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Der Tag des Gerichtes.

Schmatzend zupften die Kühe das beregnete Gras. Peter saß auf einer Anhöhe am Rande des Fichtenwäldchens und nicht weit von ihm lag Hektor, den Kopf auf die nassen Vorderpfoten gelegt. Hektor war schläfrig. Das dichte schwarze Fell auf seinem Rücken war voll glänzender Regentropfen. Peter sah zu Hektor hinüber und lächelte über dessen Verschlafenheit. Ihn selbst schläferte gar nicht, – und das war sehr gut. »Es darf ja nicht sein!« dachte er bei sich, »das könnte schlimm ausgehen, wie neulich bei Karl aus dem benachbarten Bauernhof. Wenn man schläfrig wird, schläft man auch ein, – und das Vieh geht dann ins Getreide! Dann ist der Verdienst des ganzen Sommers futsch. Und dann das furchtbare Erwachen! – Nein, nein, ein Hirt darf der Schläfrigkeit nicht nachgeben. Hektor – na ja, das ist was anderes.«

Peter war ein kleines, schwächliches Bürschchen und sein blasses Gesicht ließ auf eine kürzlich überstandene Krankheit schließen. Die hellen, langen Haare hingen in Büscheln auf den Rockkragen herab. Die Augen aber blickten groß und klar in die Welt und gaben dem Knabengesicht so etwas Verständiges, Nachdenkliches.

Jetzt schaute Peter zu den Wolken hinauf, die langsam gen Osten schwammen, bald ordentlich in Reihe und Glied, bald bunt durcheinander. Sie gleiten und gleiten, ferner und ferner, – man weiß nicht, woher, – man weiß nicht, wohin?

»Woraus die Wolken wohl bestehen?« fragte sich Peter; »weich scheinen sie zu sein, so daß man sie kneten, auseinanderdrücken könnte. Aber wie sich diese Klumpen nur dort oben in der Luft halten können? Wie kommt's, daß sie nicht herunterfallen? Die kleinen, weißen Wölkchen, die zuweilen zu sehen sind und die so leicht sein müssen wie Wattestückchen, nun gut! Aber diese großen, dunklen, schweren Wolken, die eben an der Sonne vorüberziehen, wie können die sich dort oben halten? Das ist gar nicht zu verstehen! – Jürgen sagt, die Wolken seien nichts anders als Dampf. Kann wohl sein. Aber doch seltsam, daß sie so in Stücken dort hängen. In der Volksschule könnte man das alles wahrscheinlich genau erfahren – –«

»Hektor, sollen wir nicht frühstücken?« – Hektor hob den Kopf auch jetzt noch nicht, aber er bewegte den Schwanz einige Male lebhaft hin und her.

»Ach, du verstehst ganz gut, du Schlauberger!« sagte Peter lachend, »sieh, wie dein Schwanz wackelt!«

Er schnallte seinen Schultersack ab und entnahm ihm Brot und Butter. Hektor erhob sich nun auch, setzte sich vor seinem Herrn hin und schaute ihm aufmerksam zu. Sie frühstückten miteinander. Es kam noch ein großer gehörnter Schafbock dazu, dem Peter ebenfalls einige Bissen überließ. Die Wirtin hatte es so befohlen: er sollte dem »Gehörnten« die Brotrinde überlassen, damit dessen Fleisch schmackhafter werde; im Herbst sollte er ja entweder daheim geschlachtet oder zur Stadt geführt und für ein gutes Stück Geld verkauft werden.

Zwischen Hektor und dem Schafbock bestand eine immerwährende Feindschaft, die sich manchmal in Taten äußerte. Am häufigsten geschah dies, wenn der Bock so ohne jede Einladung zum Frühstück erschien.

Das Frühstück war verzehrt und die unausbleibliche Schlacht zwischen den beiden Gegnern beendet. Peter brachte, über die Kriegführenden lachend, die Überreste in Sicherheit und steckte sein Messer wieder ein. Dies Messer war noch so gut wie neu; der Großvater hatte es ihm gekauft, daher mußte es nach Peters Ansicht ganz besonders sorgfältig aufbewahrt werden. Indem er das Messer einsteckte, kam ihm in der Tasche etwas Hartes zwischen die Finger. Was war das nur? – Ach so, das war ja das Geldstück, das ihm gestern ein Besuch des Wirtes geschenkt, weil er das Pferd getränkt hatte. Er zog das Geld hervor und betrachtete es: jawohl, fünf Kopeken. »Zum andern legen!« entschied Peter. Schon gestern abend hatte er das tun wollen und war in die Ablegekammer gegangen, die sich hinter der Wohnstube befand. Aber als er aus der Tasche seines Sonntagsrockes die kleine runde Sparbüchse genommen hatte, in der er sein Vermögen aufbewahrte, hatte ihn die Wirtin zu einer dringenden Arbeit abberufen. Er hatte die Sparbüchse aufs Fenster gelegt und dort war sie dann geblieben.

Im vorigen Jahr um diese Zeit hatte er noch keinen Groschen sein eigen genannt, aber jetzt besaß er schon, wenn er alles zusammenrechnete, 93 Kopeken. Er hatte erst seit vorigem Jahr zu sparen angefangen, seit es ihm der Großvater angeraten hatte. Wenn man etwas erspart hat, kann man sich auch mal was Gutes kaufen, – nicht immer nur Brezeln! Der Großvater selbst hatte ihm als erstes gleich 20 Kopeken auf einmal geschenkt und auch die Sparbüchse, die er am Wegrande gefunden hatte und auf der ein schönes Bildchen klebte: ein kleiner Junge in blauen Hosen und ein kleines Mädchen in rotem Röckchen, und um sie her waren Blumen – oder auch Roggenähren, man konnte das nicht recht unterscheiden.

