Haushalt besorgte ihre Schwiegertochter allein, die rüstige junge Bäuerin mit den blühenden Wangen und den dunklen Augen.

Langsam senkte sich die Dämmerung über das Land. Nun war alle Arbeit getan: die Stube war reingescheuert, der Fußboden mit feingeschnittenen Tannenzweiglein bestreut; der Tannenduft vermengte sich mit dem Geruch des frischen Gebäcks und gab dem warmen, gemütlichen Zimmer die richtige Weihnachtsstimmung.

Anna saß auf einem niedrigen Schemel und hielt den kleinen Edi auf dem Schoß. Das war das zweijährige Büblein der Bäuerin. Der Kleine wollte durchaus nicht still sitzen, spertelte mit Händen und Füßen und verlangte auf den Fußboden gelassen zu werden. Dort aber zerstachen die Tannennadeln seine weichen, weißen Füßchen und er weinte und schrie noch ärger. Es half nichts, daß Großmutter ihm ein Stückchen Weißbrot in die Hand gab und ihm zuredete: »Ach, das ist süß! ach, wie süß! Edi ist ein guter Junge, – er wird essen, nicht wahr?« – Endlich gelang es ihr, das Kind in die Wiege zu bringen und einzuschläfern, und nun war Anna befreit.

Nur dieses kleinen Schreihalses wegen mußte Anna zuweilen böse Worte von der Tante hören. Die Tante hatte ihren Jungen von ganzem Herzen lieb, und da schien es ihr manchmal, als gebe Anna nicht genug acht auf ihn. Sonst aber war sie gegen die Waise und die alte Großmutter nicht hart, wenn sie sich auch kühl und gleichgültig gegen beide verhielt. Übrigens hätte der Prednerbauer auch nie Zank und Streit in seinem Hause geduldet.

Zuweilen kam es natürlich vor, daß sich die Frau über die Mutter beklagte oder umgekehrt; dann sagte er in seiner ruhigen Art: »Laß das doch! Was sind das für Dummheiten!« Und wenn sie in strittigen Fällen seine Entscheidung verlangten, so rief er der einen wie der andern zu: »Ruhe!« Genügte das nicht, so wurde er ernstlich böse und sagte drohend: »Ich habe euch befohlen, ruhig zu sein!« Damit mußten die Streitenden sich zufrieden geben, und nur selten geschah es, daß der Bauer noch drohender wiederholen mußte: »Ich habe Ruhe befohlen!« – Er liebte sowohl seine Mutter als seine Frau und wollte daher weder dieser noch jener unrecht geben. So kam es sehr selten zu Uneinigkeiten in der Familie und niemals zu ernstlichen.

Die Prednerhofleute waren in ihren Sonntagskleidern aus der Badestube zurückgekommen, saßen nun auf der Ofenbank und warteten auf das Abendessen.

Was war das plötzlich für ein Ton? – Alle schwiegen und lauschten. – – Das Weihnachtsgeläut aus der fernen Kirche war's. Leise und sanft tönte es herüber, als käme es aus einer andern Welt, um den Menschen Friede, Freude und Gnade zu verkünden, und als segnete es alles rundumher: die schneebedeckten, stillen Fluren, die weißbeschneiten Dächer, den ernsten, dunklen Wald. Und ihm lauschten der verschneite Wald und die stillen Felder, ihm lauschten die Menschen, deren Herzen des irdischen Hastens und Jagens und Streitens müde waren und sich nach Ruhe und Frieden sehnten ...

Nun war das Abendessen vorüber. Alles rüstete sich zum Aufbruch. Die Knechte spannten die Pferde vor die Schlitten. Der Bauer und seine Frau setzten sich in den Einspänner, das Gesinde in den großen Schlitten. Niemand mochte daheim bleiben, einen jeden zog's in das hell erleuchtete, mit Tannen geschmückte Gotteshaus, um dort die alte und doch ewig neue Kunde zu vernehmen, daß der Heiland geboren, – der Heiland, des Menschen treuester, zuverlässigster Freund, vom Mutterschoß und der Wiege an, durch alle Stürme und dunklen Stunden des Lebens, durch Trübsalszeiten, auf dem Totenbett, bis ins stille Grab draußen auf dem Friedhof. Die Herzen sehnten sich nach den Weihnachtsliedern, die der trauernden Seele Erlösung und ewige Freude verkünden.

Auch Annas Herz war bewegt. Es schlug halb freudig, halb bang. Gern wäre sie mit in die Kirche gegangen, aber sie wagte nicht, davon zu sprechen, denn sie fühlte, daß man es ihr nicht erlauben würde; sogar die Großmutter würde dagegen sein, aus Angst, daß das Mädchen sich erkälten könnte. Und außer der kümmerte sich heute doch niemand um sie.

»Anna, paß mir hübsch auf Edi auf, und wenn er aufwacht, wieg' ihn wieder in Schlaf,« sprach die Tante zum Abschied.

