Lily Braun
Im Schatten der Titanen
Lily Braun

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Dem Ende entgegen

Nordwärts von Königsberg führt die Chaussee durch ein Land, das sich glatt wie ein Tischtuch bis zum Kurischen Haff erstreckt. Wogende Kornfelder, grüne Wiesen, soweit das Auge reicht, nur hie und da von schmalen Waldstreifen unterbrochen, deren Eichen ihre knorrigen, zackigen Äste in tausend abenteuerlichen Formen nach allen Richtungen der Windrose recken – ein Zeichen all der Stürme, mit denen sie um ihr Leben kämpfen mußten. Nach ein paar Stunden glatter Fahrt, vorüber an strohgedeckten Häuschen und großen, schmutzigen, lärmenden Kneipen, wendet sich der Weg nach links. Dicke, kurzgeschnittene Weidenstämme, deren lichte junge Kronen so drollig wirken wie blondes Lockengewirr über einem runzligen Greisengesicht, fassen ihn zu beiden Seiten ein. Über die tief gefahrenen harten Geleise holpert der Wagen, während das junge, unruhige Viergespann, die Nähe des Stalles witternd, weiter ausgreift. In eine breite Allee, über die sich uralte Linden zu lebendigem Dome wölben, schwere Duftwellen ringsum verbreitend, mündet der Weg. Und durch ein Tor, von dicken Steinmauern flankiert, die, aus unbehauenen Blöcken wie von Zyklopenhänden aufgerichtet erscheinen und das Ganze einer Festung ähnlich machen, geht es hinein auf den breiten, vom Reichtum seiner Besitzer Zeugnis ablegenden Gutshof von Lablacken. Ringsum langgestreckte, massive Ställe, auf die, von der Weide kommend, die vierbeinigen Bewohner gemächlich zuschreiten; die schwarzweißgefleckten Rinder von der einen Seite, die sich ängstlich zusammendrängende Herde der Schafe von der anderen, und schließlich in hellem Galopp unter fröhlichem Wiehern der Trupp der jungen Pferde, deren schmale Fesseln und schlanke Hälse von ihrer edlen Abstammung Zeugnis ablegen. Am Herrenhaus, das nur eine niedrige Mauer und ein paar himmelhohe Pappeln vom Gutshof trennen, müssen sie alle vorüber. Ein seltsames Haus ist es: Jahrhunderte haben an ihm gebaut, ohne Rücksicht auf Stil und Schönheit, nur bestrebt, Platz zu schaffen für die mit dem Wohlstand steigenden Bedürfnisse der Bewohner. Im Grunde sind es drei im Halbkreis aneinandergereihte zweistöckige Gebäude; über jedem der Tore prangt ein in Stein gehauenes Wappenschild, das derer von Ostau und von Wnuk und zuletzt das der Gustedts: die drei eisernen Kesselhaken im goldenen Felde. Der Mittelbau enthält die Eingangshalle: Elchfelle auf dem Boden, Elchgeweihe an den Wänden, schwere alte Eichensessel, Tische und Schränke als Einrichtung, dazwischen als einzige helle Flecke in dem dämmerigen Raum ein paar Ritterrüstungen, auf denen das Licht in weißen Reflexen spielt. Zu beiden Seiten steigt im Hintergrund die dunkle, braune Treppe empor, nur geradeaus, wo die große gedeckte Veranda nach dem Park mündet, schimmert das Grün der hohen Linden herein. Fast endlos, so scheint es, ist die Flucht der Zimmer, die sich oben und unten, von Fluren, Treppen und Winkeln vielfach unterbrochen, rechts und links durch die langgestreckten Häuser ziehen. Alle Zeiten, alle Stile spiegeln sich ab in ihnen: verblaßte Rokokostühlchen, von deren alter Pracht nur noch flüchtige Reste von Vergoldung zeugen, mächtige Truhen und Schränke, die einst den selbstgesponnenen und selbstgewebten Leinenschatz der Hausfrau bargen, steife, feierliche Empiremöbel mit Bronzebeschlägen und gelbem Seidenbezug, und die ehrbar-gemütlichen Biedermeierkommoden, Servanten und breiten, schwerfälligen Sofas aus der Großväterzeit erinnern an die Generationen, die hier geboren wurden, arbeiteten, lebten und starben. Auch am lichtesten Sommertage ist alles wie von graugrünen Schleiern umhüllt, und ein Geruch, wie von feuchtem, welkem Herbstlaub durchströmt die Räume, denn dicht um das Haus stehen alte Pappeln und Linden, so daß ihre rissigen Stämme die Mauern berühren, ihre Äste an die Fenster klopfen, ihre Kronen sich über das Dach hinweg grüßen. Zu ebener Erde, im Eßsaal, vor dessen breiter Glastür die älteste der Linden Wache hält, hängen ringsum dunkelgerahmte Bilder an den Wänden: Männer mit dem Lockenhaupt des großen Kurfürsten, mit Allongeperücken und Galanteriedegen, mit dem steifen Zopf des großen Friedlich, im braunen Wertherfrack oder mit hohen Vatermördern – alte und junge, harte, finstere und fröhliche, weiche Gesichter, ohne einen gemeinsamen Zug darin, der darauf deuten ließe, daß sie eines Geschlechtes wären – und zwischen ihnen die Frauen, solche mit dichter Haube und glatt gescheiteltem Haar, die Arme verschränkt unter der züchtig bedeckten Brust, oder die Hände, das weiße Tüchlein haltend, gekreuzt über dem Leib, und solche mit gepudertem Köpfchen, hochgeschnürtem Busen und enger Taille, oder im klassisch frisierten Lockengewirr und tief ausgeschnittenem Empiregewand – alte und junge unter ihnen, und doch alle einander ähnlich, wie Schwestern.

Es ist des Hauses seltsam geheimnisvolles Schicksal, das aus diesen Bildern spricht: Seit langer, langer Zeit werden hier nur Mädchen geboren, der alte Besitz vererbt sich von Tochter zu Tochter, mit den Namen ihrer Gatten den Namen des Besitzers wechselnd. Und eine dieser Frauen, aus deren todblassem Gesicht ein Paar dunkle Augen feindselig funkeln, hat, so erzählt man, von irgendeinem finsteren Geheimnis belastet, keine Ruhe gefunden im Grabe; mit hohen Stöckelschuhen geht sie allnächtlich durchs Haus, und das Klappern ihrer Tritte, das Rauschen ihrer seidenen Röcke, die tiefen, schweren Seufzer, die sie ausstößt, will schon manch einer gehört haben, wenn der Sturm, vom Kurischen Haff herüberbrausend, draußen heulte und pfiff, und die alten Baumäste knarrten und die Blätter an die Fenster schlugen. Auch soll sie in der Buchenallee im Park, die vor hundert Jahren ein zierlich beschnittener Laubengang war, zuweilen auf und nieder gehen. Vielleicht war sie es, die diese Bäume, die die geraden Wege mit den Blumenrabatten zu beiden Seiten anlegen ließ und die undurchdringlich dichten Lauben von Flieder und Jasmin! Einer der Wege durchschneidet den großen Garten von Osten nach Westen. Wo er beginnt und wo er aufhört, ist die Mauer von einem hohen hölzernen Bogenfenster unterbrochen. Wer abends durch das eine gen Westen hinausschaut, der sieht, wie jenseits der Felder und Wiesen am äußersten Horizont der rote Sonnenball in den grauen Fluten des Kurischen Haffs versinkt, und wer durch das andere am frühen Morgen die Blicke schweifen läßt, den soll auch der dämmernde junge Tag an das Scheiden gemahnen, denn hinter dem fernen Kirchturm von Legitten, unter dem die Toten von Lablacken begraben werden, steigt er auf. – – –

Hier war es, wo Jenny Gustedt ihres Lebens letzte Station gefunden hatte. In der geräumigen Wohnung des Erdgeschosses von einem der drei Häuser richtete sie sich in alter, vertrauter Weise ein. Ihr zuliebe – denn Luft und Licht war ihr ein Lebensbedürfnis – ließ ihr Sohn zwei der großen beschattenden Bäume vor ihren Fenstern fällen, so daß die Sonne von allen Seiten freien Zutritt hatte. Monatelang versammelten sich jeden Sommer ihre Kinder und Enkel um sie, und da die Gastfreundlichkeit ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter keine Grenzen kannte, so war in der schönen Jahreszeit für sie fast zu viel der Unruhe, der sie freilich durch ein mit dem zunehmenden Alter immer häufigeres Sichzurückziehen in ihre stillen Stuben entgehen konnte. Die fremden Gäste brachten ihr auch allzu wenig, denn so sehr sie sich fröhlicher Jugend freute und für harmlosen Witz ein heiteres Verständnis besaß, so vertrug sie doch schwer den herrschenden Ton der dortigen Gesellschaft. Die Signatur ihrer Unterhaltung war die Oberflächlichkeit; man hätte fast ein stillschweigendes Übereinkommen aller vermuten sollen, durch die jede Vertiefung eines Gesprächs verhindert wurde. Meiner Großmutter Auffassung, wonach Vornehmheit Ruhe ist, erschien hier in ihrer Karikatur: man war ruhig, weil man sorgfältig alles zu berühren vermied, was Uneinigkeit und damit Unruhe hätte hervorrufen können. Seine tiefsten Gedanken, seine eigensten Sorgen behielt ein jeder für sich. Durch Reiten und Kutschieren, durch Jagd und Segelfahrt und durch den ostpreußischen Nationalfehler langer und häufiger Mahlzeiten war der Tag für die Gäste ausgefüllt; um gesellschaftlichen und nachbarlichen Klatsch drehte sich die allgemeine Unterhaltung; kam das Gespräch auf politische Fragen, so wurde es ausschließlich eines der in der Hauptsache – in ihrer parteipolitischen Stellung dazu – von vornherein einigen Männer. Auch der beste, naheliegendste Anknüpfungspunkt zur Entwicklung tieferer Interessen, die praktischen Fragen der Landwirtschaft, bildeten das Sondergebiet des Gutsherrn, für das er ein ernsteres Verständnis bei anderen weder voraussetzte noch zu wünschen schien. Selbst seiner Mutter, die seine Pläne und seine Tätigkeit, zwischen Freude und Sorge schwankend, verfolgte, gewährte seine Zurückhaltung nicht den Einblick, den sie sich so dringend gewünscht hätte.

Das schöne große Gut, ein kleines Fürstentum nach mitteldeutschen Begriffen, bot dem tätigen Landwirt die größten, abwechslungsreichsten Aufgaben. Seit Menschengedenken hatte es durch die Überschwemmungen der Wasser des Kurischen Haffs zu leiden gehabt; Felder, Wiesen und Weiden waren soundso oft auf Jahre hinaus dadurch ihres Wertes beraubt worden. Jetzt erhoben sich unter der Leitung des neuen Besitzers allmählich Dämme und Deiche gegen die anstürmenden Wogen, und Kanäle durchzogen nach allen Richtungen hin die Felder, so daß ganze Strecken sumpfigen Landes in üppige Wiesen verwandelt wurden. Der Wald, dessen uralter Baumbestand und dessen Bewohner, die riesigen Elche, an jene dunkle Vorzeit erinnerten, wo noch kein menschlicher Fuß die öde Wildnis des Samlandes betrat, wurde allmählich licht und schön. Das Haff, das bisher nur wenigen armen Fischern kärgliche Nahrung geboten hatte und allen wie ein finsterer Feind erschien, in dessen unergründlicher Tiefe die letzte der heidnischen Göttinnen, Neringa, die Riesin, hauste, Jahr um Jahr Steinblöcke emporschleudernd, um die Menschen zu verderben, wurde nicht nur zu einem fröhlichen Tummelplatz für die elegante Yacht des Gebieters, auch ein fester Hafen wurde gebaut, wo die Fischer Zuflucht fanden und wo allmählich mehr und mehr große Kähne landeten, um den Reichtum an Steinen zu. verfrachten. Alljährlich hatte der Landmann die seltsamen, immer wieder neu auftauchenden erratischen Blöcke beim Bestellen der Felder sprengen und sammeln müssen, hatte überall, nur um sie beiseitezuschaffen, breite Mauern aufgeschichtet; jetzt fuhr eine Feldeisenbahn sie zum Hafen, und sie wurden zur Quelle reicher Einnahmen. Die Vermehrung der Wiesen und ihres Ertrags, führte zu einer Vergrößerung und Modernisierung der Milchwirtschaft. Für alle Gebiete der Landwirtschaft wurden neue Maschinen aller Art angeschafft und, als einer der ersten, der den Versuch wagte, ließ der Besitzer in Haus und Gut telephonische Verbindungen anlegen. Aber neben diesen großen praktischen Reformen steigerten sich die Luxusbedürfnisse: der altmodische Garten, mit seinen Georginen- und Malvengängen, seinen verwachsenen Lauben und versumpften Teichen wurde in einen englischen Park verwandelt, das Haus wurde vielfach erweitert, die alten Möbel wanderten in die Fremdenzimmer und machten neuen Platz; die Zahl der Reit- und Wagenpferde vermehrte sich, eine kostbare Pferdezucht, eine Fasanerie wurde eingerichtet – kurz, wenn sich die Mutter auf der einen Seite der rastlosen landwirtschaftlichen Tätigkeit ihres Sohnes freute, so wuchsen auf der anderen ihre Sorgen.

