Lily Braun
Im Schatten der Titanen
Lily Braun

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Im Strom der Welt

Jenny von Gustedt geb. von Pappenheim
Nach einer Zeichnung von Friedrich Preller

Im Frühling 1865 kehrte die Witwe nach Halberstadt zurück. Niemand von der Familie kannte den Tag ihrer Ankunft. Wie sie es gewünscht hatte, empfing sie die tiefe Stille des vereinsamten Hauses, in dem seit dem Tode Werners noch nichts verändert worden war. Doch nicht, um »dem größten und abstoßendsten Egoismus, den es gibt, dem des Schmerzes«, zu leben, war sie heimgekommen. »Eine Lebensberechtigung hat nur, wer nützen kann«, schrieb sie, »solange ich irgend jemanden weiß, dem ich durch mein Dasein eine Last abnehmen, eine gute Stunde bereiten, einen Schritt zum Ziele der inneren Vollendung weiter helfen kann, solange bin ich nicht im Wege, nicht überflüssig und habe noch immer Grund zur Dankbarkeit gegen Gott.« Und sie empfand es mit Freuden, daß ihre drei Kinder ihrer bedurften.

Da der Aufenthalt in Halberstadt fern von ihnen für sie keinerlei Anziehungskraft mehr hatte, so beschloß sie, nach Berlin überzusiedeln. »So wenig sympathisch Berlin mir ist, so sehr ich darauf gefaßt bin, durch die natürlichen Ansprüche der Freunde und der Verwandten, durch die Unbequemlichkeiten des Hoflebens viel von der Ruhe, die meinem Alter not tut, opfern zu müssen, Otto ist derjenige unter meinen Kindern, der im Augenblick meiner am meisten bedarf.« Vorher aber hatte sie noch eine andere, willkommene Mutterpflicht zu erfüllen: ihre Tochter sah ihrer Niederkunft entgegen, und da ihr Schwiegersohn kurz vorher von Magdeburg nach Neiße versetzt worden war und seiner Frau die Mühen des Umzugs ersparen wollte, so sollte das stille Halberstädter Haus, in dessen weiten Räumen der Frohsinn der Kinder so hellen Widerhall gefunden hatte, nicht eher verlassen werden, als bis es die ersten Lebensäußerungen des Enkels erfüllten.

An einem glühendheißen Julisonntag – Jenny war gerade aus der Kirche gekommen – gab ihre Tochter einem Mädchen das Leben. »Daß dieses Enkelchen in meinem Hause geboren ist«, schrieb sie nach Weimar, »ist mir wie ein Fingerzeig Gottes, daß es mir doppelt ans Herz gelegt wurde. Mutter und Kind sind gesund und munter. Mein Jennchen hat meiner alten, viel erprobten Überzeugung recht geben müssen, daß Kinderkriegen angenehmer ist als Zähneziehen: das Kleine hat seine Mutter gar nicht gequält und hatte es sehr eilig, in die Welt zu kommen, als ob es das Leben gar nicht erwarten könnte. Möchten seine Hoffnungen es niemals täuschen!« Vierzehn Tage später hielt sie das Enkelkind über die Taufe und gab ihm den Namen, der an die ihr liebste Gestalt des Goethe-Lebens erinnern sollte, an die Mutter ihres Onkels Türckheim: Lily.

Sobald meine Mutter mit mir nach Neiße abreisen konnte, und danach eine Kur in dem von ihr schon oft besuchten, stets sehr geliebten und dankbar gepriesenen Karlsbad die Großmutter gekräftigt hatte, schuf sie sich in Berlin in Ottos nächster Nähe ihr neues Zuhause. »Mein guter Mann«, schrieb sie von dort aus an eine Freundin, »hat so für mich gesorgt und alles so genau vorbedacht, daß mir nach aller menschlichen Berechnung ein bequemes, sorgenfreies Alter – soweit es materielle Sorgen betrifft – in Aussicht steht. Ich kann dabei, hoffentlich immer mit meinem Jennchen und ihrer Kleinen, die Sommer in Harzburg oder Heringsdorf verbringen, die etwa notwendige Frühlings- oder Herbstkur in Karlsbad durchmachen und behalte genug, um meinen Kindern auszuhelfen, ihnen Extrafreuden zu bereiten und ohne Skrupel wohltätig sein zu können. Wenn ich das alles so niederschreibe, klingt es fast selbstsüchtig, aber wenn ich auch ganz genau weiß, daß ich für meine Kinder jede Entbehrung auf mich nehmen könnte, so weiß ich doch ebenso gewiß, daß sie in meinem Alter für mich empfindlich sein würde.«

Von einem ruhigen Leben, wie sie es erhoffte, war freilich trotz aller Sicherung der Existenz für sich und die Ihren keine Rede. Der politische Himmel umwölkte sich immer mehr, und der Winter 1865 bis 1866 erschien schon wie eine Kriegsvorbereitung. Wenn Jenny Gustedt am Teetisch bei der Königin von Preußen saß, mochten die Gedanken der Freundinnen sich wohl stets sorgenvoll um dieselbe Frage drehen, die beide im Interesse ihrer Kinder, im Interesse des Vaterlandes und im Interesse des Völkerglücks so sehr bewegte. »Noch kein Argument«, heißt es in einem der Briefe Jennys aus jener Zeit, »habe ich gehört, das mir den Krieg begreiflich gemacht hätte. Tausende stürzt er in lebenslanges Unglück, vernichtet den Wohlstand, bringt fleißige Handwerker an den Bettelstab, fördert Roheit und Rauflust. Auch daß er eine Erziehung zum Mut wäre, ist nicht wahr. Das mag für den Kampf mit dem Säbel in der Faust Geltung haben, aber nicht da, wo Kanonen und Gewehre ihre Geschosse aus weiter Entfernung Armen, fast Wehrlosen in den Körper jagen. Auch ist der Mut allein der sittliche, der christliche, der sich im Kampf gegen Verführungen und Entbehrungen, für Wahrheit und Recht erwerben läßt. Ein Märtyrer seiner Überzeugung steht tausendmal höher als einer jener Tapferen, der in der Leidenschaft des Kampfes seinen Nächsten niedermacht.« Als dann der deutsch-österreichische Bruderkrieg ausbrach und Jenny von Sohn und Schwiegersohn Abschied nehmen mußte, legte sie für ihre Auffassung des Mutes Zeugnis ab: sie blieb die Ruhige und Tapfere zwischen Schwiegertochter und Tochter, die zu ihr gezogen waren, und half ihnen, die böse Zeit ertragen. Es war keine leichte Aufgabe, denn als die Nachricht von der Schlacht bei Königgrätz in Berlin eintraf, bekam sie zu gleicher Zeit die Mitteilung, daß Hans von Kretschman an der Spitze seiner Kompanie den Tod fürs Vaterland gestorben sei. Da sie nicht amtlich beglaubigt war, besaß Jenny den Heroismus, vor ihrer Tochter ruhig und heiter zu erscheinen, während sie heimlich immer wieder zur Kommandantur fuhr, um Gewißheit zu erlangen. Endlich kam Nachricht: ihr Schwiegersohn war zwar schwer verwundet, konnte aber doch nach Berlin gebracht werden. Bald darauf erhielt auch ihre geängstigte Tochter einen beruhigenden Brief von ihm. Wenige Tage nach meinem ersten Geburtstag trug man meinen Vater in Großmamas Haus. Man hat mir so oft erzählt, wie ich mich vor dem Mann mit dem verwilderten Bart gefürchtet habe, daß ich heute noch zuweilen meine, das Bild der verdunkelten Stube, wo er lag und wo Mama und Großmama sich um ihn bemühten, vor mir zu sehen.

