Lily Braun
Im Schatten der Titanen
Lily Braun

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Der Leidensweg der Mutter

Im stillen Winkel

Eine Neigung, die für die Gestaltung ihrer Zukunft bestimmend werden sollte, hatten Jenny und Werner von Gustedt gemeinsam: die für ein Leben auf dem Lande in stiller Arbeit und Zurückgezogenheit. Jenny hatte das Leben der großen Welt genug genossen, seine Reize waren für sie erschöpft, und nicht nach Vergnügen und Zerstreuung, sondern nach Tätigkeit und Sammlung trug sie Verlangen. Bei Werner wieder machte sich die Familiengewohnheit der Jahrhunderte geltend, und beide stimmten in der Ansicht überein, die Jenny aussprach, indem sie schrieb: »Nichts, auch kein Königtum ist mir vergleichbar mit dem ausfüllbaren, übersehbaren Wirken eines großen, reichen Gutsbesitzers. Der Beruf, zu ordnen, zu beglücken, zu verschönern, zu verbessern, der Land und Leute, Natur und Geist umfaßt, erscheint mir so gut und so groß wie kein anderer.«

Und so hatte sich Werner Gustedt entschlossen, dem Gedanken an den Staatsdienst zu entsagen. In Westpreußen, in schöner wald- und seenreicher Gegend, zwischen Deutsch-Eylau und Marienwerder, kaufte er das Rittergut Garden, und hierher, in tiefe Einsamkeit, fern allem gewohnten Verkehr mit den geistesverwandten Freunden, führte er die junge Frau, das einstige gefeierte Weimarer Hoffräulein. Nun erst forderte das Leben den Beweis für das, was sie geworden war. Ihr ganzes Wesen hatte schon längst so sehr nach Betätigung verlangt, daß selbst eine so schwere Aufgabe, wie die ihr gestellte, ihr nur willkommen sein konnte.

Die Erfüllung der praktischen Pflichten einer Gutsfrau ist für die an den städtischen Haushalt gewöhnte niemals leicht; um wieviel schwieriger mußte sie vor siebzig Jahren im äußersten Osten Deutschlands, inmitten einer halbpolnischen Bevölkerung, ohne städtische Nachbarschaft, ohne Eisenbahn, ja selbst ohne Chausseen, sich gestalten, noch dazu für eine junge, nur an das Hofleben gewöhnte Frau. »Wie oft muß ich in meinem Haushalt von 30 Personen«, schrieb Jenny an Frau Wilhelmine Froriep, die Schwägerin ihrer lieben Emma, mit der sie ihre praktischen Erfahrungen eingehend auszutauschen pflegte, »meine hofdämische Unwissenheit büßen.« Und doch beschränkte sie sich nicht allein auf den Kreis der gegebenen häuslichen Pflichten. Leid und Armut waren ihr auch in Weimar begegnet, und sie hatte nach besten Kräften zu helfen gesucht. Aber was sie dort suchen mußte, das trat ihr hier auf Schritt und Tritt entgegen, was dort ihr mitleidiges Herz bewegte, dafür fühlte sie sich hier verantwortlich, wo es sich um die Bevölkerung des eigenen Gutes handelte.

Es war im großen ganzen ein verwahrlostes, dem Trunk ergebenes, in Unreinlichkeit und Unordnung dahinvegetierendes Volk. Kranken- und Armenhäuser gab es meilenweit in der Runde nicht, die Schule war schlecht, um das körperliche und geistige Wohl der Kinder kümmerte sich niemand. Jenny empfand diese Mängel auf das schmerzlichste. »Für die Kollekte der hiesigen Provinz für Spitäler in Jerusalem«, schrieb sie einmal, »während wir fast in keinem Kreise eines haben, gebe ich keinen Pfennig«; und ein andermal: »Was uns verdrießt, ist die alberne Errichtung eines Denkmals für den verewigten König, – eine so kostspielige Schmeichelei in einem Lande, wo es fast gänzlich an Kranken-, Waisen-, Armenhäusern, an Chausseen und Kanälen fehlt.« Soviel in ihren Kräften stand, suchte sie die Unterlassungssünden von Staat und Gemeinde auf dem Gebiete, das ihr unterstellt war, gutzumachen. Was sie leistete, war weniger Wohltätigkeit im damals üblichen Sinn, als soziale Hilfsarbeit, wie wir sie heute verstehen. Wo sie Armut fand, suchte sie ihr durch Überweisung von Arbeit abzuhelfen; sie setzte es bei ihrem Manne durch, daß eine Dreschmaschine, durch die einige dreißig Familien im Winter brotlos geworden wären, erst angeschafft wurde, als eine andere Erwerbsarbeit ihnen gesichert war; wo ihr Trunksucht begegnete – und das geschah in jenem fernen Winkel Preußens noch häufiger als anderswo –, bekämpfte sie sie zunächst durch Verabreichung von gesunder und kräftiger Nahrung; wo Alter und Krankheit zur Arbeit unfähig machten, da suchte sie neben allzeit bereiter persönlicher Hilfe die Gemeinde und den Kreis zur Erfüllung selbstverständlicher Menschenpflichten heranzuziehen. Sie stieß bei ihrer Arbeit auf viel Übelwollen, viel Mißverstehen: Von der einen Seite sagte man ihr achselzuckend: »Armut hat es immer gegeben, und die Leute, deren Elend Sie als etwas so Entsetzliches empfinden, sind daran gewöhnt.« Was half es, wenn sie empört ausrief: »Mag sein, daß dem Menschen der Jammer zur Gewohnheit wird, aber nie, nie gewöhnt sich eine Mutter an die Not ihres Kindes.« Von der anderen Seite wurde ihre Hilfe nur zu oft als unbequeme Bevormundung empfunden und dem Säugling schon der schnapsgetränkte Lutschbeutel in den Mund geschoben. Zu lange schon, das fühlte sie bald, hatte das Elend, der schlimmste aller Erzieher, unter dessen Peitschenhieben der Mensch sich nur zum Sklaven entwickeln kann, auf den armen Knechten und Mägden, den fast noch leibeigenen Instleuten gelastet, als daß sie selbst noch hätten wandlungsfähig sein können. »Zu so großem Zweck reicht ein Menschenleben nicht aus«, schrieb sie; »wollen wir von der Zukunft irgendeine Besserung erwarten, so müssen wir nicht bei den Erwachsenen anfangen, die wir nur vor Not zu bewahren vermögen, sondern bei den unschuldigen Kindern.«

Ihre Natur, die sich mit dem einen Wort »Mütterlichkeit« am besten charakterisieren ließ, hatte sie stets, schon als ganz junges Mädchen, zu den Kindern gezogen. Alles Leid, das ihr begegnete, empfand sie bis zum körperlichen Schmerz, das der Unschuldigsten – der Kinder – verursachte ihr die größten Qualen. Nicht nur, weil es die Wehrlosen traf, sondern auch weil es immer aufs neue ihren schwer errungenen Glauben zu erschüttern drohte. Zu der Überzeugung vom Vorhandensein eines allgütigen Schöpfers, eines Gottes der Liebe, eines himmlischen Vaters nach Christi Lehre, stand das Elend in der Welt und das Unglück des Lebens in einem furchtbaren Widerspruch, den sie nur dadurch glaubte lösen zu können, daß sie es als Strafe für begangene Sünden auffaßte, und zwar für Begehungs- und für Unterlassungssünden der Besitzenden wie der Besitzlosen. Würden alle Besitzenden ihre Menschen- und Christenpflicht erfüllen, würden alle Armen echte Christen sein, so gäbe es bald – davon war sie damals noch überzeugt – weder Not noch Elend. Um diese Auffassung zu verstehen, muß zuerst Jennys Begriff des Christentums verstanden werden. »Religion ist Tat«, schrieb sie, »Christentum ist Tat, lauter Tat, nur Tat.« Der religiöse Glaube hat, wie sie meinte, nur für den Menschen selbst, den er beglückt, Bedeutung, für die Allgemeinheit kommt es allein auf das Handeln an. An einen Freund schrieb sie einmal darüber:

»Glauben ist nicht das gewöhnliche Fürwahrhalten, wie etwa bei einer geschichtlichen Tatsache, es ist die Hand, die sich Gott entgegenstreckt. Es ist nicht wie ein Wissen, das der Schulmeister einpaukt, es ist die Kraft des Schaffens und der Liebe, die durch christliches Wollen, Wandeln, demütiges Forschen zu unserer Seele herangezogen wird, wie Eisen durch den Magnet. Wer glaubt, daß Christus Gottes Sohn ist, und seinen Diener oder auch nur seinen Hund mißhandelt, der ist kein Christ! Wenn Sie diese Äußerlichkeiten nicht für wahr halten können, so lassen Sie doch die Geburt, die Wunder, die Höllenfahrt, die Auferstehung des Herrn ganz beiseite, wandeln Sie nur mit allen Kräften Ihrer Seele nach seinen Geboten, aber so, daß das tägliche Leben wie eingehüllt ist darin und alle Beziehungen zu Ihren Nebenmenschen darin wurzeln. Denkt man, der Glaube sei ein Fürwahrhalten aus genügenden Gründen? Aber die Gründe sind nie genügend. Er sei eine Zuversicht dessen, was man nicht sieht und doch weiß? Die Prüfung kommt und die Zuversicht weicht! Glaube ist Leben, nur Leben, lauter Leben.«

Das Rechte tun und nicht den Glauben predigen – das forderte sie als Beweis für echtes Christentum, und sie war so überzeugt davon, daß die »Sünde der Leute Verderben« ist, daß sie alles Unglück aus dem Unrechttun ableiten zu können glaubte; ein langes Leben voll harter Erfahrungen vermochte zwar ihre Ansicht auf der einen Seite zu modifizieren, auf der anderen zu erweitern – im Grunde aber war und blieb sie der Grund und Boden, in dem ihr geistiges Leben wurzelte.

Ein Brief, den sie von Garden aus an ihre Freundin Emma Froriep schrieb, ist dafür bezeichnend:

»Mit dem Verweisen auf künftige, ewige Seligkeit lockst Du keinen Hund hinter dem Ofen des Materialismus hervor. Diese Hoffnung, so wahr und so tröstlich für den Gläubigen, ist nur ein Reiz zu Spott und Zweifel für den Ungläubigen. Suche das Weltkind auf seinem Feld zu schlagen, und zwar mit der beweisbaren, augenscheinlichen Wahrheit, daß die Sünde auch hier auf Erden der Leute Verderben ist; male in hundert Bildern die Gegensätze, z. B. die arme Tagelöhnerfamilie, bei der der Vater nach schwerer Arbeit in seiner reinlichen Hütte sitzt, den Löffel freundlich mit Frau und Kind in die Mehlsuppe taucht, noch eine Stunde vor der Tür sein Pfeifchen raucht, mit den Kleinen spielt, betet und sich zur Ruhe legt; dagegen den Trunkenbold, der flucht, dem Wucherer für Schnaps mehr als den Tagelohn hingibt, die Frau schlägt, die Kinder verwünscht, in Schmutz und Lumpen verkommt. Male den Gutsbesitzer, der Rat, Hilfe, Trost für jeden seiner Leute hat, und den, der in Erpressung und Lieblosigkeit alle Arbeitskraft ausnutzt; male den reichen Offizier, der sein Vermögen vertut, vertrinkt, verspielt und mit einer Kugel durch den Kopf endet, und den armen Mann, der durch geistige oder körperliche Arbeit ein Vermögen gewinnt und Gutes für die Menschheit leistet; male treu ihr inneres und äußeres Leben und dann laß aufrichtig die Frage beantworten: ›Auf welcher Seite ist das Glück?‹ Auch dann, wenn nach diesem Leben nichts wäre, auch dann ist der Christ der glücklichste Mensch auf Erden.«

Das Leiden der Kinder aber – und schließlich auch das der Tiere, für das ihr Mitleid fast ebenso rege war – schien die Grundpfeiler des ganzen Gebäudes ihrer Religion zu erschüttern. Ist es möglich, angesichts eines gequälten Tieres, eines mißhandelten Kindes an den Gott der Liebe zu glauben?! Kann ein gütiger Vater im Himmel ruhig mit ansehen, was für einen guten Menschen schon unerträglich ist?! Selbst die weitere Erklärung des Unglücks als einer Prüfung, an der die moralischen und geistigen Kräfte reifer Menschen wachsen sollen, versagte angesichts derer, die noch keine Kräfte haben. Und die alttestamentarische Ansicht von den Sünden der Väter, die sich rächen bis ins dritte und vierte Glied, erschien ihr unvereinbar mit dem Gott der Christen. Sollte sie sich mit Goethes Weisheit, »das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren« zufrieden geben, wo sie nur Verabscheuungswürdiges sah? Nach vielen schweren Gewissenskämpfen – »wie Jakob mit dem Engel, so habe ich mit mir selbst gerungen« – glaubte sie darin einen, wenn auch keineswegs befriedigenden, so doch als weiteren Ansporn zur Tat dienenden Ausweg gefunden zu haben: »Kinderleiden sind gewiß zum Teil eine Folge der ungeheuren Schuld der Gesellschaft gegenüber den Armen, und sie rächen sich an derselben Gesellschaft, indem sie Verbrecher, moralische und physische Krüppel, Lebens- und Arbeitsunfähige entstehen lassen.« Hier also schloß sich der zerrissene Ring ihres Gedankengangs wieder. Ist das Leid Folge der Schuld, so wird es im selben Umfang verschwinden, als die Schuld abgetragen wird. Ihr tiefes Mitgefühl und ihre Überzeugung wurden zusammen zur Triebkraft ihres Tuns.

Zu einer Zeit, wo Fröbels Erziehungsgedanken noch nicht bis zu dem einsamen Gut in Westpreußen gedrungen sein konnten – seinen ersten Kindergarten eröffnete er ungefähr im selben Jahr – sammelte Jenny von Gustedt die Kinder der Landarbeiter und der Instleute um sich, »um ihnen neben warmen Kleidern, guter Milch, reinen Händen und Gesichtern, durch Spiel, Erzählung und Gespräch die primitivsten Ideen des Guten, Wahren und Schönen beizubringen.« Zur weiteren Unterstützung ihrer Bestrebungen veranlaßte sie ihren Mann, die bisher in einem fernen Dorf gelegene Schule nach Garden zu verpflanzen, und einen jungen, guten Lehrer anzustellen, der Hand in Hand mit ihr zu arbeiten fähig war.

»Unsere Träume und Hoffnungen für Garden«, so schrieb sie an Wilhelmine Froriep im Hinblick auf das bisher Erreichte, »treten allmählich als Wirklichkeiten hervor: ein junger, eifriger Lehrer, unterstützt von unserer häufigen Anwesenheit beim Unterricht, von Preisen und kleinen Kinderfesten, bringt schnell die liebe Schuljugend zu Ordnung, Fleiß und Reinlichkeit, und da beim Verderb der Erwachsenen nur durch die Kinder ein Heil für die Zukunft zu erwarten ist, hat Werner das etwas große Opfer nicht gescheut, ganz allein die Kosten dieser Stelle zu tragen.«

Aber den unglücklichsten der Kinder war durch all das doch nur zum Teil geholfen: da gab es Verlassene und Waisen, denen selbst das ärmlichste Zuhause fehlte. Jenny entschloß sich, zunächst vier von ihnen in ihr Haus zu nehmen und mit Hilfe einer dafür angestellten Pflegerin unter ihren Augen erziehen zu lassen. Das erste Kind, das sie aufnahm und von dem sie noch als alte Frau besonders gern zu erzählen pflegte, war ein wunderschönes kleines Mädchen, das sie im Straßengraben neben der schwerbetrunkenen Mutter liegend fand. Erstaunt über den sorgfältig gepflegten Körper des Kindes, erfuhr sie, daß die Mutter es mit dem Schnaps zu waschen pflege, ehe sie ihn trinke. Fünf Jahre blieb das Mädchen in Jennys Obhut, dann entführte es die Mutter, nach weiteren fünf Jahren fand man es eines Morgens sterbend vor der Türe, einen elenden Säugling im Arme.

Die Beschäftigung mit den Zöglingen, deren Zahl schließlich auf sieben anwuchs, führte im allgemeinen zu erfreulichen Resultaten. Über die Anfänge des Stiftes schrieb sie: »Das kleine Mädchenstift ist auch ins Leben getreten, und vier sehr nette Mädchen im Alter von drei bis elf Jahren werden unter meiner Aufsicht erzogen; da es die ärmsten und verwaistesten waren, fühlen sie sich sehr wohl . . . Zu Weihnachten wurde durch diesen Zuwachs der Familie die Freude sehr erhöht, und ich kann nicht sagen, wie rührend mir die kleinen Wesen waren, die zum erstenmal in ihrem Leben eine Weihnachtsfreude, diesen Glanzpunkt der Kindheit, kennenlernten.«

Was wäre aber Jennys Leben, so reich und vielseitig sie auch seinen Inhalt gestaltete, für sie selbst gewesen, wenn ihrer Mütterlichkeit nur fremde Kinder anvertraut worden wären. »Man sagt oft«, schrieb sie einmal, »daß ein Weib, das fremde Kinder erzieht, aller Muttergefühle teilhaftig würde. Nur ein Mann oder eine Kinderlose können das behaupten, die von den Wundern des Mutterseins, den geheimnisvollen Einflüssen des Blutes keine Ahnung haben. Alle Qualen der unglücklichsten Ehe wiegen federleicht gegenüber der Seligkeit der Mutterschaft, alle körperlichen Nöte und Schmerzen sind nichts als ein notwendiger winziger Erdenrest, der daran mahnt, daß sie nicht reine Himmelswonne ist. Dabei ist das Mutterherz ein besonders merkwürdiges Ding: neben der Gattenliebe findet eine andere ähnliche keinen Platz, ohne sie zu beeinträchtigen oder zu verdrängen, das Mutterherz aber ist wie ein Diamant: bei jedem Kinde wird eine neue Seite geschliffen und eine neue Flamme erzeugt, die der früheren nicht schadet, sondern sie noch mehr verklärt.« Als sie diesen Brief – ein Gratulationsschreiben an eine jung Vermählte – absandte, war ihr zweites Kind, ein Töchterchen, das dem ältesten, einem Sohn, nach kaum einem Jahre gefolgt war, gerade geboren worden, und die Kinder bildeten ihr wachsendes Entzücken, den Mittelpunkt ihres Denkens und Tuns. Welche mütterlichen Träume und Zukunftsgedanken umspielten jetzt schon Ottos schwarzes Köpfchen und das goldig schimmernde der kleinen Marianne!