Nach einem langen Aufenthalt bei ihr schrieb sie mir: »Als der Wagen, der mein bestes, geliebtes Kind und ihre zwei trautsten Töchter auf lange entführte, verschwunden war, ging ich wie im Traum in meine Stube und sammelte meine Gedanken und Gefühle. Mein großmütterliches Herz war überfließend weich, als ich mit Rührung die fünf Monate an mir vorübergehen ließ, in denen mein liebes Enkelkind mir nur noch mehr ans Herz wuchs . . . Ruhe und Friede ist um mich, auch treue, gute kindliche Liebe. Wer aber kürzlich doppelt so viel besaß, muß sich erst an Herzensgenügsamkeit gewöhnen, um so mehr, als ich mir auch wieder das Schweigen angewöhnen muß über all die vielen Dinge, die wir, mein Lilychen, miteinander beredeten . . . Ich bekomme von allen Freunden Kondolenzbriefe über meine bevorstehende Einsamkeit, wenn Werners ihren Winteraufenthalt in Königsberg nehmen, aber ich empfinde sie doch nur an solchen Tagen ernst, wo meine Augen zur Schonung mahnen und Freundschaftsstündchen wie in Weimar wohltätig wären. Ich habe aber Gott Lob eine Virtuosität, in Gedanken und Briefen mit meinen Lieben in der Ferne weiter zu leben, und mein Körper bedarf immer mehr der Ruhe und Einförmigkeit, so daß ich den Winter nicht allzusehr fürchte.«

In einem anderen Briefe heißt es: »Werners fahren diese Woche zum Rennen, da ihre Pferde beteiligt sind. Auch diese Sache hat nicht meine Billigung, doch mache ich meinen Tadel nicht breit, wenn ich weiß, daß er nichts nützt. Hier sind in diesem Jahr ungeheure Arbeiten gemacht worden, Gott segne sie und lasse aus dem Überstürzen keine Sorgen entstehen und aus der zu vielen Arbeit keine Abspannung für meinen lieben Sohn. Er ist jetzt oft recht Hypochonder, was bei dem vielen Regen, der Erschwerung der Kanalarbeiten, den sich mehrenden Lasten durch Verwöhnungen und der vollkommenen Unfähigkeit, sich einzuschränken, mich nicht wundernimmt. Seine Frau hat es dann um so leichter, ihm ihre Abneigung gegen das Landleben – das herrliche, segensreiche, natürliche Landleben! – einzuimpfen und ihm den Aufenthalt in Königsberg oder Berlin als viel angenehmer erscheinen zu lassen. Und dann wundern sich die Gutsbesitzer, wenn ihre Arbeiter demselben Zug nach der Stadt folgen! . . .«

Einem Brief des folgenden Jahres entnehme ich diese Zeilen: »Mein Werner war drei Tage hier. Sie könnten so schön sein, wenn die Flut unangenehmer Geschäfte ihn nicht immer unter Wasser brächte und die Sorgen ihn mir gegenüber nicht so verschlossen machten, daß ihn selbst mein stilles ängstliches Lesen in seinen müden Zügen nervös macht. Dabei immer neue Pläne und Wünsche, die er befriedigen soll, unaufhörliche Ansprüche an Amüsements, wo doch hier aus der täglichen Erfüllung der Pflichten ein so tiefes, reiches Glück blühen könnte, vor dem jedes Vergnügen nichts ist als ein Rausch, aus dem man krank erwacht . . . Glück suchen die lieben beiden, d. h. stete Erfüllung ihrer Wünsche, und es ist doch so leicht zu sehen, daß auf Erden nichts darauf eingerichtet ist. Im alltäglichen Leben kommt ähnliches Erkennen so ganz von selbst, z. B. eine Schulstube nicht für ein Theater, eine Scheune nicht für einen Ballsaal zu halten, sie sind eben nicht darauf eingerichtet. Man sollte das Leben gleich klar und tapfer und freudig nehmen als das, was es ist: als Schule, Schule mit Freistunden, Sonntagen, Ferien, aber immer Schule. Es gibt selten Schüler, die die Schule lieben, aber alle lieben das Gelernte . . . Nimm Dir kein Beispiel, mein Lilychen, an dem Stil dieses Briefes, der meinen alten französischen Professor noch im Grabe ängstigen könnte: ein Brief, sagte er, muß wie ein Bächlein fließen, das tausend kleine Wellen hat, aber nur einen Lauf. Ein Thema muß unweigerlich aus dem andern sich entwickeln, ohne daß der Faden verlorengeht! . . .«

Zu den Sorgen um die Kinder und ihr Ergehen kamen die um die Enkel hinzu: da war der Sohn ihres armen Ältesten, der nicht recht fortzukommen vermochte in der Welt, da war das Töchterchen ihres Jüngsten – wieder ein Mädchen, ein einziges, das unter Lablackens Dach geboren worden war –, dessen Leiden eine langwierige Kur notwendig machte, an deren Erfolg die Großmutter nicht glauben konnte, da war meine schwere Erkrankung, die mich ein paar Jugendjahre kostete.

»Ich wache jetzt regelmäßig im Morgengrauen mit starkem Herzklopfen auf«, schrieb sie damals, »wobei alle meine Angst um Kinder und Enkel mir recht lebendig wird. Dann wird es recht schwer, den kategorischen Imperativ, den ich am Tage zu meinen Pflichten stelle: Sorget nicht! zu erfüllen. Menschliche und Herzensgründe habe ich wohl nach allen Seiten hin: hier die durch überwältigende Lasten eines Luxuslebens gesteigerten landwirtschaftlichen Nöte, die auch meines lieben Sohnes Gesundheit erschüttern, dazu der Stoizismus des Schweigens über die Dinge, die man glaubt, nicht ändern zu können oder die man nicht ändern will, und der allmählig bei meinen Kindern zur Verkehrstradition geworden ist. Und bei Ottos die Existenz auf einem Ast, der sie widerwillig trägt, bei denen die Millionen in der Luft hängen – das ist, mein Lilychen, nicht die Art Deiner alten soliden Großmutter, aber leider die Art unserer Gesellschaft, die sich selbst ihr Grab gräbt . . . Die Vertrauensfähigkeit ist bei mir zu sehr ausgegangen, als daß ich mit hoffen könnte . . .«

Ich befand mich damals, als die Krankheit mir Zeit zum Grübeln ließ, in jenem inneren Konflikt, den viele Mädchen unserer Kreise, die nicht im oberflächlichen Genußleben aufzugehen vermögen und weder einen ernsten Beruf haben noch ohne Liebe heiraten wollen, durchkämpfen müssen. Als ich einmal wieder in Lablacken war, erriet meine Großmutter mehr was mich quälte, als daß ich es verraten hätte – zum »Stoizismus des Schweigens« war auch ich dressiert worden. Es kam zu ernsten Aussprachen zwischen uns, und was sie sagte, gipfelte immer in dem Rat: schaffe dir durch dein Talent so viel innere und äußere Selbständigkeit, um nicht heiraten zu müssen! Sie regte mich mündlich und brieflich immer wieder zu schriftstellerischer Arbeit an, bat mich, ihr alles zu schicken, was ich geschrieben hatte, »Du brauchst Dich dabei vor mir nicht zu fürchten, mein geliebtes Herzenskind«, schrieb sie, »höchstens binde ich einige zu üppige Schlingpflanzen Deiner Phantasie an, damit der Sturm sie nicht zerzaust.« »Entschließe Dich«, heißt es in einem anderen Brief, »nicht zu einer Heirat, weil irgend jemand Dir zuredet, oder etwa gar aus Mitleid mit einem Kurmacher – das ist schon das allerdümmste! – oder weil Du fürchtest, zu alt zu werden. Glaube fest, daß die späten Heiraten die besten sind. Junge Eheleute entwickeln sich fast immer auseinander, und da Scheidungen, so notwendig sie oft sein mögen, immer ein Gefolge schwerer Schmerzen und Bitterkeiten nach sich ziehen, so ist es besser, zu warten, bis der reife Verstand, das reife Herz ihre Wahl treffen.« Ein paar Jahrzehnte früher hatte Jenny Gustedt im Hinblick auf Lewes' und George Sands Apostelschaft für freie Ehen noch geschrieben:

»Ich betrachte die Ehe in ihrer Heiligkeit und Unauflösbarkeit als einen Hebel des Göttlichen, als die Stütze wahrer Reinheit und Liebe, als Schutz und Schirm von Frauenehre und Frauentugend, als das festeste Band bürgerlicher Ordnung und geselliger Anmut. Diese außerehelichen Verhältnisse, auch bei edleren Naturen, lassen immer in Kampf und Irrgängen mit der Welt und mit sich selbst, sie tragen das Gepräge des selbstgemachten Geschickes, sie werden nicht wie ein Gegebenes fest und demütig hingenommen, weil sie eben lösbar sind und dem Menschen den Versuch gestatten, einen Mißgriff durch einen zweiten und dritten Mißgriff zu verbessern. Es ist deshalb nicht genug zu betonen, wie groß Goethes Charakter sich zeigte, als er sich gerade mit der alternden Geliebten ehelich verband und sich selbst damit befahl: Sie ist Dir gegeben, bleibe ihr treu! Wir kommen schnell dahin, weltliche Stellungen und Verhältnisse als etwas Gegebenes anzunehmen, uns ihnen in Treue und Demut anzupassen, und wir sollten vor allen Dingen Menschen als Gegebene betrachten und uns dahin erziehen, wie Goethe es tat, uns, unser Glück und unser ganzes Wesen so zu bilden, daß wir damit an keinem der uns gegebenen Menschen Schiffbruch leiden. Von den Verhältnissen zwischen Eltern und Geschwistern wird dies noch eher eingesehen, bei der Ehe wird es so selten und so spät verstanden, weil man sich einbildet, den Mann oder die Frau gewählt und nicht empfangen zu haben. Wer hat aber je die und vollends den Gewählten im engsten Zusammenleben wiedergefunden? Besser – schlimmer, jedenfalls anders, und dem echten Menschen – ich erinnere wieder an Goethe – muß es dann so recht sein, er muß dem Gegebenen halten, was er dem Gewählten versprach