Ja, der Großvater! Der war doch eigentlich wie ein leiblicher Vater zu ihm. Der Vater war schon vor drei Jahren gestorben. Die Mutter wäre mit Peter und einem kleinen Mädelchen ganz ohne Schutz in der Welt geblieben, wenn der Großvater nicht gewesen wäre. Der half allen, teils mit gutem Rat, teils auf andere Weise. Er kam auch oft auf den Bauernhof, auf dem Peter als Hirtenbub angestellt war, – viel öfter als die Mutter; nun ja, die war durch die Kleine sehr in Anspruch genommen. Der Großvater war gut, das fühlte Peter in der Tiefe seines Herzens. Und wenn er zu Besuch kam, so setzte sich der Knabe dicht neben dem Alten hin und streichelte seine weißen Haare, deren Spitzen sich stets nach oben bogen. Es waren frohe und liebe Stunden, wenn der Großvater da war!

Also dem Rate des Großvaters folgend, hatte Peter eine Summe zusammengespart, die ihm sehr groß erschien. Er kannte auch jedes einzelne seiner Geldstücke und erinnerte sich, wie er zu einem jeden gekommen war. Am meisten gefiel ihm das Zwanzigkopekenstück, das der Großvater ihm geschenkt hatte und das so eigentümliche Einschnitte am Rande zeigte. Lena, die Magd, sagte, das wäre eine alte Münze, und forderte ihn zum Tausche auf; aber Peter ließ sich auf so was nicht ein: das Geldstück kam vom Großvater, und wer weiß, ob's nicht großen Wert hatte, denn warum sollte Lena es sonst haben wollen? – Außer dieser Münze lagen in der Sparbüchse noch zwei andere Zwanzigkopekenstücke, und im übrigen lauter Kupfergeld.

Peter hatte schon oft darüber nachgedacht, was er für das ersparte Geld kaufen sollte. Es gab mancherlei Dinge, die seiner Meinung nach des Anschaffens wert waren. Am häufigsten kam ihm ein Buch in den Sinn, aber natürlich nur eins mit Bildern! Einmal hatte er eins gesehen, in dem alle Vögel und Tiere, die es nur auf Erden gibt, abgebildet waren, und ebenso auch Menschen. So ein Buch wär' wohl nicht schlecht ... Dann ein andres, das ihm auch sehr gefallen hatte, – das hatte vom Kriege gehandelt. Da war zu sehen gewesen, wie Soldaten mit der Flinte in der Hand in die Schlacht zogen. Als erster in der Reihe ritt ein Herr auf einem weißen Pferde. Dieser Herr hielt einen Säbel hoch in der Luft, gleichsam als hole er zu furchtbarem Hiebe aus. Er hatte blaue Hosen mit einem roten Streifen übers ganze Bein. Das war gewiß ein russischer General, der seine Soldaten gegen den Feind führte. Auf der andern Seite des Bildes sah man wieder andre Soldaten, mit roten Mützen auf dem Kopfe, – das sollten wohl Türken sein. Auf irgend einem andern Bilde war eine brennende Stadt zu sehen; im Vordergrunde lag ein toter Türke, die Troddelmütze war ihm vom Kopf gefallen. Im Hintergrunde sah man ein schreckliches Drunter und Drüber: der eine haut, – der andre sticht, – fürchterliche Sachen! Aber Peter hätte doch gern gelesen, was da eigentlich los war.

Es gab außer den Büchern auch noch andre Dinge, die Peter seinerzeit begehrenswert erschienen waren; vor allem: eine Uhr. Aber als er sich jetzt dessen erinnerte, machte er eine resignierte Handbewegung, denn Jürgen hatte ihm schon erklärt, daß Uhren sehr teuer seien und daß die seinige zehn Rubel gekostet hatte. Also daran war nicht zu denken. Und so eine Scheinuhr zu kaufen, wie er sie einst bei einem kleinen Jungen gesehen hatte, – das war doch nicht der Mühe wert! Billig war so ein Ding ja und sah auch ganz wie eine wirkliche Uhr aus, aber was half das alles, man konnte sich nicht danach richten! – Dann weiter: eine Pistole. Jürgen hatte auch eine, sogar mit zwei Läufen. Aber seit einiger Zeit wünschte sich Peter auch keine Pistole mehr: er hatte etwas erlebt, was ihm so eine Pistole in sehr häßlichem Lichte erscheinen ließ.

Das war so gewesen: Jürgen hatte eines Sonntags die Pferde auf die Weide getrieben, damit sie sich auf dem Brachfelde tüchtig anfütterten. Nun und während die Pferde fressen, kann man ja ruhig umherbummeln. So kam Jürgen auch dorthin, wo Peter seine Herde hütete. Da hatte Hektor im Walde zu bellen angefangen. »Vielleicht ein Eichhörnchen!« hatte Jürgen gesagt, »komm, wir wollen auf die Jagd gehen!« Und Peter war mitgegangen.