Nach dem Friedensschluß wurde mein Vater nach Potsdam versetzt; meiner Großmutter ältester Sohn kam zu den dort garnisonierenden Gardehusaren, und ihr jüngster trat bei den Gardeulanen ein. Was war natürlicher, als daß auch sie dorthin ging, wo nun alle ihre Kinder vereinigt waren. Sie bezog ein Haus recht nach ihrem Geschmack, von einem Gärtchen umgeben, mit dem Blick auf grüne Bäume, und richtete es ein, so schön und traulich, wie es in jener Zeit der unumschränkt herrschenden Geschmacklosigkeit nur sie einzurichten verstand. Diese Umgebung, die sie sich selber schuf, erschien stets so sehr als der notwendige Rahmen ihrer Persönlichkeit, daß ihrer wohl gedacht werden muß, gehörte es doch zu ihrem Erbe an Goethischen Lebensmaximen, auch das Äußere des Daseins mit sich selbst in Harmonie zu setzen – in jene Harmonie, die eine so wohltuende Atmosphäre um sich verbreitete und die die Menschen magnetisch in Großmamas Nähe, in den Frieden ihrer Räume zog.

Sie entsprachen in keiner Weise der damaligen Mode, die von den geschnitzten Säulen, Löwenköpfen und Akanthusblättern der Renaissance beherrscht zu werden begann. Nur ihr Speisezimmer enthielt die notwendige Ausstattung an Möbeln aus glattem, dunklem Holz, ohne Schnörkel und staubfangendes Beiwerk. »Es ist die Hauptsache«, schrieb sie in einer ihrer vielen Auseinandersetzungen über Hausbauten und Wohnungseinrichtungen, »daß man bei Zimmern und Bauten gleich ihre Bestimmung, sozusagen ihre Seele erkenne. Darum passen Holzmöbel in Eßräume, Flure usw., nur dorthin nicht, wo es einem warm, wohnlich, auf Bleiben anmutet, da sei Stoff und Polster, Ruhe für den Körper und für das Auge.« Die modernen Salons erschienen ihr »wie ein Museum ohne Mittelgang, wie sechs Kabinetts ohne Zwischenmauern, halb Atelier, halb Gewächshaus, halb Porzellanladen, halb Theaterdekoration; Drapierungen von türkischen Tüchern um Bilder und Möbel, zahllose Nippes, wie in den Glasschränkchen der Kinder, deren Hauptverdienst es ist, die Geduld des Stubenmädchens bis zur höchsten Vollkommenheit zu üben, Miniaturbilderchen ohne Zahl, auch verblichene, viele ohne die Namen der Dargestellten, die man auch kaum zu wissen wünschte – nirgends Raum zum ruhigen, gefahrlosen Schritt, nirgends wohltuende einfache Linien, die Ansicht eines Möbels meistens durch ein davorstehendes unterbrochen. Da ist kein Raum zu häuslicher Arbeit, zum Spielen der Kinder, da ist kein eigentlicher großer Familienplatz mit großem Tisch zum großen Sofa, großer Lampe, vielen Lehnstühlen, auf welchen jeder Eintretende wie auf das berechnete Zentrum des Familienlebens zugeht«. Wie anders wirkte der stille grüne Salon meiner Großmutter, der überall, wo sie auch hinzog, seinen Charakter beibehielt, gewissermaßen die Heimat war, die sie überall mitnahm. Wie Moos bedeckte der Teppich den ganzen Fußboden, dunkelgrün, ruhig, klein gemustert. Grüne hellere Vorhänge mit weißen darunter hingen glatt an den Fenstern und bildeten die Portieren. Bei ihrer Antipathie gegen alle spitzen Winkel – die in den Zimmern und an den Möbeln – waren zwei Ecken des Salons durch hohe bis zur Erde reichende Spiegel in schmalen Goldrahmen verdeckt, zu deren Füßen meist blühende Pflanzen in schmalen vergoldeten Körben standen. In einer anderen Ecke befand sich ein kleines halbrundes Sofa, hinter ihm auf einem Postament eine Goethe-Statuette. Ein grauer Marmorkamin mit Bronzetüren und dem Bilde der Kinder um Christus geschart darüber, vor ihm zwei der weich und tief gepolsterten Lehnstühle und ein Tischchen mit der täglichen Lektüre, füllte den vierten Zimmerwinkel. Zwischen zwei Fenstern an einer breiten Wand stand ein großes bequemes Sofa, wie die Stühle mit grün in grün gemustertem Stoff bezogen, davor ein großer runder Tisch mit runder, fast bis zur Erde reichender grüner Tuchdecke. An den Wänden, die meist mit einer goldbraunen oder hellgrünen Tapete bedeckt waren, hingen nur wenige schöne Ölbilder, meist Familienporträte. Von der Mitte der Decke hing mondartig eine Lampe mit mattem Glas herab, auf dem Tische vor dem Sitzplatz stand eine kleinere von antiker Form, über der ein ganz leichter, lichter Schleier von rosa Seide hing, ganz unähnlich den Staatslampen, die man so oft, den Gästen zur Qual, nackt, grell, in direkter Augenlinie auf den Tisch stellt zur Anerkennung des Verbrauchs an Lichtmaterial.

Was aber dem harmonischen Raum erst das rechte Leben gab, waren die Blumen. Keine Treibhausgewächse, keine steifen Topfpflanzen, sondern blühende Blumen aus Wald und Wiese, zierliche Gräser, buntes Laub, dunkle Tannenzweige – was immer die Jahreszeit bot und von der Bewohnerin selbst auf ihren langen Morgenspaziergängen gepflückt oder eingekauft und zu Hause mit täglich neuer Freude in schlanke Kelchgläser geordnet wurde. An den Salon stieß ein intimerer Raum, nur durch Portieren von ihm getrennt, das Boudoir. Es entstand fast in allen Wohnungen durch eine Teilung des Schlafzimmers; alle Wände waren mit leicht gezogener grauer Kretonne bedeckt, auf der Schilfblätter mit Schlingrosen sich rankten. Unter dem großen einscheibigen Fenster stand eine Couchette und auf dem Fensterbrett ein langer Korb aus Golddraht, mit blühenden Pflanzen gefüllt; die eine Wand nahm der Schreibtisch ein, aus glattem Holz, ohne jede Schnitzerei; seine breite Tischplatte hatte ihrer ganzen Länge nach ein Postament zur Aufnahme lieber Freundes- und Familienbilder, in der Mitte eine höhere Konsole mit dem weißen Marmorkreuz darauf. An der Wand darüber hing das schöne Bild ihrer Mutter. Kleine Büchergestelle, ein paar niedrige Lehnstühle nahmen den übrigen Raum ein, dessen Fußboden mit demselben Teppich wie der des Salons bedeckt war.