Und sie hatte, als man sie auf die vielen unglücklichen Ehen verwies, gesagt: »Ich bin trotz alledem ein Advokat der Ehe, die doch, trotz Wenn und Aber und Ach und Leider, das beste ist, was man wählen kann.« Jetzt, auf der Höhe ihrer Lebenserfahrung, schrieb sie mir: »Ich habe meine alten Ansichten vielfach modifiziert, nachdem ich Menschen kennenlernte, die nichts zusammenhielt als ihre treue Liebe, und Ehen sah, die auch vom strengsten christlichen Standpunkt aus nicht aufrecht erhalten werden durften, ohne die sittliche Verderbnis von Eltern und Kindern nach sich zu ziehen. Auch die unbedingte Empfehlung der Ehe vermag ich nicht mehr aufrecht zu erhalten. Jedenfalls sollte sie nicht wie bisher als einziger Beruf des Weibes aufgefaßt werden; das Resultat davon ist auf der einen Seite die Tragik der beschäftigungslosen alten Jungfer, die vergebens auf die Ehe gewartet hat, auf der anderen die oft noch größere der Frau, die den Gatten verlor, die Kinder fortgeben mußte und nun verzweifelnd vor einem leeren Leben steht. Darum mag Dir beschert sein, was da will, sichere Dir auf alle Fälle den inneren Schatz, den der Rost und die Motten nicht fressen und der unter allen Umständen die reichsten Zinsen trägt . . . Ich möchte Dir gerne dabei behilflich sein und kann es nicht in dem Maß, wie ich möchte. Mir fehlt leider gute Lektüre, wie sie mir in Weimar von allen Seiten zufloß. Ich scheue die Anschaffungskosten wertvoller Werke, und was Werners aus der Leihbibliothek kommen lassen, ist zwar ein Zweig der Literatur, den ich bisher zu gering schätzte – Tendenzromane und Sittennovellen – und der manches Gute und Belehrende bringt, aber doch nur für ein Publikum, das es in anderer Form nicht annehmen mag. In meinen stillen Stunden würde ich mich noch gern mit Übersetzen beschäftigen, da das Selbstproduzieren, wozu ich früher Kräfte hatte und keine Zeit, und jetzt Zeit habe und keine Kräfte, doch nicht mehr mit dreiundsiebzig Jahren in Angriff genommen werden kann; aber auch dazu fehlt Gelegenheit und Material . . .«

Es war die geistige Einsamkeit, die ihr dann am drückendsten fühlbar wurde, wenn sie unter Menschen war. Sie empfand, was Goethe aussprach, der bis in seine letzten Lebensjahre ein freudig Empfangender blieb und darum als Geber so überschwenglich reich sein konnte: »Wir sind alle kollektive Wesen . . . Wir müssen empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit uns sind. Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte.« Und wenn sie auch niemals darüber sprach, so mochte die Sehnsucht nach Weimar, das ihre Heimat war und blieb, doch oft ihr Herz mit stiller Wehmut füllen. Die Liebe zu ihren Kindern hatte sie fortgetrieben, aber was sie ihnen von den Schätzen ihres Innern geben konnte, das galt ihnen nichts, und was sie empfing, war nicht viel mehr als ein wenig pflichtmäßige Zärtlichkeit, die einer Mutter galt, deren tiefstes Wesen allen ihren Kindern fremd und unverständlich war. Wie oft krampfte sich mir das Herz zusammen, wenn ich sah, wie ihre Gedanken und Empfindungen mit einer Art nachsichtigen Mitleids belächelt wurden, wie ein spöttisches Wort über ihren »liederlichen« Freund Goethe sie verstummen machte, welch beziehungsreiche Stille eintrat, wenn »die gute Mama« von Seelenerfahrungen zu sprechen versuchen wollte. Nein, hier fand sie die Saiten nicht, aus denen ihr Spiel Töne hätte hervorlocken können, hier war niemand, der für ihren nie verlöschenden geistigen Durst einen frischen Trunk bereithielt.

Auch mit ihrer Anteilnahme für das Wohl und Wehe der Gutsinsassen, der Knechte und Mägde, der Instleute und Dorfbewohner stand sie allein. Hier geschah nichts, das an jene umfassende Tätigkeit erinnerte, die sie in Garden und Rosenberg ausgeübt hatte. »Am Notwendigsten fehlt es zwar nicht«, schrieb sie, »aber dafür am Freiwilligen vollständig, und es wird, so fürchte ich, so lange daran fehlen, bis dies unterwürfige demütige Volk aufhören wird, den Rocksaum der Herrin und die Hand des Gebieters zu küssen, und fordern wird, was man ihm von selbst nicht gab. Unendliches wäre hier zu leisten: den armen elenden Weibern die notwendigsten Begriffe von Reinlichkeit und Haushaltung beizubringen, die Männer in ihren Feierstunden mit unterhaltender und belehrender Lektüre zu versorgen, statt daß sie im Krug alles Verdiente durch die Gurgel jagen. Und was wäre alles für die Kinder zu tun, bei denen überhaupt jede Arbeit anzufangen hat! Sie wachsen buchstäblich zwischen den Schweinen und im Straßenkot auf, von klein an gewöhnt an die widerlichsten Eindrücke der Unzucht und der Trunkenheit, und von der Schule, die für sie der lichte Punkt des Lebens, der Ausgang von geistiger Erweckung, Sittlichkeit und Frohsinn sein sollte, erwarten sie nichts als Prügel.« Um den Wünschen und Ratschlägen der Mutter in etwas nachzugeben, richtete ihr Sohn einen Kindergarten ein, für den eine ehemalige Krankenschwester als Leiterin gewonnen wurde. Meine Großmutter hatte die größte Freude an den vielen strohgelben Kinderköpfchen, die sich nun zu fröhlichem Spiel alltäglich versammelten, und den ärmsten unter ihnen, den armen vaterlosen, wandte sie wie immer ihr größtes Mitleid, ihre weitestgehende Sorgfalt zu. Es waren ihrer nicht wenige, denn uneheliche Geburten waren an der Tagesordnung, Trunksucht und Roheit förderten ihre Vermehrung. Da gab es z. B. ein armseliges Weib – Großmamas Hauptschützling –, das als ganz junges Ding von ein paar Burschen betrunken gemacht und im Straßengraben vergewaltigt worden war; nachher hatten sie ihr ein paar Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gegossen, und als sie zu sich kam, war sie halb gelähmt und blödsinnig. Sie erholte sich so weit, um die Puten hüten und – fast alljährlich ein neues elendes Würmchen in die Welt setzen zu können. Der Kindergarten nahm sie alle auf und brachte ein bißchen Sonnenschein in das dunkle Leben der Kleinen, etwas Freude in das graue Leben der Mutter. Wo sie meine Großmutter sah, den einzigen Menschen, der ihr anders begegnete als mit Fluchen, Schelten und Spotten, humpelte sie von weitem schon eilig auf sie zu, um ihr die Hand zu küssen; dabei huschte über ihr blödes Gesicht ein seliges Lächeln, und ein Blick grenzenlosen Erbarmens antwortete ihr aus den Augen ihrer Wohltäterin. Als aber nach einiger Zeit die fromme Schwester, die Leiterin des Kindergartens, ihn selbst um ein kleines, schreiendes Baby vermehrte, wurde trotz aller Gegenvorstellungen meiner Großmutter der Anlaß benützt, ihn aufzulösen. »Du siehst, wohin solche Sentimentalitäten führen, dadurch wird die Unsittlichkeit nur unterstützt – die Leute verdienen es eben nicht besser!« hieß es, und die armen Kinder kamen wieder zurück in den Schmutz und das Elend des Elternhauses. Nicht einmal die Schule, in der nur neue und andere Qualen ihrer warteten, befreite sie daraus. Der Anblick dessen, was sie dort erlitten, war ein neuer Anlaß für meine Großmutter, um einzuschreiten und hier wenigstens ihren Willen so weit durchzusetzen, daß der alte rohe Lehrer durch einen neuen ersetzt wurde. In einem ihrer Briefe darüber heißt es:

»Es sind Vereine gegen Tierquälerei entstanden – und ich begrüße sie freudig –, aber ruhig sehen wir zu, wie die Kinder gequält werden, wie vor allem die ländlichen Schullehrer ihr Züchtigungsrecht in unbarmherziger Weise gebrauchen. Zu Folterkammern der Kinder werden die Schulen; der Lehrer versucht einzuprügeln, was ein armes, schlecht genährtes, schlecht begabtes Kind nicht begreifen kann, und nun, aus Angst vor der Mißhandlung, erst recht nicht begreift. Man spricht viel über die Fürsorge des Staates für den armen Mann, läßt aber inzwischen ruhig des armen Kindes ohnehin recht graue Kindheit durch qualvolle Schuljahre vollends verbittern. Es kommt bei jedem Wetter, schlecht bekleidet, schlecht genährt, erfroren, durchnäßt in die schlecht erwärmte enge Schule, wo beim geringsten Vergehen strenge Strafen seiner warten. Dabei muß es den Lehrern noch Garten-, Feld und andere Arbeit leisten, zu Hause Aufgaben lernen und den armen Eltern nach Kräften helfen . . . Ich habe einen Jungen infolge der Ohrfeige eines Lehrers sterben sehen, einen anderen desgleichen, der bis Mitternacht in Schweiß gebadet zitternd sein Pensum lernte, bis ein Gehirnschlag ihn erlöste. Ich habe die Bitte gehört: Väterchen, schneid mir die Haare nicht zu kurz, sonst tut der Stock des Lehrers so weh! Oder: Mütterchen, nur heute noch laß mich zu Hause, ich habe so große Angst – und das von Kindern, deren arme Kate nichts Verlockendes für sie hatte, für die eine freundliche Schule, ein froher Unterricht, ein gütiger Lehrer ein wahrer Lebenssonnenschein sein müßte; ich habe es gesehen und gehört ein halbes Jahrhundert nach Goethe, den man als unseren größten Dichter preist, dem man Denkmäler errichtet, auf dessen Namen man Vereine gründet und der gesagt hat: Fröhlichkeit ist die Mutter aller Tugenden.«

Wenn sie sich schon, soweit die Prügelstrafe der Kinder in Betracht kam, in schroffem Gegensatz zu der allgemeinen Auffassung konservativer Kreise befand, so noch entschiedener in bezug auf die Art in der Behandlung der Erwachsenen. Ich habe sie oft bebend und totenblaß sich zurückziehen sehen, wenn ein Knecht oder ein Diener mit einer Ohrfeige traktiert wurde und sie doch nicht die Macht besaß, es zu verhindern. »Ihr erzieht Sklaven, und aus den Sklaven werden notwendig Aufrührer«, sagte sie, »während ihr Menschen erziehen solltet, die nur in Liebe folgen.« Sie selbst empfand allen Untergebenen gegenüber »ein instinktives Schuldbewußtsein, ein Gefühl der Scham, wenn ich in bequemem Wagen an ihren schmutzigen Hütten vorüberfuhr. Ich habe immer versucht, durch besondere Güte, Rücksicht und Liebe diese Schuld abzutragen, aber mit dem Alter ist das peinigende Gefühl nur immer drückender geworden. Warum bist du nicht die alte Frau, die auf dem Feld Rüben zieht oder mit der Holzkiepe auf dem Rücken nach Hause wankt, um dort noch von der Ungeduld, der Armut und Lieblosigkeit ihrer Kinder empfangen zu werden – frage ich mich immer wieder, und die rätselvollen Beziehungen zwischen Schuld und Unglück werden nur immer dunkler. Erfahre ich, wie Millionen und aber Millionen Jahr aus Jahr ein im Schweiße ihres Angesichts die widerwärtigste Arbeit verrichten und kaum das nackte Leben dafür haben, während andere, nicht weil sie besser, sondern nur weil sie glücklicher sind, im bequemen Lehnstuhl Kupons schneiden, so verdunkelt sich das Auge meiner Seele nur zu oft und vermag den allgütigen Vater im Himmel nicht mehr zu erkennen.«