Die Kinder sind unsere Unsterblichkeit – wer vermag diesen Gedanken in seiner ganzen Tiefe, in der ganzen Schwere der Verantwortung, den er auferlegt, stärker zu empfinden als eine Mutter, als eine solche Mutter, bei der »Gefühle und Erfahrungen so unverlöschbare Eindrücke hinterließen und die eine südliche Phantasie ins ungemessene trug.«

Nach ihren Briefen aus jener Zeit zu schließen, überließ sie die Kinder so wenig als möglich anderen. Gerade die unbewußten Eindrücke der ersten Kindheit erschienen ihr als ausschlaggebend für das ganze Leben. Das sprach sie schon aus, als sie bei der Geburt des Grafen von Paris an die Herzogin von Orleans schrieb: »Oh gib wohl acht, aus welchen Zweigen du die Wiege des Kindes flichtst, denn die Zweige wachsen zu Bäumen empor und beschatten das Menschenleben; umsonst umwindest du dann die Stämme mit Kränzen, umsonst schmückst du die Wipfel mit Blumen, ein Windstoß des Schicksals verweht sie, und es zeigt sich wieder, ob eine Traueresche oder eine immergrüne Tanne darunter wuchs.«

Keinerlei gesellige Ansprüche entzogen sie ihren Mutterpflichten; bei den weiten Entfernungen und schlechten Verbindungen war an nachbarlichen Verkehr nicht zu denken, und das Leben war so ausgefüllt, daß er nicht vermißt wurde: »Ich lebe nach all meinen Einsamkeitsträumen und finde sie in Wirklichkeit noch lieber«, schrieb sie nach dreijährigem Aufenthalt in Garden und fügte hinzu, daß sie sich nicht vorzustellen vermöchte, jemals in das städtische Leben zurückkehren zu können. Nur leise klang hier und da die Sehnsucht nach fernen Lieben durch. »Von mir«, heißt es in einem Brief an Frau Froriep, »kann ich nur Erfreuliches berichten: meine lieben Herzenskinder gedeihen an Geist und Körper, und übermorgen ist Weihnachten!! – Ottchen ist groß und kräftig, und seine Liebe und Zärtlichkeit beglückt mich unendlich . . . Wir sehen niemanden, und jeder Tag ist sich gleich – gleich lieb und angenehm, ich zeichne, stricke, schreibe, lese zuweilen, spiele abends mit Werner Schach, oder wir lesen einander vor. Die Grundfarbe des Lebens sind immer die zwei lieben Engelchen, und hätte ich meine Mama und meine Emma, dann möchte ich niemals sterben.«

Das liebe Bild Weimars mochte aber doch immer lockender vor ihrer Seele stehen, und das Verlangen, ihr Frauenglück, ihren Mutterstolz dort strahlen zu lassen, wo alle Freuden und Leiden ihres Mädchenlebens sich abgespielt hatten, war bald stark genug, um sie die beschwerliche Reise im Wagen mit zwei kleinen Kindern nicht fürchten zu lassen. Im Februar 1841 schrieb sie an eine ihrer Weimarer Freundinnen:

»Wie ich mich freue, Dich wieder zu sehen, Dir meine lieben, lieben Kinderchen zu zeigen! Wie ich die Unerschöpflichkeit über dieses Thema nun selbst übe, kann Dir Emma sagen; jetzt, wo ich die süße Hoffnung habe, sie nach Hause zu bringen, sie dort lieben und hoffentlich gefallen zu sehen, kann ich eher schweigen, obwohl mir Ottos Geschichten bei weitem interessanter erscheinen als die Berechnungen über den Durchbruch der Weichsel und die Angelegenheiten vom Gleichgewichte Europas! . . . Jetzt habe auch ich die stille Ruhe eines befriedigten Herzens und eines ausgebildeten und ausgefüllten Lebens; mein Werner, meine Kinder, mein Haus, meine Lebensweise, meine Gegenwart, meine Aussicht für die Zukunft, alles erfüllt mich mit der gleichen unausgesetzten Dankbarkeit gegen Gott, und die Opfer vieler Lieblingsbeschäftigungen erscheinen mir um so unbedeutender, da ich mit regem Interesse Werners Tätigkeit, seinem so reichen und viel umfassenden Berufe folge.«

Alte und neue Freunde, unter diesen der Gatte ihrer Stiefschwester Cecile, Graf Fritz Beust, machten ihren Weimarer Aufenthalt zu einem sehr wohltuenden, und doch kehrte sie gern zurück in den Kreis ihrer Wirksamkeit, zu ihrem Gatten, den sie mehr und mehr lieben lernte. Manche Aussprüche in ihren Briefen legen von dem ungetrübten Glück ihrer ersten Ehejahre Zeugnis ab. So schrieb sie einmal, als Werner in Geschäften längere Zeit abwesend gewesen war:

»Während meiner sechswöchentlichen Strohwitwenschaft war ich sehr einsam, und gegen das Ende dieser Zeit ergriff mich eine große Sehnsucht, dennoch habe ich mich durch stille Beschäftigung und namentlich durch die ununterbrochene Gegenwart meiner Kinderchen erheitert – als aber einmal mitten in der Nacht mein Werner neben meinem Bette stand und leise meinen Namen rief, da wußte ich mich doch kaum eines schöneren Moments in meinem Leben zu erinnern; seitdem kann ich der Freude seiner Gegenwart gar nicht satt werden, und so einförmig und still unsere Tage aussehen, so sind sie doch lebendig durch unser Glück und unsere Liebe.«

Und in einem anderen Briefe heißt es: ». . . ich bin schon einige Male mit den Kindern und deren Kameraden zu dem unschuldigen Fest der Schlüsselblumenlese auf einer runden allerliebsten Wiese mitten in einem herrlichen Buchenwald gewesen – wenn ich da mit einem Buche sitze und die kleine jubelnde Gesellschaft um mich herum spielt, scheint es mir, als gäbe es gar keine anderen Feste in der Welt, und komme ich dann nach Hause und gehe mit meinem Werner herum, so scheint mir dies wieder wie ein beneidenswertes Fest – kurz, ich bin eine glückliche Frau . . .«

Wie wenig die Außenwelt sie lockte, mit der sie nur durch den Briefwechsel mit ihren Freunden verbunden war, wie sicher sie sich glaubte in ihrem stillen Frieden vor allen Zweifeln, aller Zerrissenheit des Innern, unter der sie einstmals litt, geht aus folgenden Zeilen hervor: »Die liebe Prinzeß Augusta hat meiner Ignoranz in der neuesten schönen Literatur etwas nachgeholfen und mir die Reisebilder der Hahn und einige andere Bücher geschickt; ich habe sie mit großem Interesse gelesen, mich dabei mit einigem Grausen an die Atmosphäre von Ottiliens Salon und leider recht viel an ihr armes zerrissenes Gemüt erinnert, – ich bin mit einigen Kopfwunden und einigen radikal verwachsenen Narben durch den Strom geschwommen, der die arme Ottilie umbrauste und dem sie sich hingab und hingibt wie die verrückte Hahn, – jetzt wo ich am friedlichsten Ufer stehe, wo der Strom nicht einmal mit seinem Schaum hinkommt, erscheinen mir die Seelen doppelt unselig, die sich hin und her schleudern lassen, anstatt einen kühnen Sprung zu tun und ans Land zu kommen.«

Demselben Gedankengang folgte sie, als ihr junger Freund, der Erbgroßherzog Karl Alexander sich verlobt hatte und sie ihm schrieb: »Am ruhigen Ufer angelangt zu sein, wie ich, sich selbst freudig in dem geliebten anderen und dann in den anderen aufgehen zu sehen, wie ich, von dieser sicheren Stätte aus nach außen im Großen zu wirken, wie ich es nur im Kleinen vermag – darin vereinigen sich meine höchsten und besten Wünsche.« Auf ihren Brief erhielt sie folgende Antwort, die der erste Anfang zu dauernder brieflicher Verbindung sein sollte:

»Weimar, den 1. März 1842.

Meine liebe gute Frau von Gustedt! Sie werden vielleicht erstaunt sein, einen Brief von dieser Hand zu erhalten, die es wagt, in einem Tone zu schreiben, der auf alte freundschaftliche Beziehungen schließen läßt, aber wenn ich Ihnen sage, daß die Person, die Ihnen schreibt, von allen Ihren Freunden der treueste und Ihnen am aufrichtigsten zugetan ist, und dessen dauernde Freundschaft für Sie aus seiner Kindheit stammt, werden Sie leicht erraten, welche Hand sich heute zum erstenmal die Freiheit nimmt, Ihnen zu schreiben. Es ist ein alter Wunsch von mir, Ihnen einmal brieflich zu wiederholen, daß weder Zeit noch Entfernung jemals aus meinem Herzen die Erinnerung und meine tiefe Anhänglichkeit an Sie auslöschen können, aber die Furcht, indiskret zu erscheinen, hat mich zurückgehalten, heute aber, wo ich an einem der wichtigsten Abschnitte meines Lebens angekommen bin, habe ich das Bedürfnis, meine Gefühle dem Herzen einer Freundin anzuvertrauen und hätte ich da, sagen Sie es selbst, gnädige Frau, schweigen und mich nicht an Sie wenden sollen? Arbeiten aller Art, zwingende Briefe haben mich verhindert, den Wunsch, den ich hatte, Sie zu sprechen, zu verwirklichen, denn es gibt Dinge, die zu wichtig und zu zart sind, um besprochen zu werden, wenn nicht Körper und Geist in Ruhe sind. Ich weiß bereits, welche Teilnahme Sie für meinen letzten wichtigen Entschluß empfunden haben, es war auch kaum nötig, es noch zu versichern, denn ich wußte im voraus, daß Sie mir bei dieser Gelegenheit Ihre Glückwünsche nicht verweigern würden, die mir so notwendig sind und denen ich einen so hohen Wert beimesse. Dafür möchte ich Ihnen jetzt meinen aufrichtigen Dank aussprechen, nehmen Sie ihn an mit der Versicherung, daß er aus dem Grunde eines Herzens kommt, das Ihnen ganz ergeben ist. Ich wage die Bitte hinzuzufügen: geben Sie mir Ihren Segen als Freundin, er wird mir Glück bringen, er wird mir die Kraft geben, Sie nachzuahmen in der Erfüllung Ihrer Pflichten und in der geistigen Entwicklung, die Sie zu so schönen Erfolgen geführt hat und die alle Menschen ergreift, die das Glück haben, sich Ihnen zu nähern. Sie müssen von nun an auch meiner Braut ein wenig Freundschaft entgegenbringen, denn ich liebe sie aufrichtig, und sie verdient Ihre Achtung. Ich darf wohl sagen, daß sie alle Eigenschaften hat, die hoffen lassen, daß wir gut miteinander leben werden, ihr sanfter Charakter, ihre immer frohe und gleiche Laune, ihr gebildeter Verstand und die Zuneigung, die sie mir entgegenbringt, berechtigen mich, wie ich glaube, zu dieser Hoffnung. Ich wage sogar zu hoffen, daß sie dereinst den beschwerlichen, aber segensreichen Weg wandeln wird, den auch meine Urgroßmutter, meine Großmutter und meine Mutter gegangen sind und noch mit solchen Erfolgen gehen; und das ist nicht der geringste Vorteil, den sowohl das Land wie auch meine Familie aus dieser geplanten Vereinigung ziehen werden . . .

Meine dreiundzwanzig Jahre und ihre siebzehn sind allerdings kein hohes Alter, aber das Sprichwort sagt: ›wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch die Kraft‹, das läßt mich hoffen, daß unsere Jugend kein Unglück ist, um so mehr als sich dieser Fehler ja mit jedem Tage verringert. Ich wünsche herzlich, Sie bald mit meiner Braut bekannt machen zu können, und hoffe, daß, wenn ich erst verheiratet bin, Sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen werden, wie es in meinem kleinen Haushalt zugeht. Der Gedanke, daß ich von meinem Haushalt spreche, kommt mir so seltsam vor, daß ich zu träumen glaube. – Aber dieser Brief wird ein Buch, und ich muß gestehen, daß ich vergaß, daß ich Ihre Güte und Ihre Geduld mißbrauche, wenn ich in einem fort von mir spreche. Gestatten Sie mir noch, Sie zu bitten, Ihrem Gatten meine Empfehlung zu vermitteln, und bewahren Sie Ihre Güte und Freundschaft dem, der für das Leben bleibt

Ihr ergebener Freund

Carl Alexander.«

Es gehört zu jenen freundlichen Märchen, an die die Menschen so gerne glauben, solange ihr Herz noch jung ist, daß Freundschaft und Liebe dem Dache gleicht, das vor den Unbilden des Wetters Schutz bietet, oder dem Öl, das die heranbrausenden Wogen des Schicksals besänftigt. Wäre es Wahrheit, wie gesichert vor allem Bösen hätte Jennys Leben verfließen müssen! Aber das Unglück kennt keine Hindernisse, wenn es sein Opfer erreichen will, und um so größer und vernichtender ist es, je reicher und tiefer die Seele ist, die es trifft. Ein Pfeil, der an der Haut des Elefanten abprallt, durchbohrt die Taube; ein Schrotkorn, das im Fell des Bären steckenbleibt, tötet die Nachtigall.

Vielerlei Erlebnisse, die für robuste Naturen ohne tieferen Eindruck vorübergegangen wären – Undankbarkeit und Untreue bei denen, die mit Wohltaten überschüttet wurden, Fehlschlagen der liebevollsten Erziehungsmethoden – wirkten beinahe verdüsternd auf Jennys Gemüt. Schlechte Ernten, getäuschte Hoffnungen auf Verbesserungen im Kreis und in der Provinz überwand sie nicht, wie glücklichere Naturen, durch neue Hoffnungen, sie steigerten vielmehr ihre Sorgen. Kamen trübe Nachrichten von Freunden und Verwandten, so überwand sie sie schwer. Als Wilhelmine Froriep ihr vom Tode ihres Kindchens Mitteilung machte, schrieb sie ihr: »Wie mein höchstes Glück in meinen beiden Kindern liegt, so ist dies auch gleich die wunde Stelle, an der mein Mitgefühl für andere Mütter fast physisch schmerzhaft ist – in jeder Fingerspitze fühle ich körperlich, was im Herzen vorgeht . . .« Waren die eigenen Kinder krank, so pflegte sie sie bis zur Erschöpfung, aber sie litt weit mehr unter der Angst, als unter dem Versagen der Körperkräfte. Die lang andauernde, schmerzhafte Krankheit ihrer zärtlich geliebten Mutter, der sie fern bleiben mußte, weil sie sich zwischen ihr und den Kindern nicht zu teilen vermochte, erfüllte sie mit dauernder Angst. Die Geburt ihres dritten Kindes, eines Mädchens, das auf ihren Namen getauft wurde, vermochte sie darum nicht mit derselben Wonne zu begrüßen, die sie sonst empfunden hatte – ein Umstand, der sie Zeit ihres Lebens diesem Kinde, meiner Mutter, gegenüber etwas wie Schuldbewußtsein empfinden ließ. Ein halbes Jahr nachher, im Dezember 1844, rief der besorgniserregende Zustand der Mutter sie nach Weimar. »Wenn man nicht mehr für die Seinen leben kann, warum dann überhaupt noch leben?« hatte sie in einem ihrer letzten Briefe geschrieben, »ich kann ihnen nichts mehr sein, kann ihre Zärtlichkeit nur mit einem Blick der Verzweiflung beantworten. O gütiger Gott, erhöre mich, laß mich heimkehren zu dir! Von dort aus werde ich meine Kinder segnen, werde ihnen danken für alles Glück, das mir geworden ist durch sie! Alle Seligkeit des Lebens verdanke ich ihnen, und die Worte, die ich so gern wiederhole: Ich bin eine glückliche Mutter, sollen auch meine letzten sein und mir den Abschied verschönen!« Jenny traf sie nicht mehr am Leben. Sie gab ihr noch das letzte Geleit, dann kehrte sie heim, um vieles gealtert, wie jeder, an dessen Lebensweg der erste Grabstein sich aufrichtet. Lange vermochte sie sich nicht zu erholen. »Meine Nächte«, so schrieb sie, »sind durch schreckliche Träume des vergangenen Jammers, der durch die Lebhaftigkeit derselben immer wieder zur Wirklichkeit wird, sehr peinlich; dann erwache ich in Angstschweiß gebadet mit Herzklopfen und mit einer demnach wieder neuen Täuschung, weil ich zwar die trostlose Überzeugung des nahen Todes meiner geliebten Mutter träume, in der Regel aber nicht, daß er wirklich erfolgt sei – daher mir die Gewißheit beim Erwachen einen neuen Schreck gibt. Am Tage erhole ich mich durch die Stille, den freundlichen Sonnenschein, der zu jeder Stunde meine behaglichen Zimmer erhellt, durch die geistige Ruhe, die unschuldige Fröhlichkeit meiner drei lieben Kinder und die Liebe meines Mannes. Es ist mir sehr wohltuend, daß mir niemand von meinem Schmerze spricht, und mich wieder niemand stört, wenn ich davon sprechen oder daran denken will. So vergehen leise und sanft meine Tage in einer stillen Trauer, die mir so mit meiner Seele verwebt zu sein scheint, daß ich nicht weiß, wie sie je aufhören kann, oder wie sich neben sie die Fähigkeit, eine frohe Botschaft, eine recht volle Lebensfreudigkeit zu empfinden, stellen wird. Ich beschäftige mich auch so leise hin und fühle mich nicht allein, nicht geistig gelähmt, sondern sogar durch den Gedanken an meiner Mutter Liebe und Segen zur Tätigkeit, die sie billigte, angeregt.«

Die ländliche Ruhe empfand sie jetzt doppelt wohltätig. Den Schmerz durch Zerstreuung zu betäuben, jenes Rezept schlechter Seelenärzte, die nicht wissen, daß er die Heilkraft in sich selbst trägt, wies sie weit von sich: »Der Schmerz soll sein, wie der Schnitt an der wilden Rose, der ihrer Veredelung durch ein neues Reis vorangeht«, schrieb sie, und auf einen teilnehmenden Freundesbrief antwortete sie: »Meine Pläne konzentrieren sich alle auf Garden; meine letzte Reise hat einen tiefen Eindruck nicht allein auf mein Herz, aber auch auf meine Phantasie gemacht, erst jetzt kommen Nächte vor, wo ich sie nicht im Traume wieder durchlebe, und das Wort ›reisen‹ hat einen schmerzlichen Klang für mich . . . Ich lebe ganz klösterlich, still, ernst, beschäftigt und ergeben, obgleich wehmütig bis im Innersten der Seele, meine Kinder sind mein Glück, sie gedeihen in dem gesegneten Landleben, wo ich alles auf sie einrichten kann, auch der strenge Winter ist ihnen nicht entgegen, da sie täglich, und Otto oft den ganzen Tag, draußen sind; jetzt fahren sie im Schlitten spazieren, und mein Jennchen hält mit ihren zwei dunkelroten dicken Bäckchen auf dem weißen Kopfkissen ihren Mittagsschlaf.«

Während sie mit ihrem Besitztum sich immer mehr verwachsen fühlte, je mehr Liebe und Arbeit darauf verwandt worden waren, und jede Ausgestaltung des Hauses, jede Gartenanlage es ihr mehr und mehr zur Heimat machte, in der sie und ihre Kinder Wurzel faßten, erschien dem Gatten das Feld seiner Tätigkeit immer enger. Der Wunsch, ins Weite zu wirken, beherrschte ihn immer lebhafter. Jenny beobachtete diese Entwicklung mit stillem Kummer. Sie hoffte, er würde als Landrat Befriedigung finden, und unterstützte daher seine Bestrebungen nach dieser Richtung. »Ich wünschte sehr für Werner«, schrieb sie, »daß er Landrat wird; da mein viel sehnlicherer Wunsch, daß er sein Leben mit dem in jeder Hinsicht angestrengten Eifer ausfüllen möchte, sein Gut materiell und moralisch zur höchst möglichen Vollkommenheit zu bringen, nicht erfüllt wird, und sein Interesse gemeinnütziger ist und in weiterem Kreis sich bewegt, so würde er als Landrat auf andere Weise meine Lebensidee erfüllen, denn seine Pläne für Chausseen, gute Wege, Sparkassen, Krankenhäuser, Turnanstalten, ökonomische Landverbesserungen, sind nicht allein dem Plan, aber auch den Vorarbeiten nach, reif, und ich zweifle nicht an seiner Energie zu ihrer Ausführung.«

Für sie selbst gewann der Plan an Reiz, da seine Ausführung sie nicht von Garden fortzuführen schien und sich ihr dabei die Möglichkeit bot, für ihre sozialen Bestrebungen einen breiteren Boden zu finden. Ihre Briefe aus dem Anfang des Jahres 1845 lassen überhaupt einen zuweilen bis zum krampfhaften gesteigerten Tätigkeitsdrang erkennen. Die verschiedensten Pläne durchkreuzten ihr Hirn, und für die, die der öffentlichen Wohlfahrt dienten, suchte sie ihre fürstlichen Freunde vor allem zu interessieren. Schaffung von Rettungshäusern für uneheliche Kinder, Suppenanstalten für Arme, Heime für die schulpflichtige Arbeiterjugend schlug sie ihnen im Detail vor. Sie bekam damals dieselben Antworten, die heute die Regierungen zu geben pflegen, wenn sie zur Abhilfe dringender Notstände aufgefordert werden: man wolle die Frage untersuchen lassen. »Als ob es der Untersuchung noch bedürfte«, schrieb sie, »wo im 19. Jahrhundert in Preußen Menschen verhungern und erfrieren und Kinder aus Mangel an Nahrung und Pflege elendiglich zugrunde gehen!« In einem längeren Brief des Erbgroßherzogs von Sachsen-Weimar – einem der sehr wenigen, die erhalten blieben – findet sich eine Bemerkung, die auch auf eine solche Anregung ihrerseits schließen läßt, aber auch die weiche Liebenswürdigkeit des jungen Fürsten, die damals schon für energische Tatkraft nicht viel Raum ließ, so daß jenes »Weh dir, daß du ein Enkel bist!« auch auf ihn Anwendung finden mochte, tritt gerade in diesem Schreiben besonders deutlich hervor:

»Weimar, den 12. März 1845.

Was Sie von mir denken, kann ich, verehrte und geliebte Freundin, weder raten noch wissen; was mich angeht, so weiß ich nur, daß ich diesen Brief mit einem Gefühl wirklicher Beschämung beginne. Auf Ihre liebenswürdigen und freundschaftlichen Worte durch ein Schweigen von mehreren Wochen zu antworten, – nicht danken, wo soviel Güte es zur heiligen Pflicht macht, das ist ein Verhalten, das den schärfsten Tadel verdiente, wenn das Gewissen des Angeklagten ihn nicht berechtigte, seinen Richter um Milde zu bitten. Es gibt Briefe und Briefe, wie es Freunde und Freunde gibt.

