Lily Braun
Im Schatten der Titanen
Lily Braun

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Einleitung

Im Jahre 1890 starb meine Großmutter Jenny von Gustedt, deren Leben diese Blätter schildern sollen. Sie war die letzte Zeugin einer großen Zeit, ihre Gestalt war geweiht und verklärt durch Goethes Freundschaft. Von Kindheit an verwob sich mir das Bild meiner Großmutter mit dem jener Titanen, die an der Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts die Welt beherrscht hatten: Goethes und Napoleons. Wenn andere Kinder, der Ahne zu Füßen sitzend, den alten trauten Märchen lauschen, die sie erzählt, so ward ich nicht müde, den Lebensmärchen ihrer Jugend zuzuhören. Von Weimars Glanzzeit sprach sie mir, von vielen kleinen Dingen und Erlebnissen, die groß wurden, weil das Licht des Goethenamens sie umgab, von den Menschen der Zeit, die wie ein anderes Geschlecht von da an in meiner Erinnerung lebten, von dem Großen, Herrlichen selbst, dessen Haus ihr eine Heimat war und Zeit ihres Lebens ihres Geistes Heimat geblieben ist. Als ich älter wurde, war sie es, die mir Goethes Lebenswerk erschloß; aus dem alten blauen Band der »Iphigenie«, den er ihr geschenkt hatte, tönten zuerst seine Worte an mein Ohr. Schauer der Ehrfurcht ließen mein Herz erzittern, wie sie dann der Fünfzehnjährigen den schmalen Goldreif an den Finger steckte, der stets ihr liebstes Angebinde aus des Dichters Hand gewesen war. Wenige Jahre später, während einer langen Genesungszeit nach schwerer Krankheit, wo ein junges Ding, wie sie sagte, so leicht auf törichte Gedanken kommt, sandte sie mir ihre schriftlichen Aufzeichnungen, für die sie bei ihren Kindern ein Interesse nicht voraussetzen konnte. Die Beschäftigung mit den alten Manuskripten bildete ein neues Band zwischen uns. Ich bat oft um Erklärungen, die mir mündlich und schriftlich bereitwillig gegeben wurden, so daß nach und nach zu den alten Schriften viele neue hinzukamen, auch die Erinnerungen, die sie auf Anregung des Großherzogs Karl Alexander von Sachsen-Weimar, ihres treuen Freundes, noch in ihrer letzten Lebenszeit niedergeschrieben hatte.

Einst, als ich wenige Jahre vor ihrem Tode wieder einmal in ihrem stillen grünen Zimmer bei ihr saß, öffnete sie das wohlbekannte Fach ihres Schreibtisches, das in seiner vorderen Hälfte für mich immer eine Fundgrube wunderbarer Dinge gewesen war: Ringe aus Haaren, Broschen mit geheimnisvoll darin verschlossenen Bildchen, Gemmen und Steine, und andere Merkwürdigkeiten hatten zu meinem Lieblingsspielzeug gehört, um das sich tausend Träume schlangen; an einem Miniaturbilde aber, das die Mitte eines breiten goldenen Armreifens bildete, war mein Blick stets gebannt hängengeblieben: einen Mann in großer Uniform, mit klassisch regelmäßigen Zügen und dunklen, leuchtenden Augen stellte es dar. Jerome Napoleon war es, des großen Kaisers Bruder, jenes Kaisers, den Großmutters Erzählungen mir immer als einen Riesen der Vorzeit hatten erscheinen lassen – nicht als jenen bekannten Kleinkinderschreck aller guten Preußenkinder, sondern als eine schier übermenschliche Gestalt, deren Machtgebot eine Welt formte und beherrschte. Aus der hinteren Hälfte des Fachs, das alle diese Wunderdinge enthielt, zog Großmutter ein sorgfältig verschnürtes Paket hervor und gab es mir. »Bewahre es mit dem übrigen,« sagte sie, »damit es, wenn ich sterbe, nicht vernichtet wird.« Es enthielt Briefe des einstigen Königs von Westfalen an sie, die geliebte Tochter aus seinem heimlichen Liebesbund mit einer ihm immer unvergeßlichen Frau. Wohl hatte ich schon lange von Großmamas Herkunft reden hören, als Kind schon hatte man mich meines Ahnherrn wegen verhöhnt, und wenn ich an Eltern und Verwandte schüchterne Fragen nach ihm zu richten wagte, so wurden sie rot und schalten mich; ich wußte nie recht, ob ich stolz sein oder mich nicht vielmehr seiner schämen sollte. Seine Briefe erst lehrten mich ihn lieben.

Sein Name hat in Deutschland keinen guten Klang: der widerlichste Klatsch, dessen Geifer zur Höhe eines Napoleon, auch als er ein gestürzter Riese war, nicht hinaufreichte, hielt sich dafür an seinen Brüdern und Schwestern schadlos. Halb Wüstling, halb Schwachkopf – so lebt Jerome in der Tradition der Nachkommen jener Deutschen, die sich zu seinem Hofe drängten, die von seiner allzu freigebigen Hand Titel und Würden, Vermögen und Grundbesitz dankbar entgegennahmen. Seine Briefe an meine Großmutter haben mich veranlaßt, ihn selbst in seinen Memoiren und seinem Briefwechsel, seine Familie, seine Zeitgenossen und die objektive Geschichtsschreibung zu Rate zu ziehen, um seine wahre Erscheinung dadurch kennenzulernen. Nur sehr wenig sieht sie der traditionellen gleich. Dies auch vor der Öffentlichkeit festzustellen, das Bild seiner Persönlichkeit zu reinigen von dem Schmutz, mit dem man es beworfen hat, es in seiner Güte und Liebenswürdigkeit, wie in seiner erschütternden Tragik auferstehen zu lassen, wurde mir zum Herzensbedürfnis. Und da es stets einer der schönsten Züge meiner Großmutter gewesen ist, der Verleumdung zu steuern, wo sie ihr begegnete, glaube ich um so mehr in ihrem Sinne zu handeln, wenn ich in diesem Buche der Schilderung ihres Vaters Raum gewähre.

Unklar mußte leider das Bild ihrer Mutter bleiben. Wie sie auf jedem ihrer Porträte eine andere ist, so ist auch ihr Wesen nicht festzuhalten. Die Geliebte Jeromes wurde als ein so dunkler Fleck in der Familiengeschichte betrachtet, daß man versuchte, ihn so sehr als möglich zu verwischen. Ihr letzter Brief an ihre Tochter ist das einzige persönliche Zeichen ihres Daseins, das mir erhalten blieb. Was sonst wohl vorhanden sein mag, schläft wahrscheinlich unter dem strengen Schutze der Prüderie in Rumpelkammern und Familienarchiven den Schlaf des Todes.

Für eine Zeit wie die unsere, die ihrer selbst in all ihrer verständigen Nüchternheit überdrüssig wurde, ist es charakteristisch, daß sie der Vergangenheit nachspürt, verborgene Schätze wieder ans Licht befördert, Toten neues Leben einflößt und ewig Lebendige, die für sie lange verschollen waren, wieder auf sich wirken läßt. Viele sehen nichts anderes darin als ein Zeichen der Dekadenz, des Absterbens, weil es an alte Menschen erinnert, die mit steigenden Jahren immer mehr in der Erinnerung leben. Mir scheint, daß es vielmehr ein Zeichen neuen, werdenden Lebens ist, denn Sehnsucht drückt sich aus darin, und Sehnsucht ist immer etwas Junges, dem Erfüllung folgen muß. Diese Sehnsucht aber möchte dieses Buch nähren.

 


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