Mitleid, auch in dieser höchsten Steigerung, mit dem Unglück zu haben, ist eine Empfindung, die sie mit anderen weichen Herzen teilte, aber bei ihr erschöpfte sie sich nicht in bloßen sentimentalen Gefühlen, sie löste vielmehr auf der einen Seite stets eine eingehende Überlegung über die Maßnahmen zur Abhilfe des Unglücks aus und steigerte sich auf der anderen nicht zur Verdammung, sondern zu tiefstem Mitleid mit der Schuld. Englands sozialpolitische Gesetzgebung, ebenso wie die Selbsthilfe der englischen Arbeiter durch Gewerkschaften und Genossenschaften, über die sie durch ihre Korrespondenz mit ihrem Freunde Hamilton genau orientiert war, erschienen ihr vorbildlich. »Das Bedürfnis«, so schrieb sie mir einmal, »das große Kreise der Besitzlosen jetzt nach besseren Lebensbedingungen empfinden, ist der klarste Beweis für ihren geistigen Fortschritt. Verurteilt, in ihrem Elend zu verharren, sind eigentlich nur die ganz Stumpfsinnigen, die sich, wie die Verblödeten im Schmutz, darin wohl fühlen.« Sie stand mit ihrer Auffassung im Kreise Lablackens ziemlich allein, und jede Roheit, jede Gemeinheit, die unter den Arbeitern oder den Instleuten zutage trat, wurde als Gegenbeweis benutzt. Ich erinnere mich, wie sie z. B. einmal ihrer Entrüstung über die sich wiederholenden schamlosen Vergewaltigungen ihres Schützlings, der armen Lahmen, lebhaften Ausdruck gab und man ihr sagte: »Und diesen Leuten, die du so verdammst, glaubst du eine höhere Kultur zuführen zu können? Verlangst für diese gemeine Bande alle möglichen Arbeits- und Lebenserleichterungen? Verteidigst es sogar, daß ein so elender, besoffener Kerl dasselbe Wahlrecht hat wie ein gebildeter Mann?« Sie aber erwiderte darauf: »Seid ihr vielleicht stets dieselben gewesen, die ihr heute seid? Seid ihr und euresgleichen nicht auch vor Jahrhunderten aus solch physischer und moralischer Vertiertheit aufgestiegen? Daß es bei euch um so viel früher geschah, ist nicht euer Verdienst, sondern Gottes Gnade, die euch nun die Verpflichtung auferlegt, den anderen, Zurückgebliebenen herauszuhelfen. Und was das Wahlrecht betrifft, so ist, wenn sein Besitz von sittlicher Wertung abhängen soll, der arme rohe Trunkenbold dessen noch immer würdiger als der reiche und vornehme Mann, dessen Körper, Geist und Seele die Jahrhunderte bildeten, und der doch sein größtes Vergnügen im Saufen, Spielen, Pferde- und Leuteschinden und Mädchenverführen findet.« Ihre Entrüstung über Gemeinheit und Ungerechtigkeit ihrer Standesgenossen löste aus der sonst so milden, sanften Frau zuweilen eine so große Erregung aus, daß die ursprüngliche, durch Erziehung und Leben gebändigte Leidenschaft ihrer Natur dabei wieder zum Vorschein kam. »Wenn der Adel, nachdem die alte Welt zertrümmert ist, nicht die Bausteine trägt zur neuen, so ist er selbst schuld daran, wenn er Ruine bleibt und allmählich ganz verschwindet«, schrieb sie. »Adlig sein heißt eine adlige Gesinnung haben«, hieß es an anderer Stelle, »und sie ist zugleich die christliche; sie verbietet üppiges Leben, Schulden machen, über die Verhältnisse hinauswollen, die Armen und Abhängigen verletzen und ausnutzen . . . Wenn ein Leutnant für dreißig Mark diniert und fünfzehnhundert Mark verspielt, dessen Vater sich sein gewohntes Glas Bier versagt, dessen Mutter stirbt, weil sie keine Badereise an sich wenden kann, dessen Schwester eine widerliche Geldheirat macht, um die Familie zu retten, so ist das ein größeres Verbrechen, als wenn ein armer Kerl einem reichen Mann das Portemonnaie aus der Tasche zieht . . .« »Ihr entrüstet Euch«, schrieb sie ein anderes Mal, »über die zunehmende Unzufriedenheit, über die wachsenden Lebensansprüche der Armen, statt über den Grad ihrer bisherigen Zufriedenheit zu staunen und Euch über Euch selbst zu entsetzen, die Ihr im Besitz aller höchsten Güter der Welt doch noch immer unglücklicher seid. Was ist unglücklich in Euch? Neid, Genußsucht, Geldgier, gekränkte Eitelkeit – ach, wenn sie doch vor lauter Unglück sterben wollten! . . . Ihr seid mit allem unzufrieden, außer mit Euch selbst; kehrt die Sache um und seid mit allem zufrieden, außer mit Euch selbst! Lernt das Beichtgebet der katholischen Kirche, aber nicht nur mit den Worten, sondern mit dem Herzen: mein ist die Schuld, mein ist die große Schuld –, statt daß Ihr die Schuld nur immer auf andere schiebt. Ihr habt Euch entwickelt, habt Euch genährt, habt die Kultur der Welt für Euch allein in Anspruch genommen, während die anderen, die stillen, dunklen, demütigen Massen im Schweiße ihres Angesichts für Euch arbeiteten, und Euch noch die Hände küßten, wenn ein gnädiges Lächeln sie dafür belohnte. Jetzt ist ihre Zeit gekommen, und wenn sie mit Gewalt und Verbrechen protestieren gegen die lange Leidensnacht, so ist Euer die Schuld.«

Eine andere Variation desselben Standpunktes war es, wenn sie gegenüber dem zunehmenden Antisemitismus ihrer Kreise die Juden verteidigte. »Ich teile den Haß gegen die jüdischen Gesinnungen«, schrieb sie, »nur daß ich das ›jüdisch‹ als Eigenschaftswort für unsere Zeit und nicht bloß für die Juden ansehe. Wenn heute alle Juden verschwänden, blieben unzählige Christen aller Nationen, um den jüdischen Geist fortzusetzen. Wenn der Ursprung dieser Gesinnung den Juden nicht ganz, aber vielfach zur Last fällt, so müssen wir nicht vergessen, daß die Folgen von Druck, Qual, Mißhandlungen während vieler hundert Jahre nicht durch Emanzipation von einem halben Jahrhundert ausgeglichen werden können und ein mehr als tausendjähriger Haß sich nicht in fünfzig Jahren verwischt. Daß sie ohne Vaterland eine kompakte Nation geblieben sind, gereicht ihnen zum Ruhm, uns Namenchristen aber zum Vorwurf. Im Eifer für ihre Idee leugnen die Antisemiten fast die Geschichte, ignorieren Foltern, Judengäßchen, Judensteuern, Qualen jeder Art, Ausschließen von fast jedem Amt und Erwerb. Nennen sie Krämer, nicht Handelsherren, angesichts eines Rothschild! Läuten die Sturmglocke gegen hunderttausend Juden und ihre Siege über Millionen Christen, doch gehören zu jedem Betrüger Leute, die sich betrügen lassen, und die Armeen sind auch nicht zu finden, mit denen uns die Juden vertilgen. Sind es denn geistige, diabolische Waffen, so laßt uns nur Christen sein, anstatt zu Millionen überzulaufen in das Lager des Schwindels, des Betrugs und der Gründerei, die nirgends so schamlos sind wie in Frankreich, wo es sehr wenig Juden gibt. Laßt uns in unseren christlichen Bestrebungen so zäh, so klug, so ausdauernd sein wie die Juden, laßt uns, wie sie, erst erwerben und dann ausgeben, anstatt uns beim Ausgeben so lange aufzuhalten, bis wir den Halsabschneidern selbst in die Arme laufen, weil es für faule Verschwender keine rechtlichen Leiher gibt.«

Daß sie mit diesen Ansichten ziemlich allein stand, kann weder wundernehmen noch ihrer Umgebung zu persönlichem Vorwurf gemacht werden. Im Geiste Goethes lebte und dachte sie; für sie war des irdischen Lebens höchster Inhalt, wie für Faust vor seiner Vollendung: die Arbeit im Dienste der Menschheit, das Schaffen eines neuen Bodens für ein neues Geschlecht. »Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn«, darin gipfelten auch ihre Wünsche angesichts des grenzenlosen Elends in der Welt. Und auch ihr Christentum war das Goethes. Wenn er sagte: »Ich bin ein dezidierter Nichtchrist«, so drückte er damit dieselbe Absage an das kirchliche Christentum aus, das sie kennzeichnete, wenn sie von ihrer »Gräfin Thara« sagte: »Sie bezeichnete ihre Herzensstellung mit dem ›Ich bete allein‹.« Und wenn sie erklärte: »Religion ist Tat«, so geschah es auch in der treuen Gefolgschaft ihres großen Meisters.

Aber zwischen diesen Auffassungen, die einer inneren Befreiung von Vorurteilen und Selbstsucht und einer geistigen Höhe entstammen, von der aus alles Materielle auf gleicher Ebene liegt, und denen der Generation, der ihre Kinder angehörten, lag eine Welt, lag vor allem der große Kampfplatz der sozialen Gegensätze, auf dem ein ungeheures Ringen ums Dasein begonnen hatte, bei dem auf allen Seiten die persönlichen Interessen die Führer waren. Den Wünschen der zum Bewußtsein ihres Elends gelangten Massen nach Freiheit, nach Gleichheit der Lebenshaltung nachgeben, bedeutete für die privilegierten Klassen ein allmähliches Aufgeben ihrer selbst, das dem einzelnen zwar möglich erscheinen konnte, der, wie Jenny Gustedt, das Menschheitsinteresse allein im Auge hatte, für die Gesamtheit aber unmöglich war. Dieser historisch notwendige und in seiner Entwicklung psychologisch folgerichtige Kampf entzündete unausbleiblich jenen Haß, der sich bei zwei Gegnern immer entwickelt, die um ihr Leben miteinander ringen, und dieser Haß wird wieder notwendig das Urteil über den Feind irreführen und die besten Absichten verdunkeln. Meiner Großmutter ging dafür jedes Verständnis ab, und das erschwerte noch ihre Stellung.