Sie selbst bezeichneten eines Tages die verschiedenen Arten und teilten sie ein in Freunde, die wir lieben, solche, die wir nicht lieben, und solche, die wir nicht leiden können. Es besteht eine große Ähnlichkeit zwischen den verschiedenen Arten von Freunden und den verschiedenen Arten von Briefen; es gibt welche, die man aus Pflichtgefühl schreibt, solche, die man aus Rücksicht schreibt, und es gibt endlich Briefe, die man aus innerem Drang, aus Freundschaft, aus Begeisterung schreibt. Ich brauche Ihnen, glaube ich, nicht zu sagen, daß die Briefe, die Sie mir an Sie zu richten gestatten, zu dieser letzten Klasse gehören, und gerade weil sie dazu gehören, können sie nicht zu jeder beliebigen Zeit geschrieben werden, wie man auch nicht jeden Augenblick eine gute Unterhaltung führen kann. Deshalb schien es mir, als ob die im Tumult des Karnevals verbrachten und durch eine Familienversammlung unterbrochenen Wochen kaum die geeignete Ruhe boten, um mit Ihnen zu sprechen.

Lassen Sie mich nun von einer Verpflichtung zu einer anderen übergehen und Ihnen im Geiste die Hand küssen für den lieben, freundlichen und zarten Brief, durch den Sie mich geehrt haben und der mich so erfreut hat. Ich will ihn im einzelnen beantworten und ich kann nicht besser beginnen, als indem ich von Ihrer Gesundheit spreche, die, wie ich hoffe, zur Stunde wieder vollkommen hergestellt ist. Die Eindrücke, die Sie im letzten Winter gehabt haben, waren zu tief, zu schmerzlich, um nicht Ihre Gesundheit zu erschüttern, aber ich habe eine zu hohe Meinung von Ihrem Willen, von Ihrem Eifer für das Gute, von Ihrer Tätigkeit und endlich von Ihrer Religion, um nicht überzeugt zu sein, daß Sie schon seit langem Ihre Ruhe und Ihre Gesundheit wiedererlangt haben. Gott behüte mich davor, Ihren Schmerz nicht achten zu wollen, er ist viel zu heilig, um nicht Gegenstand allgemeiner und aufrichtiger Teilnahme zu sein; aber es bleibt ewig wahr, daß eine regelmäßige Beschäftigung heilenden Balsam in solche Wunden gießt. Darum sehe ich Sie mutig den Weg weiter verfolgen, der Ihnen, seit Sie uns verlassen haben, den Segen Ihrer Untergebenen eingetragen hat, ebenso wie die, für die Sie hier sorgten, Sie segneten und noch segnen. Der Plan, den Sie mir vorlegen, oder vielmehr der Vorschlag, den Sie mir machen, mich für eine Anstalt zu interessieren, deren Zweck sein soll, für die Kinder von Ammen und unverheirateten Müttern zu sorgen, ist ein neuer Beweis dafür. Ich beeile mich, alle erforderlichen Informationen einzuziehen, und in kurzem werde ich die Ehre haben, Ihnen davon zu berichten. Auf jeden Fall bin ich von dem wahrhaft christlichen Gefühl überzeugt, das Ihnen diesen edlen Plan eingegeben hat, auch von dem Schmerz, den Sie empfinden, wenn Sie an das Unrecht denken, mit dem so viele Menschen in dieser Beziehung ihr Gewissen belasten. Es geht ja mit diesem Unrecht wie mit so vielem anderen, das man begeht, ohne daran zu denken, ich kann sagen: glücklicherweise, ohne es zu vermuten. Wenn man sich immer beobachten würde, wenn man immer acht gäbe, würde man in seinen eigenen Augen ganz anders erscheinen, als man sich zu sehen gewohnt ist.

Ich weiß nicht, ob Ihr Gemahl, dem ich mich zu empfehlen bitte, Landrat geworden ist oder nicht; es wäre mir lieb, wenn Sie mir das mitteilen würden. Ich wünschte es ihm aufrichtig, und wenn die Verwirklichung von mir abhinge, hätte ich mich nicht auf bloße Wünsche beschränkt. Wie gern sähe ich Sie in der richtigen Sphäre für Ihre Tatkraft und Leistungsfähigkeit. Doppelt gern, weil Sie, auf einen sozusagen unkultivierten Boden gestellt, alles selbst erst schaffen mußten; eine ganz von Ihnen geschaffene Welt, meine liebe Jenny, muß sehr schön sein, beinahe ein Paradies, denn über dem Schönen, das Sie immer schaffen, werden Sie stets das Gute herrschen lassen! – Damit wäre Ihr Brief annähernd beantwortet, ich sage annähernd, weil im Grunde nur das Leben allein die rechte Antwort geben kann auf die Worte, die sich an alle fühlenden, empfindenden und handelnden Fasern meines Wesens zu richten scheinen. Ich bitte Sie demnach, von meinem Leben die Antwort auf Ihr Interesse, Ihre Freundschaft und Ihre Teilnahme zu erwarten. – Ich kann die Feder nicht fortlegen, ohne Ihnen noch ein wenig von hier zu erzählen. Ihr Vater und Ihre Schwester befinden sich wohl; Cecile geht seit einigen Tagen wieder aus und scheint sich gut von ihrer Entbindung erholt zu haben. Der Kleine wurde in Gegenwart von Mama und uns allen getauft, was mich tief gerührt hat, denn Beust gehört so sehr zu meiner eigenen Familie, er bildet so sehr einen Teil meiner selbst, daß es mir vorkommt, als ob alles, was ihm begegnet, Gutes und Böses, mir selbst geschähe. Ich sehe häufig Fräulein von Froriep, deren liebenswürdigen Charakter ich mehr und mehr bewundere, ohne von den anderen Eigenschaften zu sprechen, die sie auszeichnen. Sie erinnert mich oft an Sie, und ich glaube deshalb um so mehr, daß das, was sie so liebenswürdig, so gleichmäßig gut und interessant macht, eine Gabe ist, die sie von Ihnen hat. Denn das ist eine wirkliche Wohltat der Freundschaft, eine ihrer Segnungen, daß sie die guten Eigenschaften eines Freundes auf den andern überträgt. Es scheint mir eine der schönsten Erinnerungen zu sein, die man an jemanden haben kann, sich zu sagen, daß diese oder jene gute Eigenschaft, die ich besonders liebe, von diesem oder jenem Freunde stammt. – Vor einigen Tagen kam Frau von Goethe an, die sich wegen Familienangelegenheiten herbegeben hatte. Es schmerzte mich, sie zu sehen; ich kann sie nur einem entwurzelten Stamm vergleichen, der auf dem Wasser schwimmt, so ohne Ziel, ohne feste Absichten, ohne Plan, ohne Zukunft ist sie. Durch ihre manchmal etwas barocke Eigenart brach zuweilen ihr mütterliches Gefühl durch, und dann sagte sie mit Tränen in den Augen von Alma: ›unser aller Frühling ist hin.‹

Ich sah auch Walter, der bald nach seiner Mutter kam; er sieht so schwächlich und gedrückt und lebensuntauglich aus – verzeihen Sie den Ausdruck –, daß es einen schmerzt, wenn man ihn sieht. Man kann sagen, daß ein großer Name, wenn er nicht Ruhm und Auszeichnung bedeutet, zur Last wird. Unter den Freunden, die wir im Laufe des Winters hier sahen, befand sich auch ein gewisser Herr von Schober, ein Mann von Geist und Talent, dessen schöne Gedichte ihm in Deutschland einen Namen gemacht haben. Ich erfreute mich des Verkehrs mit ihm . . . Eine Reise nach Holland, die ich jetzt während dieses Januarwetters unternehmen muß, kommt mir recht ungelegen. Es ist die Zeit, in der ich mich am liebsten vollkommen in meine Studien vergraben und von nichts stören lassen möchte. Vermutlich teilen Sie meinen Geschmack, darum verzeihen Sie, daß ich Ihre Zeit so ungebührlich lange in Anspruch genommen habe. Mit vielen Empfehlungen von meiner Frau und den herzlichsten Grüßen von mir

Ihr treuster Freund

Carl Alexander.«

Als im Herbst 1845 dem Gardener Ehepaar ein Töchterchen geboren wurde, das den Namen der toten Großmutter erhielt, sah Jenny ihre Tätigkeit nach außen für eine Zeitlang unterbrochen und auf die Kinderstube beschränkt. Ihrer vergessenen Künste erinnerte sie sich nun wieder und zauberte in zarten Aquarellfarben die reizenden Köpfe ihrer vier Kinder aufs Papier. Otto, einen schlanken, feinen Jungen mit dem klassischen Profil der Bonapartes, »der«, wie sie schrieb, »für mein Mutterauge das vollkommenste Idealchen ist«, malte sie am liebsten keck auf seinem Pony sitzend; Mariannen, mit den großen Märchenaugen, gab sie blasse Rosen in die Hand; während Jenny, »der kleine blondgelockte Engel, bei dessen Anblick mir Tränen der Liebe und Dankbarkeit in die Augen steigen«, mit ernstem Gesichtchen auf der Gartenbank Sandkuchen backt oder das kleine Dianchen, den Liebling aller, auf dem Schoße hält. Die zwei älteren Kinder gingen schon in die Dorfschule – eine Maßnahme, die Freunde und Verwandte entsetzte –, während daheim eine junge Schweizerin, die Jenny aus der einfachen Bonne ihrer Kinder allmählich zur lieben Freundin wurde, sie im Französischen unterrichtete. In Religion und Geschichte unterrichtete Jenny selbst und nach einer Methode, die damals noch eine ganz neue war: mit der Geschichte der engsten Heimat begann sie. Beim eigenen Vorstudium hatte sie sich dabei für die Geschichte der preußischen Ordensritter so begeistert, daß sie einzelne Gestalten daraus, wie z. B. die Winrichs von Kniprode, zum Vorbild aller Rittertugenden erwählte. Als noch größerer Held jedoch erschien ihr der große Friedrich, dessen Lebensgeschichte sie in schlichten Reimen zusammenfaßte, um sie den Kindern recht genau einzuprägen. Auch die Enkel lernten sie, als sie noch nicht lesen konnten, und keine historische Persönlichkeit ist mir infolgedessen so lebendig geblieben wie der »alte Fritz«.

Noch mehr als ihr historischer wich ihr religiöser Unterricht vom Gewohnten ab. Die Kinder lernten weder Bibelsprüche noch Gesangbuchverse, von der Biblischen Geschichte erfuhren sie wie von schönen Märchen, an die zu glauben, im Sinne des Fürwahrhaltens, sie nie gezwungen wurden. Nur ein Gesetz gab es für sie als das unbedingte, dem zu folgen Tugend sei und selig mache, das zu verletzen, den Weg zu moralischem Zusammenbruch, zu Unglück und Elend betreten heiße: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Wie Jenny ihren Kindern dies Gesetz verständlich zu machen suchte, wie sie ihnen an Beispielen aus dem täglichen Leben die Folgen des Gehorsams und des Ungehorsams ihm gegenüber auseinandersetzte, das hat sie in einem kleinen Büchlein zusammengefaßt, dessen vergilbte Seiten mich wehmütig anschauen, und hinter denen die Köpfe all der Kinder, die daraus lernten, aufzutauchen scheinen. Auf dem weißen Marmorkreuz aber, das an ihrem Schreibtisch stand, leuchten noch immer in goldenen Lettern die Worte: Die Liebe höret nimmer auf.

Im Herbst 1846 traf Jenny der schwerste Schlag: die kleine Diana starb – die große Diana zog sie nach ins Grab! Was Jenny empfand, kann ihr niemand nachempfinden als eine Mutter, und zum ersten Male fühlte sie sich, trotz der liebevollen Nähe des Gatten, allein mit ihrem Schmerz. Niemand begriff, daß der Tod eines so kleinen Kindes einen unausfüllbaren Lebensabgrund aufreißen kann; niemand konnte verstehen, daß für eine Mutter das Kind ein Teil ihrer selbst ist und sie immer verstümmelt bleibt, wenn es ihr entrissen wird – wie sie denn eigentlich nur vollkommen wird durch ihre Kinder.

Wilhelmine Froriep gegenüber, die eine Mutter war wie sie, sprach sie sich aus: »Seitdem ich den tiefen, unauslöschlichen Schmerz empfunden habe, den Dein Mutterherz doppelt gekannt hat, habe ich unzählige Male mit dem Gedanken in Deiner milden, wohltuenden Nähe verweilt, mein liebes, liebes Minele, und sehnte mich, in Deinen Augen das volle Mitgefühl zu lesen, das nur Mütter empfinden können, namentlich bei dem Tode eines so jungen Kindes; – aber Du weißt, ich war fast den ganzen Winter so krank, daß ich, statt meine Einsamkeit zu nützen, sie als eine große Bürde fühlte; meine drei mir gebliebenen Kinderchen hatte ich sehr viel um mich, aber ich war zu schwach, um dies so recht freudig und dankbar zu empfinden, und hätte mein Körper das Wort führen dürfen, so hätte er sich sogar sehr darüber beklagt. Im Seebad fühlte ich mich wohl, die Luft war so herrlich, und das Meer scheint so ganz ohne Abschnitt mit der Ewigkeit zusammenzuhängen, daß die Seele ruhiger wird; doch meiner Rückkehr nach Garden folgte eine unbeschreiblich trübe Zeit. Wenn die Leiden der Phantasie sich zu denen des Herzens gesellen, werden beide unendlich vermehrt, und ist dann der Körper nicht stark genug, um den Willen zu unterstützen, kann die Tätigkeit nicht den Damm der Gedanken bilden, so wird das Leben recht schwer, ich kämpfe noch fortwährend mit dem traurigen Einfluß, den die alte Umgebung ohne das heißgeliebte Kind auf mich übt, und noch sehne ich mich stündlich von hier weg; da dies Gefühl sich aber mildert, meine Gesundheit sich stärkt und meine Tatkraft zunimmt, so fasse ich Geduld mit mir, und wo Vernunft und Ergebung nicht ausreichen, hoffe ich auf die Zeit.«

Der alte Freund – Arbeit –, der ihr noch immer geholfen hatte, sollte auch jetzt wieder helfen. »Ich lebe nur meinen Kindern, die mir viel Freude machen, ohne daß freilich die Schatten fehlen«, schrieb sie. »Oft sitze ich auch auf alte deutsche Art mit meinen Mädchen in der Jungfernstube, weil meine Lampe und mein Buch ihnen vorteilhaft sind und mich der fleißige Kreis erfreut . . . Wäre meine Seele ohne Sehnsucht nach Mutter und Kind, und hätte ich eine Freundin, der ich mich so recht innig mitteilen könnte, so wäre diese Existenz ganz nach meinem Geschmacke.«

Bald jedoch sollte sich zeigen, daß das tiefe Leid eine große seelische Umwälzung in ihr hervorgerufen hatte: Garden, die traute Heimat ihrer Kinder, wo ihr die Wälder so freundlich gerauscht, die Seen ihr lachendes blaues Auge vor ihr aufgeschlagen hatten, erschien ihr nur noch wie das Grab des einen Kindes, und ihr Geist und ihr Herz, die verlernt hatten, ein eigenes Leben zu leben, und qualvoll litten, wenn ein Teil ihres Lebens, das Kind, ihnen genommen wurde, sehnten sich hinaus, zurück nach der Heimat ihrer Jugend. In einem ihrer Briefe aus jener Zeit heißt es:

»Daß meine Wünsche sich nach Weimar richten, kann ich nicht leugnen, und zeigt sich auch jetzt keine, auch gar keine Aussicht, uns dorthin zu verpflanzen, so mag man sich doch gern bereithalten, glückliche Zufälligkeiten und Schickungen zu ergreifen. – Den Winter dort zuzubringen, hat immer große Schwierigkeiten: den Kindern ist der hiesige gleichmäßige Winter zuträglicher, Otto hat Schlitten, Pferd und alles Zubehör eigen und fährt nach Belieben, bis es 10 Grad Kälte übersteigt, dann ist die Freude kurz, und er bleibt auch gern zu Hause. Das Kleinste, wenn es Gott gibt und erhält, macht schon nächsten Winter die Reise, wenn nicht unmöglich, doch ganz unwahrscheinlich. Der günstige Einfluß unseres Schullehrers auf Mariannchen wird schwerlich ersetzt werden, eine französische Bonne steht mir seit Ostern in diesem Zweige der Erziehung bei, und für Jennchen sind die großen, ganz durchwärmten und zugfreien Räume und die Spiele mit den kleinsten meiner Stiftskinder auch schwer zu ersetzen. Werner hat sein Gut und seine Provinzialinteressen, auch angenehme Männer zum Umgang und meistens eine Reise, die den Winter durchschneidet, und seine Laune ist so gleichmäßig und sein Ausdruck so zufrieden, daß er keinen hinreichenden Grund zu einem andern Winteraufenthalte bietet. Nun bleibe ich, die sich wohl oft die Abende in Weimar vormalt, wo alles Lebenslustige bei Ball und Theater und ich mit Emma, Dir, Luise, meiner lieben Cecile zusammen wäre, oder der Familienkreis, der jetzt so gemütlich geworden ist, mit Karls und Beusts und Papa – aber ich bin eins gegen Fünfen, und da außerdem das Beste meines Selbstes in den fünf steckt, ist das, was davon übrigbleibt, nicht lebensfrisch genug, um egoistisch zu sein.«

Viele ihrer Freunde teilten ihren Wunsch und suchten ihn dadurch zu verwirklichen, daß sie an berufener Stelle Schritte taten, um Werner Gustedt den Weg in den weimarischen Staatsdienst zu eröffnen, der auch ihm als angenehme Aussicht erschien. Jenny zweifelte von vornherein an dieser Möglichkeit, ihr Mann war zu sehr Preuße, zu wenig Hofmann, um willkommen zu sein. Sie wußte außerdem, daß auch von Seiten des Stiefvaters, der mit ihrem Mann nicht gut stand, nur Opposition zu erwarten war, daß auch der Erbgroßherzog, sosehr er ihr nahestand, für ihn keine Sympathie besaß, und zwar um so weniger, je mehr seine Schwester, die Prinzessin von Preußen, für ihn eintrat. Aber trotz dieser Erwägungen der Vernunft überließ Jenny sich eine Zeitlang nur zu gern ihrer Phantasie, die ihr ein Leben in Weimar in den schönsten Farben malte. Selbst wenn der Aufenthalt dort kein dauernder würde sein können, so hätte sie ihn doch der drückenden Einsamkeit Gardens vorgezogen; »nach ein paar Jahren«, so schrieb sie, »könnten wir im schlimmsten Fall wieder werden, was wir jetzt sind, nur in der Nähe einer großen Stadt, unserer Verwandten und im Mittelpunkt des Fortschritts und eines regen geistigen Lebens«.

Wie anders klingen diese Worte der Sehnsucht, als ihre Einsamkeitsschwärmerei der dreißiger Jahre! So fern ab sie den Weltereignissen lebte, sie spiegelten sich doch in ihrer eigenen Seele wider: der Traum der Romantik war ausgeträumt, die Wirklichkeit forderte ihre Rechte; dem Schauspiel wich die Idylle. Wenn sie sich, in innerster Seele unbefriedigt von einem Leben, das trotz aller selbstgewählten und geschaffenen Arbeit doch nur ein Leben des Genießens, wenn auch des reichsten geistigen Genießens gewesen war, in die ländliche Einsamkeit zurückgezogen hatte, um dort in ihrem Mann, in ihren Kindern, in ihren Armen und Pflegebefohlenen aufzugehen, so hatte sie dabei vergessen, was den Mädchen ihrer Zeit zu vergessen freilich zur Pflicht gemacht wurde, daß sie selbst eine Persönlichkeit war, die ihre Rechte früher oder später zur Geltung bringen mußte. Unter dem Druck der Erziehung und der Vorurteile war die Wandlung von einem geistig lebendigen Mädchen in eine gute Hausfrau, deren höchster Ruhm es war, die eigene Individualität mehr und mehr abzustreifen und das Ideal weiblicher Pflichterfüllung dadurch zu erreichen, daß sie dem Willen und den Wünschen der Familie blindlings nachkam, niemals aber die eigenen laut werden ließ, bei dem größten Teil des weiblichen Geschlechts damals eine selbstverständliche. Eine ungewöhnlich starke Natur mußte es sein, die nicht zwischen den Mühlsteinen der Weibespflichten zerrieben wurde, und es mußten ihr Kräfte von außen zu Hilfe kommen.