Natürlich: auf einer nicht sehr hohen Fichte hockte ein Eichhörnchen, und Hektor rannte bellend um den Baum herum. Jürgen zog die Pistole aus der Tasche, – der blanke Lauf erglänzte in der Sonne, – er zog den Hahn auf – knick, knack! Nun zielte er und drückte los. Ein fürchterlicher Knall, – das Eichhörnchen aber saß auf demselben Fleck und schaute wie verwundert herab. Jürgen zielt und feuert noch einmal. Stinkender Rauch erfüllt die Luft, und nun fällt das Eichhorn von Ast zu Ast zur Erde. Es lebt noch, will noch laufen, – die Eingeweide dringen aus seinem Bauch, – Hektor will sich drauf stürzen, bleibt jedoch plötzlich beschämt stehen, – eine gute Weile noch liegt das Tierchen in Zuckungen, bis es verendet.

Seit jenem Vorfall hatte die Pistole für Peter allen Wert verloren. Jürgen hatte damals von neuem geladen und Peter gefragt, ob er nicht den kleinen Vogel totschießen wollte, der zwitschernd auf dem Fichtenast umherhüpfte, – dem Knaben war's kalt über den Rücken gelaufen und er hatte stumm abgewehrt; Jürgen hatte ihn ausgelacht und einen dummen Jungen genannt.

Es war also wohl das gescheiteste, sich ein Buch anzuschaffen. »Man muß das noch mit dem Großvater besprechen, er weiß doch alles am besten!« entschied Peter endlich und ging, die Kühe zum Aufstehen anzutreiben, damit sie vor der Heimkehr noch weideten.


Grade um die Zeit, als Peter auf der Weide an seine kleine Barschaft dachte und was er wohl am besten dafür kaufen könne, näherte sich seiner auf dem Fenster vergessenen Sparbüchse eine Gefahr. Ein Mann, klein von Wuchs, mit gerötetem Gesicht und dünnem, verwahrlostem Bart, bloßfüßig, in braunen, mit Kalk bespritzten Manchester-Beinkleidern, – das war diese Gefahr! Es war Mistris, ein berufloser Mensch, der bald als Maurer oder Zimmermann, bald als irgend ein andrer Handwerker arbeitete. In dem Bauernhof, wo Peter diente, quartierte er sich nur am Samstag oder Sonntag ein; an den andern Tagen der Woche wohnte er, wo sich's gerade traf. Er war schon über die besten Jahre hinüber, aber nach seinen eigenen Worten noch »ein junger Bursch«. Doch aus dem allen wäre ja für Peters Sparbüchse noch keine Gefahr entstanden, ich muß weiter berichten: das eigentliche Unglück also war das, daß Mistris heute krank war, – er hatte Katzenjammer. Diese Krankheit überfiel ihn stets dann, wenn er sich irgendwo ein Rubelchen verdient hatte; ja, nur dann, – aber durchaus nicht gleich! Einen Tag lang, zuweilen auch länger, merkte er selbst noch nichts von der Krankheit, obgleich sie sich gerade in dieser Zeit in die Knochen schlich. Erst wenn das Geld alle war, zeigte sich das Leiden in aller Unbändigkeit. Zuweilen gelang es Mistris zwar auch dann noch, die Krankheit auf einen oder einen halben Tag zu unterdrücken, nur mußte er sich dann an irgend eines Menschen Mitleid wenden, besonders an das des Schankwirtes, oder er mußte alles, was sich einigermaßen entbehren ließ, für die »Arznei« opfern. Dann endlich aber, infolge des Fehlens aller Hilfsmittel und wegen der Hartherzigkeit der lieben Nächsten, mußte er die Krankheit durch eigne Kraft zu überwinden suchen. – So war es auch heute. Und diesmal war die Qual ganz besonders groß. Man brauchte ja nur zu beobachten, wie unruhig Mistris' gerötete Augen nach allen Seiten blickten, als suchten sie irgendwo Rettung. Doch es war gar nichts mehr da, was helfen konnte. Zwar entdeckte er auf dem Wandgestell Brot und ein Schüsselchen mit Milch, – doch was sollte er damit? – Gräßlicher Zustand! – Das einzige, was man noch brauchen könnte, wäre kaltes Wasser ohne die geringste Zutat. Daher beugte sich Mistris nun über den Wassereimer und feuchtete die Lippen an. Dann schaute er noch einmal in der Ecke nach, in der er seine wenigen Habseligkeiten aufbewahrte, ob es da wirklich nichts gebe, was man »sicherheitshalber« mitnehmen könnte. Aber er fand nichts dergleichen. Dort an der Wand hing zwar sein stark abgenutzter Wintermantel, – aber wie sollte er den hinausbringen? Sofort würden alle rufen: »Aha, Mistris, du schleppst also wieder den Mantel fort – – –!« Sonst aber war gar nichts da; die Stiefel waren schon »dort«; ganz unglücklich blickte der Trunkenbold sich nach allen Seiten um. Jetzt tritt er an das Fenster, immer noch an den Mantel denkend: er wird ihn doch forttragen müssen, – der Anfall wird nicht anders vorübergehen, – aber wie sich hinausschleichen? So tief Mistris auch gesunken war, dem Gespött der Leute wollte er sich doch nicht so ohne weiteres preisgeben.

