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Kinderwahl in Rosenhagen.

Warum der Ort Rosenhagen hieß, wußte niemand, denn es gab weit und breit in den versandeten, verwahrlosten Gärten, die sich hinter den niedrigen, armseligen Häuschen hinzogen, keinen einzigen Rosenstock. Was hätten auch die Bewohner des weltentlegenen Ortes mit Rosen anfangen sollen? Fehlte es ihnen doch an viel nötigeren Dingen und vor allem an dem, womit alles übrige zu beschaffen gewesen wäre, am Gelde. Die Leute, die beim Kaufmann hie und da einmal einen Zehner wechseln ließen, waren an den Fingern herzuzählen; die anderen waren schon froh, wenn sie ihren Bedarf an Waren kopekenweise erstehen konnten, ohne immer wieder »aufschreiben« zu lassen.

Da kam der alte Graf, dem die benachbarten Ländereien gehörten, auf die Idee, einen Teil seines Waldes zu verkaufen, und zwar an einen reichen Fabrikanten aus der Stadt, der hier ein Sägewerk errichten wollte. Wenige Wochen darauf herrschte am Waldrande rege Tätigkeit; Bäume wurden gefällt, Balken behauen, Ziegel und Steine angeführt, weitläufige Gebäude schienen förmlich aus der Erde aufzuwachsen, und bevor der Winter ins Land zog, war das Sägewerk auch schon im Gange. Nun waren die Rosenhagener aus der ärgsten Not heraus: die Fabrik brauchte Arbeiter, und wer tüchtig war, brachte des Samstags ein hübsches Sümmchen heim. Freilich, in vielen Hütten und Häuschen blieb trotzdem Schmalhans Küchenmeister, besonders dort, wo gar zu viele hungrige Kindermäulchen zu stopfen waren. Und an Kindern herrschte in Rosenhagen wahrhaftig kein Mangel! In allen Altersstufen und in allen Graden von Unsauberkeit und Verwahrlosung trieben sie sich auf der staubigen Straße umher, während Vater und Mutter in der Fabrik beschäftigt waren.

Ja, schmutzig, häßlich und unartig waren die kleinen Rosenhagener, und dennoch ruhte der Blick der jungen Frau Fabriksdirektor Burger mit so seltsam zärtlichem, wehmütigem und fast neidischem Ausdruck auf jedem einzelnen der kleinen Blond- oder Schwarzköpfe, wenn sie durch den Ort schritt. Die Frau Fabriksdirektor wohnte draußen in der Nähe des Sägewerkes in einer schönen neuen Villa, und in ihrem kunstvoll angelegten Garten erblühten bald nach ihrem Einzuge sogar wirkliche, duftende Rosen, die sich, wie es schien, die Aufgabe gestellt hatten, durch besonders reichen Blütenschmuck dem Namen des Ortes endlich Ehre zu machen.

Die junge Frau stand manchmal sinnend vor den Rosenbüschen oder sie wandelte langsam über die kiesbedeckten Wege des stillen Gartens – immer allein, denn der Mann hatte den ganzen Tag im Fabriksbureau zu tun, und Kinder hatte sie nicht. Nie war sie sich ihrer Einsamkeit so deutlich bewußt geworden wie hier in Rosenhagen, wo sie vielleicht die einzige kinderlose Frau des ganzen Ortes war, und manch liebes Mal fand der heimkehrende Direktor seine junge Frau mit verweinten Augen und einem sehnsüchtigen Zug um den einst so lachenden Mund. Das konnte er auf die Dauer nicht ertragen, und eines schönen Sommertages flog die Kunde durch den Ort, die Frau Direktor wolle ein kleines Mädchen adoptieren, und alle Mütter, die bereit wären, von ihrem Kinderreichtum der einsamen Frau gegen klingenden Dank etwas abzugeben, sollten sich mit ihren Kleinen am nächsten Sonntag in der Villa einfinden.

Diese Nachricht rief in manchem armen Mutterherzen großen Zwiespalt hervor: schwer hatte man es ja mit den Kindern, das war schon wahr, und oft wußte man wirklich weder aus noch ein vor Ärger und Sorge und Arbeit, aber – – sein leibliches Kind hergeben, selbst wenn es lange nicht das einzige war, das ging doch auch nicht so ohne weiters! Anderseits wieder, – wenn dadurch vielleicht der ganzen Familie geholfen werden sollte, wenn alle Not mit einem Schlage ein Ende nehmen konnte, – denn knausern würde die Frau Direktor nicht, das wußte man, und gut würde so ein Kleines es bei ihr schon haben, gut und warm und immer satt zu essen!

Am nächsten Sonntag erschienen zur festgesetzten Stunde im Flur der Villa etwa ein Dutzend Arbeiterfrauen; jede von ihnen hatte ein Kind auf dem Arm oder an der Hand, einzelne hatten sogar ihren gesamten Nachwuchs mitgenommen, um der gnädigen Frau möglichst große Auswahl zu bieten. Ein wenig verlegen trat Frau Burger zu den Wartenden, sprach ein paar freundliche Worte und ließ dabei neugierig ihre Blicke über die kleine Schar gleiten.