Ihres Sohnes Wahl in den Reichstag, durch die zwar die Sphäre seiner Interessen erweitert wurde, brachte sie noch mehr als früher in innere und oft auch in äußere Konflikte, da sein schroffer, konservativer Standpunkt ihren Widerspruch herausforderte. »Meines Sohnes neue Tätigkeit hat dem geistig oft recht öden Leben einen neuen Inhalt verliehen«, schrieb sie an eine Freundin, »es kommen Bücher, Broschüren, Zeitungen ins Haus, und vor allem die außerordentlich unterrichtenden stenographischen Reichstagsberichte, die meine fast eingeschlafenen politischen Interessen wieder rege machen und meinen alten Kopf oft mit einer Flut von Ideen erfüllen, die wie gepanzerte Ritter im Turnier auch wohl gegeneinander streiten. Wieviel Kraft, Klugheit, Erfahrung in den Köpfen und Worten der Volksvertreter! Statt der Zeitungen, die alles parteipolitisch färben und mehr und mehr auf den sittlich tiefsten Standpunkt gelangt sind, in jedem Gegner ohne weiteres einen Schurken zu sehen – wodurch die demoralisierendste Wirkung, die sich denken läßt, von ihnen ausgeht – sollten die Reichstagsberichte allgemein gelesen werden. Bei mir befestigt sich dabei die theoretische Neigung nach links, während ich doch wohl einsehen muß, daß praktisch die jetzige konservative Regierung die beste ist. Das Ideal der Linken, das sich in den viel verpönten und doch, christlich aufgefaßt, herrlichen Worten: ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹ ausdrückt, ist auch das meine und entspricht der Reinheit der Theorie, steht aber im Widerspruch mit der Unreinheit im praktischen Leben: es baut auf dem Fundament und der Voraussetzung tugendhafter Menschen, während das praktische Leben auf der Voraussetzung sündhafter Menschen bauen muß. Das große Erziehungswerk aber der Geschichte und der Menschheitsentwicklung nähert uns beständig dem Ideal, denn trotz aller Qualen und Greuel der Gegenwart läßt sich der allgemeine, für unsere Wünsche freilich sehr langsame Fortschritt doch nachweisen: von der unaufhörlichen Kriegsplage, den Hexenverfolgungen und Ketzergerichten des Mittelalters, über die Schauer der Negersklaverei bis heute – ein stufenweises Aufsteigen, zu dessen gottgewolltem Tempo wohl der Hemmschuh konservativer Politik ebenso notwendig ist wie die Peitsche der Sozialisten . . . Nur wo die Konservativen schärfster Observanz sich nicht mit dem Aufhalten begnügen, sondern erhalten wollen, was dem Tode verfallen ist, da befinde ich mich in Gegensatz zu ihnen. Wie gute Eltern sollten sie ihre Arbeit als ein Erziehungswerk betrachten, das ja auch oft darin besteht, der zu großen Heftigkeit der Kinder Zügel anzulegen, und sollten sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß sie, wie alle Alten, der Jugend weichen müssen, wenn ihre Rolle ausgespielt ist.« In einem anderen, aus dem Jahre 1886 datierten Briefe schreibt sie: »Ich möchte wohl mit den Plänen unseres eisernen Kanzlers einverstanden sein, aber ich kann es nicht immer und bin froh, daß ich mit meinem Gewissen nicht an der Stelle meines Sohnes im Reichstag sitze. Allein die Kolonialpolitik ist mir nicht sympathisch, sosehr ich den Schutz zum Auswandern billige – Goethe sagt: wo wir nützen, ist unser Vaterland! –, aber doch nur in Gegenden, die ein schönes Vaterland werden können, nicht in die Glutöfen der Welt, wo man noch dazu mehr Eisenbahnen brauchen wird, um zu besseren Ländern zu gelangen, als wir in Deutschland noch brauchen, um das nötigste Verkehrsnetz zu vollenden, und wo es, wie ich fürchte, nicht ohne jene Kolonialgreuel der Unterdrückung und Ausrottung der Eingeborenen abgehen wird, die Englands großartige Politik so beflecken. Auch mit der Polenausweisung bin ich nicht einverstanden, ich halte sie für hart, grausam, ungerecht, unpolitisch, erbitternd. Unter den Tausenden sind eine Masse harmlose, gehorsame, genügsame Leute, die jetzt erst ein Polenbewußtsein bekommen, und wenn Bismarck an eine Vorbereitung zu einem Polenaufstand glaubt, so ist er es, der ihnen die Soldaten zutreibt. Einen ähnlichen Standpunkt habe ich immer gegenüber der Sozialistenausweisung eingenommen: es ist selbstverständlich, daß der Staat Verbrecher verfolgt und ihnen die Möglichkeit zum verbrecherischen Handeln nimmt, aber wie wenige der Ausgewiesenen mögen von Natur Königsmörder sein! Und wieviel Idealismus, wieviel ehrliche, aufopfernde Menschenliebe spricht aus den Worten ihrer eigentlichen Vertreter im Reichstag! Sie sind nicht nur ein notwendiger Sauerteig in unserer inneren Politik, sie wirken auch als Strafgericht Gottes an all denen, die, befriedigt vom eigenen Wohlleben, an der grenzenlosen Not der Millionen achtlos vorübergingen. Wollte Gott, daß die Herrschenden sich dieses Strafgericht zu Herzen nehmen und sich ihrer ungeheueren Unterlassungssünden ebenso bewußt werden wie der großen Verantwortlichkeit, die eine Folge ihrer bevorzugten Stellung ist. Du siehst, mein Lilychen, worauf alte Leute verfallen, die nichts Tatsächliches aus ihrem Leben zu berichten haben: sie treiben sogar ihre stille Privatpolitik, und im Hintergrund will der Wunsch nicht zur Ruhe kommen, daß sie sogar damit noch nützen können. Meine Kinder habe ich nach der Richtung aufgegeben, mein Enkelkind aber ist noch ein unbeschriebenes Blatt und läßt sich vielleicht die großmütterlichen Zeichen gefallen, die sich darauf einprägen möchten.«

Nichts kann den Wesensunterschied zwischen meiner Großmutter und der Welt, die sie umgab, deutlicher bezeichnen als diese Briefe. Sie war zwar weit entfernt davon, sich zu irgendeiner der sozialistischen Theorien zu bekennen, sie beschäftigte sich gar nicht mit ihnen und wäre z. B., hätte sie sich damit beschäftigt, zu einer Anerkennung der Idee des Klassenkampfes nie gelangt, aber daß sie in ihrer Beurteilung einen Sozialisten menschlich auf gleiche Stufe stellte mit anderen Menschen, daß sie praktische Forderungen, die von jener Seite kamen, als berechtigt anerkannte – das machte sie in diesem Kreise zu einer ganz ungewöhnlichen Erscheinung und begegnete nur darum meist einem gewissen nachsichtigen Schweigen und fand eine verzeihende Beurteilung, weil ihr weltfremder Idealismus und ihr hohes Alter als die eigentlichen Ursachen dafür angesehen wurden.

Ihre Lektüre der stenographischen Berichte der Reichstagsverhandlungen – »die ich mit einem Eifer lese, wie Backfische einen spannenden Roman« – bestärkten sie indessen in ihren Auffassungen. »Ich gewinne«, schrieb sie, »besonders durch die Reden der Mitglieder der Linken, Einblicke in Zustände, deren Grauen ich zwar ahnte, die mich aber doch angesichts ihrer Wirklichkeit ganz außer Fassung bringen. Das Elend der Schuldlosen – das gräßlichste Rätsel der Welt! In den Dorfkaten hockt es und sieht mich aus blöden Augen an, und in den Fischerhütten am Strand, wo ein hartes Geschlecht in ständigem Kampf mit Wasser und Wind um das bißchen armselige Leben ringt, und aus Zolas Romanen schreit es mir entgegen, daß aller Rest von Lebensfreude davor die Flucht ergreift.«

Ihr Mitleiden, das kein gefühlsmäßiges Mitleid mehr war, steigerte sich fast bis zum Krankhaften. Kein Mensch, ja kein Tier war ihr zu gering, als daß ihr Herz sich vor ihm verschlossen hätte; es wurde ihr zum körperlichen Schmerz, wenn sie Unrecht sah, das sie nicht verhindern, Kummer sah, dem sie nicht abhelfen konnte. Wenn sie sich früher angesichts des unverschuldeten Unglücks dadurch beruhigt hatte, daß die Schuld der Gesellschaft an Stelle der Schuld des einzelnen trat, so vermochte sie jetzt nicht mehr dabei stehenzubleiben. Es gab für die Greisin, die sich am Ende ihrer Tage demselben Sphinxrätsel des Lebens gegenübersah wie in ihrer Jugend, nur einen Ausweg, der sie davor zu bewahren vermochte, den Glauben an den allgütigen Gott – die Stütze ihrer inneren Welt – nicht selbst zu zertrümmern, ihn mit dem namenlosen Unglück, das sie sah und empfand, in Einklang zu bringen: der Glaube an Vor- und Nachexistenzen der Seele. Die christliche Idee von einer künftigen ewigen Seligkeit hatte sie sich nie zu eigen gemacht, »in ihr liegt weder ein Trost für die Unglücklichen«, sagte sie, »noch eine Erklärung dafür, warum der eine ins Elend, der andere in den Glanz geboren wurde«, aber der Gedanke einer unendlichen Entwicklung, in der das Erdendasein nur eine der Episoden ist, hatte für sie etwas außerordentlich Beruhigendes und Befriedigendes. Scheinbar unverschuldetes Unglück war danach die Folge der Schuld früherer Existenzen, und selbst für die Qualen der Tiere fand sie eine Erklärung in der Seelenwanderung, wie sie der Buddhismus auch im Hinblick auf sie lehrt. Ihr Glaube war so unerschütterlich, daß keine Einwendung dagegen sie aus der Ruhe brachte. »Du glaubst nicht an Vorexistenzen, weil Du Dich ihrer nicht erinnern kannst, und hältst sie, selbst ihr Vorhandensein vorausgesetzt, für wertlos, wenn wir von unserem persönlichen Vorleben nichts mehr wissen?« schrieb sie mir. »Kennst Du nicht jenes merkwürdige Erinnern, das uns in Gegenden und in Situationen befällt, die wir zweifellos auf Erden noch nicht sahen oder erlebten, oder das Geheimnis der Sympathie, das Menschen gegenüber nicht anders wirkt wie ein Wiedererkennen längst Vertrauter? Oder die Bilder des Traums, die uns mit aller Lebendigkeit in Länder und unter Menschen führen, die wir auch in diesem Leben noch nicht gesehen haben? Und was den Wert der Erinnerung betrifft, so vergessen wir doch schon von unserem irdischen Leben neun Zehntel aller Tatsachen und noch unendlich mehr aller Worte; schon hier liegen die Lebensresultate nur in dem, was wir geworden sind, schon hier lösen sich Hunderte von scheinbar nahen Verhältnissen bis zur Vergessenheit. Ist es nicht sogar in tausend Fällen eine Erlösung, wenn die Erinnerung verblaßt und verlischt? Es kommt gewiß in früheren und späteren Existenzen des Geistes nicht auf Erinnerung, sondern auf Gewordensein an.«

Und in einem ihrer letzten Briefe schrieb sie: »Am Schlusse meines Lebens ist das innere Drängen, Stürmen, Fragen, das Hin- und Hergeworfensein zwischen Glauben und Zweifeln beseitigt; mit den Dogmen habe ich abgeschlossen . . . Das Unglück der Schuldlosen, Kinderqualen, Leiden, die vor unseren Augen nicht zur Besserung, sondern zum Verderben zu führen scheinen, die geringe Zahl der Namenchristen und die noch geringere der Christen im Geiste und in der Wahrheit, die Millionen in Irrtum und Grausamkeit hereingeborener Menschen – Rätsel, die mich mein Leben lang quälten und meine Freuden vergällten, sind mir zu Mysterien geworden, Folgen oder Beziehungen von Vor- und Nachexistenzen. Darüber hinaus dringt siegreich mein Hoffen, und ich glaube, daß schließlich allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Es scheint mir begreiflich, daß, wie ein Maulwurf das Licht nicht sehen, wie ein unmündiges Kind den Faust nicht verstehen kann, wir auf unserer Erdenstufe die höheren Stufen noch nicht zu erkennen vermögen. Auch der ungeheure Fortschritt der Wissenschaft und der trotzdem noch so geringe Umfang unseres Wissens dient mir zum Beweise dafür, wie viele Erkenntnisentwicklungen wir sowohl in der irdischen wie in anderen Existenzen noch vor uns haben. Wo aber der Verstand sich entwickelt, sollte die Seele es nicht vermögen, sollte nicht reifen und wachsen und Höhen erreichen, die auf Erden nur wenige – ein Christus, ein Goethe – erreicht haben!?«

Aber wie ihr ganzes Lebensgebäude zusammengestürzt wäre, wenn dieser Glaube nicht die Brücke gebaut hätte zwischen ihrem Gottesglauben und ihrer Menschenliebe, so wäre sie auch an dem Schmerz und an der Größe ihrer Mutterliebe zugrunde gegangen, wenn sie die Hoffnung auf ihrer Kinder endliche höchste Entwicklung hätte aufgeben müssen.