Ein eigentümlich bitteres Gefühl stieg in Anna auf. Sie drückte sich in eine Sesselecke und horchte betrübt auf das Klingen der Schlittenschellen, das sich bald in der Ferne verlor. – –

Außer Großmutter und Anna war nur noch »der alte Matrose« daheim geblieben; das war ein ausgedienter Soldat, welcher statt des rechten Beines einen Stelzfuß hatte. Er konnte unendlich viel aus seinen Kriegsjahren erzählen. »Da war auf unserm Schiff« – so fingen seine Geschichten gewöhnlich an, – aber nur Gott allein weiß, wieviel Wahres dran war und was der Phantasie des Alten entsprungen. Doch wehe dem, der das auch nur mit einem halben Wort dem Invaliden zu verstehen gab. Er konnte das Mißtrauen nicht vertragen und wurde dann furchtbar böse. Aus der Art und Weise, wie er sprach, ließ sich seine Stimmung erkennen: war er guter Laune, so erzählte er ruhig, nicht besonders laut und nur in lettischer Sprache. Stieß er jedoch auf Zweifel und Spott, so wurde seine Stimme rauh und manch russisches Wort schlich sich in die Erzählung. Wurde er schließlich aufs äußerste gereizt, so sprang er auf, blickte den Spötter unbeschreiblich verächtlich an und fragte ihn streng und herausfordernd: »Wer bist du denn eigentlich?« Dann fuhr er halb lettisch, halb russisch fort: »Ich aber, ich bin ein Soldat des Zaren. Begreifst du, was das heißt? Ich war im Kriege. Wie kannst du zu behaupten wagen, daß ich Unsinn schwatze? Du bist noch nirgends anders gewesen als auf der Weide, wo du die Schweine gehütet hast. Du Dummkopf du!« Und nach so einem Vorfall war es nicht so leicht, die Freundschaft des alten Matrosen wieder zu erringen ...

Beim Verlassen der Stube hatte die Bäuerin die große Lampe ausgelöscht und nur ein kleines, zylinderloses Handlämpchen brennen lassen, das in der Gesindestube auf dem Tische stand und durch die geöffnete Tür auch das Nebenzimmer schwach beleuchtete. Man sah ein Stück der am Streckbalken befestigten Wiegenstange und das eine Ende der Wiege selbst. Großmutter machte sich bereit, zu Bett zu gehen, Anna aber sagte, sie habe noch keinen Schlaf.

»Dann setz' dich her zu mir auf den Rand meines Bettes, Mädelchen, bis du schläfrig wirst,« meinte Großmutter, »ich leg' mich nieder, meine alten Knochen sind müde.«

Sie streichelte das blonde Haar der Enkelin, legte sich zu Bett und sprach ein leises Gebet.

Der alte Matrose in der Gesindestube erhob sich von seinem Platz, etwas Unverständliches vor sich hinmurmelnd, und ging zum Tisch, um seine Pfeife an der Lampe anzuzünden. Während er sich damit abmühte, verlöschte die Lampe; ärgerlich brummend schnallte er nun seinen Holzfuß ab, lehnte ihn an das Kopfende seines Bettes und ging schlafen. Eine Weile sah man seine Pfeife gleich einem feurigen Auge aus der dunklen Ecke hervorglühen, dann wurde es ganz finster in den Zimmern.

Anna wurde traurig zumute. Leise verließ sie ihren Platz auf dem Bettrande und schlich zum Fenster. Es war Nacht. Ein sanftes Halbdunkel lag über Wald und Flur: wohin man blickte, lag Schnee, weißer, weicher Schnee, wie locker aufgeschüttete Wolle. Die Dächer der Häuser, die Zweige der Bäume, der Lattenzaun da vor dem Fenster – alles war mit dichter, weißer Schneedecke bedeckt. Nur an wenigen Stellen der Baumäste und des Zaunes sah man schwarze Flecken, – da war der Schnee nicht liegen geblieben. Hinter dem Hof breitete sich eine große weiße Fläche aus und dann kam der Wald. Dort wuchsen schlanke Birken, dunkle Tannen und Fichten. Und dort hatte Anna im vorigen Sommer die ersten reifen Erd- und Himbeeren gefunden. Es standen dort auch in ganzen Gruppen Pilze verschiedener Art; die hatte sie des Nachmittags gesammelt und zum Nachtmahl heimgebracht. Viele einsame Stunden hatte sie schon in der Waldesstille verlebt, sie kannte ihn gut, ihren lieben Wald.

Lange stand sie so da, das Gesicht an die Fensterscheibe gedrückt, und blickte in die Nacht hinaus. Manche Ereignisse aus der Vergangenheit kamen ihr in den Sinn. Auch ihrer verstorbenen Mutter erinnerte sie sich, wenn auch nur unklar und wie im Traume. Am deutlichsten hatte sich ihrem Gedächtnis der eine Tag eingeprägt, an dem das Haus voll fremder Menschen gewesen, die Mutter aber hatte in einem schwarzen Kasten gelegen und man hatte ein weißes Tuch über sie gebreitet. Anna hatte damals nicht begreifen können, warum die Mutter so unbeweglich dalag und auch dann nicht aufstand, als in der Stube laut gesungen und geweint wurde. Sie hatte dann auch zu weinen angefangen und nach der Mutter gerufen. Aber fremde Männer hatten den schwarzen Kasten hinausgetragen, auf einen Wagen gestellt und fortgeführt, und sie hatte die Mutter seither nie mehr gesehen. Wie oft hatte sie an jenen traurigen Tag zurückgedacht, wenn sie, auf die Herde achtgebend, allein am Waldrande gesessen.