Hatte der Tod ihres Kindes sie aufgeschreckt aus gefühlvoll-träumerischem Versunkensein in das friedliche Glück des Hauses, so rissen die politischen Zeitereignisse sie aus einem Gedankengang, der sich nur um das Wohl und Wehe der sie zunächst Umgebenden drehte. Es war nicht nur die Not daheim, die um Abhilfe schrie und der mit persönlichen Maßnahmen beizukommen sein mochte, es war der furchtbare Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, der sich wie ein dunkler, klaffender Abgrund deutlicher und deutlicher vor jedem, der sehen wollte, auftat. Wer war geneigter als die Kinder der Romantik, sich von der Not der schlesischen Weber, der hungernden preußischen Bauern bis zu dem Elend der englischen Fabrikarbeiter aufs tiefste bewegen zu lassen und sich mit der ganzen Überschwenglichkeit ihrer Liebes- und Mitleidsempfindungen ihnen zuzuwenden? Bettinens Buch an den König, George Sands Begeisterung für die Sache des Volkes liefern den Beweis dafür. Kam eine religiöse Überzeugung dazu, wie die Jennys, die vom christlichen Glauben ausging und in der Forderung der Nächstenliebe der Tat gipfelte, so mußten die Ereignisse der Zeit auf sie wirken wie Frühlingswetter auf wohl vorbereiteten Ackerboden. Mit noch weit größerem Eifer als in ihrer Mädchenzeit vertiefte sie sich wieder in ernste Studien, deren Zweck für sie jetzt nicht mehr allein die persönliche Aufklärung war, deren praktische Ergebnisse sie vielmehr hoffte, dem Allgemeinwohl einmal nutzbar machen zu können.

Für ihre Betrachtungsweise ist ein Brief an Gersdorff aus dem Jahre 1846 charakteristisch, der an die Lektüre philosophischer Schriften anknüpft und in dem es heißt:

»Die Wahrheit, an die ich glaube, liegt zwischen Seneka und Bacon; Bacons Ziel: der Nutzen und materielle Fortschritt durch die Wissenschaften, als Mittel zu Senekas Ziel: die größte moralische und geistige Entwicklung des Menschen. Diese Entwicklung ist das Endziel alles Strebens; wäre es im rohen Naturzustande erreichbarer als durch Zivilisation, so würde ich für den rohen Naturzustand stimmen, so aber glaube ich: es liegt der Wissenschaft ob, Raum, Kraft, Zeit, Mittel zu schaffen, um den Geist möglichst unabhängig von der Materie zu machen, zugleich die Intelligenz zu üben und zu schärfen und dem flügellosen Menschen Flügel zu schaffen. – Die Mittel, welche mit dem wenigsten Zeitaufwande und dem geringsten Verbrauch an Kräften die Bedürfnisse der physischen menschlichen Natur befriedigen, mithin das Vergessen des Körperlichen erleichtern, entfesseln den Geist und geben ihm Zeit, Raum, Kraft und Mittel zum Wachsen und Gedeihen. – Deshalb tut die Wissenschaft göttlichen Dienst, wenn sie Dampfmaschinen, Luftheizungen, Gasbeleuchtungen, Hebel, Wölbungen, Heilmethoden, Ackerwerkzeuge, Produktionsmittel aller Art erfindet, und so lange muß sie rastlos diesem göttlichen Dienste vorstehen, bis die Massen der Menschen Muße gewinnen, um geistige Entwicklung pflegen zu können.«

Als dann das Jahr 1847 erschien, mit hohlen Augen und eingefallenen Wangen, eingehüllt in das fadenscheinige Gewand des Hungers, und die Not auf Schritt und Tritt Jenny mehr als je entgegen starrte, sah sie noch deutlicher als je die Unzulänglichkeit bloßer privater Hilfe ein. Zwar schuf sie einen großen leeren Raum ihres Hauses zur Volksküche um und stellte Frauen an, die in großen Kesseln die Mahlzeiten für die Scharen von Hungernden kochten, die Tag für Tag herbeiströmten; zwar gelang es ihr, Nachbarn und Gemeinden zu ähnlichen Einrichtungen anzuregen, aber sie gehörte nicht zu denen, die voll eitler Freude über die eigene Leistung die große allgemeine, nicht zu erreichende Not vergessen, weil ein paar Menschen während ein paar Tagen satt werden. Unbekannt mit all jenen politisch-ökonomischen Systemen, die die Sozialisten Englands, Frankreichs und Deutschlands aufgestellt hatten, um für alle menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen – in ihren Bücherlisten und Auszügen ist kein einziges Buch der Art aufgeführt –, und immer noch durchdrungen von der Macht des guten Willens der einzelnen, mußten ihre Ideen, sobald sie sich auf Bekämpfung der allgemeinen Mißstände bezogen, notwendigerweise unzureichende bleiben. Aber daß sie sich überhaupt mit ihnen beschäftigte, daß sie, die gläubige Christin, niemals in den verbreiteten Fehler ihrer Glaubensgenossen verfiel, der so bequem ist für die, denen es gut geht, und so einschläfernd für beunruhigte Gewissen: die Armut für eine göttliche Einrichtung anzusehen und Not und Jammer für göttliche Prüfungen – das allein beweist, daß eine Faustnatur in ihr lebendig war. Die Eindrücke der Zeit diktierten ihr folgenden Brief an Gersdorff:

». . . Alle Welt stimmt darin überein, daß der Augenblick gekommen ist, wo für das Wohlergehen der breiten Masse des Volks etwas getan werden muß, – der edelste wie der egoistischste Mensch begegnen sich heute in dieser Erkenntnis. Es ist interessant zu beobachten, was ein jeder heranschleppt, um den Damm gegen jene Sturmflut bauen zu helfen, die näher und näher kommt, um uns zu ertränken. Die einen sehen in schönen Parlamentsreden die Rettung, die anderen in der Organisation der Arbeit. Und zu diesen gehöre ich: vom König bis zum letzten Straßenkehrer müßte jeder sich der Vollendung dieser Aufgabe widmen, alles andere als nebensächlich beiseiteschiebend, kein Opfer zur Erreichung dieses Zieles für zu gering haltend. Die Schwierigkeiten sind enorme, aber sie sind nicht unüberwindlich, und die Arbeit lohnt der Mühe, weil ihr Ziel die erste Stufe zu vollkommener Radikalkur der kranken Menschheit ist. Preußen ist von allen europäischen Staaten derjenige, der zu ihrer Ausführung am geeignetsten erscheint; seine militärische Organisation, die Gewohnheit jedes Preußen, zu gehorchen und den Gesetzen persönliche Opfer zu bringen, das Prinzip der Bevormundung, das die Regierung immer befolgt hat, kurz ihre ganze Maschinerie haben das Terrain vorbereitet. Überall herrscht Ordnung, nur in der Arbeit herrscht blinde Anarchie. Die Philosophen machen Preußen gerade aus der Bevormundung einen großen. Vorwurf, wer aber tiefer sieht, kann nicht so sehr in ihr das größte Übel erblicken, als in ihrer Einseitigkeit. Ein Kind muß getragen werden, ehe es selbst gehen kann: aus der Organisation der Arbeit, die Willkür ebenso ausschlösse wie Ausbeutung und Unbotmäßigkeit, würde nach und nach erst die Kraft, die Freiheit, die Selbständigkeit sich entwickeln . . . An einer uns Landbewohnern naheliegenden Aufgabe könnte die Organisation der Arbeit durch den Staat einsetzen: der Errichtung von Fabriken auf dem Lande, die auch im Winter der Landbevölkerung Arbeit böte, damit die Einführung der Dreschmaschine sie nicht mehr und mehr zum Hungern verdammt.«

Zu dem starken Einfluß, den die Zeitereignisse auf Jenny ausübten, und dessen Grad sich an ihren ebenso vertieften wie gesteigerten und erweiterten Interessen ermessen läßt, der auch den Wunsch in ihr weckte, der Entwicklung näher zu sein, an ihr mitwirken zu können, trat noch ein anderer, rein persönlicher hinzu: die Aufklärung über ihre Herkunft.

Am 1. Oktober 1847 hatte Jerome Napoleon nach zweiunddreißigjährigem Exil den Boden Frankreichs wieder betreten. Ob er über den Aufenthalt von seiner und Dianens Tochter Pauline im Kloster immer unterrichtet gewesen war, ob sie sich ihm als »Mutter Maria vom Kreuz« auf Grund der Briefe Dianens erst zu erkennen gab, als er Paris wieder zur Heimat wählen durfte – darüber fehlten mir Nachrichten. Ob Briefe der Nonne an Diana von Jenny gefunden wurden und zur Verbindung der Schwestern führten, läßt sich auch nicht mehr feststellen, ebensowenig wie der erste Brief der Nonne an Jenny mit der Mitteilung, wessen Töchter sie beide waren, erhalten wurde, eines nur steht fest: daß Diana selbst es war, die es Pauline zur Pflicht gemacht hatte, Jenny aufzuklären und sie zu bitten, den zu lieben, dem sie das Leben dankte. Wie groß mußte Dianens Liebe gewesen sein, wenn sie über den Tod hinaus dem Mann, der Schmach und Leid und Verlassenheit über sie heraufbeschworen hatte, die Liebe ihrer Tochter zu sichern suchte! Wie erschütternd aber mußte die Nachricht von der Mutter heimlichem Liebesbund, die ihr Ende des Jahres 1847 zugegangen war, auf Jenny wirken! Zwar hatte sie in Weimar nie gelernt, die Beziehungen der Menschen zueinander mit dem Maßstab der Prüderie zu messen, aber von der Heiligkeit der Ehe war sie doch tief durchdrungen, und in ihrer Mutter hatte sie das Muster aller christlichen Tugend verehrt, und nun: welch ein Aufruhr all dieser Gefühle! Ihre gute, edle Mutter war die Geliebte eines der verrufensten Könige gewesen, sie war sein Kind, Bastardblut floß in den Adern ihrer Kinder! Wie mochten die bösen Zungen der Welt ihre Mutter beurteilt haben und noch beurteilen, was für ein Schicksal stand ihren Kindern bevor, wenn man erfahren würde, daß sie eine außerehelich Geborene zur Mutter haben. Sie kannte ja diese Welt nur zu gut: hatte sie sich nicht mit einem merkwürdigen Ahnungsvermögen am meisten zu den unehelichen Kindern hingezogen gefühlt, die von allen Enterbten die unschuldigsten und die verachtetsten sind? Und während sie so empfand, klang zu gleicher Zeit die flehende Stimme der toten Mutter an ihr Ohr, die um Liebe bat, um Liebe für sich und den Vater. Sie sah sie vor sich in ihrer ganzen Lieblichkeit, die doch stets von leiser Melancholie beschattet blieb; sie sah sie, wie sie selbst in ihren Todesqualen ihrer Kinder in heißer Liebe gedachte. Wie mochte sie gelitten haben ein ganzes Leben lang, von dem Augenblick an, da ihr der Säugling vom Herzen gerissen und fern von ihr im Kloster aufgezogen wurde. Hatte sie nicht dies furchtbare Opfer – entsetzlicher noch, als wenn der Tod ein Kind entführt – ihren anderen Kindern zuliebe gebracht? Jennys Herz, das noch blutete von der Wunde, die des Töchterchens Tod ihm geschlagen hatte, erbebte vor Mitleid und Liebe, und alles, was die hergebrachte Moral ihr an erkältender Weisheit noch eben gepredigt hatte, verschwand vor dem einen großen Gefühl. Nun aber begann auch ihre Phantasie, sich ihrer Gedanken zu bemächtigen. Stets, selbst als der Haß gegen ihn in Deutschland noch alles beherrschte, hatte ihr Geist dem großen Korsen Altäre gebaut. Und nun war sie seines Blutes, und die Stimme dieses Blutes war es gewesen, die sie gezwungen hatte, dem Schicksal der Bonapartes voll tiefer Anteilnahme zuzusehen, es in seiner tragischen Größe zu erkennen, als alles um sie her voll Genugtuung in ihm nur die gerechte Strafe Gottes erblickte. Und hatte sie sich nicht doch des Vaters zu schämen?! Ihre Mutter hatte ihn bis zur Selbstvergessenheit geliebt, ihre Schwester schilderte ihn als einen der besten Menschen, und zweiunddreißig Jahre des Exils waren auch für schwere Sünden eine harte Buße. Gehörte er aber zu den vielen von der Welt über Gebühr Verlästerten und Verfolgten, dann war er der Liebe doppelt bedürftig.

So stieg endlich aus dem Chaos der Empfindungen und Gedanken all jene Zärtlichkeit hervor, die sie, nach der Innigkeit seines Dankes zu schließen, dem Vater entgegengebracht haben muß. Aber die neue Verbindung des Herzens gab auch ihren Interessen eine neue Richtung. Hatte sie bisher die politischen Ereignisse Frankreichs lebhaft verfolgt – die Freundschaft mit der unglücklichen Helene von Orleans hatte dazu beigetragen –, so fühlte sie sich von nun an innerlich mit ihnen verknüpft, und die rege Korrespondenz ließ sie ihr vollkommen gegenwärtig erscheinen. Der Wunsch Jeromes, die Tochter in seine Arme zu schließen, fand in ihrem Herzen ein lebhaftes Echo. Wie ihre Empfindung sie zu dem Vater zog, so ihr geistiges Ich zu jener Stadt, die wie eine Feuerkugel wieder einmal nach allen Richtungen Europas die erleuchtenden und erwärmenden ebenso wie die zündenden Strahlen ihres Wesens zu werfen schien.

Die Märzstürme der Revolution machten zunächst die Reise nach Paris für Jenny unmöglich. Aber auch aus anderen Gründen war sie ans Haus gefesselt: im Juli 1848 wurde ihr ein Sohn – ihr letztes Kind – geboren, und die nächsten Monate gehörten seiner Pflege. Ihr Mutterherz klopfte so stark und heiß für dieses Kind wie für die anderen, aber ihre Gedanken, die sich sonst bei jedem neuen kleinen Erdenbürger um so mehr auf die Kinderstube konzentriert hatten, konnte sie diesmal nicht hindern, weit über die Mauern des Hauses hinauszuschweifen. Was sie fühlte und dachte, als der Widerhall der Berliner Barrikadenkämpfe bis an ihr Ohr drang, als Preußens König sich dem Willen des Volkes beugen und die Gefallenen mit entblößtem Haupte ehren mußte, und als der Gatte ihrer lieben Freundin Prinzeß Augusta heimlich das Land verließ – darüber befindet sich nichts mehr unter ihren Papieren. Daß sie die Ereignisse aber mit anderen Augen betrachtete, als es in der Sphäre streng konservativen preußischen Junkertums, in der sie lebte, üblich war, dafür legt ein merkwürdiger Artikel von ihr: »Meine Ideen zur Reorganisation des Staates nach 1848« Zeugnis ab, den sie ihrem Stiefvater sowohl wie dem Erbgroßherzog von Weimar und der Prinzessin Augusta von Preußen zusandte. Ihre Antworten sind leider nicht mehr vorhanden – wenn sie überhaupt jemals geschrieben wurden. Der Artikel lautet:

»Ein großer, mächtiger Geist zieht durch die Welt, ein Geist des Schreckens, der Leidenschaft und – der Gerechtigkeit; Schrecken und Leidenschaften müssen weichen vor einem reinen, guten Willen, der Geist der Gerechtigkeit muß bleiben, denn er ist der Geist Gottes, der heilige Geist des Evangeliums; – laßt uns tun nach seinem Gebote, denn ein Höheres gibt es nicht; laßt uns hell sehen bei seinem Lichte, denn es ist dasselbe Licht, das jenseit des Grabes leuchtet, das Licht, das nimmer vergeht – die Wahrheit und die Liebe!

Wir, die Reichen, die irdisch Begünstigten, haben seit einer Reihe von Jahren die Lawine beobachtet, welche die ganze bürgerliche Verfassung zu zertrümmern droht; wir haben die Notwendigkeit kommen sehen, daß der Arme, auch der fleißige und genügsame Arme, im Schweiße seines Angesichts, mit Aufopferung aller Lebensfreuden nicht mehr das tägliche Brot für sich und die Seinen verdienen kann; wir haben eine Einsicht in die merkantilischen, statistischen, politischen Verhältnisse haben können. – Mancher hat einzeln gern etwas, auch viel, aber lange nicht genug getan, um dem Übel zu steuern, und eben weil es einzeln geschah und ein jeder begriff, daß er doch nicht helfen könne, ist es dürftig geschehen, und je greller die Schauer und der Jammer des Elends, welches jeder allein nicht bewältigen konnte, in die Seele schnitt, desto mehr beschränkte man sich, und mit Recht, auf einen kleinen Kreis, auf Hilfe an einzelnen, desto mehr sorgte, sparte, erwarb, vermehrte man, um für die eigenen Kinder allen irdischen Unglücksfällen vorbeugend zu begegnen, weil man an den verhungerten, mißhandelten, verkümmerten, elenden, an der Seele gekränkten Kindern, an den vernachlässigten Greisen und Kranken, an der nicht zu bewältigenden Flut moralischer und physischer Versunkenheit und Verzweiflung ein schreckliches Bild von dem hatte, was möglicherweise den Liebsten und Nächsten geschehen konnte. Ich brauche nur an das Hungerjahr 1847, an die Webernot in Schlesien, an die Notjahre durch Dürre und Überschwemmungen in der Provinz Preußen, an die Tatsachen z. B. in Bettinens Buch an den König über die Berliner Zustände zu erinnern, ich brauche nur jeden zu bitten, in der Residenz, auf dem Lande, namentlich in den kleinen Provinzstädten, auf der Straße sich umzusehen; wer Arzt, Bürgermeister, Schullehrer, Fabrikherr oder Landwirt ist, der braucht, dem Elende zu Gefallen, noch keinen Schritt außer seiner Berufssphäre zu machen, um zu wissen, zu sehen, zu fühlen, daß unter Menschen, unter Christen die Zustände nicht so bleiben können. – Es ist grauenhaft, daß eine Mutter vom Staate gezwungen werden kann, ihr Kind verhungern zu sehen – und dem ist so: sie läuft zehnmal zum Bürgermeister, der sie nicht einmal anhört – er ist nicht härter, nicht gewissenloser als ein anderer, aber er hat täglich zwanzig Fälle, wo Hilfe nottut, und er hat nicht die Mittel, er kann nicht helfen; so die Gemeinde namentlich in Jahren von Mißwuchs, und so endlich der Staat – Willen, Einsicht, Mitleid, Wünsche sind da, aber keine Mittel – diese sind es, die geschaffen werden müssen, und wehe, wenn der Spruch des Heilandes auch jetzt in Erfüllung gehen müßte: ›Wahrlich, ich sage euch, es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Himmelreich komme!‹

Ich frage, was der Reiche verliert, wenn er den Überfluß abgibt, um die Armut möglichst aus der Welt zu schaffen? Der Bessere unter den Reichen genießt im Angesicht so vielen Elends seinen Luxus mit schlechtem Gewissen; Seide, Silber, Diener, Paläste sind Dinge der Eitelkeit, der Konvenienz, der Sitte, sind aber weder Glück noch Genuß, wenigstens keine höheren, als ein komfortables bürgerliches Leben auch gewährt; vielen sind sie Gewohnheit, deshalb ihre Entbehrung ein anzuerkennendes Opfer, bei weitem den meisten sind es nur Notwendigkeiten des Standes: man möchte ebenso gern ein wollenes als ein seidenes Kleid tragen, ebenso gern eine behagliche Stube als zehn besitzen, ebenso gern zwei Gerichte als zehn essen, ebenso gern ein tüchtiges Dienstmädchen als zwei anspruchsvolle Kammerjungfern haben, aber man meint, es ginge nicht, man wird als Sonderling zum Gespräch und Spott der Leute, man muß demütigenden Momenten Trotz bieten, sich verteidigen, seine Einfachheit erkämpfen, und das tut man nicht – man braucht es ja nicht. – Der Reiche wird nicht mehr große Feste geben, aber fragt, wieviel wahrhaft Fröhliche auf diesen Festen sind? Wo hundert Hausstände auf ein jährliches Fest in Wohnung, Dienerschaft und Hausgerät versehen sein mußten, wird ein einziges Etablissement, wie jede Stadt es jetzt hat, mit wenig Kosten für den einzelnen dieselben Freuden und größere gewähren, weil sie sich nicht bis zum Überdruß häufen können. – Der Reiche wird nicht mehr reisen können? O ja, dieselbe Reise, die er noch vor zehn Jahren mit vier Postpferden in acht Tagen für sechs- bis achthundert Taler machte, macht er mit der Eisenbahn für sechzig oder achtzig, und so wird nicht einmal sein Genuß geschmälert werden.