Die letzte Eintragung in ihr Sammelbuch besteht in jener düsteren spanischen Ballade, die von dem Jüngling erzählt, der der Mutter das Herz aus der Brust reißt, um es der grausamen Geliebten zu bringen. Er stürzt auf dem Wege zu Boden –

»Da sieh, dem Mutterherzen
Ein Tropfen Bluts entrinnt
Und fragt mit weicher Stimme:
Tat'st du dir weh, mein Kind? . . .«

So groß, so stark war auch ihre Liebe, die durch alle Wunden, die ihr geschlagen wurden, nicht sterben, sondern nur immer noch wachsen konnte. Aus dieser Empfindung heraus schrieb sie mir: »Mir ist oft, als müßte ich denen Glück wünschen, die nicht heiraten und keine Kinder haben. Wie gering ist die Zahl der Mütter, bei denen das Glück das Unglück überwiegt! Für Muttermühe, Muttersorge, Mutterarbeit entschädigt die Liebe zu den Kindern und die Freude an ihnen – aber der Schmerz und Stachel über ihre Leiden und ihre Sünden und ihre schweren Schicksale, die sind par-dessus le marché, und je mehr man liebt, desto schwerer ist dies Mitleiden, und je älter man wird, desto kraftloser ist man dagegen, sogar Gebet, Glaube und Frömmigkeit lassen darin schmerzliche Lücken. Eine Mutter trägt nicht nur ihre eigene Last, sondern noch die Lasten ihrer Kinder und Kindeskinder bis zum Grabe, und das schlimmste ist, daß sie sie ihnen dadurch nicht einmal abnimmt . . . Und wenn ihr Nest leer geworden ist, sie keine oder oft keine erfüllbaren Pflichten mehr hat, ihre Kinder ihr fremd und fremder werden, ihr Rat nicht gehört wird und ihre Erfahrungen nichts nützen – wie furchtbar, wie unerträglich würde diese entsetzlichste Lebensenttäuschung sein, die Enttäuschung an dem, was wir aus unserem Blut entstehen sahen, mit unserem Herzblut nährten, wenn es den einen Trost nicht gäbe: den Glauben an immer neue Verwandlungen, bis für alle die höchste Stufe der Seelenentwicklung erreicht ist. Der Schmerz freilich bleibt: hat das Erdenfegefeuer sie nicht genug gereinigt, so sinken sie in eine noch tiefere Hölle der Prüfungen – vielleicht, daß die Tränen der Mutter, auch die ungeweinten, die am schwersten wiegen, sie davor bewahren! Wenn ich rückwärtsschauend mein Leben betrachte und mich frage, welches Gefühl das mächtigste, welche Erkenntnis die folgenreichste, welche Hoffnung die sicherste ist, so lautet die Antwort: das tiefste Gefühl ist die Mutterliebe; die wichtigste Erkenntnis: die Sünde ist der Welt Verderben; die sicherste Hoffnung: die Entwicklung der Menschheit bis zum höchsten Sein. Ohne diese würden Gefühl und Erkenntnis nur die Qualen der Erdenkinder erhöhen, und es gäbe nur einen Ausweg aus dieser Hölle: die Selbstvernichtung der Menschheit.«

So war sie am Ende des Lebens da angelangt, wo Goethe gestanden hatte, als er schrieb:

». . . Und solang du dies nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde,
Bist du nur ein trüber Gast,
Auf der dunklen Erde.«

Sie sah dem Tode entgegen im Sinne seiner letzten Worte, die sie oft wiederholte: »Nun kommt die Wandelung zu höheren Wandelungen.«

Innerlich fester verbunden als je und nur äußerlich fern der alten Heimat, schien sich der Kreislauf ihres Lebens leise zu schließen. Und als ob die Harmonie ihres Wesens auch in ihrem Dasein zum Ausdruck kommen sollte, so berührte das Ende den Anfang. Hatten sich beschattend, aber auch schützend die Äste des Waldriesen über sie gebreitet, so schmiegten sie sich jetzt wie Freundesarme um sie.

Mit denen, die sie in Weimar liebhatte, war sie immer in Verbindung geblieben und hatte an allem, was sie erzählten, den lebhaftesten Anteil genommen. Nur einer, der zu den Nächsten gehörte – der Großherzog –, war seit ihrer Abreise verstummt. Er hatte ihre Trennung von Weimar nicht begriffen und sie als eine persönliche Kränkung empfunden, die er nicht verwinden konnte; daß es vor allem pekuniäre Sorgen waren, die sie dazu gezwungen hatten, daß sie geblieben wäre, wenn sie sich eine größere, zur Aufnahme ihrer Kinder mögliche Wohnung hätte gönnen dürfen – das hatte ihr Stolz ihm verschwiegen, das verschwieg sie ihm auch dann, als sein Mißverstehen, der scheinbare Verlust seiner Freundschaft ihr tiefe Schmerzen bereitete. »Eure Generation, die so reich an Verstandeserkenntnis und so bettelarm an Herzensreichtum ist, weiß nichts von dem Wert treuer, lebenslanger Freundschaft«, schrieb sie, »sie ist die Wahlverwandtschaft der Seelen, die uns die Fremdheit der Beziehungen des Blutes vergessen läßt, sie ist der Hebel geistigen Fortschritts, der größte menschliche Trost im Leid. Einen lebendig verlorenen Freund beweinen müssen, ist darum viel schmerzlicher, als um das unabweisbare Geschick seines Todes zu trauern. Daß der Großherzog mich so mißverstehen konnte, wo die gute Kaiserin mich so ganz verstand, war darum eine harte Prüfung für mich. Nun ist meines lieben Walter Goethes Tod die Brücke geworden, die ihn wieder zu mir hinüberführte – wie denn das Beste in meinem Leben immer in tiefer Beziehung zu dem Namen Goethe gestanden hat.« Walter Goethes Vermächtnis seines großväterlichen Nachlasses an die Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar war nicht nur ein Zeichen seiner großen Gesinnung, sondern auch ein Beweis für seine Menschenkenntnis. Er wußte, daß es durch sie in der rechten Weise zu einem Besitztum des deutschen Volkes werden würde. »Es ist soviel über Goethes Nachlaß gestritten worden«, heißt es in einem Brief meiner Großmutter, »man hat oft mit mehr Neugierde als Begeisterung danach verlangt, mir selbst sind von allen Nachlässen die geistigen Goetheflammen in seinen Enkeln als die wichtigsten und liebsten erschienen, und daß ich recht hatte in meiner großen Meinung über diese so viel Gescholtenen, beweist Walters Testament. Die großartige und würdige Weise, wie es zur Verherrlichung seines großen Ahnen gewandelt wird, entspricht ihren Charakteren, die zwar nicht in dieses Jahrhundert, aber in das Große und Edle aller Jahrhunderte passen.« Als nun auch das Goethe-Haus der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und die Empfangszimmer wie zu Goethes Lebzeiten gestaltet werden sollten, wandte man sich von Weimar aus an sie, die einzige, die von der ehemaligen Beschaffenheit der Räume noch etwas Genaues wissen konnte. Nach ihrer Beschreibung und einer Zeichnung, die sie sandte, wurden sie in ihrer alten schlichten Vornehmheit wiederhergestellt. »Ich beschäftige mich viel mit Weimar«, schrieb sie mir, als sie davon erzählte, »und es versinkt ein halbes Jahrhundert meines Lebens, während in jugendlicher Frische die alte schöne Zeit vor mir aufsteigt. Ob die Goethe-Gesellschaft ein Mittel sein wird, sie auch für die Menschheit lebendig zu machen, wage ich nicht zu entscheiden. Es ist leider eine Eigentümlichkeit des Deutschen, daß er gute und große Gedanken hat, diese aber verknöchern und versumpfen, sobald er sie in die Paragraphen eines Vereinchens zwängt. Auch der deutsche Gelehrte, so hoch ich ihn stelle als gründlichen Wahrheitssucher, gerät mit seinem Forschungstrieb leicht in Kleinigkeiten, und dann geht ihm der große Blick für das Ganze verloren. Hoffentlich wird der Goethe-Verein nie vergessen, daß Goethe, neben seinem Interesse für das Kleinste, das Große stets obenan stellte, hoffentlich wird er seinen Geist zu erforschen und lebendig auszubreiten suchen, was uns recht not tut . . .« Der Großherzog, erfüllt mit jugendlicher Begeisterung für die neue große Aufgabe Weimars, wandte sich nun auch an die alte Freundin mit Fragen und Bitten, die die Zeit Goethes und ihre Erinnerungen daran betrafen. Und die ferne Einsamkeit Ostpreußens wurde ihr belebt und erfüllt mit den unsterblichen Gestalten der Vergangenheit. Unermüdlich im Fragen war der Großherzog, unermüdlich im Antworten war sie. Im Traum verloren machte sie ihre regelmäßigen Spaziergänge durch Park und Wald oder saß still mit gefalteten Händen in ihrem tiefen grünen Stuhl; ihr Mund zuckte nicht mehr so oft wie sonst in schmerzlicher Sorge, ein weiches Lächeln umspielte ihn – mit sanftem Kuß grüßte sie der Genius ihrer Jugend.

Immer schattenhafter erschien ihr die Gegenwart, immer mehr lebte sie in der Vergangenheit und in einer Zukunft, die sie jenseits des Grabes sah: »Ich sehe von Stufe zu Stufe, von Licht zu Licht bis in den fernen, gottdurchglänzten Raum des Allerheiligsten. Ein Reich des Lichts, voll Musik, voll Liebe, hört und fühlt mein Geist mit einer Zuversicht, die täglich wächst. Und lächelnd, fast ohne Schmerz, winke ich denen, die mir vorangingen, grüßend zu . . .«

Es waren ihrer viele vorangegangen: Pauline, die blinde Schwester, war in demselben Kloster gestorben, das des verlassenen Säuglings erster Zufluchtsort gewesen war, und Beust, auf den sich alle schwesterliche Liebe meiner Großmutter nun konzentriert hatte, war ihr gefolgt. »Er war«, schrieb sie von ihm, »ein reiner Mensch und darum eine vornehme Natur, wie ich eine zweite nicht kenne.« Sein Tod wurde, wie der Walter Goethes, zu einem neuen Bindeglied zwischen ihr und dem Großherzog. Auf ihren Brief, der den Freund über den Verlust des Freundes zu trösten versuchte, antwortete er:

»Schloß Wartburg, am 9. September 1889.

Ihr Brief, gnädige Frau, hat mich tief gerührt, ich wollte, ich könnte Ihnen danken, wie ich es fühle. Jede Zeile erweckt Erinnerungen und Bedauern, die sich darin gleichen, daß sie, die einen wie die andern, sich in mir nur durch Schweigen ausdrücken. So tief ist die Furche, die der Schmerz um den Verlust meiner Mutter in mein Herz grub, und so tief ist auch die, die mir der Verlust meines Freundes gräbt. Er gehört zu denen, deren Eindruck erst erkennen läßt, was man besessen hat. Und man lernt die ganze Größe dessen, was man besaß, erst kennen, wenn der Besitz verlorenging. So feste Bande zwischen den Menschen, wie die zwischen mir und ihm, ziehen gleichsam, wenn sie auseinandergerissen werden, ein Stück von unserem eigenen Ich mit sich . . . So haben Sie mich doch wider meinen Willen zu einer erlösenden Aussprache veranlaßt. Sie allein können beurteilen, was ich leide! Der Glaube, daß mein treuer Freund nun mit denen vereint ist, die ihm vorangegangen sind und die er so zärtlich liebte, ist wohl ein Trost, aber den Verlust läßt er mich nicht überwinden.