Die Erscheinung der Bewohnerin entsprach vollkommen den Räumen, denen sie die Seele gegeben hatte. Ihr schmales, bleiches Gesicht – eine griechische Kamee in schönster Vollendung –, das bis zu ihrem hohen Alter kaum eine Falte aufwies und aus dem die Augen leuchteten wie in einem inneren Feuer, war von schwarzen Spitzen umgeben, die zu beiden Seiten schleierartig herabfielen, ein dunkles einfarbiges seidenes Kleid, dessen Falten weich zu Boden fielen, ein großer runder Kragen vom gleichen Stoff, mit breiten Spitzen besetzt, umgaben und umhüllten die Gestalt, entsprechend ihrer Ansicht: »Es ist der Würde des Alters angemessen, daß Matronen und Greisinnen sich verhüllen. Eine junge, hübsche Frau verschönert eine hübsche Toilette und wird von ihr verschönert, später ist eine hübsche Toilette noch ein Schmuck, welcher von der nicht mehr ganz jungen und noch hübschen Frau nicht verunziert wird, dann kommt aber die Periode, wo die nicht mehr junge, nicht mehr hübsche Frau die Toilette verunstaltet, wo es sich nicht mehr um Toilette, sondern um Anzug für sie handeln sollte, und diese Periode wird bei Weltfrauen meistens übersehen, dann wird die Toilette Aushängeschild ihres Kummers und ihrer Illusionen, und sie selbst verlieren die köstlichen Gaben des Alters: Bequemlichkeit, Einfachheit, Würde.« Sie machte der Mode nie eine Konzession, und doch wirkte ihre Erscheinung als etwas so Natürliches und Selbstverständliches, daß man nicht nur keinen Anstoß daran nahm, sondern die Blicke auch des Fremdesten ihr wohlgefällig folgten. Als nach dem Deutsch-Französischen Krieg der Versuch auftauchte, unter Anlehnung an die Gretchentracht eine »deutsche« Mode zu schaffen, schrieb sie: »Um in diesem Kostüm, das für die Menschen unserer Zeit so paßt wie die schrecklichen Renaissancemöbel für unsere Zimmer, anmutig zu erscheinen, muß man sehr hübsch sein, und eine Mode, die Schönheit voraussetzt, ist schon verfehlt. Mode ist der Begriff eines allgemeinen Anzugs, und ihr höchstes Ziel sollte nicht sein, die paar schönen Menschen, die in der Welt herumlaufen, schöner zu machen, sondern die Millionen unschönen dem Auge nicht verletzend erscheinen zu lassen. Bedenkt man, daß kaum der zehnte Mensch hübsch, daß auch dieser zehnte nur höchstens dreißig Jahre lang hübsch ist, daß ihn auch während dieser Zeit Ausschläge, Bleichsucht, Schnupfen und Zahnschmerzen soundso oft entstellen, so schreit die Majorität zum Himmel und bittet um Moden für die Unschönen und für die Alten. Heut setzt sich eine Vogelscheuche denselben verwegenen Hut auf, der eine junge Schönheit entzückend kleidet, fordert die Blicke mit denselben Falbeln, Spitzen, Blumen und Schleifen heraus, die eine reizende Koketterie der hübschen, jungen Frau sein können . . . Wo bis jetzt der Versuch gemacht wurde, die Mode zu reformieren, blieb der Erfolg aus, weil die, welche das Zepter in Händen haben, nicht reformieren, und die, welche reformieren wollen, das Zepter nicht in Händen haben . . .«

Das Prinzip, aus dem heraus meine Großmutter ihr Äußeres gestaltete, ihre Umgebung schuf, beruhte aber weniger auf verstandesmäßigen Reflexionen als auf ihrem Wesen selbst, das der Inbegriff einer Vornehmheit war, die sie definierte, wenn sie sagte: »Vornehmheit ist vor allem unbewußt; Absicht und Berechnung schließt sie aus, weil sie dann eine Gesellschaft bekommt, die Anmaßung heißt und die sie nicht verträgt . . . Vornehmheit ist Ruhe, Ruhe in Bewegungen, Ruhe im Gemüt, Ruhe in der Umgebung, Ruhe in Worten, Ansichten und Urteil. Freundliche Ruhe gegen Untergebene, sichere Ruhe gegen Höhergestellte. Phantasie und Lebhaftigkeit schließt diese Ruhe nicht aus, so wie die leidenschaftliche Musik den Text nicht entbehren kann. Bei Fürsten und echten Aristokraten ist sie angeboren und das einzige untrügliche Kennzeichen alter Kultur. Sie ist eine Folge unangefochtenen Ansehens, einer komparativen Sicherheit, von anderen nichts zu brauchen, des leichteren Kampfes mit dem Leben; woraus weiter folgt, daß Hochmut und Dünkel nichts mit ihr zu tun haben, denn sie ist nichts von uns persönlich Erworbenes, worauf stolz zu sein allenfalls begründet wäre, sondern etwas Gegebenes, ein Glück, eine Gnade, der wir uns durch edle Gesinnung würdig erzeigen müssen. Sie ist aber auch eine Schranke, und als solche entbehrt sie nicht der inneren Tragik. Eine wahrhaft vornehme Natur leidet schmerzhaft unter der Unvornehmheit, wird aber von ihr niemals verstanden, ja ihrer Empfindlichkeit wegen bespöttelt, wenn nicht gar gehaßt werden. Sie wird infolgedessen immer eine gewisse Zurückhaltung bewahren, sich in ihr fremden Kreisen niemals heimisch fühlen, was ihr denn oft als Hochmut ausgelegt wird.«

In Potsdam sammelte sich rasch ein großer Kreis von Verwandten, von alten und neuen Freunden um Jenny Gustedt. Es waren durch die Beziehungen ihrer Kinder viele junge Leute darunter, die sich bei ihr ebenso wohlfühlten wie die alten, weil sie das Verständnis für die Jugend nie verlor. Besonders in der Zeit nach dem Karneval, wo – wie sie sagte – »Leidenschaft, Langeweile, Eitelkeit, Hochmut, Toilettenunsinn dem Teufel einen Kranz geflochten hatten, über den viele gute Engel weinten«, war ihr abendlicher Teetisch der Mittelpunkt einer Geselligkeit, die um so anregender war, je weiter sie sich von jener »philisterhaften und egoistischen Art« entfernte, die sich »in späten, vielschüsseligen Abendessen, prahlend, Verpflichtungen abmachend, dokumentiert«. Jenny Gustedt besaß noch das Talent der Frauen des ancien régime, die Konversation unmerklich zu beherrschen, jeden einzelnen Gast zur Geltung kommen zu lassen. »Weniger was du gibst, als was du aus anderen hervorlockst, macht dich liebenswürdig«, sagte sie, und dies Hervorlocken verstand sie meisterlich. Der jüngste, bescheidenste Leutnant ging in gehobener Stimmung von ihr fort und fühlte, daß er »nicht nur eine Uniform war mit obligaten Tanzbeinen«, sondern ein Mensch, der auch etwas zu sagen gehabt hatte. Nur wenn die Königin sich anmeldete, was gewöhnlich einmal in der Woche geschah, blieb die Tür zum grünen Salon für alle anderen Gäste verschlossen, und niemand konnte belauschen, was die Freundinnen miteinander besprachen. In einem einzigen Brief aus dem Jahre 1867 findet sich eine Andeutung darüber: »Gestern war meine liebe Königin bei mir«, heißt es darin. »Wir vergaßen über der Not und der Angst der Zeit unsere traute gemeinsame Vergangenheit. Sie war schön, im besten Sinne königlich wie immer, aber ernst und angegriffen. Der drohende Krieg, nachdem wir kaum ein entsetzliches Blutvergießen hinter uns haben, lastet schwer auf ihr, und es bedarf aller ihrer Festigkeit und Pflichttreue, um gegenüber dem Einfluß Bismarcks auf den König an ihrem Grundsatz festzuhalten, sich nicht in politische Angelegenheiten zu mischen.« In demselben Jahre hatte meine Großmutter auch die Freude, den Prinzen Napoleon bei sich zu sehen. Bei ihrer Liebe für ihn und ihrem natürlicherweise zwischen Preußen und Frankreich geteilten Herzen – hatte sie doch überall Verwandte, deren Schicksale ihr nicht gleichgültig sein konnten – war die Aussicht auf einen Krieg für sie doppelt furchtbar. An Wilhelmine Froriep schrieb sie damals:

»Mein Alter hat viel Segen, und ich danke Gott dafür, bin aber doch oft müde, und da ist es ein so beruhigender Gedanke, daß jetzt meine irdische Aufgabe beendet erscheint, meine Kinder versorgt, meine Geschäfte geordnet und daß ich in Frieden scheiden könnte; da ich aber auch in innigster Liebe mit meinen Kindern lebe, so kann ich alles erwarten und weiß, daß ich ihre Lebensfreude erhöhe und ihnen keine Last bin. Wovor mir graut, daß ich es gar nicht erleben möchte, das ist der Krieg, der mir wie ein Hohngelächter Satans immer in den Ohren klingt – warum die Völker das Verbrechen begehen wollen, ist diesmal unfaßlicher als je, und doch zweifeln gerade die nicht daran, die es am besten wissen können.«