Seine Hand fuhr auf dem Fensterbrett hin und her und berührte ein Kästchen, auf welchem ein Knabe und ein Mädchen abgebildet waren. Schwacks! rutschte der Inhalt des Kästchens auf eine Seite. – Was war das? Mistris zuckte förmlich zusammen und sein Kopf streckte sich vor wie der eines Vogels. Er hob den Deckel des Kästchens ab; seine Hände zitterten und seine Augen blickten scheu nach allen Seiten. Es war niemand da. Er schwankte, – doch nur einen Augenblick; dann entnahm er der Sparbüchse einige Silberstücke, schloß den Deckel wieder und verließ die Kammer so schnell er konnte. Bald darauf sah man ihn eilig durch die Allee humpeln.


Als Peter seine Herde in den Stall getrieben hatte, ging er sofort in die Kammer, um seinen Schatz in Sicherheit zu bringen. Gleich beim Überschreiten der Schwelle sah er, daß die Sparbüchse sich genau dort befand, wo er sie hingestellt hatte. »Natürlich, wer sollte sie denn auch fortnehmen?« sagte er sich, nahm das Fünfkopekenstück aus der Tasche und öffnete die Büchse. – Was war das? lauter Kupfer? wo war das Silbergeld geblieben?

Peter blickte verdutzt in das Kästchen, seine Wangen glühten, seine Arme sanken schlaff herab.

Gestohlen!

Ihn schwindelte. – Alle drei Zwanzigkopekenstücke, auch das vom Großvater geschenkte, waren fort.

Er legte Geld und Sparbüchse aufs Fensterbrett und ging aus der Kammer hinaus. Die Tränen drängten sich ihm mit Gewalt in die Augen. In eine Zimmerecke gedrückt, weinte er bitterlich. Er wußte nicht, worum es ihm mehr leid war: um das Geld selbst oder um das, was er dafür hatte kaufen wollen.

Während er so weinte und trauerte, trat die aus dem Kuhstall kommende Bäuerin ins Zimmer und fragte den Knaben aus, was für ein Unglück ihm denn widerfahren wäre? Und nachdem er ihr alles erzählt, meinte sie: »Wein' nicht, mein Junge, dein Geld wird sich wohl noch finden! Ich werde schon herauskriegen, wer der Dieb ist.«

Peter wurde es leichter ums Herz. »Ja, das ist ja noch möglich!« dachte er und beruhigte sich.

Die Bäuerin ging mit ihm in die Kammer; sie überlegte ein wenig, warf einen Blick auf Mistris alten Mantel, lächelte und sprach vor sich hin. »Ja, ja ...«

Während des ganzen Abends ging der Diebstahl dem Hirtenbuben nicht aus dem Kopfe. Der erste Kummer war nun zwar überstanden, aber das Herz war ihm doch noch recht schwer. Freilich, die Bäuerin war gut und man durfte ihr vertrauen, – aber wenn's ihr nun dennoch nicht gelang, den Dieb zu erwischen, war's mit dem Büchereinkauf nichts. Und er hatte sich doch in den Gedanken schon so sehr eingelebt!

»Ja, ja, Hektor, siehst, nun sind wir bestohlen worden!« klagte er seinem Kameraden. Hektor schaute ihm in die Augen und wedelte mit dem Schwanz. »Aber vielleicht finden wir den Dieb noch, – die Frau glaubt's auch.« Hektor wedelte noch eifriger und drängte sich an den Knaben heran, als verstände er ganz genau, was der ihm erzählte.

Andern Tags saßen viele Leute um den Mittagstisch, denn die Heumäher waren gekommen. Ganz unvermutet trat auch Mistris ein und setzte sich auf die Bank an der Wand. – Wo er jetzt arbeite? fragte ihn der Bauer. – Diese Woche noch nirgends; er sei so hier und da umhergeschlendert, wolle erst jetzt zur Arbeit gehen und sei nur wegen einer Kleinigkeit auf den Bauernhof gekommen.

Die Bäuerin sah Mistris scharf und aufmerksam an und fragte schließlich, ob nicht wieder einmal seine »Ferientage« angebrochen seien?

Nein, nein, durchaus nicht; am Sonntag sei er wohl ein bißchen angeheitert gewesen, jetzt aber sei er völlig nüchtern, antwortete Mistris gleichmütig, obwohl Gesicht und Augen die Unwahrheit seiner Behauptung bezeugten.

»Ja, richtig, hört mal!« sagte die Bäuerin plötzlich ernst, »in unserm Hause ist ein Diebstahl begangen worden.«

Alle horchten auf, auch Mistris wandte den Kopf der Sprecherin zu. »Der Hirtenpeter ist gestern bestohlen worden.«

Man atmete erleichtert auf, ja man lächelte sogar. Aus der Einleitung der Hausfrau hatte man zu schließen geglaubt, daß sich wirklich etwas Wichtiges zugetragen, – aber der kleine Kuhhirt! Was konnte dem Großes gestohlen sein?

»Ja, ja, da gibt's nichts zu lachen! Des Jungen ganze Ersparnisse sind geraubt, – das ist abscheulich!« erklärte die Bäuerin.

Alle schwiegen. Peters Gesicht glühte und sein Herz schlug laut. »Jetzt, – jetzt muß etwas geschehen!« dachte er. Aber nichts besonderes geschah.