Ihr Brief hat mich in Wilhelmsthal gesucht und in Weimar gefunden. Der nahende Herbst hat mich und meine Tochter Elisabeth veranlaßt, die Gegend zu verlassen, an die sich all die schönen Erinnerungen knüpfen, die Ihr Brief heraufbeschwor. Ich gestehe Ihnen, daß ich an jenem lieben alten Hause auch um anderer teurer Jugenderinnerungen willen hänge, die mit unsichtbarer Schrift auf seinen Mauern geschrieben stehen. Wie bedaure ich, gnädige Frau, mit Ihnen nur noch schriftlich verkehren zu können, und wie sehr bedauerte es der Verstorbene, der in derselben Lage war wie ich. Aber die Erinnerung kennt weder Zeit noch Entfernungen, und auch das Herz weiß von beiden nichts. Das empfindet aufs tiefste und mit aufrichtiger Dankbarkeit

Ihr alter Freund

Carl Alexander.«

Auch aus der Ferne schloß sich der Kreis der alten Freunde um so enger zusammen, je kleiner er wurde. Drei Greise waren es nur noch – Jenny Gustedt, der Großherzog und die Kaiserin – die das Band einer gemeinsamen Vergangenheit umschloß. Und unter ihnen war Jenny die Trösterin, die, die sie aufzurichten versuchte aus dem niederdrückendsten Leid. »Aus jeder Zeile, die meine geliebte Kaiserin mir schreibt«, heißt es in einem Brief meiner Großmutter aus dem Jahre 1888, »lese ich, wie schwer sie unter den Schlägen des Schicksals leidet: den Gatten, den Sohn verloren, den Enkel, der die erziehende Schule des Kronprinzentums nicht durchmachte – wie sie sich ausdrückt – unter der Last einer schwer zu tragenden Krone, mit dem Ausblick in eine ungewisse Zukunft.« Nicht allzu lange sollte die Kaiserin die neue Zeit miterleben, die ihr immer fremder wurde. In den ersten Tagen des Jahres 1890 schloß sie die müden Augen für immer. Kurz darauf schrieb Carl Alexander an ihre Freundin:

»Berlin, Schloß, 15. Januar 1890.

Sie werden es mir, wie sich selbst, gern glauben, daß Ihre Teilnahme mir eine wahre Wohltat gewesen ist. Sich selbst, weil es Ihr Herz war, das Ihre Feder führte, und weil es der Schmerz ist, der die Sprache der Freundschaft am liebsten hört. Ich kann von meinem eigenen Verlust nicht sprechen. Das ist auch nicht nötig. Ein jeder macht mir den Eindruck, als hätte er einen persönlichen Verlust erlitten. Das ist, wie ich glaube, das charakteristische Zeichen dieses Unglücks.

Gestatten Sie mir, hier zu schließen. Es gibt Ereignisse, deren einzige Sprache das Schweigen ist, denn dieses allein ist der richtige Ausdruck für den größten Schmerz.

Mein treuer Beust fehlt mir sehr und fehlt mir stets aufs neue und immer mehr . . .

Leben Sie wohl, gnädige Frau. Das Gedächtnis meiner Schwester und meiner Mutter werden Sie immer treu bewahren, erinnern Sie sich aber auch freundlich

Ihres sehr traurigen Freundes

Carl Alexander.«

Seiner Bitte um ein Erinnern folgte von Weimar aus eine neue: Goethes letzte Lebensjahre möchte sie schildern, sie, die von allen Überlebenden dem großen Toten jetzt noch am nächsten stand. Und während der Wintersturm vom Haff herüberbrauste und Wintereinsamkeit das Haus mit tiefer Stille füllte, saß die alte Frau am Schreibtisch und suchte ihren Erinnerungen eine Form zu geben. »Ich werde selbst wieder jung dabei«, schrieb sie mir, als sie von ihrer Tätigkeit erzählte. Auf ihre ersten Sendungen antwortete der Großherzog:

»Weimar, 28. Januar 1890.

. . . Ich erhielt die Blätter, die Sie, meine liebenswürdige und getreue Freundin, die geduldige Güte hatten, mit Details über Goethe und die englische Gesellschaft während seiner letzten Lebensjahre zu füllen, und um die ich mir erlaubt hatte, Sie zu bitten. Ich komme heute, um Ihnen die Hand dafür zu küssen. Vor allem aber komme ich, um Sie um Entschuldigung dafür zu bitten, daß ich abermals an dieselbe Güte appelliere, die mich so zu Dank verpflichtet, und an dieselbe Erinnerung, die mich entzückt. Meine Unbescheidenheit verlangt vor allem eine Erklärung; hier ist sie: Das Testament Walter Goethes hat mit dem Augenblick, da es bekannt wurde, in Weimar ein neues Leben erweckt. Ich kann es nicht besser charakterisieren, als indem ich versichere, daß man den Eindruck hat, als ob die Seele des größten deutschen Dichters, die Seele Goethes, wieder eingezogen sei in diese Stadt, in sein altes Haus, in das Schloß, um aufs neue zu wirken und zu schaffen. Hervorragende Männer sind herberufen worden, um Walter Goethes Vermächtnis zu ordnen und zu verwalten, andere haben sich bemüht, Zulassung zu der wundervollen neu entdeckten Quelle zu finden; sie kamen und kommen, um im Archiv zu arbeiten, und wir verdanken dem Umstand eine Fülle interessanter Bekanntschaften. Einen jungen Amerikaner, Mr. G. . . ., rechne ich dazu, der eine Arbeit ›Goethe in England‹ unter der Feder hat, und für den es sehr wichtig ist, alle Beziehungen zwischen Goethe und England kennenzulernen. Diese Notwendigkeit führte mich zu Ihnen, und das Interesse, das ich an der Sache nehme, läßt mich meine Bitte wiederholen. Und um meine Zudringlichkeit vollends auf die Spitze zu treiben, gestatten Sie mir, Sie zu bitten, für mich Notizen über alles zu machen, was an Tatsachen, Unterhaltungen und Namen aus jener Zeit noch in Ihrer Erinnerung lebt. Diese Zudringlichkeit ist so natürlich, daß Sie sie verzeihen, und so notwendig, daß Sie sie verstehen werden. Es lohnt sich der Mühe, die Arbeit, die ich Ihnen zumute, in zwei Teile zu teilen: die eine, die Erinnerungen an die Engländer enthaltend, so daß sie Mr. G . . . von Nutzen sein kann, die andere, für mich persönlich, die die übrigen Erinnerungen an die große Epoche Weimars zum Gegenstand hat.

Goethe hatte die Gewohnheit, jeden großen Schmerz dadurch zu bekämpfen, daß er eine neue Arbeit unternahm. Dieser Brief ist freilich keine, aber er gehört zu jener Tätigkeit, die ich mich bemühe, im Gang zu erhalten, weil ich in dieser fremden Welt der Seelen so schwer zu kämpfen habe. Dieser Kampf wird mir um so leichter werden, je eher ich dort Verständnis finde, wo ich verstanden sein möchte. Sie werden aus diesem Bekenntnis, teuerste Freundin, nichts Neues folgern, denn Sie kennen, wie ich hoffe,

Ihren alten, treu ergebenen Freund

Carl Alexander.«

 

»Weimar, den 11. Februar 1890.

. . . Ich habe niemals aufgehört, Ihr Fernsein von Weimar, meine liebe verehrte Freundin, auf das lebhafteste zu bedauern, ich tue es jetzt lebhafter denn je: wie würden Sie sich inmitten all der Tätigkeit wohl fühlen, die ich nicht anders charakterisieren kann als mit dem symbolischen Bilde des Januskopfes, denn sie umfaßt die Vergangenheit und wirkt für die Zukunft . . .

Vier Wochen sind heute seit unserem großen Verlust vergangen. Ich fühle mich in dem seelischen Kampf, der von ihm hervorgerufen wurde, noch nicht als Sieger. Und er beginnt immer wieder, wenn ich am wenigsten daran denke. Wie seltsam ist doch dieses doppelte Leben, das wir führen: eines nach außen und eines nach innen, und Liszt hatte recht, als er während einer für ihn sehr schweren Zeit der Prüfungen einmal sagte: es schiene ihm, als ob ein zweites Ich es auf sich genommen habe, sie zu ertragen. Da wäre ich bei den intimen Bekenntnissen angelangt – die rechte Sprache einer fest gegründeten Freundschaft! Und sie ist keine bloße Vermutung, sondern die einfache Wahrheit von seiten

Ihres treuesten Freundes

Carl Alexander.«

 

»Weimar, den 30. März 1890.

Die Verlegenheit, meine teuerste Freundin, scheint mir den schlimmsten aller Momente zu schaffen, um einen Brief zu schreiben. Dieser Gedanke ist für mich zur Überzeugung geworden, als ich die Feder ergriff, um Ihnen – endlich! – für Ihren liebenswürdigen Brief zu danken und für die interessanten und wertvollen Notizen, die ihn begleiteten. Ich bedarf von Seiten Ihrer alten und treuen Freundschaft aller Nachsicht und all der Güte, die sich mir gegenüber stets bewährt hat, um Ihrer Vergebung angesichts meiner Nachlässigkeit und Undankbarkeit sicher zu sein. Ich habe aber trotzdem ein Recht, zu versichern, daß meine Sünden nur scheinbare sind: Sie werden die erste sein, mir zu vergeben, wenn Sie sich erinnern wollen, welch traurige Pflichten mich Anfang des Monats nach Berlin geführt haben. Nun aber bin ich wieder zu Ihren Füßen mit meinem aufrichtigsten Dankgefühl. Nehmen Sie es als solches an.

Ihre Notizen haben den doppelten Reiz eines wichtigen und interessanten Inhalts und einer entzückenden, faszinierenden Form. Wir sollten Ihr Gedächtnis und Ihre Feder in Anspruch nehmen, um ein Bild der Gesellschaft Weimars zu zeichnen. Ich habe mir immer gewünscht, daß ihre Geschichte geschrieben würde. Das könnte nicht besser geschehen, als wenn Zeitgenossen einzelne Personen darstellen, und niemand in der Welt wäre dazu besser imstande als Sie. Und so sehen Sie mich abermals als Bittenden nahen, um Sie zu beschwören, es zu tun! Die Biographie Ottiliens wäre das erste, was Sie unternehmen sollten. Ein Lebensbild Walter Goethes zu zeichnen, würde ich sehr gern unternehmen. Wolf hat einen ebenso treuen wie geschmackvollen Biographen in seinem Freunde Mejer gefunden. Der Salon von Johanna Schopenhauer ist von Stephan Schütze geschildert, aber noch nicht veröffentlicht worden. Eine Sammlung würde auf diese Weise entstehen, die an Interesse zunehmen würde, je mehr die Epoche sich entfernt, die sie schildert, und je mehr die literarischen Publikationen des Goethe-Schiller-Archivs fortschreiten. Diese würden für unsere Sammlung erst die Atmosphäre schaffen. Lassen Sie mich Ihrem Nachdenken meine Überlegungen anvertrauen, während die Vögel von Liebe singen und die Blumen den Frühling predigen. Zahllose Kindererinnerungen sind durch Ihre Notizen erweckt worden wie Blumen aus dem Lenz meines Lebens, und es ist nicht ohne tiefe Bewegung – Sie können nicht anders empfunden haben! – daß ich diese Zeugen der Vergangenheit vor mir lebendig werden sah! . . .

. . . Wie fehlt mir dauernd mein treuer Beust, und wie anders wäre es, wenn Sie mir nicht auch fehlen würden!

Die Reichstagswahlen haben uns hier sehr beschäftigt, wir sind von den Resultaten degoutiert. Ich finde übrigens, daß der Moment für den Abschied des Reichskanzlers sehr schlecht gewählt ist. Daß er es so wollte, vermindert beinahe den Eindruck des Unglücks, das im ersten Moment empfunden wurde.

Mit der Verlegenheit habe ich angefangen, ich schließe mit der Politik – beide begegnen einander öfters –. Der Himmel wolle, daß wir von der einen entfernt bleiben und daß Sie aus der anderen befreien

Ihren treuesten, anhänglichsten und ganz ergebenen Freund

Carl Alexander.«

 

»Weimar, den 9. April 1890.

Goethe sagt irgendwo:

Du im Leben nichts verschiebe,
Sei dein Leben Tat um Tat,
Und dein Streben sei's in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat.