Aber es war nicht nur die Kriegsfurcht, die das Gleichgewicht ihrer Seele störte. »Meine wichtigsten Gedanken und Gefühle werden nur dann zu Sorgen, wenn meiner Kinder Sünden damit verwickelt sind«, schrieb sie, und die Sünden ihrer Kinder waren es, die ihr am Herzen zehrten. Schweigsam, Hypochonder, im stillen und lauten Kampf mit seinen Vorgesetzten, die oft, infolge Ottos langer Unterbrechung der Dienstzeit, jünger waren als er, lebte ihr geliebter Ältester neben ihr. »Mit stillem Entsetzen sehe ich, wie er zu Hause wahllos Bücher um Bücher verschlingt«, schrieb sie, »ohne den geringsten Nutzen, denn bei seinem schlechten Gedächtnis kann er unmöglich etwas davon behalten, auch findet er niemals Anregung zu irgendeiner Unterhaltung darin. Obwohl er wissen muß, daß niemand soviel Teilnahme und Verständnis für ihn haben kann wie ich, bleibt er auch mir gegenüber stumm, und ich weiß von seinem Innenleben so wenig, als wäre er ein Fremder.« Ganz anderer Art waren ihre Sorgen um ihren jüngsten Sohn, der sich in fröhlichem Lebensgenuß keinerlei Zwang auferlegte und es für selbstverständlich zu halten schien, daß die Mutter, wenn er mit seinem eigenen Einkommen nicht reichte, immer wieder für ihn einsprang. Eine Empfindung, die ihr sonst fremd war – Bitterkeit – drückt sich oft in ihren Briefen aus, wenn sie dieser Erfahrungen gedenkt. Sie gehörte nicht zu jenen Müttern, die ihre eigene Jugend vergessen haben und darum die Fehler ihrer Kinder mit dem strengen Maßstab des Alters messen; wo sie konnte und wo es ihrer Auffassung von Ehre und Anstand entsprach, verschaffte sie ihnen sogar gern alle erreichbaren Lebensfreuden. Was sie nicht verstand, war jenes lustige In-den-Tag-hinein-Leben, jenes Sichgenügenlassen nur an den materiellen Freuden des Daseins. Dabei vergaß sie wohl auch zuweilen, daß ihr Sohn ein blutjunger, hübscher Gardeleutnant war, nicht besser, aber auch nicht schlechter als seine Kameraden, und hinzu kam, daß sie ihn bei sich wohnen ließ, also aus nächster Nähe zu ihrer täglichen Qual beobachten konnte, wovon sie sonst vielleicht gar nichts erfahren hätte. Seine Offenherzigkeit blieb dabei ihr Trost und versöhnte sie immer wieder. Aber auch die Herzensgeheimnisse, die er ihr rückhaltlos anvertraute, riefen ernste Sorgen in ihr hervor. Sie, die frühe Heiraten noch vor zehn Jahren eifrig propagiert hatte, schrak jetzt, nachdem sie bei Nahen und Fernen so viel Tragödien der Ehe miterlebte, davor zurück. »Ich glaube, daß seine Liebe ein Strohfeuer ist, aber auch ein Strohfeuer steckt ein Gehöft an, wenn der Moment günstig ergriffen wird! Und wenn ich wieder erleben müßte, ein von der zu frühen Fessel wundes und blutiges Herz zu sehen und zu wissen, daß, wie sehr sie auch drückt, ihr Entfernen noch schwerer sein würde – es wäre zu traurig«, schrieb sie an die Vertraute ihrer Mutterschmerzen, ihre Tochter.

Nur zwei Jahre hatte sie die Freude gehabt, auch diese in ihrer Nähe zu haben; eine Freude, die um so schattenloser war, als ihre Ehe ungetrübt und ihre Zukunft in jeder Beziehung gesichert erschien. Eine größere Erbschaft, die ihrem Schwiegersohn zugefallen war, verscheuchte die einzige Sorge, die sie hatte: »Wenn ich auch weiß, daß Hans nie arm zu sein verstünde, so weiß ich doch auch, daß er vom Reichtum nur den edelsten Gebrauch machen wird.« Und das Enkelkind, mit dem Sohn Ottos in fast gleichem Alter, war ihr vollends ans Herz gewachsen, so daß sie die abermalige Versetzung ihrer Kinder im Jahre 1869 sehr schmerzlich empfand. Ihr Briefwechsel mit der Tochter, der einzige, der aus jenem Jahr vollständig erhalten blieb, war ein sehr reger. Familienerlebnisse und Erfahrungen, Bücherempfehlungen und Erziehungsratschläge spielten eine große Rolle darin, aber die größte: die Sehnsucht nach den Abwesenden. »Heute habe ich meinen Stuben die letzte Nuance von Seele: Blumen, gegeben, habe sie allein, ohne mein Lilychen, die so gern nebenher trippelte, gepflückt, und mir wäre sehr wohl, wenn ich meine ruhigen, grünen Mauern um mich habe, nur müßten alle Kinder und Enkel darin sein . . .« heißt es in einem Brief. In einem anderen: »Ich gehe nicht gern in das Haus, wo mir mein Lilychen nicht mehr entgegenjauchzt, meine Tochter nicht mehr entgegenlächelt . . . mich übergießt dabei eine so schmerzliche Wehmut, daß ich sogar die Straße vermeide.« In einem ihrer Erziehungsbriefe schrieb sie: »Regt mein Lilychen nicht durch viele Erzählungen und sogenannte freudige Überraschungen auf, das Kindchen muß terre à terre gehalten werden, kochen, Sandkuchen backen, laufen, mehr vegetieren, als mit Bewußtsein leben . . . Wie mein das Kind ist, könnt Ihr nicht glauben, darum weiß ich auch, was ihm schadet und nützt . . . So müßt ihr Euch beide die kleinen strengen Beschäftigungen mit den Nebenmenschen abgewöhnen, ehe sie das Kind versteht und ihr Herzchen erkältet. Du, mein Jennchen, mußt in Ton und Ausdruck weniger streng und hart sein, das tut so zarten Seelchen weh . . .« Es war der Seherblick der Liebe, der sie von dem vierjährigen Kind so sprechen ließ, jener Liebe, durch die ich vom ersten erwachenden Bewußtsein an in dieser Frau alles fand, dessen ein Kind bedarf: Verständnis, Anregung, Leitung, Freundschaft und Mütterlichkeit.

Im Sommer 1869 besuchte sie uns. Sie war voller Sorgen um ihre Söhne, um Otto, dessen Kränklichkeit den Dienst fast unmöglich machte, um Werner, der weniger denn je das Seinige zusammenhielt. Wie immer, so wirkte der Kummer auch auf ihren körperlichen Zustand, das alte Leberleiden machte sich mehr als früher geltend, und eine Müdigkeit beherrschte sie, die ihr wie eine Vorahnung des Todes erschien. »Ich möchte den ganzen Tag schlafen«, hatte sie kurz vorher ihrer Tochter geschrieben, »auch das Hinüberschlafen denke ich mir süß – mir wird all das Harte, Grausame, Gewalttätige, die Verirrungen, Sünden, Leidenschaften, Wehen in der Welt so entsetzlich schwer mit anzusehen und anzuhören – – mir ist, als hätte ich hier nicht mehr viel zu lernen, ich weiß immer alles, was ich höre und lese, und kann doch nicht verhindern, daß Ihr, meine geliebten Kinder, vom Leben noch gelehrt werdet, was Euch Eure treue Mutter lieber lehrte und ersparte . . .«