»Wer kann das getan haben?« fragte der Bauer bedächtig; »es waren ja nur unsere eigenen Leute im Hause.«

»Das ist's ja eben!« erwiderte seine Frau, »nur unsre eignen Leute – und dann – gegen Abend – auch Mistris.« Und sich plötzlich an diesen wendend, fragte sie eindringlich:

»Mistris, warst du gestern auch in der Ablegekammer und hast du dort nicht ein kleines Kästchen bemerkt?«

Mistris schüttelte lebhaft den Kopf und antwortete ganz harmlos: »Nein, Bäuerin! Ich hab' mich im Kuhstall ausgeschlafen und bin wieder meine Wege gegangen. War Peters Geld in der Ablegekammer?«

Nun redeten alle nur von dem Diebstahl, und auch Mistris beteiligte sich eifrig an dem Gespräch. Peter fühlte deutlich: »Es wird nichts herauskommen!« und der frühere Schmerz um das Verlorene kehrte zurück. Er merkte, daß er dem Weinen nahe sei und eilte aus dem Zimmer. Im Hinausgehen hörte er die Bäuerin noch sagen:

»So kann die Sache aber nicht bleiben; man muß suchen, die Wahrheit heraus zu bekommen. Ein armes Waisenkind zu bestehlen, das ist doch – –«

Nach dem Mittagessen gingen die Leute auseinander, der eine hierhin, der andere dorthin, um ein Mittagsschläfchen zu halten. Mistris kroch wieder hinauf auf den Heuboden, wo er den ganzen Morgen geschlafen hatte. Eine Weile saß er da, den Kopf auf die Hand gestützt. Der Kopf war schwer und schmerzte heftig, trotz des langen Schlafens. Mistris sah um sich. An der Tür summte ein Fliegenschwarm, und in den Ecken hatten Spinnen ihre Netze ausgespannt. Der Trunkenbold seufzte schwer auf und zog das unsaubere und verschwitzte Hemd über der sonnverbrannten, staubbedeckten Brust zusammen. Dann griff er hinter die Dachsparren, zog aus dem Heu eine Flasche hervor und hielt sie ans Licht. Ein kleiner Rest war noch von all dem Branntwein übriggeblieben, den er für Peters Geld erstanden hatte. Er entkorkte die Flasche und goß sich den Inhalt in den Mund. Das Gesicht verziehend und schwer atmend, sank er auf eine alte, zerlumpte Decke nieder, die über das Heu gebreitet war; doch er blieb nicht lange liegen. Seufzend erhob er sich bald wieder, dachte eine Weile nach und begann, die Treppe hinabzusteigen.

Inzwischen hatte Peter im Schatten der Scheunenecke sein Röckchen aufs Gras gebreitet und sich darauf ausgestreckt; er konnte nicht schlafen, er wälzte sich ruhelos hin und her. Beim Durchschreiten des Hofes bemerkte Mistris den Knaben und näherte sich ihm mit unsicheren, zögernden Schritten.

»Schläfst du nicht, Peterchen?« erkundigte er sich, bei ihm stehen bleibend.

»Der Schlaf kommt nicht!« erwiderte Peter.

Mistris stand eine Zeitlang still, stumm zur Erde blickend, dann setzte er sich neben den Hirtenbuben. Nach einer Weile fragte er scheinbar gleichgültig:

»Tut's dir sehr leid um das Geld?«

»Wie denn nicht? Sehr leid tut's mir!«

Peter schaute dabei Mistris verwundert in die Augen. Was wollte der nur, daß er so eigen fragte? – Mistris schwieg wieder eine Weile, plötzlich gestand er:

»Peterchen, – ich hab' dein Geld genommen. Ich wußte nicht, daß es dein Geld war, – ich, ich hab's genommen!«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Peter ihn an.

»Mir ging's so schlecht, Peterchen, und da nahm ich's, – im Rausch, – aber gräm dich nicht, ich werd's dir zurückgeben –«

Der Knabe wußte nicht, was er sagen sollte. Ihm war, als müsse er Mistris zürnen, aber seltsam, er konnte es nicht, – er konnte nichts, als sich wundern.

»Ich bin ein Unglücksmensch, Peterchen, ein Unglücksmensch!« – Mistris schlug sich an die Brust und schien weinen zu wollen; aus seinen trüben Augen drängten sich auch wirklich ein paar Tränen. Er wischte sie mit der Hand weg.

»Ach Peterchen, wenn du wüßtest – – – das Leben ist traurig, Peterchen, sehr traurig! – Und was bin ich für ein Mensch? – Schande, Schande!« murmelte er und stand auf. »Ich werd's dir zurückgeben, Peter, – bei Gott, ich geb's zurück! Du bist ja ein Waisenkind! – Erzähl' es nur niemand, Peterchen, niemand, – sonst schäm' ich mich, schäm' mich sehr! – Nicht wahr, du erzählst es nicht?« Mistris' Lippen zuckten und seine Augen blickten flehend auf den Knaben.

Peter fühlte jetzt nichts als Mitleid und sagte schnell: »Nein, ich erzähl' nichts!«

»Gut, Peterchen, – du sollst seh'n, ich belüg' dich nicht, – am Samstag bring' ich's dir.« Und den Hut fester auf den Kopf drückend, ging Mistris weiter.

Peter blickte ihm erregt nach. Dieser Mistris, – sieh mal, was das für einer war! Wie unglücklich der war! – Und Peter bedauerte ihn immer mehr. »Er hat also das Geld genommen, hat solches Herzeleid verursacht, – und hat's vertrunken! Was hat er davon Gutes gehabt? Jetzt ist er so traurig. Unbegreiflich: gestohlen und vertrunken! Wenn er ein Buch gekauft hätte, oder eine Uhr, oder meinetwegen eine Pistole, – das ließe sich doch begreifen, aber Schnaps!« Das war und blieb für Peter ein dunkles, unentwirrbares Rätsel.