Hinter dem Walde lag der Grabenhof, und neben Predners Weideplatz war im vergangenen Sommer ein Brachfeld des Nachbars gewesen. Dort hatte Anna oft Lieschen, das Hütermädchen vom Grabenhof, getroffen. Lieschen war ein schwächliches, mageres, blasses Dingelchen; Anna bedauerte sie oft im geheimen, ohne recht zu wissen, warum. Im Herbst war Lieschen dann auch in die Schule gekommen, aber nach wenigen Wochen war sie krank geworden und daheim geblieben. Eines Samstagabends war Anna in den Nachbarhof hinübergelaufen; damals hatte Lieschen wohl nicht im Bette gelegen, aber so bleich und schwach war sie gewesen. Vor kurzem hatte Anna aber gehört, daß sie jetzt gar nicht mehr aufstehe vor Schwäche.

Annas Herz wurde von unaussprechlichem Mitleid gequält. Was Lieschen jetzt wohl machte? Wahrscheinlich lag sie im Bett und jammerte vor Schmerzen. Wer weiß, – vielleicht erinnerte auch sie sich gerade jetzt der gemeinsam verlebten Tage. Wie war sie ihr doch damals um den Hals gefallen und hatte sie so lieb angeblickt mit traurigen, tränenfeuchten Augen, – dabei hatte das Gesichtchen froh gelächelt – – –.

Es fiel Anna schwer aufs Herz, daß sie die kleine Kranke schon seit geraumer Zeit nicht mehr besucht hatte, – die Arme hatte sie wohl schon lange, lange erwartet und immer vergebens. Nie noch war Anna sich so schlecht vorgekommen wie heute am Weihnachtsabend.

Plötzlich schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf ... Sie erschrak, atmete schneller und konnte nicht mehr ruhig stehen bleiben. »Wird's aber nicht Schelte setzen?« flüsterte sie vor sich hin. Aber der Gedanke, der ihre Aufregung hervorgerufen hatte, war so stark und lebendig, daß sie sich ihm nicht widersetzen konnte.

»Edi schläft – Großmutter auch – und auch der Matrose – die werden nichts merken – und wenn die andern aus der Kirche kommen, bin ich ja wieder da – natürlich – Und Lieschen wird sich so freuen! – Es ist ja nicht weit, nein, gar nicht weit.«

Noch einmal schaute sie mit großen Augen durchs Fenster in die Nacht hinaus, dann ging sie schnellen, leichten Schrittes ins Schlafzimmer zurück. Sie holte ihre Pasteln Pantoffelartige Schuhe aus gelbem Rohleder, die mit einer Schnur an den Fuß gebunden werden. unterm Bett hervor und suchte ihre Strümpfe auf, die hinterm Ofen auf einer Schnur hingen, dann näherte sie sich vorsichtig dem kleinen Schrank, der am Kopfende des Bettes an der Wand stand, und machte die Tür auf. Das verursachte einiges Geräusch und Anna blieb erschreckt, den Atem anhaltend, stehen, als hätte sie ein Unrecht begangen, und blickte zur Großmutter hinüber. Die schlief ruhig wie bisher, in ihre große wollene Decke gehüllt; Anna hörte ihren langsamen, ruhigen Atem. Auch Edi schlief fest; eines seiner Händchen lag unbeweglich auf dem Wiegenrande. Anna nahm ein kleines Päckchen aus dem Schrank und ging wieder in die große Stube. Dort setzte sie sich auf einen Fußschemel und zog Strümpfe und Schuhe an. So vorsichtig sie dabei auch zu Werke ging, man hörte durch die stille Stube, wie die Pastelschnur angezogen wurde, wie das Leder knirschte, und ihr erschien der Lärm unheimlich laut. Nun wollte sie hinausgehen, – da fiel ihr ein, daß sie vergessen hatte, ihr Umlegetuch zu nehmen. Das mußte sie haben, denn in ihrem dünnen Jäckchen würde sie frieren. So ging sie denn nochmals ins Schlafzimmer zurück, und diesmal war das leise Gehen schon schwerer; die Pasteln knarrten, so vorsichtig sie auch auftrat. Jetzt hatte sie das Tuch und wollte eben weiterschleichen, als ihr noch etwas einfiel: dort auf dem Schränkchen lag ja noch das Weißbrot, das die Tante ihr gegeben hatte, damit Großmutter und sie etwas zum Essen hätten. Sie nahm es herunter und barg es mit dem Päckchen, das sie vorhin aus dem Schrank geholt hatte, unter dem Tuch. Und nun hinaus! In der Dunkelheit stieß sie an einen Stuhl und erschrak heftig über den Lärm. Edi rührte sich und zog sein Händchen vom Wiegenrande zurück. Die Wiegenstange geriet in Bewegung und quietschte leise; auch Großmutter wurde unruhig, erwachte aber nicht. Anna schlich weiter. Ihr war so heiß und das Herz pochte so laut, daß sie selbst es hören konnte. Doch weiter, weiter, nur hinaus! Als sie schon die Türklinke in der Hand hatte, fing die Wanduhr zu schlagen an. Anna hielt wieder still und wartete. Wie schrecklich langsam die Uhr heute schlug: Und so viele Schläge! Wieviel es eigentlich waren, wußte sie nicht. Und wie hell und laut das klang. Es dröhnte förmlich in den Ohren. Sie stand wie festgenagelt und lauschte mit vorgestrecktem Köpfchen, auch als längst nichts anderes mehr zu hören war als ein gleichmäßiges Ticktack. Endlich wagte sie es, die Klinke hinabzudrücken, – und nun war sie draußen.