Meine Mutter, in ernster Sorge um sie, befürwortete, daß Mutter und Söhne sich trennen möchten, um die Last täglicher Leiden von ihr zu nehmen, und hätte der drohende Krieg sie nicht noch fester an ihre Kinder gefesselt, so wäre sie dem guten Rat vielleicht gefolgt. So entschloß sie sich nur zu einer Karlsbader Kur im Frühling 1870. »Unbeschreiblich schön ist es in diesem gesegneten Ort«, schrieb sie von dort aus, »ich fühle mich jetzt schon wie neugeboren, genieße auf stundenlangen einsamen Morgenspaziergängen Wald und Berge und begreife nicht, wie es Menschen geben kann, die sich freiwillig in die Steinwüsten der Städte begeben. Auf stillen Bänken lese ich alte und neue Bücher: Humboldts Kosmos zum zweiten oder gar dritten Mal, und mit wahrer Leidenschaft: Ut mine Stromtid von Fritz Reuter; es ist ein eminentes Meisterstück und die Atmosphäre einfachen Lebens und redlicher Menschen tut so wohl . . . Verkehr habe ich so gut wie keinen, bin aber neulich gegen meinen Willen in eine ganz interessante Unterhaltung gezogen worden. Nicht Hände, nein Kiepen voll Schmutz wurden auf Lassalle geworfen. Sein Auftreten, besonders seine eitle, großspurige Manier, sein wüstes Hetzen, das soviel persönliche Eitelkeit und Ehrgeiz durchblicken ließ, waren mir auch stets antipathisch. Aber sein starkes Gerechtigkeitsgefühl erhebt ihn doch so sehr, daß man, nach seinem Tode besonders, das andere leichter vergessen sollte. In seinem Eintreten für die Sicherung des Lebens der Armen bin ich unbedingt auf seiner Seite. Ich gehe sogar noch weiter: denn da ohne die friedliche Gewalttat des Streikes auch die gerechtesten Ansprüche der Handwerker nicht erfüllt werden, kann man sie ihnen nicht verargen, und sie sind doch besser als Barrikaden. So bin ich aus einem politischen Gespräch zu einem politischen Brief an mein sehr konservatives liebstes Töchterchen gelangt, das sicher dabei krebsrot wird . . .«

Kurz vor dem Ausbruch des Krieges kehrte Jenny von Gustedt nach Potsdam zurück, und als das lange Gefürchtete Wahrheit wurde und alles um sie her im Paroxysmus der Begeisterung schwelgte, schrieb sie ihrer Tochter: »Es ist selbstverständlich, daß wir Frauen uns mit den lieben Kindern und Enkeln hier vereinen. Alles steht in Gottes Hand, aber mir erscheint es doch wie Gotteslästerung, wenn mitten im Hurraschreien und Toben der Vater aller Menschen wie ein alter Kriegsgötze für uns allein in Anspruch genommen wird . . . Er verhüllt sein Haupt bei diesen größten Sünden der Völker . . .« Während des ganzen Feldzugs wohnten wir bei Großmama in Potsdam. Noch sehe ich sie deutlich vor mir, wie sie frühmorgens im Sommer mit mir nach Sanssouci ging, wo die Bäume so hoch waren, daß ich glaubte, sie wüchsen in den Himmel, und die Stille so zauberhaft, daß ich, wenn die Blätter zu rauschen begannen und die Wellen auf den Teichen sich kräuselten, Elfen und Nixlein zu spüren meinte. Gingen wir aber oben auf den Terrassen, wo im heißen Sommersonnenschein die Rosen glühten, dann hätte ich mich kaum gewundert, wenn hinter den Laubengängen der alte Fritz mit dem Krückstock und den Windspielen gemächlich hervorspaziert wäre. Durch Großmamas schöne Geschichten war er mir ganz vertraut geworden. Oft saßen wir auf den weißen Marmorbänken und sahen dem Steigen und Fallen des Springbrunnens zu – auf jedem Tröpfchen tanzte ein lustiger Sonnenelf, darum blitzte es so vergnüglich, und ganz, ganz oben, da badete sich die Rosenkönigin, die täglich von den Terrassen herüberflog, damit kein Stäubchen an ihrem duftenden Hemdchen hängenblieb. Ich habe sie sogar gesehen, wie sie zu uns herunterlachte: zu dem kleinen Mädchen und zu der alten Frau. Großmama war ja auch ihre gute Freundin, sonst wüßte sie nicht so viele Geschichten von ihr und allen ihren Schwestern! Hinter der Marmorbank war ein dichtes Gebüsch, und da gab es im feuchten Schatten viele, viele Schnecken, große und kleine, schwarze, weiße und rote mit buntem, komischem Häuschen auf dem Rücken. Die brauchten sich vor keinem Franzosen zu ängstigen, sagte Großmama; wurde es ihnen irgendwo ungemütlich, dann trugen sie eben ihr Häuschen, das ihnen kein Feind wegnehmen konnte, anderswohin. Ach, es war herrlich, mit Großmama spazierenzugehen, viel tausendmal schöner als mit Mademoiselle, bei der man immer artig sein und beileibe nicht hinter die Bänke kriechen durfte! Freilich: oft hatte sie keine Zeit für mich, und wenn sie mit Mama und Tante Cecile im grünen Zimmer saß und alle ernste Gesichter machten, dann liefen wir, mein Vetter Wawa, Onkel Ottos Sohn, und ich, am liebsten in den Garten und bauten Wälle aus dem großen Sandhaufen, der für uns in der Ecke lag. Kam eine Siegesnachricht, dann kriegten wir immer etwas Schönes geschenkt und schrien darum aus Leibeskräften »Hurra!« Als die Kapitulation von Sedan bekannt wurde, tanzte meine Mutter ganz allein im Zimmer umher, und Großmama liefen zwei große Tränen aus den Augen, so daß ich durchaus nicht entscheiden konnte, ob es zum Lachen war oder zum Weinen. Auf dem Balkon aber wurde eine große Fahne herausgesteckt, und viele, viele Lichtchen brannten abends hinter den Fenstern. Wir durften aufbleiben, um die Herrlichkeit mit anzusehen. Und dann warteten wir alle Tage, daß unsere Papas mit Sternen und Lorbeerkränzen geschmückt nach Hause kommen sollten. Aber sie kamen nicht; nicht einmal zu Weihnachten, und unsere Mamas weinten, und Großmama sah sehr, sehr ernst aus. Trotz der großen Puppe war es darum gar nicht schön.

Wie im Sommer unsere Morgenspaziergänge, so waren im Winter unsere Abende das Schönste vom ganzen Tag: Großmama erzählte Märchen am Kaminfeuer, und wenn die Lampe kam, dann schnitt sie Puppen und Schlitten und Wagen und Pferde aus, zeichnete Häuser und Bäume dazu – kein Spielzeug war uns so lieb wie dieses!

Nur ein einziges Brieffragment aus der Zeit des Krieges gibt einen Begriff von den widerstreitenden Empfindungen, die Großmama bewegt haben müssen. »Ich bin wohl zu alt für den Siegestaumel«, schrieb sie, »oder mein Herz ist wie immer zu sehr auf der Seite derer, die leiden. Wie vielen armen Müttern bin ich schon begegnet, die ihr Liebstes haben hergeben müssen und kein ›Tod fürs Vaterland‹ macht sie wieder lebendig. Und ich habe täglich, stündlich um drei Söhne zu zittern! Und nicht nur das: vor Metz lag Hans, während in Metz Berckheim und Henri (nahe Verwandte) sich befanden; vor Paris ist Otto, in Paris meine geliebte blinde Pauline, deren Kloster jeden Augenblick in Flammen aufgehen kann, wenn mir auch meine gute Königin immer wieder versichert, daß alles geschehen sei, um es vor dem Bombardement zu schützen . . . Das schöne Frankreich, das friedliebende gute tüchtige Landvolk, wie müssen sie leiden! Nachher wird dann aber noch die Saat des Bösen aufgehen: zum grollenden Feinde wird der Bauer werden, der seine zertrampelten Felder, seine vernichtete Ernte sieht . . .« Wenn sie auch selbst vor dem Furchtbarsten bewahrt blieb und der mörderische Krieg ihre Söhne verschonte wie ihre Schwester, so traf sie das Unglück, das ihre nächsten Verwandten traf, als hätte sie es selbst getroffen: die beiden einzigen Söhne ihrer Schwester Cecile Beust fielen am gleichen Tage in derselben Schlacht. Es war zugleich der Todesstoß für die unglückselige Mutter, die auf die Schreckensnachricht hin zusammenbrach, um nicht wieder aufzustehen. Wenn schon vorher die innigste Freundschaft meine Großmutter mit ihrem Schwager Fritz Beust verband, so wurde sie jetzt zum wärmsten geschwisterlichen Verhältnis. Wie hätte sie rückhaltlos mit den Siegern jubeln können, da er so namenlos litt? Nur wo ihr Mutterherz sich freuen durfte, da freute sie sich wirklich.