»Eines von diesen Kindern soll das meine werden,« dachte sie erregt, »o lieber Herrgott, laß mich die richtige Wahl treffen!«

Kränklich und verwahrlost sahen die kleinen Dinger alle aus, obgleich die Mütter ihr Möglichstes getan hatten, um sie in vorteilhaftem Lichte erscheinen zu lassen. Die Frau Direktor schritt von einem Kinde zum andern, streichelte die struppigen oder sorgfältig eingeölten Haare, fragte die Mütter nach diesem und jenem und wurde immer unschlüssiger und hilfloser. Wenn doch wenigstens ihr Mann mit dabei gewesen wäre, aber der hatte darauf bestanden, daß sie ganz selbständig entscheide, und nur versprochen, auf jeden Fall mit ihrer Wahl zufrieden zu sein. Prüfenden Blickes stand sie jetzt vor einem hübschen kleinen Mädchen, das von der Mutter mit staunenswerter Beredsamkeit als brav und klug und gesund angepriesen wurde; da ward die Tür hastig aufgerissen und in den Flur trat ein hagerer, blasser Mann, dem zwei Knaben von drei oder vier Jahren folgten. Die versammelten Frauen blickten erstaunt auf.

»Was will denn der hier?« fragte eine von ihnen ärgerlich und eine andere fügte höhnisch hinzu: »Der Zuchthäusler!«

Der Mann schien den Ruf nicht gehört zu haben; er eilte auf Frau Burger zu, schob ihr seine zwei Buben entgegen und bat zitternd vor Erregung:

»Gnädige Frau, erbarmen Sie sich und nehmen Sie diese zwei!«

Die Dame trat fast erschreckt ein paar Schritte zurück.

»Ich will doch nur ein Kind haben – und – ein kleines Mädchen soll's sein, kein Bube,« sprach sie verwundert.

»Ich weiß, gnädige Frau, aber ich hab' gehofft, Sie würden Mitleid haben –« antwortete der Mann, ohne auf das drohende Murren der ihn umdrängenden Weiber zu achten; »sehen Sie – ich – vor einer Woche bin ich aus der Stadt heimgekommen –«

»Aus dem Gefängnis!« schrie eine der Frauen.

»Ja – aus dem Gefängnis – wegen einer blutigen Rauferei bin ich drin gesessen, gnädige Frau, gemordet oder gestohlen hab' ich nie, das weiß jeder im Ort. Und wie ich heimgekommen bin, ist mein Weib auf den Tod krank im Bett gelegen und – vorgestern hab' ich's auf den Friedhof hinaustragen müssen ...«

Der Mann schluckte ein paarmal, sah die Frau Direktor flehend an und sprach leise weiter: »Daher hab' ich mir gedacht, daß die gnädige Frau vielleicht – Ich will kein Geld, mir ist's nur wegen der Buben! Ich muß fort von hier, denn hier freut mich das Leben nimmer – und da müßten die Buben halt ins Waisenhaus – und sind noch so klein – und so brav!«

Wieder schob er die Knaben der Frau Direktor entgegen, die diesmal nicht zurückwich, sondern nachdenklich in die ernsten, blassen Gesichtchen sah. In ihrem Herzen regte sich ein warmes Gefühl, das ihr beim Anblick der anderen Kinder fern geblieben war, und zögernd meinte sie:

»Wenn's keine Buben wären – und dann gar zwei! Ich könnte doch nur einen von ihnen –«

»Gnädige Frau,« fiel ihr der Mann schnell ins Wort, »die beiden sind Zwillinge und waren noch nie im Leben auf eine Stunde getrennt – und – – sie haben keine Mutter!« Leise und bebend kam es über seine Lippen und die Augen in dem traurigen Gesichte baten und baten ...

Einen kurzen Augenblick schwankte die Frau Direktor noch, dann schlang sie die Arme um das Zwillingspärchen und sprach unter Tränen lächelnd:

»So will ich ihre Mutter sein und sie sollen auch fernerhin nicht getrennt werden!« – – –

Die Kinderwahl war beendet, der Ärger der zurückgewiesenen Mütter durch ein Geschenk und einige Tassen guten Kaffees besänftigt; in der Küche schwatzte die Wirtschafterin noch mit den abschiednehmenden Weibern, im Garten aber tollte die Frau Direktor mit ihren beiden neuen Söhnen um die Rosenbeete und über die Kieswege; der sehnsüchtige Zug war aus ihrem Antlitze verschwunden, die Augen lachten und leuchteten, und plötzlich zog sie die beiden Bübchen an sich, herzte und küßte sie und flüsterte zärtlich:

»Froh und glücklich sollt ihr bei mir sein und gute, brave Menschen sollt ihr werden, – dazu helfe mir Gott!«

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