Die Winterkälte umfing sie, doch das empfand sie nur angenehm. Sie strich sich mit der Hand über das Haar, wickelte sich fest in das große Tuch und schritt frisch drauf los. Noch einmal blieb sie stehen, sah durchs Fenster in die dunkle Wohnung, horchte angestrengt, – alles blieb still und finster. Also vorwärts!

Der Schnee war weich und ballte sich unter den Füßen. Nachdem Anna eine Strecke über den eingefahrenen Weg gegangen war, mußte sie links abbiegen, um auf den Fußpfad zu geraten, der ihr so wohlbekannt war; aber heute war er so verschneit, daß sie beim ersten Schritt bis an das Knie in den Schnee sank. Doch sie machte sich nichts daraus und stapfte mutig weiter. Bald war der Waldrand erreicht. Dort war der Schnee vom Winde zusammengeweht und noch tiefer als auf dem Felde, so daß sie nur mühsam vorwärts kam. Die dunklen Tannen rauschten hohl und unheimlich. Aber Anna kannte dieses Rauschen und fürchtete sich nicht. Zuhause hatte sie noch geglaubt, sie würde sich ängstigen, so allein in der Nacht, – jetzt aber war ihr ganz wohl zumute. Mancher Busch und manches Tannenbäumchen sah zwar seltsam genug im dämmerigen Schneelicht aus, fast wie ein Ungeheuer; dann blieb Anna mit klopfendem Herzen stehen und sah sich das Ding genau an, wagte ein paar Schritte – und erkannte in dem unheimlichen Wesen einen Strauch, der nichts Absonderliches an sich hatte und nur jetzt in der Nacht anders aussah, als wie sie ihn kannte.

Da war der Weg, der schnurgerade durch den Wald führte. Sie blickte hinein: weit und breit kein Schlitten, kein Fußgänger, keine Spur zu sehen, nur die Birken, Tannen und Fichten standen ernst da und begleiteten den Weg, bis er in der Tiefe des Waldes und der Finsternis verschwand. Wie ein Schatten huschte Anna am Waldrande weiter. Jetzt ging's wieder über Feld und Wiese. Der Schnee lag hier gleichmäßiger und das Vorwärtskommen war nicht gar so schwer. Zuweilen schaute sie sich um, als fürchte sie einen Verfolger, bemerkte aber nicht das geringste auf der weiten, matt leuchtenden Schneefläche. Es galt noch eine mit Gesträuch bewachsene Ebene und ein Stück Weideland zu durchschreiten, dann mußte der Grabenhof erreicht sein.

Bisher war das Wetter still und heiter gewesen und nur ein leichter Windhauch hatte hier und da die Tannen zum Rauschen gebracht. Plötzlich aber erhob sich heftiger Wind, die Nacht wurde noch dunkler, es fing in großen Flocken zu schneien an, und bald war ein böses Schneetreiben im Gange. Zum erstenmal während ihrer Wanderung bekam Anna Angst. Sie konnte nur wenige Schritt weit vor sich sehen. Der Sturm heulte im niedrigen Ellerngestrüpp und sauste in den Tannen; aus dem großen Walde, der gar nicht mehr zu sehen war, obgleich er ganz in der Nähe sein mußte, tönte unheimliches Brausen und Rauschen. Anna blieb stehen und schaute sich nach allen Seiten um. Große, nasse Schneeflocken bedeckten ihr Gesicht. Was sollte sie jetzt anfangen?

Sie überlegte, ob sie nicht umkehren sollte. Wenn die Großmutter am Ende erwacht ist und sie vermißt hat, was dann? Jetzt erst begriff sie, wie unrecht es war, daß sie sich heimlich entfernt hatte. Weinend machte sie einige Schritte nach Hause zu, aber der Sturm griff sie mit so grimmigen Stößen an, daß sie sich kaum auf den Füßen halten konnte. Solange sie durch den tiefen Schnee gewatet war, hatte sie nichts von Kälte gespürt, jetzt aber zitterte sie vor Frost. Die nackten, vom Schnee fast wundgeriebenen Knie brannten und schmerzten. Was anfangen, ach Gott, was anfangen?