Die Erfolge ihres Schwiegersohnes, die Auszeichnung, die er mit Recht erfuhr, bestärkten sie in der hohen Meinung, die sie von seinem Geist wie von seinem Charakter hatte, und vertrieben die Sorgenwölkchen, die sie hier und da auch am Lebenshimmel ihrer Tochter glaubte aufsteigen zu sehen. Ganz besonders glücklich aber machten sie die Nachrichten von Otto, ihrem Sorgenkind. Der Krieg hatte ihn zum begeisterten Soldaten gemacht, hatte seine Schwermut vertrieben, und da er sah, daß sein Mut nicht unbeachtet blieb, daß seine Leistungen als Ordonnanzoffizier des Kronprinzen anerkannt wurden, schwand auch sein Mißtrauen und machte frohen Zukunftshoffnungen Platz. Einen Teil eines Briefes, den er im August 1870 an seine Frau geschrieben hatte, teilte seine Mutter einer Freundin mit folgenden Worten mit: »Es scheint, daß eine Kur auf Leben und Tod wie dieser Krieg notwendig war, um meines armen Otto Seele gesund zu machen. Er schrieb seiner Frau: ›Denke Dir meine maßlose Freude, als mir der Kronprinz, mein lieber gnädiger Herr, im Namen des Königs das Eiserne Kreuz überreichte, als Auszeichnung für mein tapferes und umsichtiges Benehmen in der Schlacht bei Wörth. – Das sind seine eigenen Worte. Ich weiß mich nicht zu lassen vor Freude, denn es ist eine sehr große Auszeichnung, die ich gar nicht erwartet habe. Ich glaubte mich schon übermäßig belohnt, als mich der Kronprinz heute dem König mit den Worten präsentierte: hier ist Otto Gustedt, er hat sich in der Schlacht bei Wörth und Weißenburg besonders ausgezeichnet, seiner mutigen Rekognoszierung am Tage von Wörth verdanke ich die wichtigsten Nachrichten. Die Tränen standen mir dabei in den Augen.‹ Vielleicht, daß nicht nur für meinen Otto, sondern auch für Preußen die dunklen Wege Gottes doch schließlich wieder die hellsten waren!«

Als die Friedensglocken feierlich ihre frohe Botschaft verkündeten und ein Wald von Fahnen aus den kleinen Häusern Potsdams fast bis zum holprigen Pflaster niederwehte und die engen Straßen noch enger machten, da vermochte Jenny Gustedt zum erstenmal all des Jammers, den der Krieg hervorgerufen hatte, zu vergessen: »So war es doch ein Seherblick, der vor dreißig Jahren meinen Stiefvater jene Worte aussprechen ließ: Preußen wird an der Spitze Deutschlands stehen, das ist die allein mögliche Lösung des gordischen Knotens der deutschen Politik, und es war mehr als ein Traum jugendlicher Begeisterung, wenn ich vor dreiundzwanzig Jahren, als diese Auffassung noch in den Verdacht revolutionärer Gesinnungen bringen konnte, für die Kaiserkrone Deutschlands auf dem Haupte eines Hohenzollern schwärmte. Möchte der Ruhm uns nicht übermütig machen und die Macht nur dazu führen, dem Wohle des Volks zu dienen.«

Nach dem Feldzug mußte sich Großmama wieder von ihrer Tochter trennen. Die Hoffnung, daß mein Vater als Generalstabsoffizier im IV. Armeekorps bleiben würde, erfüllte sich nicht, er wurde vielmehr nach Karlsruhe versetzt, so daß die Trennung, der weiten Entfernung wegen, eine recht schmerzliche war. Daß ihr Sohn Otto so fröhlich zurückkam und beim Kronprinzen in Potsdam blieb, daß ihr Sohn Werner soviel ernster und reifer geworden zu sein schien, erleichterte ihr den Abschied. Im Sommer des folgenden Jahres verband sie eine Reise nach Karlsruhe mit einem Besuch bei ihrer Schwester in Paris und beschloß sie mit der gewohnten Karlsbader Kur. In einem Briefe aus dieser Zeit – 1872 – heißt es: »Es scheint, als ob ein sehr friedliches, sorgenloses Ausleben mir beschieden wäre.« Aber schon bald nach ihrer Rückkehr nach Potsdam verdunkelte sich das helle Zukunftsbild wieder. Es wiederholte sich, was gerade die besten Eltern am schmerzlichsten erfahren müssen: daß ein Zusammenleben von jung und alt nicht gut tut. Bei allem Verständnis für jugendliche Neigungen und Torheiten wird es jeder Mutter, jedes Vaters berechtigtes Bestreben sein, dem Kinde die Erfahrungen des eigenen Lebens zunutze zu machen. Nietzsches herrliches Wort: Nicht fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! entspricht dem Wunsch, der, seit es Mütter gibt, ihr Denken und Fühlen beherrscht. Für ihr Kind wollen sie Erfahrungen gesammelt, wollen sie gelitten haben; ihr Kind soll nicht denselben Weg gehen, auf dem sie strauchelten, sondern ihn dort fortsetzen, wo sie angelangt sind. Darum wachen sie über seine Schritte, lassen es an Warnungen und Zukunftsprophezeiungen nicht fehlen, darum kann nichts so schmerzhaft verwunden, als wenn sie sehen müssen, daß der erwachsene Sohn oder die Tochter allem zum Trotz doch ihre eigenen Wege gehen und für die Angst der Mutter gar nur ein mitleidiges Lächeln übrighaben. Was Güte und Liebe ist, empfinden Sohn oder Tochter nur als Beeinträchtigung der Freiheit, und so spitzt sich ein ursprünglich zärtliches Verhältnis oft so zu, daß es nur durch Trennung vor dem Zerreißen bewahrt werden kann. »Er glaubt mich ganz zu übersehen«, schrieb Jenny Gustedt von ihrem jüngsten Sohn, »ahndet nichts von meiner Seele, weiß von der Würde einer Mutter nichts, und doch sprechen seine zärtlichen Augen meist die innigste Liebe aus . . .« Sie fühlte selbst, daß sie ihren Sohn verlassen müsse, um ihn sich zu erhalten. Als daher mein Vater in den Großen Generalstab nach Berlin versetzt wurde und die begründete Aussicht bestand, daß er eine Reihe von Jahren in derselben Stellung bleiben würde, entschloß sie sich, mit uns zusammenzuziehen. In der Hohenzollernstraße, ganz nahe dem Tiergarten, wo die Stadt sich in ihrer aufdringlichen Häßlichkeit ihr weniger empfindlich bemerkbar machte, wurde eine geräumige Wohnung gemietet, in der sie ihre ungestörten Zimmer für sich haben konnte; mich allein hatte sie in nächster Nähe: mein Schlafzimmerchen war nur durch eine dünne Tapetenwand von ihrem Salon getrennt, und eine Portiere ersetzte die Türe zwischen beiden. Entzückt war ich darüber und genoß das Zusammenleben wie nie zuvor: wieder, wie in Potsdam, gingen wir zusammen spazieren oder saßen während der Vormittage spielend und lesend im Zoologischen Garten; wieder erzählte sie mir vor dem grauen Marmorkamin Geschichten, viel schönere als früher, weil es nur selten noch Märchen waren, sondern Erzählungen aus der eigenen Jugend, aus dem Leben großer Geistes- und Kriegshelden. Auch sonst glich das äußere Leben sehr dem in Potsdam: Freunde und Verwandte kamen zur Teestunde zu ihr, und jeden Donnerstag abend rollte der Wagen der Kaiserin in den Torweg, und ich durfte den Kuchen zum Tee in den grünen Salon tragen, wo die beiden Freundinnen in lebhaftem Gespräch beieinander saßen. Einmal kam auch der Kronprinz zu ihr hinauf, als ich gerade alle meine Papierpuppen auf ihrem Tisch tanzen ließ. Das schadete aber gar nichts; er war nur um so freundlicher und machte, wie immer, seine Scherze mit mir.