Als die Bäuerin ihn und seine Herde zum Hof hinausbegleitete, hätte er ihr gern alles erzählt, aber er erinnerte sich seines Versprechens und schwieg. Es ging ihm immerwährend im Kopf herum, wie unglücklich, wie schrecklich unglücklich Mistris doch war.

»Wenn Mistris sein Wort nicht halten sollte, könnt' ich's wohl erzählen, – sonst aber nicht.«


Es war gerade um die Mittagsstunde. Die Sonne glühte zur Erde nieder, und kein erfrischendes Lüftchen regte sich. Mistris wanderte über den sandigen Waldweg, und der Schweiß floß ihm in Strömen von der Stirn. Er trocknete sich das Gesicht hier und da mit dem abgewetzten Ärmel seines Rockes, aber es dauerte nicht lange, und die Schweißtropfen rieselten ihm wieder hinter den Kragen.

Es waren friedlose Gedanken, die Mistris quälten. Von Zeit zu Zeit murmelte er ein Wort vor sich hin und machte mit der Hand eine verzweifelt abwehrende Bewegung.

Man hört oft von Trunkenbolden, die zerlumpt, mit körperlichen und seelischen Wunden und Gebrechen behaftet, wie im Traum durch das Leben irren; das ist noch nichts! Aber wenn du fühlst, daß du, gerade du selbst der Trunkenbold bist, daß die von Lumpen verdeckten Wunden und Gebrechen deine eigenen Wunden und Gebrechen sind, – das ist traurig, sehr traurig.

So ging es jetzt Mistris: ganz allmählich durchschaute er sich selbst, erkannte er sein Elend. Ob die Tränen und kummervollen Blicke des Knaben das bewirkt hatten oder die Worte der Bäuerin, – wer konnte das wissen? Jedenfalls war er mit sich selber über die Maßen unzufrieden. Deutlicher als je fühlte er seine tiefe Gesunkenheit. Was war er denn eigentlich? – Ein Gegenstand des allgemeinen Gespöttes, ein Elender, den alle Leute als bedauernswertes, heruntergekommenes Geschöpf ansahen. Keine ordentlichen Kleider auf dem Leibe, keinem anständigen Menschen sich nähern dürfen! Sagte ihm jemals einer ein freundliches Wort? – Niemand, niemals? Alle sprachen nur widerwillig mit ihm. Hatte er einen Freund, einen lieben Menschen, an den er sich halten konnte? – Keinen, nirgends!

Ja, dort in der Schenke, – da spricht wohl der oder jener ein paar Worte zu dir, befreundet sich wohl gar mit dir, – aber wo bleiben diese Freunde nachher? Sie meiden dich wie einen Pestkranken. Du fühlst dich unglücklich, zerquält, – die andern aber verlachen und verspotten dich. Und niemand weiß, daß auch du ein Herz hast! »Ach, welch ein elendes Leben!« sprach Mistris vor sich hin.

Und jetzt gar zum Diebe geworden! – Jetzt erst? – Ach, es war nicht das erstemal! Wie einem Kommandorufe folgend, zogen all die Fälle durch seinen Sinn, wo er sich an fremdem Gut vergriffen hatte. Das Stehlen war freilich nicht gerade seine Gewohnheit, nur im Rausche hatte er's ein und das andere Mal versucht. Nachher hatte es ihm stets leid getan, und er war mit sich unzufrieden gewesen: »Schau, was hast du nun gehabt? bist nun zum Diebe geworden!« Aber noch nie hatte es ihn so gereut wie diesmal. Vielleicht, weil in früheren Fällen die Betroffenen ihn beschuldigt, beschimpft, verflucht hatten und bereit gewesen waren, ihn totzuschlagen. Dann war der Trotz in ihm erwacht: Was wollt ihr von mir? Beweist doch, daß ich's getan habe! – Jetzt aber schalt ihn niemand und bedrohte ihn niemand, der Knabe hatte ihm kein Wort des Vorwurfs gesagt und nur im stillen geweint. Und doch fühlte Mistris tiefe Reue über seine Tat. Es fiel ihm ein, daß er selbst als kleiner Knirps verwaist und arm in der Welt dagestanden, – und nun hatte er so ein Waisenkind bestohlen! Wie garstig! Wie abscheulich!

»Nein, so geht das nicht weiter,« sagte sich Mistris, »es muß ein andres Leben anfangen.« Er faßte den Vorsatz, sich aus dem Sumpf, in dem er so lange gewatet hatte, mit Gewalt herauszuarbeiten.

»Ich werde Peter das Geld herausgeben, mit Zinseszins will ich's ihm zurückgeben!« dachte er, indem er über den sonndurchglühten, sandigen Heideweg dahinschritt. Dabei fühlte er zuerst dunkel und undeutlich, dann aber ganz klar, daß er sich ähnliches auch früher schon vorgenommen hatte, – ach, schon oft, besonders damals, als er noch nicht so tief gesunken war. Aber noch jedesmal war er zu schwach gewesen, seinen Entschluß durchzuführen. Es war nicht das erstemal, daß er sich zuschwor, den Verlust zu ersetzen, der andern durch seine Trunkenheit entstanden war. Damals z. B., als des Knechtes Weib heiße Tränen um die Wolle geweint hatte, – auch damals hatte es ihm so sehr leid getan und es war ihm klar gewesen, daß er das Gestohlene auf jeden Fall ersetzen müsse. Die Wolle – ganze drei Pfund waren's gewesen – hatte er der Krügerin für eine Kleinigkeit überlassen: für ein Quart Branntwein und drei Flaschen Bier. Die Knechtsfrau aber hatte geweint: »Woraus soll ich nun den Kindern Strümpfe stricken?« – Dann war einige Zeit darüber vergangen, – er hatte seine gute Absicht vollständig vergessen und sein Unrecht nicht gutgemacht. Würde es diesmal nicht ebenso sein?