Da war's ihr, als sehe sie wieder Lieschens blasses, mageres Gesicht vor sich, und sich besinnend griff sie nach den Geschenken, die sie unter dem Tuch an ihre Brust gedrückt trug; sie waren noch da. – Nein, nicht zurück! Alles wird gut gehen. Und das Tuch fester um die Schultern ziehend, schritt sie mit neuem Mut vorwärts. Sie kam glücklich über den Weideplatz, obgleich der Schnee dort recht tief lag, und sah plötzlich ganz in der Nähe ein Licht aufblitzen. Nun war ihr wieder leicht ums Herz. – – –

Auf dem Grabenhof gab es zwei Wohnhäuser: in dem neuen steinernen Gebäude wohnte der Bauer mit seiner Familie, das kleine, alte Holzhäuschen hatte er vermietet. Dort hauste in einem engen, armseligen Stübchen der Knecht Seehart mit seiner Frau und dem kranken Lieschen, ihrem einzigen Kinde. In dem kleinen, dumpfen Zimmer, dessen Wände ungestrichen und dessen Decke schwarz beräuchert war, stand am Fenster ein einfacher Tisch, auf dem ein Stück bröseligen Gerstenbrotes lag und ein Blechlämpchen stand, das den armseligen Raum nur schwach beleuchtete. Im Herd glühten ein paar Kohlen. Die Luft war schwer und wie mit feuchtem Erdgeruch getränkt.

Eine hagere, blasse Frau in mittlern Jahren kauerte auf einem Holzschemel in der Nähe des Herdes, den Kopf auf die Hand gestützt. An der Wand stand ein zerwühltes Bett, auf dem einige Kleidungsstücke durcheinander lagen, und dort ganz in der Ecke tauchte aus dem Halbdunkel ein Kinderbettchen auf; ein kleiner, schmächtiger Körper lag unter der verblichenen grünen Decke.

Jetzt erhob die Frau den Kopf und ließ die Blicke durch das ärmliche Zimmer schweifen. Überall Armut und Elend. Und dort auf den Lumpen schlief ihr Kind, abgezehrt wie ein Leichnam. – Ihre Lippen verzogen sich schmerzlich und sie barg das Gesicht in den Händen. Wie sollte das werden? – Sie fand keine Antwort auf diese Frage. Nur schwere, bange Seufzer entrangen sich ihrer Brust.

Die kleine Kranke rührte sich und stieß ein leises Wimmern aus. Die Frau erhob sich und trat an das Bettchen. »Nun, mein Mädelchen, bist du erwacht? Du hast ein bißchen geschlafen – nach all den quälenden Fieberträumen –«

»Trinken, Mamming,« flüsterte Lieschen.

Die Mutter hielt ihr ein Blechgefäß mit lauwarmem Wasser an die trockenen Lippen.

»Heut ist also Weihnachtsabend?« fragte die Kranke leise, indem sie sich wieder ausstreckte.

»Jawohl, mein Kindchen, der Geburtstag des Heilands.«

»Darum, Mamming, sah ich auch – ich werd' dir erzählen, was ich sah.« Sie blickte traumverloren vor sich hin und flüsterte: »Ja – wir waren im Walde – rundum große, grüne Tannen – du warst da – und der Vater – und ich – ja, und die Predner Anna auch – große, grüne Tannen – und der eine Baum war von oben bis unten mit Lichtchen besteckt – einige brannten weiß, einige blau, einige rot – wunderschön war's, Mamming, – und unten war Schnee – weiß und weich wie Wolle – Anna und ich liefen barfuß durch den Wald und tanzten um den schönen Tannenbaum – wir alle waren barfuß, aber es war nicht ein bißchen kalt – ja, Mamming –«

»Mein Mädelchen, du wirst eben wieder phantasiert haben,« meinte die Mutter traurig, aber Lieschen beharrte:

»Nein, nein, ich hab's doch ganz deutlich gesehen. Wir warteten auf den Heiland – er muß gleich kommen – jawohl, wir warteten auf ihn – und weit – irgendwo anders – da läuteten die Glocken – dort war er schon hingekommen – wir wollten zu singen anfangen – aber was war dann weiter, Mamming? Ich weiß nichts mehr.«

»Du bist dann aufgewacht, mein Kind, und der Traum war zu Ende.«

»Aber es tut mir so leid, daß ich den lieben Heiland nicht gesehen hab'.«

»Er wird noch kommen, Lieselchen, er wird dich wieder gesund machen, oder – er wird dich – mit in den Himmel nehmen! Wirst du ihm folgen, Liesing?«

»Ja, Mamming, ich will zu ihm, hier ist's so traurig! – du und der Vater, ihr tut mir wohl leid –«

Ihr Flüstern wurde leiser und unverständlicher und sie schlummerte wieder ein. Die Mutter trocknete ihr tränenüberströmtes Gesicht, setzte sich am Fußende des Bettchens nieder und blickte traurig auf die abgezehrte kleine Gestalt.

Da faßte jemand von außen nach der Türklinke.

»Wahrscheinlich der Vater –« dachte die Frau und wandte den Kopf nach der Tür. Wie erstaunte sie aber, als sie ein kleines, ganz weiß beschneites Mädchen eintreten sah, das schüchtern guten Abend wünschte.

»Das ist ja die Predner Anna! Ach lieber Himmel!«

»Ich wollte Lieschen besuchen, – wie geht es ihr?«

»Aber Dingchen, bei dem schlechten Wetter!«

Geschäftig nahm die Frau dem kleinen Gast das schneenasse Tuch ab. Die Kranke war erwacht und richtete sich mühsam im Bettchen auf; mit weitgeöffneten Augen starrte sie auf die Freundin, die sie nicht gleich zu erkennen schien. Plötzlich strahlte eine große Freude in dem blassen Gesichtchen auf und sie rief leise: »Anning!«

Anna eilte an das Krankenlager. Wie sah Lieschen doch so fremd, so sonderbar aus! Und so mager, – wirklich nur Haut und Knochen! Das Gesicht so langgereckt und von weißgrauer Farbe, und die Augen so groß und weit, und jetzt strahlten sie in eigentümlichem Glanze.