Bald jedoch sollte mir der Unterschied von dem Damals in Potsdam und dem Heute in Berlin zum Bewußtsein kommen. Ob die Lombarden gestiegen oder gefallen waren, das war angesichts der Morgenzeitungen das Gesprächsthema, und abends, wenn man mich schlafend glaubte, dann saß ich aufrecht im Bett und hörte Großmamas und ihrer Kinder erregte, klagende und anklagende Stimmen. Ich verstand nicht alles, aber doch genug, um zu wissen, daß Geld, viel Geld verloren worden war, viel mehr, als Großmama es vorher gefürchtet hatte; als dann gar unsere schönen Goldfüchse verkauft, der Kutscher entlassen wurde, und ich – ein unerhörtes Ereignis für mein Leben! – in einer Droschke zu Kronprinzens fahren mußte, wenn ich dort eingeladen war, da begriff ich Großmamas sorgenvolles Gesicht, und mein Herz krampfte sich zusammen vor heißem Mitgefühl.

Ihr Sorgenkind war es gewesen, das sich, dem Zuge der Zeit folgend, in wagehalsige Spekulationen eingelassen und Schwager und Bruder mit hineingezogen hatte. Sie verloren alle den größten Teil ihres Vermögens. Welch ein Schlag für die Mutter! Sie selbst traute sich wohl zu, »unter dem kategorischen Imperativ der Lebensmaxime: Auskommen! von der Stufe der Zehntausend zu den Hunderttausend, ja zu den Millionen ruhig hinabzusteigen und jedesmal liebgewordenen Ballast, der keinen Platz auf der unteren Stufe hat, blutenden Herzens über Bord zu werfen – wenn nur derselbe Weg für die Seele ein Steigen ist«, aber für ihre Kinder sah sie Kämpfe und Sorgen ohne Ende voraus. »Nicht weil ich sie so verwöhnt habe«, schrieb sie einer Freundin, »sondern weil sie trotz all meiner Anstrengung durch Wort und Beispiel das glänzende Blech bloß materiellsten Lebensgenusses dem Golde geistiger und seelischer Freuden vorziehen. Mein Jennchen macht noch am ersten eine Ausnahme, aber dafür ist ihr Mann um so mehr der Sparsamkeit abgeneigt, und ist es mit so viel Güte und Liebe, fast immer nur um andere zu erfreuen, daß man sich fast schämt, ihm darum zu zürnen.« Was sie fürchtete, sollte rasch zur Gewißheit werden: die Söhne, auf ihre Güte vertrauend, lernten es nicht, sich einzuschränken, und sie versagte sich eine liebe Gewohnheit nach der anderen, um ihnen die Zulagen, die sie brauchten, gewähren zu können. Mit der Hoffnung auf ein sorgenfreies Alter war es ein für allemal vorbei. »Ich bin noch immer vergebens neugierig«, heißt es in bitterer Ironie in einem ihrer Briefe, »wann die Reihe des Gewinnens an mich kommen wird, da ich bei allem Unerwarteten immer die schwarzen Kugeln aus der Urne ziehe.«

Hinter der Tapetenwand hörte ich bald so viel, daß es für ein empfindliches neunjähriges Kindergemüt drückend wurde wie Zentnerlast. Aber ich sprach nicht darüber, am wenigsten mit Großmama, vor der ich doch sonst nie ein Geheimnis gehabt hatte! Ich mochte wohl fühlen, welch unerträglicher Schmerz es für sie gewesen wäre, wenn sie mich in alles Leid der Familie eingeweiht wüßte. Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Söhnen gab es besonders oft, und wenn sie sporenklingend das Zimmer verließen, hörte ich noch lange Großmamas leisen Schritt auf und nieder gehen, und die qualvollen Seufzer, die von ihren Leiden zeugten.

Viele Jahre später kleidete sie mancherlei Ansichten, Gedanken und Erinnerungen in eine novellistische Form, deren Mittelpunkt, »Gräfin Thara«, sie selber war. Die Gespräche darin, die sich um Offiziersehre, um Schuldenmachen, Spielen und Trinken drehten, riefen mir jene Berliner Abende lebhaft ins Gedächtnis zurück. Wie oft hatte ich dieselben Worte gehört:

»Wieder ein Liebesmahl? Und wieder Sekt?«

»Tust du nicht, als wäre das eine Sünde? Schadet das jemandem, wenn ich Sekt trinke?«

»Direkt nur dir!«

»Das ist doch meine Sache!«

»Außerdem ist es Sünde, sobald das Bedürfnis nach Trank und Speise zur Lust, Erweckung desselben zum Ziel wird! Nimmst du dir nicht etwa oft die ruhige Selbstbeherrschung, bringst dich in einen unwürdigen Zustand, machst auf viele Stunden deinen Körper krank, gibst den Leuten, denen du befehlen sollst, ein gefährliches Beispiel und übertrittst dabei sehr oft das einfache Ehrengebot: was ich nicht bezahlen kann, muß ich mir versagen.«

»Das war falsch, versagen darf ich mir das unter meinen Kameraden nicht, und bezahlen kann ich eine Flasche Sekt.«

»Eine, ja, fünfzig, nein, wenigstens nicht ohne Opfer der Deinigen, oder ohne Rechnungen armer Handwerker stehenzulassen. Und das alles um das bißchen Nasenkitzel, um das jämmerliche Lustigsein mit dem Ende, das du Katzenjammer nennst!«

»Darin liegt gerade der Schneid, dem Katzenjammer zu trotzen, und solange ich den Körper habe, will ich mich mit ihm vertragen und ihm seine Freude gönnen, ist er einmal weg, so hat er auch keinen Durst mehr . . .«

Und wie oft, wenn der Sohn sich mit dem Hinweis auf die notwendigen Verpflichtungen verteidigte, hörte ich sie die Vorgesetzten anklagen, die »mehr verlangen, als die reichlichsten Zuschüsse leisten können, glänzende Regimentsfeste, übermäßig kostbare Geschenke, Pferde und Uniformen, Jagden, Rennen und dergleichen, und die jüngeren Offiziere auf ein Eitelkeitspiedestal heben, von welchem aus sie glänzen sollen. Ich habe selbst gehört, wie ein Regimentskommandeur Kartoffeln in den Bann erklärte, weil es für Gardekavallerieoffiziere ein zu gemeines Essen sei – die Kartoffeln des großen Fritz! Und wie ein anderer in dem preußischen Schnarr- und Nasenton einen jungen Offizier, der, seinen Paletot auf dem Arm, zum Bahnhof ging, frug, ob sein Bursche den Wadenkrampf habe, daß er sich selbst so bepacke«.

Gingen die Wogen der Erregung hoch, wurde der Mutter weiche Stimme schärfer und härter, dann waren es die »falschen Ehrbegriffe in bezug auf Geld und Geldverwertung«, die sie immer wieder bekämpfte. »Der, welcher am versprochenen Termin sein Geld fordert«, heißt es in der »Gräfin Thara«, »gilt für gemein und unzart, nicht der, welcher empfangen und versprochen hat und sein Wort nicht hält; der, welcher eine Rechnung schickt, wird mit jedem Schimpfnamen bezeichnet und als unverschämt abgewiesen, nicht der, welcher auf Rechnung genommen hat. Der, welcher mahnt, wird als Tretender bezeichnet, nicht der, welcher die Mahnung verdient. Der Vater, der seinen Sohn versetzen läßt, weil er Schulden macht, wird verdammt, der Sohn wird bedauert, und es geschieht, meinen die Kameraden, dem Vater ganz recht, wenn der Sohn nun noch mehr Schulden macht; der Vater hat ja nur das Vermögen der Kinder zu verwalten, lebt auch zu lang, steht bloß dem berechtigten Lebensgenuß des Sohnes im Wege! Mit ritterlichem Mut tritt er auf das Herz der Mutter, die für zwanzig- bis dreißigjährige Liebe und Treue Spott und Undank erntet. Das ist das Porträt eines ›charmanten Kerls‹, der unsinnige Wetten macht, eine Maitresse hat, die schöner wohnt, besser lebt, kostbarere Kleider hat als Schwester und Mutter! Wie könnte er drei Monate lang z. B. nicht nach Berlin fahren, wie kann er nicht Sekt trinken, nicht spielen! Nein, da muß man den Mut haben, durch seine noblen Gewohnheiten dem Regiment Ehre zu machen, und ginge es über den Sarg von Vater und Mutter, über alle göttlichen Gesetze, über alle Pflichten der Liebe und der Ehre, und opferte man die Altersruhe der Eltern, die Unabhängigkeit der eigenen Zukunft, die Gesundheit des Leibes und der Seele! Und zuletzt gibt es ja, Gott sei Dank, Pistolen zum Selbstmord.«