Es steht gewiß nicht im Widerspruch dazu, wenn ich mit der Beantwortung Ihres liebenswürdigen Briefs die Zusendung des Buchs von M. Mejer über Wolf Goethe verbinde, das Sie sicherlich interessieren wird. Der Autor hat es mit Liebe geschrieben – es gelingt nichts, wie Sie wissen, wenn man nicht auch mit dem Herzen bei der Sache ist! . . . Nur Sie allein, meine sehr liebe und verehrte Freundin, könnten, wenn Sie die Biographie Ottiliens schreiben wollten, etwas noch weit Besseres leisten, denn ich glaube, daß im allgemeinen die Feder einer Frau mehr dafür geeignet ist, eine so merkwürdige, ungewöhnlich begabte, aber niemals im Gleichgewicht sich befindende Persönlichkeit zu charakterisieren, wie Frau von Goethe es war. Ich komme abermals, um Sie darum zu bitten, obwohl ich verstehe, daß Ihre Freundschaft für Ottilie Ihnen dabei einige Skrupeln macht. Gestatten Sie mir dazu zu bemerken, daß es nur menschlich ist, Fehler zu haben, daß aber alles Menschliche notwendig die Kritik herausfordert, noch mehr jedoch auf Verständnis und Vergebung rechnen kann. Die Geschichte Ottiliens ist im übrigen so bekannt, daß es sich um Indiskretionen dabei kaum mehr handeln kann. Die Biographie ihrer Freundin, Mrs. Jameson, ist ein Beweis dafür. Nur um die Auferstehung der großen Epoche Weimars, die durch Walter Goethes großherziges Vermächtnis hervorgerufen wurde, zur vollständigen zu machen, bitte ich Sie, Ihre Erinnerungen und Ihre Feder in den Dienst der Sache zu stellen . . . Meine Frau dankt Ihnen herzlich für Ihre Glückwünsche, meine Kinder vereinigen sich mit mir im Gefühl der Liebe und der Dankbarkeit für Sie, und ich danke Ihnen noch besonders und voll tiefer Bewegung für die Worte, die Sie meiner geliebten, unvergeßlichen Mutter gewidmet haben. Ich habe das Recht, so zu sprechen, denn auf der einen Seite führen mich meine Pflichten in die Vergangenheit zurück, auf der anderen lebt mein Herz in ihrem Kultus. Er wird mit Gottes Hilfe der Kompaß sein, der mich in die Zukunft leitet, die ich mich bemühe, im vorhinein zu verstehen, indem ich die Geschichte studiere, und für die ich mich vorbereite, indem ich mich selbst immer weiter zu einer selbständigen Individualität zu entwickeln trachte . . . Offene Aussprachen wie diese sind nur Fortsetzungen unserer unvergeßlichen Weimarer Unterhaltungen. Die Freundschaft ist doch die süßeste aller Gewohnheiten. Meinen Sie nicht auch? – Jedenfalls ist es die Ansicht Ihres getreusten Freundes Carl Alexander.«

Kurze Zeit nach Empfang dieses Briefes schrieb mir meine Großmutter: »Mein von Dir übersetzter alter Aufsatz über Ottilie ist freilich keine Biographie und mein Auszug noch weniger, doch bin ich dem alten guten treuen Freund gern gefällig, der ihn haben will. Er schreibt mir gute und schöne Briefe und hat mir endlich mein Wegziehen von Weimar vergeben; unserer Kaiserin Tod hat uns zueinander isoliert, und was den Jetztmenschen Phrase ist, bleibt uns Bedürfnis und Wahrheit. Das stumme Nebeneinanderhergehen in Freud und Leid schnürt mir jetzt wieder, da die Söhne hier sind, das Herz zusammen und nimmt dem Zusammenleben Trost und Wärme; wenn auch etwas Tränen und Sorge dabei gespart werden, so wird viel Höheres an Rat, Mitgefühl, Seeleneinfluß und Liebe preisgegeben oder wenigstens beschattet und verscharrt . . . Ich bin immer sehr müde und schlafe viel; dabei lächelt eine heitere Frühlingssonne in mein Zimmer und tanzt freundlich um die Bilder meiner Lieben. Wenn ich im Halbschlummer liege, ist es mir, als ob sie alle lebendig würden, oft füllt sich der Raum ganz an mit trauten Gestalten – fernen, halb vergessenen und ewig geliebten. Dann meine ich oft, ich wäre in Weimar . . . Mein guter Großherzog ist es, der mir die Vergangenheit so lebendig vor die Seele zaubert. Ich danke es ihm, denn sie war schön – viel schöner als die Gegenwart, und meine Sehnsucht wächst, je weiter ich mich von ihr entferne . . . Oder nähere ich mich ihr wieder? . . .«

Oft schien es, als spräche sie mit teuren, anwesenden Freunden – und doch war das Zimmer leer. Auf einen fragenden, erstaunten Blick ihrer Kinder sagte sie dann lächelnd: »Wundert euch nicht – sie waren wirklich da, sie reden mit mir, während ihr schweigt –« Sie hatte keinerlei Schmerzen, aber ihr Bedürfnis, allein zu sein, nahm zu, ihre Spaziergänge wurden immer kürzer, und ein äußeres Interesse nach dem anderen fiel von ihr ab. Ihr Herz aber lebte ein um so stärkeres Leben, und aus ihren Augen leuchtete es wie Verklärung. Mitte April schrieb sie dem Großherzog u. a.: »Mutterliebe und Erinnerung sind meine Lebenselixiere. Wie in einen schützenden Mantel und undurchdringlichen Harnisch möchte ich Kinder und Enkel hüllen, und dankbar vor dem Abschied von dieser Lebensstufe ein paar immergrüne Blättchen dem zu Füßen legen, der meiner Jugend Abgott, meines reifen Lebens Erzieher, meines Alters Freund und Vorbild ist. Ihnen brauch ich ihn nicht zu nennen . . . Nehmen Sie, was ich schrieb, nur wieder als Zeichen der guten Absicht an, denn die Kräfte versagen. Die Vorangegangenen werden mir immer gegenwärtiger. Sie rufen mich!« Der Großherzog schrieb darauf:

»Weimar, den 26. April 1890.

In Ihrem gütigen und interessanten Brief vom 16. sagen Sie mir, daß Ihnen, gnädige Frau, die Biographie von Mrs. Jameson unbekannt ist. Ich erlaube mir, sie Ihnen zuzuschicken . . . Da Sie Ottiliens Lebensgeheimnisse kennen, werden Sie zwischen den Zeilen lesen, was die Freundschaft verbergen wollte. Man sagt, daß der Kaschnack – der Schleier, mit dem die Frauen des Orients ihr Antlitz bedecken und der nur die Augen frei läßt – ihnen einen ganz besonderen Reiz verleiht. Die Seiten der Biographie, in denen von Ottilie die Rede ist, bestätigen diese Auffassung. – Und Walter Goethe, mein Freund Walter, wo bleibt sein Porträt, seine Biographie, die ihn darstellt, so wie er war! Das schmerzt mich, denn ich empfinde es als eine Ungerechtigkeit und Undankbarkeit, daß die großen Eigenschaften dieser edlen Seele nicht in der Öffentlichkeit bekannt werden . . . Dürfte ich selbst zur Feder greifen? Um Walter richtig zu beurteilen, muß man mit ihm vertraut gewesen sein, es genügte nicht, ihn zu sehen oder auch nur mit ihm zu verkehren. Er zeigte sich nur in der Intimität, und ich darf wohl sagen, daß ich zu denen gehörte, die ihm am nächsten standen . . . Seine Schöpfung, das Goethe-Schiller-Archiv, vervollständigt sich inzwischen mehr und mehr, und ich hoffe, daß es sich nach und nach zum Archiv der deutschen Literatur erweitern wird. Sie sehen: meine Träume suchen immer den Frühling! Sie sprechen vom Herbst, von den schweren Verlusten der Freundschaft – lassen Sie mich Ihnen mit einer Hoffnung antworten. Hoffnung aber läßt nie zuschanden werden!

In treuester freundschaftlicher Gesinnung küßt Ihnen die Hände

Ihr alter Freund

Carl Alexander.«

Auf diesen Brief kam keine Antwort mehr. Die Hand der Achtundsiebzigjährigen war müde geworden, und ein Schleier nach dem anderen umhüllte ihren Geist. Wohl suchten auch ihre Träume den Frühling, aber nicht den, der draußen die Bäume mit Blüten bedeckte, der vor ihren Fenstern Veilchen und Reseden duften ließ, der mit holden kleinen Lenzesgrüßen ihre Zimmer schmückte. Sie schlief – sie träumte – und wenn sie die Augen öffnete und des Sohnes oder der Tochter Hand leise drückte oder zärtlich über das Köpfchen ihres jüngsten Enkelkindes strich – dann war das ihres Gegenwartslebens einziges Zeichen. Kam der Abend, und deckte der dunkle Schleier der Nacht Haus und Garten, dann erst, so schien es, ward es lebendig um sie: wie leise Schritte war's, wenn die Lindenblätter weich über die Scheiben strichen, wie Rauschen von Gewändern, wenn durch den wilden Wein an der Mauer der Westwind strich, wie Flüstern von Stimmen, wenn über das Dach hin die alten Äste sich berührten. Alle sah sie, grüßte sie, lächelte ihnen zu und rief sie mit Namen: die Mutter mit dem schimmernden Lockenhaar, die Kinder im weißen Rosenkränzchen, den fernen Geliebten mit den durchgeistigten Zügen des frühe vom Tode Gezeichneten, den Dichter mit den leuchtenden Augen des Unsterblichen und den Vater, über dem leise und feierlich der Adler Napoleons seine Kreise zog. Und es kam eine linde Juninacht, da zogen sie die Tochter, die Mutter, die Geliebte, die Freundin mit in ihren Reigen. Niemand sah, wie sie ihr nahte – die Wandlung zu höheren Wandlungen! Sie starb allein. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände gefaltet, jede Falte hatte der Tod, ein sanfter Freund, aus ihrem Antlitz weggewischt, ein hoheitsvoll-feierlicher Ernst lag auf ihren Zügen. – –

Der Haffwind pfiff über die wogenden Felder, rüttelte die toten Äste von den Bäumen und streute weiße und rote und gelbe Blüten über die Wege, als sie zu Grabe getragen wurde. Niemand dachte daran, die Tote dorthin zu führen, wo ihres Geistes Geburtsstätte, ihres Herzens Heimat war; niemand schenkte ihr den letzten Ruheplatz an der Seite der Mutter, in der Mitte der Freunde, wo ein treues Gedächtnis ihn geschmückt, Liebe ihn gepflegt hätte. In Legitten, mitten im öden Land, dicht an der staubigen Straße, wo ein einsames Kirchlein zwischen spärlichen Bäumen sich erhebt, umgeben von eines kleinen Dorfes armseligem Friedhof, dort, dicht an der Mauer, liegt ihr Grab. »Die Liebe höret nimmer auf« steht in goldenen Lettern auf dem eisernen Kreuz. Aber die, denen sie ihres ganzen Lebens Liebe schenkte – ihre Kinder – sind weit, weit fort. Nur die Blumen, die der Zufall zwischen dem Efeu wachsen läßt, und die Blüten, die der Wind von den Linden herüberweht, schmücken die Stätte, wo sie ruht, und statt daß Worte der Liebe und des Erinnerns sie grüßen, zwitschern die Schwalben unter dem Kirchendach und das Glöcklein singt sein Sterbelied, wenn neue Schläfer unter ihm einziehen.

Fühlt sie die Einsamkeit, die liebelose? Oder weiß sie, daß Blumen ihrem Grab entsprießen, die nie verwelken, daß ein Ton aus ihm klingt, der sich dem Siegeslied der Menschheit vermählt? Mir war's, als hätte ich ihn gehört und müßte ihn weiter verkünden.

Anmerkungen als Fußnoten eingepflegt. Re

 


 


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