Der Luxus befördert die Industrie – dieser Satz entbehrt alles wahren Gehaltes. Gewinnt die Industrie nicht mehr, wenn eine geschäftige Hausfrau zwei Kattunkleider zerreißt, als wenn eine Dame ein seidenes Kleid auf dem Sofa aufträgt? Gewinnt nicht die Industrie mehr, wenn sechs Porzellan-Milchtöpfe zerbrochen, als wenn alle hundert Jahre eine silberne Milchkanne umgeschmolzen wird? Die Kostbarkeit des Stoffes macht nicht den Verdienst des Arbeiters, sondern die Masse der Arbeit. Wenn statt einer Brüsseler Spitze, die die Augen der Stickerin verdirbt, zehn sächsische geklöppelte Spitzen gebraucht werden, welche von den ärmsten Leuten im Erzgebirge gemacht werden, wo ist da für das Allgemeine der Nachteil? – Der Luxus befördert nicht die Industrie, aber ein reges Leben, eine allgemeine Wohlhabenheit tun es im wahren Sinne des Wortes – der obige Satz war ein Trost, den sich der Reiche machte, eine Rechtfertigung, die man für ihn erfand, aber keine Wahrheit.

Dem Armen muß ein menschliches Leben geschaffen werden, Kinder, an denen sich sein Herz freuen kann, deren Geburt nicht ein Unglück, deren Dasein nicht eine Last, deren Tod nicht eine Erleichterung ist; Frauen, die im Hause walten und wachen können, die seinen Herd erfreulich, seine Feierstunde sanft, seine Mahlzeit reichlich bereiten können; ein ruhiges Krankenbett, wo er nicht mit Angst und Kummer über das versäumte Notwendigste liegt, wo er sich nicht zur Arbeit quält, ehe er halb genesen ist, wo er nicht den Vorwurf der Seinigen über ihre Last und Mühe zu ertragen hat, einen warmen Rock gegen die Kälte, eine gesegnete Einsicht gegen Aberglauben und Irrtum, ein unvergälltes Herz beim Anblick der Wohlhabenden – endlich einen ungebettelten Sarg und ein gepflegtes Grab. – An diesem Gewinne ermeßt seine Entbehrungen, an diesen Entbehrungen seine namenlose Geduld. Wer dürfte sich einen Christen nennen, der zu diesen nächsten, selbstverständlichsten Zielen einer Reorganisation der Gesellschaft nicht gelangen und seine ganze Kraft dafür einsetzen wollte?«

Professor Scheidler, dessen brieflich geäußerte Ansichten sie wohl am meisten in ihrer Gegnerschaft zu der landläufigen Auffassung ihrer Standesgenossen unterstützten, schrieb ihr darauf: »Wären Sie ein Mann, so würde ich von Ihrer öffentlichen Tätigkeit Großes erwarten, so aber fürchte ich fast, daß Ihre Ideen nicht zu Ihrem Glück gereichen.«

Seine Befürchtungen sollten sich nur zu bald bewahrheiten. Zum erstenmal kam es zu tieferen Differenzen zwischen dem Ehepaar. Werner Gustedt rechnete sich zwar zu keiner bestimmten Partei; er war seiner Gesinnung und seinen Bestrebungen nach eher liberal als konservativ, aber er war ein Gegner jeden Philosophierens und Spintisierens über Zukunftsprobleme, war ein Mann praktisch-nüchterner Gegenwartsarbeit. Den Phantasien seiner Frau war er niemals gefolgt, ihre Vorliebe, umfassende Pläne zu schmieden, hatte ihn stets geärgert, und er war immer nur froh gewesen, wenn sie sich bei der Ausführung einer praktischen Aufgabe eine Zeitlang beruhigte. Vielleicht hätten ihn ihre radikalen politischen Gesinnungen auch nur verstimmt oder ihm ein Lächeln abgelockt, wenn sie nicht den Versuch gemacht hätte, in weiteren Kreisen für sie Propaganda zu machen. Das wünschte er nicht, und diesem Wunsch gab er deutlichen Ausdruck. Für Jenny war es, wenn nicht eine Folge verstandesmäßiger Erwägungen, so doch eine Folge instinktiven Gefühls, daß die geistige Selbständigkeit der Frau ein die Ehe auflösendes Moment in sich trägt, und zwar um so mehr, je mehr sie öffentlich zum Ausdruck kommt; daß sie sich in ihrem Tun und Lassen ihrem Gatten unterzuordnen hatte, war für sie selbstverständlich. Aber das Recht auf ihre persönliche Überzeugung wollte und konnte sie darum nicht preisgeben. Weder der Wunsch ihres Mannes, noch seine abweichenden Meinungen konnten ihr daher so wehe tun, wie die geringschätzige Art, mit der er ihren eigenen Ansichten begegnete – eine Art, die ihr deutlich genug zeigte, daß er ihnen die Existenzberechtigung absprach. Das war für sie das schmerzlichste, weil es ihr Rechtlichkeitsgefühl verletzte, und um des häuslichen Friedens willen lernte sie, was so viele Frauen glauben lernen zu müssen: Schweigen – jenes Schweigen, das den Frieden nur vortäuscht, in der Tat aber zwischen den Menschen eine höhere Scheidewand aufrichtet, als der bitterste Streit es vermag. Denn dem Streit kann Einigung oder Versöhnung folgen, das Schweigen ist der Anfang eines leisen, langsamen Voneinandergehens.

Jenny beschränkte sich von nun an wieder auf den Austausch ihrer Ideen im Briefwechsel mit ihren Freunden. Zu ihren alten Korrespondenten: ihrem Stiefvater Gersdorff, Professor Scheidler und einem alten englischen Freund, Mr. Hamilton, der sie über die innere und äußere Politik Englands auf dem laufenden erhielt, sollten bald neue hinzutreten, und auch an neuen, großen Anregungen sollte es nicht fehlen.

Im Jahre 1849, als die politische Situation es gestattete, folgte Jenny der Einladung Jeromes nach Paris. Mit welchen Empfindungen mögen Vater und Tochter sich zum erstenmal umarmt haben, und wie merkwürdig muß das erste Begegnen zwischen den beiden Schwestern gewesen sein: der preußischen Protestantin und der französischen Nonne! – Eine neue, reiche, wunderbare Welt tat sich auf vor ihren Augen: die Welt bewegten politischen Lebens, in deren Mittelpunkt die Familie Bonaparte stand; die glanzdurchglühte, schönheiterfüllte Welt der katholischen Kirche und der unvergleichliche Reichtum alter, künstlerischer Kultur. Welcher Mensch, der von den Wäldern und Seen, der halbbarbarischen Bevölkerung Westpreußens und dem engen Interessenkreis seines Junkertums an die Gestade der Seine versetzt wird, könnte sich des gewaltigen Eindrucks entschlagen? Um wieviel mehr mußte eine Frau wie Jenny von ihr überwältigt werden, in deren Innern, ihr selbst fast unbewußt, die Sehnsucht nach geistigem Leben, nach reifer Kultur gebrannt hatte. Paris wird immer, trotz Revolution und Republik, die aristokratischste Stadt der Welt bleiben – wie Berlin ihren bourgeoisen Charakter nie zu verleugnen vermag. Jenny, eine Aristokratin im besten Sinne, mußte sich dort wie zu Hause fühlen. »Es gibt Augenblicke im Leben«, schrieb sie in Erinnerung an ihren ersten Pariser Aufenthalt, »die uns, wenn sie eintreten, ganz vertraut erscheinen, weil eine dunkle Erinnerung uns sagt, daß wir sie irgendwann und irgendwo schon im Traume erlebten; in Paris konnte ich mich tagelang auf Schritt und Tritt des gleichen Eindrucks nicht erwehren; ich fühlte mich ebensosehr hingehörig, wie ich mich in Berlin immer fremd gefühlt habe.« Warme Sympathie verband sie sehr rasch mit Jerome und Pauline, ebenso mit ihrem Stiefbruder Napoleon, dessen politisch-radikale Gesinnung sie auch in Zukunft mit ihm freundschaftlich vereint bleiben ließ. Im Kreise der Ihren lernte sie eine Reihe der führenden Geister der Zeit kennen, die der wieder aufgehende Stern der Bonapartes an sich zog, und knüpfte die fast zerrissenen Familienbeziehungen mit den Verwandten ihrer Mutter wieder an. Nach ihrer Heimkehr entwickelte sich eine vielseitige, rege Korrespondenz daraus, von der mir leider nur kärgliche Bruchstücke zugänglich geworden sind.

Einer derjenigen, von dem sie, wie sie sagte, außerordentlich gefördert wurde, war der bekannte Nationalökonom A. J. Blanqui, der sich durch seine Geschichte der politischen Ökonomie in Europa, der ersten ihrer Art, weit über die Grenzen seines Vaterlandes einen Namen gemacht hatte. Als Jenny nach Paris kam, war sein infolge eines Auftrags der Pariser Akademie der Wissenschaften entstandenes Werk über die Lage der arbeitenden Klassen in Frankreich gerade erschienen und hatte durch die rücksichtslose Enthüllung grenzenlosen Elends berechtigtes Aufsehen gemacht. Seine Vorschläge zur Abhilfe der Not, die er auf Grund der sieben Fragen der Akademie zum Schluß zusammenstellte, gipfelten in der Forderung der Beseitigung aller Zollschranken und Monopole. In Wirklichkeit aber ging er viel weiter, als er es hier im Rahmen eines offiziellen Auftrags aussprechen konnte. Wenn er auch nicht, wie sein Bruder, der Kommunist L. A. Blanqui, zum äußersten linken Flügel der damaligen Sozialisten gehörte, so war er doch als alter Saint-Simonist ein überzeugter Gegner der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung – der erste der Art, der Jenny Gustedt begegnete und bei ihr von vornherein, ihrer ganzen eigenen Entwicklung nach, ein geneigtes Ohr finden mußte. Den Briefwechsel mit ihm leitete sie durch eine Neujahrsgratulation ein, auf die er folgendes zur Antwort gab:

»Paris, den 18. Januar 1850.

Gnädigste Frau!

Im Augenblick, wo ich mir gestatten wollte, meinen Dank für Ihr freundliches Gedenken, das Prinz Jerome die Freundlichkeit hatte, mir mitzuteilen, persönlich auszusprechen, erhalte ich Ihren überaus liebenswürdigen Brief. Keine Unterstützung könnte mich mehr beglücken, als die Ihre, und ich werde sie als die wertvollste Ermutigung treu im Gedächtnis bewahren. Gewiß, gnädige Frau: es ist das parlamentarische und politische Geschwätz, das uns heute tötet und ganz Europa gefährdet! Alle unsere Revolutionen haben Millionen sogenannter Staatsmänner hervorgerufen, die sich schmeicheln, alles zu wissen, ohne jemals etwas gelernt zu haben. In der Unkenntnis der elementarsten Dinge besteht eine große Gefahr. Unsere griechischen und lateinischen Studien – und noch dazu welches Griechisch und Lateinisch! – haben aus uns kein gebildetes, sondern ein halbbarbarisches Volk gemacht, ähnlich den Griechen, die zur Beute der Türken wurden. Die Türken, die uns bedrohen, sind aber gefährlicher als die Mahomets II. Denn die Barbaren, in deren Mitte wir leben, haben es vor allen Dingen auf das Wohl des Nächsten abgesehen. In dieser groben und vulgären Form taucht die gleiche Frage überall auf: in Frankreich, in Preußen, in Deutschland. Gegenüber den wenigen gewissenhaften Männern, die aus Überzeugung für die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen eintreten, gibt es soundso viele, die diese Frage nur im Interesse ihrer egoistischen politischen Passionen auszubeuten suchen. Wer aber heute den ersten Schritt auf dem Wege zum wahren Volksglück tun will, der muß jede persönliche Eitelkeit abstreifen, und zwar um so mehr, je mehr er von Geburt der Bourgeoisie angehört, sich also eigentlich zum Besten der Notleidenden in das eigene Fleisch schneiden muß. Sie werden jetzt begreifen, warum gerade Ihre Sympathie mir doppelt rührend und wertvoll ist. Sie haben mir die Ehre erwiesen, diese Korrespondenz durch Ihren liebenswürdigen Neujahrsgruß zu eröffnen, gestatten Sie mir, gnädigste Frau, das vergangene Jahr als das für mich glücklichste zu bezeichnen, weil ich in seinem Verlauf das Glück gehabt habe, Sie kennenzulernen. Ich habe mich heute kurz gefaßt, um Sie nicht zu entmutigen, und auch infolge einer respektvollen Zurückhaltung, die mehr als Sie glauben, meine tiefe Sympathie zum Ausdruck bringt, die Ihr vornehmer Charakter mir von Anfang an einflößte. Was Sie sonst sind, konnte ich erraten, indem ich Sie sah, und ich bin stolz darauf. Es bedurfte auch nur kurzer Zeit, um in der verschleierten Tiefe Ihres Frauenherzens das zu entdecken, was Sie bescheiden vergebens zu verstecken suchen: einen gereiften Geist, stolze und großmütige Empfindungen.

Es würde mir zu höchstem Glück gereichen, Ihnen dienen zu können und dafür das zu empfangen, was in allen Lebenskämpfen so unschätzbar ist: das Verständnis der Freundschaft, die Ermutigung durch Sie.

In größter Verehrung bleibe ich, gnädigste Frau, Ihr ergebener

A. J. Blanqui.«

Von dem Verlaufe des Briefwechsels, der bis 1854, Blanquis Todesjahr, sich ausdehnte, sind nur noch einige Stücke von Jennys Hand vorhanden. So schrieb sie ihm einmal folgendes: »Mit Ihrer schroffen Ablehnung aller kommunistischen Ideen bin ich nicht ganz einverstanden. Warum sollte, eine lange vorbereitende Entwicklung, vor allem eine gute, gleichmäßige Erziehung vorausgesetzt, nicht ein Zustand möglich sein, der eine Gemeinsamkeit des Lebens und des Besitzes zur Grundlage hat? Selbstverständlich stehe ich, was die Utopistereien der heutigen Kommunisten anbelangt, auf Ihrer Seite; mit Blut und Schrecken wird solch ein Zustand ebensowenig erreicht werden, wie man durch Verbrennung der Ketzer das Christentum förderte. Er muß das Ergebnis des allgemeinen Fortschritts der Menschheit sein, und ich kann nicht leugnen, daß an ihn zu glauben etwas sehr Wohltuendes für mich hat.«

Unter den ihr durch alte und neue Freunde und durch die politischen Ereignisse zuströmenden Anregungen wuchs ihr Interesse an ökonomischen und politischen Fragen, aber soweit sie sich dabei auch, getrieben von ihrem tiefen Mitgefühl mit den Enterbten des Glücks und von ihrer religiösen Überzeugung, sozialistischen Anschauungen näherte, so blieb sie doch, soweit die Gegenwart in Betracht kam und in bezug auf politisch-rechtliche Fragen, auf dem Boden patriarchalisch-konservativer Anschauungen stehen. Wenn sie z. B. die Möglichkeit des Kommunismus anerkannte, so doch nur für eine ferne Zukunft und auf Grund allmählicher Erziehung und Entwicklung der Menschheit zu einer gewissen Höhe moralischer und geistiger Kultur. Im Unterschied aber zu der überwiegenden Mehrzahl gläubiger Christen, die wie sie die Tugend als Voraussetzung des Glücks erklärten, erkannte sie die ökonomische Lage der Menschen als Bedingung auch ihrer sittlichen Entwicklungsfähigkeit. Darum legte sie den Ärmsten gegenüber so gut wie keinen Wert auf das Predigen der Moral, den allergrößten aber auf die Beseitigung der Not in jeder Form. Erst auf dem Grunde einer gesicherten Existenz, die durch eine möglichst beschränkte Arbeitsleistung gewonnen werden soll, also auch genügend Zeit gewährt, um sich geistige Bildung anzueignen, hielt sie ein Fortschreiten der Menschheit zu ihren höchsten Zielen für möglich. Den auf tiefer Kulturstufe Stehenden gleiche politische Rechte zu geben, hielt sie jedoch für ebenso widersinnig, wie wenn reife Menschen unmündige Kinder als ihresgleichen behandeln würden. Es erschien ihr angesichts des ihr so wohlbekannten armen, verrohten, scheinbar zur Freiheit unfähigen westpreußischen Volks ungeheuerlich, ihm politische Macht und damit politischen Einfluß zu gewähren. Sie übersah dabei zweierlei: daß auch in den Reihen derer, die physisch und geistig nicht Not leiden, die Herzens- und Geistesroheit überwiegt, wenn sie sich auch hinter reiner Wäsche und gewählten Formen verbirgt, und daß das Moralpredigen bei ihnen ebensowenig nützt wie bei den Armen, weil es von einer herrschenden Klasse in ihrer Gesamtheit Übermenschliches verlangen hieße, daß sie sich, in der Erkenntnis der vollendeten Reife der ihr bisher Untergebenen, ihres Einflusses und ihrer Macht freiwillig entäußern sollte, indem sie die volle Gleichberechtigung gewährt. Wenn Jenny zu dieser Überlegung nicht gelangte, so ist der Grund dafür in der Tatsache zu suchen, die ihres Lebens Glück und zugleich die Bedingung seiner Beschränkung war: in der Epoche, unter deren Einfluß sie sich entwickelte. Das Kennzeichen ihrer Erziehungsmethode war besonders im Hinblick auf die Frauen die Treibhauskultur des Gefühls. Der Intellekt mußte sich in seiner Weichheit und Schwäche vor der bis zum äußersten verfeinerten Empfindung nur zu oft für besiegt erklären. So war es zuerst die Empfindung, die Jenny für die Not der Massen so hellsichtig machte – dieselbe Empfindung, die sie für die Unzulänglichkeit der eigenen Klasse nur zu oft mit Blindheit schlug. Sie empfand die Roheit des Volkes als etwas Schmerzhaftes, Peinliches, sie empfand das gesittete Benehmen ihrer Standesgenossen als etwas Wohltuendes, Gutes, und da die schöne Form für sie persönlich nichts anderes war als ein schönes Gewand auf einem vollendeten Körper, so mußte die Häßlichkeit eines Körpers schon sehr groß sein, um von ihr auch durch die Hülle bemerkt zu werden.

Nach diesen Gesichtspunkten muß man eine Anzahl Briefe Jennys über politische Fragen betrachten, wenn man ihnen gerecht werden will. Für den Oberflächlichen müßte vieles widerspruchsvoll erscheinen, was tatsächlich von ihr vollkommen konsequent gedacht war. Lesen wir z. B., was sie im ersten Jahre der preußischen Reaktion an Gersdorff schrieb:

»Ich glaube nicht, daß, solange diese Generation mit ihren Erinnerungen an 48 und 49 lebt, irgendeine Aussicht auf Revolution ist – denn der Demokratie fehlen erstlich die Massen und zweitens die Hälfte ihrer aufrichtigen Bekenner von 48, welche sich in der politischen Reife des Volkes geirrt haben und nun einsehen, daß man zu Johanni zwar Johannisbeeren, aber keine Weintrauben keltern kann. – Ich würde auch mit einem großen Teil des jetzigen Verfahrens einverstanden sein, wenn ihm die Idee zugrunde läge, in der Bevormundungszeit, die wieder begonnen hat, die Entwicklung zu fördern, die zur Reife und mithin zur Beseitigung der Vormundschaft führt; die Innigkeit und Einigkeit mit Österreich und Rußland deutet aber leider auf den Willen zu einer in alle Ewigkeit fortgeführten Vormundschaft.