Aber auch die erregteste Auseinandersetzung schloß mit allen Zeichen der Liebe, einer sorgenden, schmerzlichen, aber doch immer wieder hoffenden Liebe. »Laß die Sonne nie über deinem Zorn untergehen«, war einer der Grundsätze Jenny Gustedts, und oft schloß sie ein ernstes Gespräch mit den Worten: »Das alles gibt Stoff zu guten Monologen bei der Zigarre im Lehnstuhl oder vor dem Einschlafen. Bei Dialogen tritt Eitelkeit, Rechthaberei, Kränkung so leicht in den Weg, aber die Selbstgespräche, die folgen, die können Frucht bringen.«

Aus jener schweren Berliner Zeit datiert ein Brief von ihr, der ihre Stimmung am besten wiedergibt: »Die Gewohnheit meiner abendlichen Selbstprüfung«, so heißt es darin, »hat mir niemals so viele schlaflose Nächte gemacht, wie jetzt. Was habe ich versäumt an meinen Kindern? Welche Schuld habe ich ihnen gegenüber begangen? Das sind die Fragen, die mich quälen und auf die ich keine Antwort weiß . . . Mein Mann und ich haben nie über unsere Verhältnisse gelebt, unseren Kindern gaben wir immer das Beispiel unbedingter Rechtschaffenheit. Aber freilich, diese Verhältnisse waren eben sehr gute; was hätte geschehen müssen, um die Kinder von der Verwöhnung durch sie zu schützen? Wir hatten nach menschlichem Ermessen die Sicherheit, daß ihre Lebensführung dieselbe bleiben könnte wie unsere . . . Ich habe ihnen immer durch mein Leben und Denken meine Geringschätzung rein materieller Genüsse gelehrt, habe Geist und Natur ihnen als Höchstes gepriesen und zugänglich gemacht, habe ihnen das Christentum niemals durch Kasteiungsideen und Weltverachtung verekelt, sondern im Gegenteil gezeigt, daß der beste Christ auch stets der fröhlichste, genußfähigste Mensch sein wird. Und dennoch diese Resultate! Bin ich vielleicht doch im Urteil zu hart? Sind sie zu jung und vergesse ich ihre Jugend? Als ich so alt war, bin ich doch auch lebensfroh gewesen, aber die geistigen Genüsse gingen mir über alles . . . Ich bin zwar unter ungewöhnlich günstigen Verhältnissen aufgewachsen, und das ist vielleicht die Ursache dafür, daß ich mich so ganz anders entwickelte. So wäre also die Schuld in der Zeit zu suchen, in dieser oberflächlichen, genußsüchtigen, nur nach Geld und Vergnügen jagenden Zeit, wo ein junger Leutnant die Nase rümpfen würde, wenn er ein Schlafzimmer wie das Goethes bewohnen müßte, und ein Student empört wäre, wenn man ihm Goethes Arbeitszimmer anwiese . . . Wenn das die Folgen unserer Siege sind, dann wäre es wahrlich besser, wir wären das arme, unscheinbare Preußen geblieben . . . Ich fühle mich recht müde, recht alt und recht fremd in dieser Welt. Neulich besuchte mich R., seiner Gesundheit hat das Studentenleben, das das Leutnantsleben fast noch zu übertrumpfen scheint, einen Knacks gegeben, den er vielleicht noch als Greis spüren wird – wie jammerschade, Lust, Tatkraft, Tüchtigkeit so zu vergeuden! Und wie unbegreiflich bei einem Menschen wie er, der ehrgeizig ist und dieses Leben für das einzige hält, also logischerweise alle Kraft darauf konzentrieren müßte, es durch Leistungen zu erfüllen. Statt dessen wird Gesundheit, Nerven- und Geisteskraft im Genußleben ertränkt. Ich suche sein Verantwortlichkeitsgefühl zu wecken, und da er immer wieder kommt, muß doch irgend etwas ihn herziehen, was eine alte ernste Frau kaum sein kann . . . Wie arm an Liebe muß die Welt sein, daß mein wirkliches aufrichtiges Wohlwollen mir immer so unerwartet Herzen gewinnt und ohne mein Wissen und Zutun es jedermann für Liebe nimmt, während ich eigentlich wirkliche Liebe für sehr wenige Menschen empfinde, deshalb nur mit sehr wenigen lieber zusammen, als mit mir selbst allein bin . . . Laute, lärmende Heiterkeit in meiner Nähe schmerzt mich jetzt ganz besonders. Meine Seele, die unter den Fröhlichen den Druck wie von heißer Sonnenhitze fühlt, empfindet den Umgang mit Trauernden, als träte sie in einen milden Schatten.«

Die Schmerzen, die ihr diesen Brief diktiert hatten, bezeichneten noch nicht den Gipfel des Leides, zu dem diese Jahre sie emporführen sollten. Selbst die Bäume am rauhen Lebensweg, in deren Schatten sich zuweilen von der mühseligen Wanderung ruhen ließ, hörten auf, und die Steine wurden spitzer und der Pfad immer steiler. Ihr Sorgenkind, ihr ältester Sohn, wurde ohne seine Schuld in einen tragischen Familienkonflikt verwickelt, aus dem es nur einen Ausweg für ihn gab: das Duell. Die Kugel seines Gegners traf ihn in den Unterleib. Leben und Tod rangen in langem, schwerem Kampf an seinem Lager, und als er sich endlich von ihm erhob, war er ein an Leib und Seele gebrochener Mann. Nun war der Platz der Mutter wieder an der Seite des Sohnes. Sie, die ihm das Leben gegeben hatte, sah es als ihre Aufgabe an, es aus Schutt und Trümmern ihm wieder aufbauen zu helfen.

Da ihr Schwiegersohn gegen alle Erwartung nach einem kaum anderthalbjährigen Aufenthalt in Berlin nach Posen versetzt wurde und sie nun abermals heimatlos war, erschien es ihr wie eine Fügung Gottes. »Ich bin wohl noch zu egoistisch gewesen«, schrieb sie, »als ich mich vor ein paar Jahren auf ein friedliches Ausleben in der Mitte meiner Kinder vorbereitete. Bei der Art eurer Generation, alle Lasten, die seit Beginn der Welt jeder getragen hat, unerträglich zu finden, sind die großen Familien sehr zu fürchten; wer ein egoistisch ruhiges süßes Alter träumt, muß kein zehnfaches Leben mit hineinnehmen, wie es bei Kindern und Enkeln geschieht, und um so mehr geschieht, je mehr man sie liebt. Ich fühle die Schmerzen meiner Kinder doppelt und dreifach und würde sie freudig tausendfach fühlen wollen, wenn ich auch nur ein Sandkörnchen ihrer Last dadurch von ihren Schultern nehmen würde. Aber ich kann nichts, als im stillen für sie beten, und dasein, wenn sie ein allzeit offnes Ohr und Herz brauchen, um ihren Jammer hinein zu schütten . . . Es müssen glückliche Menschen gewesen sein, die sich Hölle und Fegefeuer erträumten, sonst hätten sie wissen müssen, daß die Erde beides zugleich ist . . . Glaube nicht, daß ich klage: mit dem Leid wächst die Kraft. Das wird auch Dein Mutterherz noch erfahren. Der Glaube, der Berge versetzt, ist nicht stärker, als die Mutterliebe, die den Kampf mit Hölle und Fegefeuer aufnimmt, um ihres Kindes willen.«

 


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