Und obgleich er sich selbst darüber wunderte, fühlte er, wie das Mitleid mit Peter sich allmählich abschwächte. Er seufzte wieder und machte die gewohnte, resignierte Handbewegung.


Es war am Abend desselben Tages. Im Bauernhof saß man beim Nachtmahl. Da fuhr ein Wagen in den Hof. Ein junger Mensch sprang ab und band das Pferd an den Zaun. Die Bäuerin trat ans Fenster. »Gott weiß, wer das wohl sein wird?«

Im Wagen ausgestreckt lag ein Mann, den der erste sich bemühte herauszuheben, was ihm aber nicht gelang. Nun traten auch die andern Hausgenossen ans Fenster und schauten hinaus.

»Was ist das? Der Liegende scheint ja unser Mistris zu sein!« sagte jemand.

»Der Kopf schaut dem seinen freilich ganz ähnlich!« meinte ein andrer; »wahrscheinlich ist er wieder betrunken.«

Nach einigem vergeblichen Bemühen ließ der Fremde den Liegenden in den Wagen zurücksinken und trat ins Haus.

»Guten Abend! Ich hab' euch einen Einwohner hergeführt. Helft mir, ihn ins Zimmer zu schaffen, ich allein richt' nichts mit ihm aus.«

»Wer ist's denn?« fragte der Bauer ärgerlich.

»Mistris heißt er und ist hierher zuständig.«

»Wo hat er sich denn wieder so angetrunken?«

»Nein, diesmal ist er nicht betrunken, – verunglückt ist er.«

Und der Fremde erzählte: Um die Vesperzeit hatte Mistris sich zur Arbeit gemeldet und gleich damit begonnen. Der Baumeister hatte zwar gesagt, er solle sich zuerst ausschlafen, doch er hatte den Rat nicht befolgt. Die Arbeit war in recht bedeutender Höhe zu vollführen gewesen.

»Plötzlich hören wir ein Gepolter,« berichtete der Fremde weiter. »Mistris stürzt vom Baugerüst hinunter, liegt da und rührt sich nicht mehr. Wir laufen hinzu, heben ihn auf, – er ist wie tot! Nach einer Weile erst erholte er sich ein bißchen; er spie Blut und hatte starke Schmerzen in der Seite. Auch der Kopf ist schwerverletzt, weil er auf einen Balken auffiel. Das hätte aber nichts zu sagen, wenn er nur keine inneren Verletzungen abgekriegt hat! – Der Meister befahl, ihn hierher zu führen.«

»Warum denn hierher?« fragte der Bauer mürrisch.

»Ja, wer sollte ihn dort pflegen?«

»Und wer soll ihn hier pflegen?«

Der Fremde erwiderte nur mit einem Achselzucken. Schließlich befahl der Bauer einem Burschen, er solle dem Fremden helfen.

Die Bäuerin ließ Stroh hereinbringen, die Magd bereitete daraus in der Ablegekammer ein Lager, auf welches Mistris gebettet wurde. Er jammerte schmerzlich.

»Siehst du, Mistris, was bei solchem Leben herauskommt!« sagte die Bäuerin vorwurfsvoll, aber freundlich, »hättest du dich in diesen Tagen nicht so gehen lassen, so wäre das Unglück vielleicht nicht passiert. Wenn der Kopf nicht klar ist, ist der Mensch eben schwach! Dadurch ist's zum Sturz gekommen.«

»Wahr, Bäuerin, sehr wahr!« antwortete Mistris schwach.

Die Bäuerin bot ihm dies und jenes zum Essen an, doch er lehnte alles ab.

Einer nach dem andern verließen die Leute die Kammer, um ihre Schlafstätte aufzusuchen; Peter war als letzter im Zimmer geblieben. Als auch er hinausgehen wollte, stöhnte Mistris leise: »Peterchen –!«

Der Knabe kam zurück.

»Sieh, wie Gott mich gestraft hat, weil ich so ein schlechter Kerl war!« sprach der Kranke, »schwer gestraft hat er mich! Jetzt wird's für mich Zeit sein, zu sterben.«

Peter fühlte nichts als große Angst. Die Stimme des Verunglückten klang in der dämmerigen Kammer so sonderbar, so hohl, als käme sie aus der Erde. Er wird wohl sterben müssen – – Der Knabe erschauerte, und ein Zittern lief gleich einem Käfer mit kalten Füßchen über seinen Rücken.

In der Brust des Kranken rasselte es so eigen, als wenn da etwas gekocht würde. Jetzt spuckte er aus – – –

»Blut! – Blut! – Mistris speit Blut!« dachte Peter, und der arme Mann tat ihm unendlich leid. »Ja, ja, er wird wohl sterben müssen, – sterben!«

Die Dunkelheit in der Kammer nahm zu. Der Leidende schwieg ein Weilchen, dann begann er wieder zu jammern: »Das ist der Tag des Gerichts über mein ganzes Leben, der Tag der Strafe! Schlecht war's von mir, so zu leben, lieber Peter!«

Es wurde wieder still; man sah, daß das Sprechen ihm unendlich schwer fiel.