Ich kann auch die Kriegsantipathie von Regierenden und Volk nicht schelten – ich sehe darin keine Feigheit und Schlechtheit, sondern ein Überwiegen der wahren Ehre im christlichen und göttlichen Sinn über die falsche Ehre des Mittelalters, die uns noch in den Junkerknochen liegt. Diese Begriffe von Ehre waren von A bis Z falsch, unvernünftig und unphilosophisch – die einzige Ehre ist die Ehre, die das Christentum anerkennt: ›ohne Sünden bleiben‹; nichts und niemand hat die Macht uns zu schänden, als wir selbst durch unsere eigene Sünde, nichts und niemand kann uns wieder zu Ehren bringen als unsere eigene Buße und Tugend.«

Hier steht der schärfste Radikalismus im einzelnen – mit ihrer Verurteilung des Ehrenkodex der Offiziere und Aristokraten stand sie sicherlich in ihren Kreisen allein – neben einem gewissen Verständnis der Maßnahmen der Reaktion, von denen sie hoffte, daß sie im Interesse des Volksfortschritts und der Erziehung zur künftigen Freiheit gehandhabt würden. In einem Brief an Scheidler aus derselben Zeit tritt diese Auffassung der Bevormundung als eines notwendigen Erziehungsmittels noch deutlicher hervor. Sie schrieb:

»Was Ihre politische Meinung über Preßfreiheit betrifft, so kann ich ihr noch nicht unbedingt beistimmen, die Sache hat zuviel für und wider sich, als daß ich mich nach so wenig reiflicher Überlegung für eine Partei erklären könnte, nur scheint mir, daß Sie die Gründe wider die Preßfreiheit nicht für gewichtig genug halten. Wäre darin nur der Verkehr zwischen Gebildeten und mehr oder weniger Gelehrten zu verstehen, so müßten Sie unbedingt recht behalten, allein die Frage ist: kann es zum Besten des Volkes, der größeren Massen sein, oberflächliche Begriffe von Dingen zu erhalten, welche sie nur halb verstehen und nie, ihrer Lage und Beschäftigungen wegen, ganz ergründen können? Und ist es rätlich für die Oberhäupter eines Staates, einen Einfluß zu gestatten, welchem oft keine reine Absicht zugrunde liegt, und wo persönliches Interesse sich meist hinter dem Universalinteresse verbirgt? Jedes Warum und Aber in Staatsregierungen zu begreifen, dazu gehört mehr Kenntnis und Einsicht, als der gewöhnliche Mann je erwerben kann. Sie werden mir sagen, daß gefährliche oder falsche Artikel widerlegt werden können, allein wo haben Geschäftsleute wohl die Zeit, jeden Tag zwanzig Artikel zu widerlegen? Ist bei diesem Fall die Bemerkung der Madame de Staël nicht allgemein zu brauchen: ›Que sert la justification là où le plus souvent on n'écoute pas la réponse?‹

Die Gründe für Preßfreiheit sind freilich sehr gewichtig, und es geht mir mit meiner Meinung darüber wie mit der über Republiken: ich fände beide Staatseinrichtungen unbedingt jedem anderen Gegensatze vorzuziehen, wenn die Menschen, besonders die Massenführer und Massenaufreger, besser und redlicher wären.«

In einem späteren längeren Brief an Professor Scheidler zeigte sich dagegen mit um so größerer Klarheit der Standpunkt, den sie dauernd als festen Boden unter den Füßen behielt: daß der Staat für das menschenwürdige Dasein seiner Bürger verantwortlich sei. »Mir blieb eine Lücke in den von Ihnen angeführten Gleichheitsansprüchen«, schrieb sie, »ich möchte nämlich, Sie führten dabei noch die Gleichheit der menschlichen Naturbedürfnisse, Nahrung, Wärme usw. an, woraus die Gleichheit des Anspruchs auf deren Befriedigung in der einfachsten Weise, als Verpflichtung der Staaten, deduziert werden müßte. Dahin gehört auch die Verpflichtung, frühzeitige Ehen, ohne Unvernunft, möglich zu machen. Diese Hauptfragen treten immer wieder viel zu sehr in den Hintergrund, anstatt gerade vorn und obenan zu stehen, und in einer Weise obenan, daß gar nichts anderes vorgenommen werden müßte, ehe diese große Aufgabe gelöst wäre, die ohne allen Zweifel nach der materiellen Beschaffenheit der Erde gelöst werden kann. Wenn alle Regierungen, auch nur die von Europa, unablässig dahin strebten, Einrichtungen zu treffen, daß ohne übermäßige Arbeit jeder Mensch seine Lebensbedürfnisse auf die einfachste Weise befriedigen könnte, daß bei selbstverschuldetem Elend der Eltern die Kinder gerettet würden, so würden sie es erreichen. Deshalb habe ich mich im Jahre 1848 zu dem ersten Erscheinen der Sozialisten und Kommunisten so hingezogen gefühlt, weil sie sich dem näherten, was ich für das Wichtigste hielt.

Keine Nation sein, keinen Kaiser haben, als Volk gedemütigt und gekränkt sein, das sind zwar gerechte Schmerzen und verbittern das Leben vieler; aber kein Brot und keine Wärme haben, vor Sorgen und Arbeit nicht zum menschlichen Dasein gelangen, als Eltern entweder täglich bittere Kummertränen weinen oder einer tierischen Gleichgültigkeit anheimfallen, das sind ganz andere Schmerzen, ganz andere Ungerechtigkeiten, das verbittert in unendlich höherem Maße das Leben von unendlich mehr Mitbürgern, die dieselben Ansprüche an Beseitigung ihres Elends haben, als die, welche mit ihren Klagen die Sturmglocke läuten, weil sie den Strang in der Hand halten, während die Elendesten stumm bleiben. Die oben genannten politischen Leiden sind des douleurs de luxe neben den Leiden des wahrhaft armen Mannes.«

*

Inzwischen hatte Jennys persönliches Leben eine tiefgreifende Wandlung erfahren: im Jahre 1850 war ihr Mann Landrat des Riesenburger Kreises geworden, hatte zu gleicher Zeit Garden verpachtet und sich in Rosenberg, einem Gute in der Nähe der Kreisstadt, neu angekauft. Der Abschied war Jenny nicht leicht geworden: das mit so viel Liebe eingerichtete und alljährlich vervollkommnete Haus, der schöne Garten, in dem jeder Baum und jeder Strauch ihr etwas Lebendiges war, der stundenlang sich hinstreckende Wald, der kaum zwanzig Schritt vor der Haustür anfing, der blaue spiegelnde See, im Sommer und Winter der Kinder beliebtester Tummelplatz – das alles wurde ihr zu verlassen doppelt schwer, als der Weg sie wieder in eine fremde Umgebung und nicht nach Weimar führte, was sie so sehr gewünscht hatte.

»Für meine Kinder«, so schrieb sie damals, »wäre ich gern wurzelfest geblieben, denn ich glaube, es liegt ein großer Segen darin, eine Heimat im engsten Sinn des Wortes zu haben, aber ich sehe ein, daß das immer seltener wird, und hoffe, daß andere Werte an Stelle des verlorengegangenen treten werden . . . Doch bin ich sehr froh, daß Werner bei seiner gemeinnützigen Tätigkeit, die seinen Geschäften sehr hinderlich ist, endlich zum Entschluß kommt, zu Johanni zu verpachten; lieber wär' mir der Verkauf, er schien sich aber dazu nicht entschließen zu können. – Die Sparkassen des Kreises sind im Gang, die Chaussee naht ihrer Vollendung, und nach einer viermonatlichen mühsamen Verwaltung der freiwilligen Unterstützungen der zurückgebliebenen Landwehrfamilien des Kreises hat er einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der die Gemeinden zu deren Unterhalt verpflichten will und den er dem Oberpräsidenten eingesandt hat. Es sind drei Werke, auf die er mit Befriedigung hinblicken wird, wenn sie vollendet sind; sie waren notwendig und werden Segen bringen, und in unserer Zeit ist es doppelt wichtig, daß es auch Männer gebe, die im Schatten Fundamente bauen.«

In Rosenberg stand der Gustedtschen Familie zunächst nur ein primitives Heim zur Verfügung, das gegen das wohnliche Gardener Herrenhaus sehr abstach. Auf einem hoch über dem See gelegenen, von Linden und Buchen gekrönten Hügel bauten sie sich ein neues Haus. Jenny, die oft von sich sagte, daß ein Baumeister und ein Tapezier an ihr verlorengegangen wären, entwarf die Pläne für den Bau wie für die Einrichtung selbst, eine Arbeit, die ihr große Freude bereitete und ihre Gedanken lange Zeit von allem anderen abzog. Nach einem Jahre war das Werk vollendet und zeugte von dem mit praktischem Verständnis verbundenen Schönheitssinn seiner Schöpferin.

Nachdem Jenny sich und den Ihren die wohltuende Umgebung geschaffen hatte, wandte sie sich mit frischen Kräften den öffentlichen Aufgaben zu, die sie mehr als je als gegebenen Tätigkeitskreis der Frau hatte betrachten lernen. Auf die Unterstützung Armer und Kranker, auf die Aufnahme von verlassenen Kindern hatte sie ihr Haus von Anfang an eingerichtet: »Den Raum für alles, sehr groß, hell, leer, weiß gestrichen, mit gut heizendem Ofen, sollte auf dem Lande jedes Guts- und Pfarrhaus haben«, schrieb sie; »stelle Betten hinein, so ist es ein Lazarett, zieh Leinen durch, so ist es Wäschetrocken- und Bügelraum, mach Streu, Kopfkissen, Decken, so ist es für die Einquartierung geeignet, bei schlechtem Wetter Kinderspielplatz, bei großen Festen Speisesaal: stell ein Harmonium hinein, so wird es eine Kapelle.«

Aber sie verfolgte noch größere Pläne, als die bloßer privater Hilfsarbeit, und fand in dem Pfarrer des Kreisstädtchens – Pfeil – einen verständnisvollen Förderer ihrer Ideen. Ein Rettungshaus für uneheliche Kinder wollte sie gründen, das eine bleibende Zufluchtsstätte für diese Allerärmsten sein sollte. Da sie, seit sie Kinder besaß, sich nicht mehr als unumschränkte Herrin ihres Vermögens, sondern sich ihnen gegenüber in bezug auf seine Verwendung verantwortlich fühlte, so glaubte sie das, was deren Zukunft sicherstellen sollte, nicht für ihre Interessen angreifen zu dürfen. Auch ihren Gatten wollte sie nicht in Anspruch nehmen; sie hatte sich ihre wirtschaftliche Selbständigkeit neben ihm gesichert und respektierte die seine – ein Verhältnis, das sie einmal brieflich folgendermaßen verteidigte: »Für mich selbst halte ich fest an der Überzeugung: ›qu'il ne faut pas faire les affaires avec le sentiment‹; und ich trenne so scharf Gefühl und Geschäft, daß ich sogar mit meinem Manne, wenn wir einander Geld leihen oder dgl., Schuldschein und Interessen gebe und empfange, genau berechne und pünktlich zahle oder einziehe . . . Ich habe zuviel Erfahrungen gemacht, daß dadurch ein üppiges Unkraut aus der Aussaat zum Familienglück herausgesammelt wird, und es entsteht wirklich weder Kälte noch irgendein Nachteil daraus, denn das Schenken steht ja doch jedem frei und gehört zum Bereiche des Gefühls; so bin ich auch für Heiratskontrakte, genaue immer vorrätige Testamente, genaues Feststellen jedes Eigentums von Mobiliar und dgl.«

Wollte sie also ihren Lieblingsplan zur Wirklichkeit werden lassen, so galt es auf andere Weise die Mittel dafür zu beschaffen, denn wenn auch Stadt und Kreis Unterstützungen bewilligten, so mußte sie den Grundstock des Ganzen liefern. Sie entschloß sich, einen großen Teil ihres Schmuckes, der durch Geschenke Jeromes sehr bereichert worden war, zu verkaufen, und fuhr deswegen selbst nach Berlin. Ein breites schweres Kettenarmband der Herzogin von Orleans, Perlengehänge der Großfürstin Maria Paulowna, Ringe der Prinzessin Augusta von Preußen, vor allem aber die Rubinen und Brillanten, die als Rahmen ein in ein Armband eingelassenes Miniaturbild Jeromes umgaben, verwandelten sich auf diese Weise in schützende Mauern für die von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Nur ihre Kinder erfuhren später, was sie getan hatte, da sie sich verpflichtet fühlte, ihnen auch darüber Rechenschaft abzulegen. Das Rettungshaus aber steht heute noch. Ob es in dem halben Jahrhundert im Sinne seiner Schöpferin wirkte, oder ob es vor lauter Mühe, Seelen zu retten, die Menschen zu retten vergaß?

All dem eifrigen Wirken und fröhlichen Gedeihen sollte plötzlich ein Ende gemacht werden. Marianne und Jenny erkrankten an jenem seltsamen Landesübel, dem Weichselzopf. Die Ärzte nehmen noch heute an, daß diese Verwirrung der Haare zu einem dicken unauflöslichen Ballen und die damit zusammenhängende körperliche Schwäche auf Schmutz und Vernachlässigung zurückzuführen ist. Nun gab es ringsum keine schöneren, gepflegteren Kinder als die der Gustedts; die Mägde des Hauses sprachen angesichts ihrer Erkrankung von Hexerei; man wollte, wie im Märchen von Schneewittchen, von einer Landstreicherin wissen, die den Kindern eine vergiftete Frucht gereicht habe, aus Rache dafür, weil man ihr Kind im Rettungshaus untergebracht und ihr zwangsweise genommen hatte. Der Arzt ordnete bei Mariannen, bei der das Übel am stärksten auftrat, das Abschneiden der Haare an. Trotz der Warnungen einiger Bauernfrauen, die bei der einheimischen Bevölkerung in weit höherem Ansehen standen als der Doktor und behaupteten, daß gerade die Haare die Krankheitsstoffe aus dem Körper zögen, griff Jenny kurz entschlossen selbst zur Schere. Nach drei Tagen lag ihr holdseliges Töchterlein zum ewigen Schlaf auf der Bahre.

Es scheint, als ob die Türe nur einmal vom Unglück geöffnet zu werden braucht, um auch sein ganzes großes Gefolge hereinzulassen. Der schwergeprüften Mutter, die ihr blühend schönes, fast erwachsenes Kind, das begabteste von allen, sich von der Seite gerissen sah, blieb keine Zeit, ihrem Schmerz sich hinzugeben.

»Du hast von meinen schweren und harten Prüfungen gehört«, schrieb sie im Herbst 1854 an Wilhelmine Froriep, »Du weißt, wie eine Mutter fühlt, obgleich Du nicht die trübe Nachhaltigkeit kennst, die der Verlust eines geliebten, fast erwachsenen Kindes für das Mutterherz hat; andere auch recht schmerzliche Schicksalsschläge folgten diesem Unglück, – der verflossene Winter war eine Reihenfolge der sorgenvollsten Tage durch die langwierige Krankheit meines Jennchen, und diesem Kummer folgte die schwere Krankheit Werners – aber Gottlob, er ist vorgestern ganz gesund von Karlsbad zurückgekehrt, und so bereue ich nicht die zweimonatliche Trennung, so schwer sie mir auch geworden ist. Jenny, ein sehr niedliches, frisches Mädchen hat ihren Weichselzopf glücklich überstanden, und ihre lockigen Goldhaare sind in alter Fülle zurückgekehrt. Mein Wernerchen hat auch Masern, Ziegenpeter und dgl. Kinderkrankheiten durchgemacht, und ich natürlich doppelt mit ihm, aber es sind doch mäßige Sorgen, die man auf der armen, so sorgenreichen Erde noch nicht schwer ins Gewicht fallen läßt; dazu bin ich viel, sehr viel allein, zu alt, um Freundschaften zu schließen, zu austauschbedürftig, um mir selbst zu genügen – was denn die Zeiten der Strohwitwerschaft recht grau macht.« Von Otto, dem ältesten, ihrem Sorgenkind, schrieb sie im selben Brief: »Er ist ein großer, schlanker Junge, eigentlich schon Jüngling, der als Freund neben mir steht, und so wie er unter fortwährendem Kränkeln doch groß, muskelstark und blühend wird, ein Reiter, Schwimmer, Turner, ein Dominierender bei Kriegen und Prügeln der Gymnasiasten, so entwickelt sich auch sein Charakter unter allen Anfechtungen der Sünde recht erfreulich; im Lernen bleibt er allerdings durch die vielen Krankheitsversäumnisse, trotz seines tadellosen Fleißes zurück, in der Charakterbildung ist er jedoch seinem Alter sehr voraus.« Die Eltern waren, des Gymnasiums wegen, genötigt gewesen, ihn in dem nahen Marienwerder in Pension zu geben. Der Vater hatte von der Trennung des Sohnes von der Mutter sehr viel erhofft, weil ihre liebevolle, nachsichtige Erziehung dem zu allen Jugendtorheiten geneigten Knaben nicht förderlich zu sein schien. Vor allem hatte er den Eindruck gewonnen, daß seine Kränklichkeit ihm vielfach nur ein willkommener Vorwand war, um sich dem Lernen zu entziehen, während Jenny von der Echtheit seiner Leiden überzeugt und immer geneigt war, ihn zu schützen und zu entschuldigen. So entwickelte sich in immer stärkerem Maße jener stille Kampf um die Erziehung des Kindes, der, mit so zarten Waffen er auch geführt wird, dem Eheleben so schwere Wunden schlägt: der Vater denkt an das Leben, für das der Sohn sich entwickeln soll, die Mutterliebe will ihn so lange wie möglich vor diesem Leben schützen.

Zunächst schien die Mutter recht behalten zu sollen; der an Freiheit und Selbständigkeit, an Liebe und Nachsicht gewöhnte Knabe empörte sich gegen die strenge Zucht der Pension und des Gymnasiums, die damals noch weit mehr als heute in der Individualität des Schülers nichts als eine verdammenswürdige Verletzung der vorgeschriebenen Ordnung sahen, und deren Ziel daher nicht ihre Entwicklung, sondern ihre Unterdrückung war. Otto Gustedt wurde relegiert. Daheim kam es zu bösen Auftritten, unter denen die Mutter weit nachhaltiger litt als das Kind. Hochmut und Faulheit warf der Vater ihm vor, wo Jenny die Berechtigung beleidigten Selbstgefühls und körperliche Schwäche zu sehen glaubte. Ihre Zärtlichkeit und Sorgfalt ihm gegenüber wuchs um so mehr, je härter ihn der Vater behandelte. »Das Spannen auf das Bett des Prokrustes, das man Erziehung nennt, war mir immer widerwärtig«, schrieb sie; »man soll der jungen Menschenpflanze eine Stütze geben, wie dem jungen Bäumchen, aber man soll sie nicht je nach Laune und Wunsch, wie die Gartenkünstler des 18. Jahrhunderts, zu allerlei künstlichen Gestalten beschneiden und zurechtstutzen.« Bei dieser an sich zweifellos richtigen Auffassung vergaß sie nur, was heute, wo sie zu allgemeinerer Geltung gelangte, fast stets vergessen wird: daß, wie der unbeschnittene Buchsbaum doch nicht zur hochragenden Buche wird, es auch Menschenpflänzchen gibt, die durch alle Freiheit und Entwicklung doch keine starken Individualitäten zu werden vermögen, die wie Lehm und Wachs erst durch die Hand des künstlerischen Erziehers Wesen und Form erhalten. Jennys Hand aber war weich: sie streichelte die Falten von der Stirn, sie zeigte ihren Kindern die großen und schönen Ziele und die Wege, die zu ihnen führen, wenn sie jedoch abseits gingen, so fehlte ihr zum Zurückziehen die Kraft. »Ich weiß, wie oft meine Augen und der Ton meiner Stimme um Verzeihung gebeten haben, wenn ich schalt, und dadurch wurde das Schelten fast wirkungslos«, schrieb sie später einmal. »Sie erzog ihre Kinder, wie man Genies erziehen müßte«, sagte eine alte Freundin von ihr, und wer damals den schönen, schlanken, fünfzehnjährigen Otto sah, aus dessen klassisch geschnittenen Zügen zwei Augen hervorstrahlten, die jeden gefangen nahmen, der mochte die Nachsicht der Mutter verstehen. War er ihr doch von allen ihren Kindern noch am meisten wesensverwandt: seine Güte, seine himmelstürmende Phantasie, die ihn auf immer neuen Wegen immer neuen Zukunftsträumen nachjagen ließ, verstand sie nicht nur zu genau, sie wußte auch aus eigener bitterer Lebenserfahrung, zu welch inneren Konflikten und harten Enttäuschungen sie ihn im Leben führen würden. Und Zukunfts- und Gegenwartsleiden vereint steigerten nur noch ihre sorgende Mutterliebe.

So glücklich ihre Ehe war, es fehlte nun nicht mehr an Bitternissen: wie sie zu schweigen gelernt hatte, wenn ihre politischen Anschauungen auseinandergingen, so schwieg sie angesichts der Angriffe des Gatten auf ihre Erziehungsprinzipien. Als trennendes Element, nicht als verbindendes, standen die Kinder zwischen ihnen. Gerade das glücklichste Eheleben wird selten von dieser Liebesprüfung verschont: die Zeit, da die Kinder sich zu Menschen entwickeln, ist immer die gefährlichste, und die harmonischste die, die ihr vorangeht und ihr folgt.