Anna umarmte und küßte die Freundin und legte ihr die mitgebrachten Geschenke aufs Bett: das Weißbrot und ein Paar weiß und blau gestreifter Strümpfe.

»Das ist für dich, Liesing, zu Weihnachten, – ich hatte sonst nichts,« flüsterte Anna verlegen.

Die Kranke umarmte Anna nochmals und küßte sie herzlich mit ihren schmalen, fieberheißen Lippen, dann sank sie kraftlos zurück.

»Sie ist ja so schwach, Anning,« erklärte die Mutter, »liegt nun schon fünf Wochen wie ein Stück Holz da. Vorige Nacht glaubten wir, der liebe Gott werde sie endlich zu sich nehmen, – sie hat sich so gequält. Aber es war wohl noch nicht die Zeit gekommen, die Gott bestimmt hat. Die Füßchen waren zwar schon ganz kalt, – gegen Morgen aber erholte sie sich wieder ein bißchen – –«

Die Geschenke lagen unbeachtet auf der Decke, Lieschen aber hielt Annas Hand mit ihren magern Fingerchen umklammert und wandte die großen, glänzenden Augen nicht von ihr.

Die Mutter fragte, ob die Prednerhofleute zur Kirche gefahren seien.

Jawohl, der Onkel und die Tante und auch die andern waren fort.

»Aber wissen sie denn auch, Kind, daß du hier bist?«

Anna schlug die Augen nieder, wurde sehr rot und schwieg.

»Und was macht die Großmutter? Ist sie auch in der Kirche?«

»Nein, – sie schläft.«

»So weiß auch sie nicht, daß du fortgegangen bist?«

Anna senkte den Kopf noch tiefer.

»Ach, Kindchen, wenn das nur gut ausgeht! Wenn du nur nicht Schelte kriegst, daß du hergekommen bist und gar was mitgebracht hast! Anning, Anning, du hättest doch fragen sollen!«

Die Kranke zog Anna ganz zu sich herab und flüsterte ihr zu:

»Die Strümpfe kann ich nicht nehmen, – die Tante wird dich schelten –«

Anna schüttelte eifrig den Kopf.

»O nein, das kann sie nicht, denn die Wolle hat Großmutter mir gegeben und ich selbst hab' die Strümpfe gestrickt. Ich hab' noch Wolle genug zu Hause. Und Großmutter schilt nicht, die ist so gut! Behalt's nur! – Mir tut's nur so leid, daß – daß ich der Großmutter nichts gesagt hab'.«

Lieschen beruhigte sich; die Augen fielen ihr vor Mattigkeit zu. Anna erhob sich, drückte einen Kuß auf den Mund der kleinen Freundin und machte sich zum Gehen bereit, denn das Herz zog sie heim zur Großmutter. Lieschens Mutter wickelte sie wieder in das Umlegetuch und fragte bekümmert, wie sie bei dem schlechten Wetter nach Hause kommen werde. Auch Anna selbst dachte beklommenen Herzens an den schweren Heimgang, meinte aber tapfer, es gebe da nichts zu fürchten, sie kenne den Weg, und das Wetter sei gar nicht so arg. Vor dem Hinausgehen blickte sie nochmals zu Lieschen hinüber, die zu schlafen schien. »Wie eine Tote,« fuhr es Anna durch den Sinn.

Es hatte aufgehört zu schneien, nur einzelne Flocken wirbelten noch durch die Luft. Anna schritt schnell vorwärts; sie fror und ihr wurde immer beklommener zumute. Wenn Großmutter nun erwacht war, was mußte sie dann denken? Sie würde suchen und rufen – ach Gott, ach Gott! und am Ende waren die andern auch schon aus der Kirche zurück. Ach, warum hatte sie das alles nicht früher überlegt? – Schlimm, schlimm stand die Sache.

Wenn sie vor Müdigkeit umzufallen fürchtete, blieb sie ein Weilchen stehen, schöpfte Atem und watete dann wieder weiter durch den tiefen Schnee, das kleine Herz voller Sorge und Unruhe.

Ihrer Berechnung nach mußte nun bald der Fußweg kommen, – aber was war das? Die Gegend erschien ihr plötzlich ganz fremd. Wo kam dieser Hügel her und daneben die Niederung?