»Peterchen, vergib mir!« flüsterte er plötzlich, »ich hab' zwar vielen Böses getan, – die werden mir vielleicht nicht verzeihen, – aber wenn nur du mir verzeihst, lieber Peter! – Söhnchen, kleines Brüderchen, gib mir dein Händchen!«

Den Kranken überkam eine seltsame Angst. Mehr als je im Leben verlangte ihn nach der Nähe und Freundschaft eines andern Menschen. Tief in seiner Seele erwachte ein Sehnen wie nach Sonnenlicht, nach einem lieben Antlitz, nach dem warmen Druck einer treuen Hand. Wenn er doch nicht so einsam wäre und so arm und so tief gesunken! Und wenn die Finsternis nur nicht so schwarz wäre und so undurchdringlich und so voller Leid! – Aber wer sollte zu ihm kommen in diese schmerzerfüllte Finsternis? – Niemand würde kommen, niemand! Und selbst wenn jemand käme, – er hätte ja keinem andern so vertrauen können wie diesem kleinen Jungen, das fühlte er.

Der Knabe warf sich neben dem Strohlager auf den Fußboden und legte seine Hand in die harte Faust des Leidenden. Und als er so neben Mistris lag, war all seine Bangigkeit verschwunden. Wenn er dem Kranken nur etwas Liebes erweisen könnte! Wie von Herzen gern hätte er ihm geholfen! Aber er wußte nicht, wie er's anfangen sollte.

Mistris schwieg; Peter schien's, als höre er ihn schluchzen. Dann vernahm er ein leises: »Danke, Peterchen, – möge Gott es dir lohnen! Und nun geh schlafen, Jungchen, mußt ja morgen früh wieder aufstehn.«

Peter erhob sich langsam und blieb an Mistris' Lager stehen. Ihm war so schwer ums Herz, und es tat ihm so leid, den Kranken ganz allein in der dunklen Kammer lassen zu müssen.

Aber Mistris sagte nochmals leise: »Geh nur, kleines Brüderchen!« Was er noch außerdem sagte, konnte Peter nicht verstehen, denn er sprach flüsternd, wie zu sich selbst.

Der Knabe ging in die Stube und legte sich nieder, konnte aber lange, lange nicht einschlafen. – – –

Bevor Peter am andern Morgen das Vieh auf die Weide trieb, schlich er leise zur Kammertür, öffnete sie ein wenig und blickte zu Mistris hinüber. Der Kranke lag da wie eingeschlafen, mit geschlossenen Augen und graubleichem Gesicht; aber er lebte noch: die Brust hob und senkte sich. Neben seinem Lager sah man eine Lache dunklen Blutes.

Als Peter zu Mittag mit seiner Herde heimkehrte, wurde gerade ein einfacher brauner Holzsarg auf den Hof geführt, – Mistris war gestorben.

Die Bäuerin rief Peter beiseite und sagte ihm: »Mein Junge, ich werd' dir das gestohlene Geld ersetzen. Ich hab's so dem, der's genommen hat, versprochen. Und nun laß uns nicht mehr drüber reden.«

Am dritten Tage kamen die von der Gemeinde gesandten Leichenbestatter angefahren: vier Männer in zwei Wagen. Es war auch noch irgend ein altes Männchen erschienen, ein entfernter Verwandter von Mistris. Der Bauer stellte eine Flasche Branntwein auf den Tisch, eine zweite hatte der Verwandte mitgebracht. Die Bäuerin hatte für einen Imbiß gesorgt.

»Nun ist's Zeit!« sagte einer der Leichenbestatter, als das Getränk zu Ende ging.

»Na ja, was weiter?« erwiderte ein andrer, »stürzen wir's runter und geh'n wir!«

In der Tenne, in der der Sarg aufgestellt war, sprach der Bauer ein kurzes Gebet. Zwei Menschen standen dabei, deren Gesicht tiefe Betrübnis ausdrückte, das waren Peter und die Bäuerin; alle andern sahen kalt und gleichgültig drein. Traurig blickten die Augen der Bäuerin auf den Toten. Von allen Anwesenden war sie wohl die einzige, der es durch den Sinn zog, wie nichtig und leer, armselig und elend das Leben so manches Menschen verläuft, wie dunkel und ziellos es sich abrollt, um schließlich in Finsternis zu enden. Da wird so ein Unglücklicher mit Schmerzen geboren, wandert durchs Leben wie ein Irrender durch die dunkle Nacht, ohne einen Freudenstrahl, ohne Seelenglück, – bis er mit verbittertem, vergiftetem Herzen irgendwo am Wegrande zusammenbricht ...

Der kleine Hirtenbub stand mit gefalteten Händen da und sah betrübt zu, wie der Sarg geschlossen wurde.

»Nun auf zur Hochzeit mit dem Junggesellen!« rief der Leichenführer roh, indem er sich am Ende des Sarges auf den Wagen schwang. Langsam ging's zum Hoftor hinaus, dann, als die Allee erreicht war, wurden die Pferde zu vollem Trab angetrieben. Bald waren die Wagen hinter dem Wäldchen verschwunden.

Die Leute, die in der Tenne versammelt waren, zerstreuten sich, nur Peter stand noch eine gute Weile an der Ecke des Hauses und schaute auf den Weg hinaus, während heiße Tränen aus seinen hellen Knabenaugen strömten.

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