Da Werner Gustedt infolge seines Berufs viel abwesend sein mußte, war der Anlaß zu Differenzen zwischen den Gatten kein häufiger. Abends, wenn über dem runden Tisch die Lampe brannte und die Familie sich um ihn sammelte, plaudernd, lesend, mit Handarbeit beschäftigt, war immer Feierstunde; mit der Arbeit war das Arbeitskleid und die Arbeitsstimmung abgelegt, und der blitzende, summende Teekessel sah zufriedene Gesichter um sich und sang seine leise Melodie nur zur Begleitung frischer, froher Stimmen. »Wer keinen Sonntag hat und keinen Feierabend, der hat keine Familie.« Diese Worte aus Pücklers Briefen eines Verstorbenen finden sich in Jennys Abschriften doppelt unterstrichen. Oft, wenn der graue Alltag die Harmonie des Lebens zu zerstören drohte, stellte der Sonntag und der Abend sie wieder her. Dann wurden Bücher gemeinsam gelesen und besprochen und Gedanken, die sie anregten, wohl auch schriftlich fixiert, um Stoff zu neuer Unterhaltung zu geben. Carlyles »Helden und Heldenverehrung« – »diese Offenbarung von Wahrheit, Mut und Glauben der Menschenseele« –, Feuchterslebens »Diätetik der Seele« – »eines der klarsten, menschenfreundlichsten und überzeugendsten Bücher, die ich kenne« –, Moritz Arndts »Wandlungen mit dem Freiherrn von Stein«, Schleidens naturhistorische Vorträge, Moses Mendelssohns »Phädon« und eine Reihe kleinerer historischer und naturwissenschaftlicher Werke wurden bei der abendlichen Lektüre durchgenommen. Aus dem eben erschienenen Leben Goethes von Lewes las Jenny manche Teile vor; »diese höchst interessante Biographie«, schrieb sie in ihre Bücherliste, »ist leider voller falscher Tatsachen über Weimar, dabei mit wenig poetischer Befähigung geschrieben, aber durch tiefe, neue Auffassungen, viel philosophischen Sinn und viel Wahrheit in den geistigen Darstellungen und Urteilen wert, von jedem Deutschen gelesen zu werden.«

Seit der nahen Verbindung mit Frankreich fehlte es natürlich auch nicht an französischer Lektüre. Memoiren, Briefwechsel und historische Werke über Napoleon und seine Zeit spielten darin eine Hauptrolle. Neben den »Dictées de Ste. Hélène« findet sich die Bemerkung: »Welch ein Aufwand von Genie, Kraft, Fleiß, Urteil und Regierungskunst, um in St. Helena zu enden! Aber tragischer noch als das persönliche Ende ist das Ende des Werks – es stürzte zusammen wie ein Koloß ohne Fundament. Die alte Welt unter sich zu begraben, muß wohl schließlich Napoleons gottgewollte Aufgabe gewesen sein.« Louis Napoleons Thronbesteigung im Jahre 1852 erregte ihr Interesse für seine Person. Sie las seine »Napoleonischen Ideen«, nicht ohne bei ihnen die sarkastische Randbemerkung zu machen: »Ideen – ja, Napoleon – nein!« Wie manche der alten Bonapartisten, vermochte sie ein gewisses Mißtrauen, ja direkte Antipathie gegen ihn nicht zu überwinden, obwohl sie sich der neueinsetzenden napoleonischen Ära freute und auch, im Gegensatz zur allgemein herrschenden Meinung in Preußen, das Mittel des Staatsstreichs billigte, das sie eingeleitet hatte.

»Über den Staatsstreich von Louis Napoleon«, heißt es in einem Brief an Scheidler, »stimmen wir nicht überein: ich billige ihn, ohne mich jedoch für die Zukunft zu verbürgen. Durch den Stall des Augias mußte ein Strom geführt werden, während eine holländische Milchwirtschaft durch blanke Wassereimer gereinigt werden kann. Seit zwei Jahren steigerte sich in Frankreich eine nach und nach in alle Parteien übergegangene Sehnsucht nach dieser Ausmistung, mit anderen Worten nach einem Herrn . . . Frankreich kennt seine eigenen Zustände, deshalb die Riesenmajorität von sieben Millionen bei geheimer Abstimmung; ich dächte, dies schlüge alle Einwendungen, da der liberalste aller Grundsätze doch ist, daß ein Volk am besten selbst wissen muß, wo es der Schuh drückt. Ich kann Louis Napoleon auch nicht des Meineids schuldig finden, denn ein Eid hat nicht nur Worte, sondern auch einen Sinn. Wenn er überzeugt war, daß er es nicht mit den Vertretern des Volkes, sondern mit Parteimännern zu tun hatte, so war die Auflösung der Nationalversammlung gerechtfertigt. Dabei betone ich noch meine alte Ansicht, daß, strenggenommen, alle Menschen meineidig sind, weil keiner je gehalten hat und halten kann, was man in verkehrter Weise bei Einsegnungen, Trauungen, Taufen u. dgl. versprechen läßt. Die wahre, letzte Instanz des Menschenwertes liegt doch nur in seinem Charakter, in seinem ganzen Sein. Man müßte nie einen Eid auf die Zukunft ablegen, nur für den auf die Vergangenheit kann ein Mensch bürgen.«

Im dritten Jahre von Louis Napoleons Kaisertum – 1855 – als die unter dem Protektorate ihres Stiefbruders Napoleon stehende erste internationale Industrieausstellung in Paris stattfand, unternahm Jenny, diesmal in Begleitung ihres ältesten Sohnes, wieder die weite Reise, um Jerome und Pauline zu besuchen. Vater und Stiefbruder waren nun anerkannte kaiserliche Prinzen; ein glänzender Hof residierte wie einst in den Tuilerien; viele der Verwandten Jennys, lauter treue Bonapartisten, fand sie im Besitz von Rang und Würden; der junge Hof und die glänzende Ausstellung lockten Scharen hervorragender Ausländer nach Paris, die Monarchen von Portugal, England und Sardinien waren unter ihnen. Mehr noch als vor sechs Jahren war es der Mittelpunkt der Welt, in den Jenny sich versetzt fühlte. Aber leider findet sich kein Brief, der ihre persönlichen Eindrücke geschildert hätte. Nur einmal erwähnte sie ihre Reise, indem sie schrieb: »Der Pariser Aufenthalt hat mich sehr erfrischt. Ich finde die Sage vom Jungbrunnen darin bestätigt, daß wir, um innerlich jung zu bleiben – was für uns und noch mehr für unsere Kinder eine Lebensnotwendigkeit ist –, in den sprudelnden Quellen geistigen Lebens von Zeit zu Zeit untertauchen müssen, auch auf die Gefahr hin, dabei zuweilen in Schlamm zu treten.« Wie Schlamm erschien ihr die realistische Richtung in der Literatur, die während des zweiten Kaiserreichs die Romantik allmählich aus dem Felde schlug. »Um auf wirtschaftlichem und sittlichem Gebiet klar zu sehen und die bösen Schäden, die entstanden sind, mit richtigen Waffen zu bekämpfen, ist es notwendig, daß diese Zustände mit rücksichtsloser Wahrhaftigkeit geschildert werden«, schrieb sie an ihren Stiefbruder Gersdorff, »das ist jedoch Aufgabe der Wissenschaft. In das Bereich der Kunst, die uns über uns selbst erheben, uns begeistern und erfreuen soll, gehört dergleichen nicht.« Es ist wieder das Kind der Romantik, das sich hier ausspricht, dessen Geist an den märchenhaften Romanen und romanhaften Märchen der Fouqué und Tieck und Novalis sich entzückte. Ihr mußten auch die Neuromantiker Frankreichs verständlicher sein als die jungen Führer des Realismus, Alfred de Vigny zitierte sie häufig in ihren Sammelbüchern, Sainte-Beuves kulturgeschichtliche Bücher schätzte sie sehr hoch, während Mussets »Poesie der Verzweiflung nur für diejenigen zu ertragen ist, ja auch von ihnen genossen werden kann, die selbst noch nicht verzweifelten oder die Verzweiflung heroisch überwunden haben. Ich gehe, bei aller Anerkennung des großen Talents, Dichtungen wie den seinen gern aus dem Wege, weil sie mich bis zum körperlichen Schmerz martern«. Sehr merkwürdig für ihre Auffassungsweise ist ihre Stellung zu Stendhal und Balzac, in denen sie die Vorkämpfer des Realismus nicht zu erkennen schien. Nach zahlreichen Auszügen aus den Werken beider, die fast immer die Charakteristik der weiblichen Natur und ihre Schicksale zum Inhalt haben, schreibt sie: »Um ihrer Erkenntnis der weiblichen Seele willen, die nur dem Auge eines gottbegnadeten Künstlers möglich ist, verzeihe ich ihnen alle bittere Medizin, die sie zu schlucken geben und die auch der zu nehmen gezwungen ist, der ihrer gar nicht bedarf, also nichts davon hat als den widerwärtigen Geschmack. Wenn Balzac sagt: ›Fühlen, lieben, sich aufopfern, leiden wird immer der Text für das Leben der Frauen sein‹, und selbst seine unvergleichlichen Illustrationen dafür liefert, so hat er damit eine so starke Wahrheit ausgesprochen, daß alle Revolten einer George Sand und ihrer Gesinnungsfreunde wie Strohhalme daran zerbrechen werden. Sträubt Euch, so viel Ihr wollt, fordert Rechte und erringt sie, zerstört in blindem Fanatismus das feste Gebäude der Ehe, das Euch zwar einsperrt – und Eingesperrtsein ist oft ganz entsetzlich! – aber auch schützt, laßt auf Euren weichen Händen die harte Haut der Arbeit erstehen: fühlen, lieben, sich aufopfern und leiden wird nicht nur immer das gleiche Schicksal bleiben für Euch, je mehr Ihr ihm vielmehr entrinnen wollt, desto fester wird es seine Krallen in Eure blutenden Herzen schlagen.«

*

»Meinen Koffer mit Geistesnahrung für Jahre, mein Herz mit Abschiedsqualen und Dankbarkeitsfreuden gefüllt« – so kehrte Jenny von Paris und vom Elsaß, wo sie noch ihre Verwandten besucht hatte, nach Hause zurück. Doch nicht auf lange sollte sie sich der ländlichen Ruhe erfreuen. Werner Gustedt hatte sich in den preußischen Landtag wählen lassen, und wenn auch seine Frau nicht daran denken konnte, alljährlich auf Monate Haus und Kinder zu verlassen und mit ihm nach Berlin zu gehen, und es noch weniger für rätlich hielt, Tochter und Söhne wiederholt der ländlichen Ruhe und der Stetigkeit des Lernens zu entreißen, so wollte sie doch wenigstens einmal versuchen, den Winter mit der Familie in Berlin zuzubringen.

Welch ein Unterschied: das Paris, das sie eben verlassen hatte, wo das Leben kraftvoll pulsierte und das Kaisertum der Bonapartes, wie einst, aus den Flammen der Revolution siegreich emporzusteigen schien – jenes Kaisertum, von dem Gerlach in seinen Briefen an Bismarck schrieb, es sei die inkarnierte Revolution –, und das Berlin, in das sie eintrat, wo jede Lebensregung niedergeknüttelt wurde, und Hinkeldey, der allmächtige Polizeipräsident, seine Rute über eine Gesellschaft von Duckmäusern schwang – jenes Berlin, die inkarnierte Reaktion!

Die politische Stellung Werner Gustedts bestimmte seine und seiner Gattin gesellschaftliche Position: Offiziell schloß er sich keiner Partei an, ganz in Übereinstimmung mit den Ansichten Jennys, die an Scheidler schrieb: »Meiner Meinung nach kann ein Staatsmann, wenn er praktisch, rechtlich, vernünftig, für das Wohl des Volkes recht eifrig ist, keiner Partei angehören, weil er unter Umständen mit allen Parteien abwechselnd stimmen muß. Bei Gelehrten, die nur über Theorien wissenschaftlich streiten, ist es natürlich anders, die können sich freilich für eine Partei als die beste entscheiden, wo aber der Riegel des Möglichen vorgeschoben ist, den Sie so vollkommen anerkennen, kann man eben doch nur das Mögliche fordern, nur für das Mögliche Partei nehmen, mithin in jetziger Zeit alle drei Monate für etwas anderes. Gerade das Unterordnen der individuellen Meinung unter die Autorität eines Parteiführers ist es, was ich nicht für recht halte und weßhalb ich gewiß nie, wenn ich Staatsmann wäre, mit einer Partei gehen würde, außer natürlich in konkreten Fragen.« Als ausgesprochener Gegner des Manteuffelschen Regimes ging Werner Gustedt in den entscheidenden Fragen mit den Liberalen. Die persönliche Freundschaft Jennys mit der Prinzessin von Preußen kam hinzu, um das Gustedtsche Ehepaar vollends in die Kreise der Opposition zu führen, die durch einzelne ihrer Glieder, wie Bethmann-Hollweg – den Führer der sogenannten Gothaer –, Usedom und Pourtalès, stets in Verbindung mit der damals in Koblenz residierenden Prinzessin standen. Mehr als je gehörte ihr in dieser Zeit der Herrschaft der Dunkelmänner die wärmste Sympathie Jennys. Sie waren beide echte Kinder Weimars, und was Bismarck nicht aufhörte, der Prinzessin von Preußen zum Vorwurf zu machen: ihr Wurzeln in den großen Traditionen ihrer Jugend – das gereicht ihr, wie ihrer Freundin, zum Ruhm. Ihr Briefwechsel würde psychologisch und zeitgeschichtlich von größtem Werte sein, und nicht nur die Einheitlichkeit ihrer Anschauungen, auch der Einfluß, den sie aufeinander ausübten, würde dabei zutage treten. Gerade in der Reaktionszeit Preußens hatten die beiden Frauen viel Gemeinsames: ihre Bewunderung für England, ihre Abneigung gegen Rußland, ihr Wunsch nach Schaffung gründlicher, vor allem sozialer Reformen, ihre Versuche, mit den eigenen schwachen Kräften nach dieser Richtung tätig zu sein. »Das Jahr 1848«, berichtete Jenny, »war ihr, wie sie mir schrieb, verständlich und hätte ihrer Ansicht nach zu einem guten Ende führen müssen«, aber ihre Gegner – Bismarck an erster Stelle – hielten ihr weitherziges Verständnis auch für die Ansichten der Gegner nur zu oft für ein Einverständnis mit ihnen, so z. B. in bezug auf ihre Stellung zum Katholizismus und zum Judentum. »Sie hatte es sich zum Ziel gesetzt«, schrieb Jenny, »die Wunden, die die Politik schlug und schlagen mußte, mit der weichen Hand der Frau zu heilen, und auch das ist ihr vielfach zum Vorwurf gemacht worden. Immer wieder wollte sie zeigen, daß die Politik eines Menschen uns falsch, ja sogar verderblich erscheinen kann, ohne daß der Mensch selbst deshalb verdammenswert ist. So war ihr die Politik der katholischen Kirche widerwärtig, ohne daß sie sich deshalb von dem einzelnen Katholiken, dessen großen Charakter sie erkannt hatte, abgewandt hätte. Ebenso verachtete sie den jüdischen Geist, zog aber den einzelnen edlen Juden in ihre Nähe. Ähnlich war ihre Stellung England gegenüber; sie bewunderte rückhaltlos den freiheitlichen, großzügigen Geist seiner Politik, der seit Jahrhunderten so erzieherisch gewirkt hat, daß auch der einzelne Engländer ein Stück von ihm in sich trägt, aber sie verabscheute seine Unersättlichkeit, wenn es galt, sich fremde Länder anzueignen, und seine Grausamkeit in der Unterdrückung armer, wilder Volksstämme.« Ist das nicht, als ob Jenny sich selber schildert, und liegt der Wunsch nicht nahe, zu erfahren, von welcher der Freundinnen der bestimmende Einfluß ausging? Aber die Briefe Augustas sind verabredetermaßen zum größten Teil verbrannt worden, und die Briefe Jennys, die ein lebendiges Zeitbild gewesen sein müssen, ruhen, falls sie nicht auch dem Feuertode geweiht wurden, unerreichbar in den Schränken des kaiserlichen Hausarchivs.

Zur Zeit des Berliner Aufenthalts der Gustedts gaben sie der Prinzessin zweifellos auch den Eindruck wieder, den das dortige politische und gesellige Leben auf Jenny machte. Ein einziges Brieffragment, das sich unter ihren Papieren befindet, enthält folgende charakteristische Sätze: »Die Berliner Luft wirkt geradezu lähmend. Es ist, als ob der Geist Hinkeldeys sie so durchdringt, daß gar kein anderer daneben Platz hat. Was groß und gut und zukunftsfroh erschien, ist fort und hält sich im Hintergrund oder ist über das Alter lebendigen Wirkens hinaus, wie Bettina, wie Varnhagen, wie Alexander von Humboldt. Es kommt mir hier vor wie in einem Kinderzimmer, wo die strenge Gouvernante Ordnung gemacht hat: alles Spielzeug ist verschlossen – die Kinder können beim besten Willen nichts mehr entzwei machen. Aber ich fürchte, das Bild behält auch in seiner weiteren Entwicklung seine Gültigkeit: sie werden nun erst recht unzufrieden und unartig werden. Ich würde es auch, wenn ich hier zu leben verurteilt wäre.«

Alte Freunde, wie Fürst Pückler und Karl von Holtei, liebe Verwandte, wie der Schwager ihres Mannes, Graf Kleist-Nollendorf, und seine Frau, verscheuchten ihr die trüben Stunden, und ein schönes Bild, das Peter Cornelius' begabter, leider jung verstorbener Schüler Strauch von ihren Kindern malte, wurde der schönste Gewinn ihres Aufenthaltes. Das Motiv dazu gab sie ihm: Christi Wort »Lasset die Kindlein zu mir kommen«: unter einem Palmenbaum sitzt er selbst, Diana, das Erstverstorbene, in weißem Hemdchen, weiße Rosen auf dem Kopf, ihm auf den Knien; die tote, schöne Marianne, gleich gekleidet, neben sich, während die drei anderen weiter entfernt, in den bunten Gewändern des Lebens sich ihm nähern. Zu den Köpfen der Verstorbenen hatte Jenny die Skizzen entworfen.

Kurz vor ihrer Abreise von Berlin schrieb sie einem Freunde: »Können Sie sich vorstellen, daß ich mich nach den von Ihnen oft verhöhnten barbarischen Gefilden Westpreußens wie nach dem gelobten Lande der Freiheit sehne?! Machte der unhaltbare Zustand Preußens, der bei der merkwürdigen Geistesart des Königs, seinem Sprunghaften, Phantastischen, Unberechenbaren, nur immer unhaltbarer werden wird, mich nicht aufrichtig traurig, ich würde mich der nahen Abreise rückhaltlos freuen.« Das »natürliche, gesunde, heiter-tätige Leben« trat wieder in seine Rechte, es stellte aber auch immer höhere Anforderungen an die Mutter wie an die Gutsherrin. »Viele Mütter atmen erleichtert auf«, schrieb Jenny, »wenn die Kinder der Schule entwachsen, dann, meinen sie, sind die Sorgen vorbei. In Wirklichkeit aber wachsen sie nur mit den Kindern. Oder ist es nicht viel leichter, ein Kind zu pflegen, das die Masern hat, als eines Kindes Seele gesund zu machen, die die bösen Miasmen der Welt zu vergiften begannen? Und ist es nicht viel einfacher, ihm das Einmaleins beizubringen als die einzige Wahrheit, daß Freiheit von der Sünde die Freiheit an sich ist?«

Otto, ihr Sorgenkind, der es mit nahezu sechzehn Jahren mühsam bis Untersekunda gebracht hatte, weil nach der Mutter Wort: »seine schwankende Gesundheit und sein schlechtes Gedächtnis ihm das Lernen erschweren«, sollte auf die landwirtschaftliche Schule nach Jena kommen, um alle Zeit und alle Kräfte seinem künftigen Beruf als Landwirt zu widmen. »Aber« – – so fährt Jenny in ihrem Bericht an eine Freundin fort – »die stille Schmach, die in Preußen auf denen ruht, die nicht das Abiturientenexamen gemacht haben, hat das Gewicht nach Werners Wunsch hinsinken lassen. Seit seinem Abgang von Marienwerder, den ich nicht weiter berühre, da ich denke, Sie haben durch Emma und meine Schwester die fatale Geschichte, die uns nun seit acht Monaten peinigt, hinreichend erfahren, ist er hier von unserem lieben herrlichen Prediger unterrichtet und eingesegnet worden. Diese Feier war, durch die, ich kann sagen, heilige Persönlichkeit des Predigers, so schön, wie ich sie nie erlebt habe.«

Eine Feier in Haus und Herzen, wie sie wenige so gut zu gestalten verstanden wie Ottos gütige Mutter, war der Einsegnungstag gewesen. Alle Arbeit hatte geruht, dunkle Tannenzweige und leuchtendes Herbstlaub hatten das Haus mit Duft und Glanz erfüllt, und stolz und voll Hoffnung sahen die Augen der Mutter auf den nunmehr erwachsenen Sohn. In das Tagebuch, das sie ihm zur Eintragung seiner Gedanken und Erfahrungen, schenkte, hatte sie als Richtschnur für sein Leben folgendes geschrieben:

»Am Tage, der Dich aus der Kindheit entläßt, sei das erste Wort der Mutter an Dein Herz das Wort der höchsten, reinsten Liebe, sei die Lehre Christi von der Menschenliebe; der Geist des Herrn gebe meiner Rede Licht und Kraft, daß sie in Deine innerste Seele dringe, daß sie Dich erfülle, Dein ganzes Sein durchglühe, Dich gegen Undank, Irrtum und Bosheit stähle, daß Du befähigt werdest, zu lieben und zu helfen, nur um der Liebe willen, ohne Wunsch oder Hoffnung auf Dank und Lohn, daß Du erkennen mögest, wie alles eitel ist, was nicht aus dem reinen Quell der Liebe entspringt, daß Du es klar in Deinem Herzen lesen mögest, das einzige höchste Gesetz, das Gott mit glänzenden Buchstaben aufgezeichnet hat, das alle guten Geister in tausend Chören an seinem Throne singen: Liebe deinen Nächsten als dich selbst.