»Verirrt!« fuhr es Anna durch den Kopf und es überlief sie heiß. Ringsum war es so finster, daß sie sich nicht zurechtfinden konnte; ihre Kräfte waren vollkommen erschöpft. Je weiter sie sich schleppte, um so unbekannter erschien ihr der Weg und um so unglücklicher fühlte sie sich in der einsamen, dunklen Nacht. Neben ihr rauschte der Wald, – sollte sie sich in ihn hineinwagen? Lag der Prednerhof jenseits? oder links? rechts? vor oder hinter ihr? – Bis an die Knie im Schnee steckend, atemlos vor Angst und Ermüdung sank sie zu Boden. Ach, wie herrlich wär's, wenn man nicht weiter müßte! Ihre Augen schlossen sich gegen ihren Willen, Hände und Füße erstarrten – –. Wie im Traum sah sie Liesels blasses Gesichtchen wieder – – »Wahrscheinlich wird Lieschen sterben – dann wird man sie begraben und auf den Hügel wird eine dicke Schicht Schnee fallen – und sie wird dort unten liegen – weiß, matt schlafend –.«

Jetzt schien's Anna, als umfinge sie jemand mit eisigen Armen; sie erschauerte am ganzen Körper, hatte aber nicht die Kraft, diese kalten Arme abzuschütteln, sie konnte keinen Finger rühren. Auf einmal war auch die Erinnerung an jenen Tag wieder da, an dem sie die Mutter im Sarge gesehen hatte – –. Waren's vielleicht die Arme der Mutter, die sich um sie legten?

Ein Schneeklumpen, der sich von dem Tannenast über ihr losgelöst hatte, fiel auf Annas gesenktes Köpfchen. Sie erschrak so, daß sie an allen Gliedern zitterte, sprang auf und wanderte, alle Kraft zusammenraffend, weiter. Als sie die Waldecke erreicht hatte, erkannte sie die Gegend: es war ja ihr altbekannter Prednerwald, den sie jedoch von rechts statt von links umgangen hatte. Die Dunkelheit und ihre Angst hatten sie irregeführt. Da war auch der Fußweg – und nun ging's im Trabe dem Hause zu. Auf dem kleinen Hügel, von dem aus man den Bauernhof sehen konnte, blieb sie stehen und schrie auf, – ihr Herzschlag stockte, – denn – es fiel ein Lichtschein aus dem Fenster. Die Großmutter war also erwacht.

Zitternd stand Anna jetzt vor der Tür, ohne den Mut zu finden, sie zu öffnen. Drinnen wurde gesprochen. Ja, das war Großmutters Stimme. Schluchzend sagte sie eben:

»Edi weinte – davon wurde ich wach – schau' mich nach Anning um, ob sie schläft. Ich fühl' mit der Hand hinüber, – das Bettchen ist leer. Ich denke mir: sie wird auf der Ofenbank eingenickt sein, – ich ruf', – keine Antwort. Ach, da ahnte mir schon nichts Gutes. Ich mache Licht, – nirgends. Nun begreif' ich nichts, zieh' mich, an allen Gliedern zitternd, an, geh' vor die Tür, – keine Spur. Es schneit in ganzen Klumpen. Wenn der Kleine nicht da wär', würd' ich zum Nachbarn laufen, – aber der Edi schreit. Ach Gottchen, ach liebes Gottchen, mein Anning!«

»Wirklich merkwürdig, wo sie nur geblieben sein kann?« sprach dann eine andere Stimme, die dem Knechtsweibe gehörte, »sie wird irgendeinen Gang gemacht haben.«

»Ich hab' allerlei Schreckliches gedacht: ob sie nicht an den Brunnen gegangen ist? Aber nein, der Deckel ist geschlossen und dick beschneit. Sie war schon vorhin so seltsam, als ihr alle zur Kirche fortfuhret, – ich sah wohl, daß sie gern mitgefahren wäre, aber wer hätte sie denn mitnehmen sollen? Und ich selbst dachte auch: sie erkältet sich am Ende und kriegt wieder Husten.«

»Na, so wird sie wahrscheinlich zur Kirche gelaufen sein.«

»Dann ist sie erfroren! hat sich verirrt und ist erfroren! Sie hat ja so wenig an. Ach Gottchen, wenn nur Johann endlich einmal käme!« Und Großmutter schluchzte laut.

Onkel und Tante waren also noch nicht daheim, das wußte Anna jetzt. Großmutters Weinen schnitt ihr ins Herz; sie riß die Tür auf, stürzte ins Zimmer und fiel der Alten um den Hals. »Großing, schilt mich nicht! liebes Großing, verzeih'!«

Die Großmutter zitterte vor freudiger Überraschung, dachte aber nicht ans Schelten. Sie preßte das Mädel an sich und neue Tränen flossen aus den lieben, guten Augen und über die runzeligen Wangen. Sorglich half sie Anna beim Auskleiden, während diese leise von ihrem Gang berichtete und wie Lieschen schwach und elend sei und wie sie sich über Annas Besuch und die Geschenke gefreut habe. Aber von den Mühsalen ihres Weges sagte sie keine Silbe, damit die Großmutter sich nicht noch mehr aufregte.

»Das alles ist ja nichts Böses, mein Kindchen,« sagte Großmutter endlich, »Kranke besuchen sollen wir ja, das hat uns der Heiland selbst geboten, – aber du hättest mir sagen sollen, daß du hingehen willst. Ich hätte es dir jetzt nicht erlaubt, aber morgen früh wärst du dann hinübergelaufen. Was wär' nun gewesen, wenn du dich verirrt hättest und nicht mehr heimgekommen wärst? Ach Gottchen, was hätte ich dann angefangen? Nein, das war nicht recht, Kindchen.«

Sie legte das Mädchen ins Bett und deckte es warm zu, setzte sich auf den Bettrand und streichelte zärtlich Annas feuchtes Blondhaar. Dann versank sie in Gedanken, während ein mildes Lächeln ihr welkes Gesicht erhellte. Sie hörte nicht mehr, was der alte Matrose und das Knechtsweib im Nebenzimmer noch sprachen.

Anna lag unter der warmen Decke und reckte in wohligem Behagen die frosterstarrten Glieder. Ihr war so leicht und so heiß ums Herzchen. Sie blickte die Großmutter an und bekam unbezwingliche Lust, das liebe, alte Gesicht zu küssen. Sie sprang auf, schlang die Arme um »Großing« und bedeckte die runzeligen Wangen mit heißen Küssen.

Glückselig lachend schalt die Alte: »Aber Mädchen! – Du mußt schlafen, du bist müde!« Und sie deckte das Kind wieder sorglich zu.

Anna war noch wach, als der Bauer und die Bäuerin heimkehrten. Als Predner das Kind im Bette sah, schlug er die Hände zusammen und rief vorwurfsvoll: »Du jammerst, wir sollen heimkommen, das Mädel sei spurlos verschwunden, – und da liegt's im Bett!«

Als nämlich die Knechte aus der Kirche heimgekehrt waren und Großmutters Angst und Sorge gesehen hatten, war einer von ihnen sofort umgekehrt und zum Gutshof gefahren, wo der Bauer und seine Frau bei einem Verwandten, dem Gemeindeschreiber, Weihnachten feiern wollten. Der Knecht hatte gemeint, es wäre gewiß ein Unglück geschehen, sie sollten doch lieber gleich heimkommen.

Daher war der Bauer jetzt so ärgerlich. Und die Bäuerin erst!

»Ich hab's ja immer gesagt, daß sie ihren Kopf für sich hat,« schalt sie, »einen Menschen so zu erschrecken! Seht mal an, sie muß ihre Freundin besuchen, jetzt in der Nacht!«

Großmutter suchte sie zu beruhigen und wollte ein gutes Wort für Anna einlegen, aber die junge Bäuerin ereiferte sich immer mehr.

»Ruhe!« gebot da der Prednerbauer, »wollt ihr in der Weihnachtsnacht Streit anfangen?«

Vielleicht sah er ein, daß Anna ihr Weihnachtsfest nicht gar so schlecht eingeleitet hatte. Und ganz unerwartet mischte sich nun auch der alte Matrose ein:

»Nicht schelten!« befahl er in russischer Sprache und im Kommandotone und fügte lettisch hinzu: »Gutes Herz hat sie, – alle Menschen sollten so eins haben. Gut so!«

Der Streit war zu Ende und bald lag im Prednerhof alles in tiefstem Schlaf.

In Seeharts dumpfe Stube aber wollte die Ruhe nicht einkehren. Sobald die Kranke erwacht war, hatte sie die Mutter gefragt: »Ist Anna fort?«

»Ja, mein Kindchen,« antwortete die Mutter und gab Lieschen die Arznei, die der Vater inzwischen aus der Apotheke gebracht hatte.

Die Kleine streichelte die Strümpfe, die Anna ihr geschenkt, und ließ es nicht zu, daß die Mutter sie fortnähme. Die Freude über das Geschenk leuchtete aus dem magern Gesichtchen. Die Mutter schnitt ihr von dem Weißbrot ab und redete ihr zu, zu essen. Lieschen nahm das Stück in ihre durchsichtigen, blutleeren Hände, aß aber nicht. Bald begann sie sich wieder unruhig im Bette hin und herzuwälzen. Die Wangen erglühten fieberhaft und die glänzenden Augen wurden noch größer. Sie fing zu phantasieren an, – von der grünen Tanne, die bis zum Wipfel mit bunten Lichtlein besteckt sei, und vom reinen, weichen Schnee, – dann rief sie die Mutter zu sich heran und erzählte ihr eifrig allerhand verworrene Geschichten.

Voller Herzeleid sahen die Eltern den Todeskampf ihres Lieblings an. Die Mutter stand wie ein grauer Schatten neben dem Bettchen und ihre Lippen bebten. In Seeharts kranker Brust fing es zu röcheln an und er ging hinaus, um sich draußen auszuhusten.

Allmählich wurde das sterbende Kind so schwach, daß es keinen Finger rühren konnte. Es flüsterte der Mutter noch etwas zu – und entschlummerte auf ewig.

Die Mutter drückte ihrem Liebling die Augen zu, dann brach sie an dem armseligen Lager zusammen und bedeckte das tränenfeuchte Gesicht mit den Händen. Der Vater stand, den Kopf an die Wand gelehnt, und preßte eine Hand an die schmerzende Brust.

»Reisestrümpfchen,« flüsterte die Mutter, indem sie Annas Geschenk vom Bett nahm, »Strümpfchen für die Himmelsreise – hat sie dir gebracht – mein Kindchen!«

Lieschen schlief ihren geheimnisvollen Schlaf und es war, als wenn die schmalen Lippen lächelten.

Ja, die Tote lächelte, – als erzählte sie dem Heiland eben von einem warmen kleinen Herzen hier auf der verschneiten, frosterstarrten Erde ...

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