Ich gebe Dir, mein Sohn, als einziges Studium Deines Lebens, als einzige Aufgabe vom ersten Erwachen Deiner Seele bis zu dem letzten Gedanken: die Erkenntnis und Ausübung der Liebe nach des Heilands Wort. Und Du mußt fleißig und tätig sein, wenn Du die heilige Aufgabe lösen willst, denn die Liebe verzweigt sich in alle Fälligkeiten, in alle geistige Erkenntnis, in alles Wissen, in alle Verhältnisse, in alle Taten der Menschen. Du mußt vor allem Dich erkennen und vergessen lernen, denn aus dem Mittelpunkte Deiner Seele, aus den Triebfedern, die Du darin entdeckst, entspringt die Erkenntnis und Nachsicht für andere Seelen, und nur im Vergessen Deiner selbst, im Aufopfern von Vergnügen, Bequemlichkeiten, weltlichen Vorteilen, sobald sie in Widerspruch mit der Menschenliebe stehen, sproßt der göttliche Keim der wahren Liebe. Ihr erstes Erfordernis ist, daß Du Dich ganz in die Lage, in die Empfindungen, in die Denkungsweise Deines Nächsten zu versetzen lernst, darum mußt Du die Mühe der Beobachtung nicht scheuen, darum mußt Du den Standpunkt kennenlernen, aus dem die fremde Seele fühlt, denkt und handelt, darum mußt Du Dich mit dem Leben in allen seinen Formen bekannt machen, darum mußt Du jede äußere Erscheinung genau prüfen und die Sitten und Ansichten aller Stände kennenlernen; Du mußt klar sehen in den tausend verschiedenen Verhältnissen, die Zeit und Umstände, Weisheit und Irrtum so bunt gestaltet haben, um weder durch Härte noch durch falsches Mitleid Fehlgriffe in dem Werke der Menschenliebe zu tun . . .

Mußt Du auch ruhig den Kontrasten der geselligen Verhältnisse zusehen, so hüte Dich, daß Du die Grenze genau erkennen mögest, wo Armut in Mangel und Einfachheit in Bedürftigkeit übergeht, hüte Dich vor dem Urteil der Bequemlichkeit so vieler Reichen, welche sagen: Die Leute wissen es nicht besser, sie sind einmal daran gewöhnt. Man gewöhnt sich nicht an Frost und Hunger, an Erschöpfung und Krankheit, man gewöhnt sich nicht an die dumpfe Einförmigkeit täglicher Sorge und freudeloser Arbeit; eine Mutter gewöhnt sich niemals daran, ihr Kind Mangel leiden zu sehen, und immer bleibt die Stimme der Natur wach, welche dem Leidenden zuruft: ›So sollte es nicht sein‹, bis daß seine Seele von der Sorge zur Bitterkeit, von der Bitterkeit zum Unrecht, vom Unrecht zum Verbrechen übergeht, und ist es erst so weit gekommen, so tritt die strenge, unabwendbare Macht der Gesetze ein, die als Selbstschutz der Gesellschaft das Verbrechen strafen muß, ohne auf dessen Quelle zurückzugehen; aber der heilige Beruf der Liebe ist es, unermüdlich in dem ganzen Kreise, der uns zum Wirken angewiesen ist, diese Quellen zu erspähen und zu verstehen.

Alles Unglück sucht die Liebe auf und tilgt es, wenn sie die Macht dazu hat. Wo Du gebietest, muß die Liebe herrschen und die Gerechtigkeit; daß Du aber die Mittel dazu behältst und Deine Liebe nicht in Schwäche ausarte, darum lerne Welt und Menschen kennen. Was Dir zunächst liegt, lerne zuerst, gehe mit Deinen Untergebenen selbst um, suche sie zu durchschauen, begegne ihnen mild, ernst, konsequent und menschenfreundlich. Nicht Deine Macht muß Dich als ihren Vorgesetzten zeigen, Deine Seele muß das Übergewicht behaupten, Du mußt ihr Herr im Geiste sein, Du mußt es sein in Christi Sinn, und Undank, Tadel und Unvernunft müssen Dich unangefochten lassen in Deinem Werke der Menschenliebe, in Deinem Glauben an das Gute.

Darum, mein Sohn, läutere erst Deine eigene Seele. Um Gutes zu stiften, mußt Du gut sein, um zu herrschen, mußt Du Dich selbst beherrschen, keine Launen dürfen Dich herabwürdigen, sie reizen die Pfiffigkeit, die Schmeichelei deiner Untergebenen, die auf Deinen Edelmut, nicht auf deine Schwächen bauen müssen. Wenn der Arme mehr zu tragen hat, so hat der Reiche mehr zu tun. Wem viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert werden.

Das, mein Sohn, ist Christentum; keine Religion der Gefühlsseligkeit, der Schwärmerei, der Wortgefechte, sondern eine Religion der Tat, der lebendigen Liebe.«

An eine Freundin richtete Jenny kurz nach Ottos Einsegnung folgenden Brief: ». . . Ich bin mir bewußt, ihm das Beste gegeben zu haben, was ich fühle, glaube und denke, und werde und will es ihm weiter geben, wenn es sein müßte bis zur Selbstauflösung. Ich bin auch überzeugt, daß er alles bereitwillig aufnahm, daß die beste Absicht ihn beherrscht und daß er, wenn keine zu schweren Anforderungen an seinen Körper und an seinen Geist gestellt werden, ein tüchtiger Mensch werden wird. Aber mich überfällt oft die quälende Sorge, daß er zu denen nicht gehört, die großen Schmerzen, großen Pflichten, großen Verführungen gewachsen sind, und das Rätsel der angeborenen Anlage mit all seinem Gefolge an Zweifeln und Qualen steigt dann drohend vor mir auf.« Eine wehmütige Resignation klingt aus diesen Worten, jene schmerzlichste, zu der ein enttäuschtes Mutterherz sich durchringt: daß das geliebte Kind nicht dem Bilde entspricht, das die Mutter von ihm entwarf. Alle Enttäuschungen des eigenen Lebens wiegen leicht für ein Weib, das die eigenen unerfüllten Wünsche und Hoffnungen auf ihr Kind übertragen kann. Mit ihm ist es noch einmal jung und geht mit starkem Vertrauen die alten Wege des Lebens wieder, überzeugt, daß sie nun zum Ziele führen müssen. Eine geheimnisvolle Stimme aus den unergründlichen Tiefen ihres Innern raunt ihr zu, daß die Wunden, die ihr das Leben schlug, nur darum so zahlreich waren, so schmerzten und so bluteten, weil sie die ihrem Kinde bestimmten Leiden mit auf sich nahm. Und als ein Glück empfindet sie dann ihr Unglück. Über spitze Steine mußte ich gehen und glühendes Eisen, sagt sie zu sich selbst, um mein Kind unverletzt auf meinen Schultern hinüberzutragen; von den Dornen am Weg mußte ich die Haut mir zerreißen lassen, aber auf starken, hocherhobenen Armen halte ich mein Kind, damit es ohne Schaden das Ziel erreiche.

»Da Gott nicht überall sein kann, schuf er die Mütter«, heißt es in Jennys Sammelbuch. »Aber wehe der Mutter, die die Machtlosigkeit ihrer Gottesvertretung langsam begreifen lernt und sieht, daß ihr Blutopfer umsonst war. Nur die Kraft eines Glaubens, der Berge des Leids zu versetzen vermag, und der Quell der Hoffnung, der in stets gleicher Stärke sprudelt, ob er auch schon tausendmal dem Verdurstenden das Leben retten mußte, vermögen über die furchtbarste Offenbarung des Lebens hinwegzuhelfen. Jenny besaß jenen Glauben, aber ihre Hoffnung war wasserarm, sie schien nur zu oft im Sande der Sorge zu versiegen. Da war es der lebenskräftige Gatte mit seinem gesunden Optimismus, der sie immer wieder den trüben Vorstellungen entriß und sie über ihre traurige Wahrheit hinwegtäuschte, und wo es ihm nicht gelang, da war es die Arbeit, die sie davon befreite.

»Wir wissen im Augenblick nicht, wo wir zuerst Hand anlegen sollen; das Elend der uns umgebenden Menschen, Cholera, Kälte, Hunger, Teuerung lasten schwer auf uns und ihnen, und es ist doch im ganzen nur sehr kärgliche Hilfe möglich, am meisten noch durch Suppenanstalten, und diese bemühen wir uns in den Städten des Kreises einzuführen. Daneben suche ich die Kinder in unser großes, warmes Haus zu retten und freue mich ihrer Fröhlichkeit, die besser ist als aller Dank . . . Ich schreibe im Angesichte einer Rechenstunde von sechs kleinen Knaben, die eine Art Schule bei mir bilden und neben meiner Jenny, die eine französische Übersetzung macht, – wenn ich also einen uneleganten Brief in Stil und Ausstattung schreibe, so halte es mir zugute«, schrieb sie im Jahre 1856 an Emma Froriep und äußerte ungefähr zu gleicher Zeit ihrer Schwester Cecile Beust gegenüber: »Es ist mir jetzt erschreckend deutlich geworden, welch großen Vorzugs wir uns in unserer Arbeit erfreuen: Wir müssen alle Gedanken auf sie verwenden, und werden daher gezwungen, sie von unseren Kümmernissen abzulenken. Sieh dagegen einen Tagelöhner oder einen Scherenschleifer: der eine mäht die Wiese und der andere schleift die Messer, ohne daß ihm diese Wohltat wird, seine Gedanken können sich nach wie vor um die kranke Frau, um die hungrigen Kinder, um den kommenden Winter, um den leeren Beutel drehen . . .« – –

Eine lange Periode der Schweigsamkeit beginnt mit dem Jahre 1859, nicht nur, weil die etwa geschriebenen Briefe unerreichbar blieben, sondern wohl auch, weil unter der Folge von Ereignissen ihrer nicht viele geschrieben wurden. Die befreiende Gabe, sich auch im tiefsten Leid aussprechen zu können, kommt vor allem der Jugend zu, die noch an den Trost und die Hilfe der Freunde glaubt und glauben kann. Je älter man wird, um so einsamer wird man; die persönliche Atmosphäre der eigenen Lebenserfahrungen entfernt den einen von dem anderen, je dichter sie uns umschließt. Ein jeder wird eine Welt für sich mit ihren eigenen Gesetzen.

Jenny Gustedts ältester Sohn war inzwischen, nachdem er zur Empörung seines Vaters das Abiturientenexamen nicht gemacht hatte, auf die landwirtschaftliche Schule gekommen.

Mitten im Studium erwachte in ihm die Passion für die militärische Laufbahn mit solcher Gewalt, daß er die Eltern vermochte, ihr nachzugeben, und als er im schmucken Schnürenrock des Danziger Husaren zum erstenmal wieder nach Rosenberg kam, war er so strahlend vor Glück und bot ein so bezauberndes Bild junger, schöner Ritterlichkeit, daß es wirklich schien, er habe endgültig gefunden, was seinem Wesen entsprach. Mit Leib und Seele war er Soldat, ein tollkühner Reiter, ein unermüdlicher Tänzer, ein verwöhnter Liebling der Damen. Seine kecken Streiche wurden bald zum Stadtgespräch; als er einmal auf Grund einer Wette während der Vorstellung zu Pferde in einer Loge des Theaters erschienen war, kam er zur Strafe in eine kleine Garnison. Trotzdem war er bei jedem Ball in Danzig und morgens pünktlich in der Reitbahn bei den Rekruten: er ritt nach Danzig und setzte sich, heiß vom Tanz, wieder aufs Pferd, um in den eisigen Winternächten, so rasch der Gaul ihn trug, die Garnison zu erreichen. Pochend auf seine Jugendkraft, rücksichtslos vergeudend, was für ein ganzes Leben reichen sollte, schlürfte er in vollen Zügen den süßen, perlenden Wein sorglosen, liebe- und lusterfüllten Daseins. Die Mutter zitterte bei jeder Nachricht von ihm und wagte doch dem Gatten ihre Angst nicht zu zeigen, weil sie wußte, wie ungeduldig ihre ahnungsvollen Sorgen ihn machten, weil sie fürchtete, ihn, der gerade anfing, mit dem Sohn zufrieden zu sein, vielleicht unnötigerweise zu reizen. Wie gerne wollte sie unrecht haben, und doch gab ihr die Zukunft recht. Otto brach vollkommen zusammen, so vollkommen, daß es schien, als würde er für immer dem bunten Rock entsagen müssen. In der aufopfernden Pflege der Mutter genas er nach und nach. Kaum, daß sie aufzuatmen wagte, kamen beunruhigende Nachrichten aus Paris: das Alter, das Jerome bisher nichts anzuhaben schien, überwältigte ihn nun mit doppelter Schnelligkeit, und in der Ahnung des nahen Endes wünschte er sehnlich Tochter und Enkel noch einmal wiederzusehen. Jenny entschloß sich mit den drei Kindern zur Reise nach Frankreich und verlebte ein paar stille Sommerwochen bei dem geliebten Vater auf dem Lande, überzeugt davon, daß es das letzte Zusammenleben sein würde. Kaum ein halbes Jahr später – Juni 1860 – wurde der jüngste der Brüder Napoleons zu Grabe getragen, und die Kuppel des Invalidendoms, die sich über den sterblichen Resten des Welteroberers wölbte, wölbte sich nun auch über ihm. Aber während Hunderte und Tausende noch immer zum Sarge des Kaisers wallfahrten und trotz all der Wunden, die er schlug, trotz all des Lebens, das er zertrat, in Ehrfurcht bewundernd das Haupt vor dem Toten entblößen, werfen sie kaum einen Blick auf das Grabmal Jeromes – der Schatten des Gewaltigen warf seinen dunklen Schleier auch noch über den Toten. Nur seine Kinder weinten um ihn, und unter ihnen wohl keine so heiß wie Dianens Töchter.

Was Jenny so sehr gewünscht hatte: dem Vater die letzte Ehre zu erweisen, war unerfüllt geblieben, denn seine Todesnachricht traf sie mitten in der Auflösung ihrer ländlichen Häuslichkeit: Werner Gustedt hatte die Wahl zum Landrat des Halberstädter Kreises angenommen. Seit alten Zeiten hatte ein Mitglied der Familie Gustedt diese Vertrauensstellung innegehabt, so auch sein 1860 verstorbener ältester Bruder, und die Tradition war eine so festgewurzelte, daß die Kreisstände ihn wählten, obwohl die meisten ihrer Mitglieder ihn zum erstenmal gesehen hatten, als er, eben von Preußen kommend, sich noch im Reisepelz an das offene Grab des Bruders stellte. Die trüben Ahnungen tapfer überwindend, in Gedanken an die guten Seiten einer Übersiedlung in die Stadt, in die nächste Nähe der Verwandten, besonders im Interesse der Kinder, unterwarf sich Jenny widerspruchslos der Entscheidung des Gatten. In dreiundzwanzig Jahren hatte sie sich durch Kampf und Arbeit, durch Freud und Leid im fernen Osten die Heimat erworben; die lebenden Kinder, die ihr entsprossen waren, die toten, die sie ihr wieder hatte zurückgeben müssen, fesselten sie an diesen stillen trauten Winkel. In ihm begrub sie zum Abschied ihre Jugend. Aber wenn sie auch einst gekommen war mit rosigen Wangen und dem leichten Schritt jugendlicher Freude und nun ging, blaß und schmal, zögernden Fußes, als ob der Boden ihn festhalten wollte: ihre dunklen Augen leuchteten strahlender als einst, und ihre reine Schönheit verleugnete ihre fünfzig Jahre.

Ein großes, schönes Haus in grünem Garten nahm Gustedts in Halberstadt auf, mit offenen Armen und Herzen kamen ihnen die vielen Verwandten entgegen, deren Güter in der Nähe waren und die den Winter in der Stadt zuzubringen pflegten. Die liebliche, eben erblühte Tochter war des neuen Heimes Schmuck und wurde die stärkste Anziehungskraft für die Jugend des Städtchens. Ein neues, fröhliches Leben trat an Stelle des alten, stillen; das gastliche Haus des neuen Landrats, in dem mit ihrer Vornehmheit seine gütige, geistvolle Gattin eine Atmosphäre von Behagen verbreitete, wurde zum Mittelpunkt der Geselligkeit, das reizende Töchterchen das umworbenste Mädchen der Gesellschaft. Unter den 7. Kürassieren war manch ein Offizier mit altpreußischem Namen, der sie gern für sich erobert hätte und auch die Gunst des Vaters gewann. Jenny selbst enthielt sich jeden Einflusses, nur das Herz der Tochter sollte entscheiden. Und es entschied rasch genug: auf einen Infanterieleutnant, von dessen Familie kaum jemand viel wußte, der nur ein kleines Vermögen besaß und in der Gesellschaft keine große Rolle spielte, weil er besser zu unterhalten als zu tanzen verstand, fiel ihre Wahl. Als er zum erstenmal in Helm und Waffenrock vor den alten Gustedt trat, ihn um die Hand der Tochter bittend, wurde er schroff zurückgewiesen, und Jenny mußte auf längere Zeit Halberstadt verlassen, um sich die Liebe zu Hans von Kretschman womöglich aus dem Sinn zu schlagen. In Begleitung ihres ältesten Bruders trat sie eine Verwandtenreise nach dem Elsaß an, wobei die jungen Leute es sich wohl sein ließen: die Schwester in der Zuversicht, ihr Ziel doch zu erreichen, der Bruder im Vollgefühl der wiedergewonnenen Gesundheit.

Auf dem Schloß der Familie Bussières, deren weibliches Haupt, eine geborene Türckheim, Jennys rechte Cousine und alte Pensionsfreundin war, trafen sie eine Schar fröhlicher Vettern und Cousinen. Die eine von ihnen eroberte im Sturm Ottos leicht zu entflammendes Herz, und die Geschwister kehrten nach Halberstadt zurück, die Schwester ihrer Liebe nur noch sicherer, der Bruder entschlossen, die seine zu verteidigen. Er fand unerwarteten Widerstand bei seiner Mutter: seine Jugend, die ihm fehlende Lebensstellung, seine Kränklichkeit, vor allem aber die nahe Verwandtschaft des jungen Paares waren für sie Gründe genug, sich mit allen Kräften gegen die Verbindung zu sträuben. Aber trotz der Unterstützung, die sie bei ihrem Manne und bei ihrer Cousine, der Mutter des jungen, von Otto geliebten Mädchens, fand, unterlagen alle Gründe und Erwägungen der Vernunft der Liebesleidenschaft des Sohnes. Im Jahre 1863 fand die Hochzeit des jungen Paares statt, das zunächst nach Straßburg übersiedelte. Und kaum ein Jahr später hatten Kretschmans Energie und Jennys Treue den Widerstand des Vaters gebrochen, und den alten Dom von Halberstadt füllte eine glänzende, frohe Hochzeitsgesellschaft.

Als auch die Tochter das elterliche Haus verlassen hatte und nur noch der Jüngstgeborene übriggeblieben war – wie einsam erschien es da der Mutter! Sie wußte ihre Kinder glücklich in ihrem selbstgewählten Los, sie wußte von sich, daß ihre Liebe durch keine Spur von Selbstsucht vergiftet war, und doch konnte sie so recht nicht froh werden. Ihr fehlte auch die Arbeit, alles Vertiefen in ihre Bücher bot ihr keinen Ersatz. Nur Jeromes Memoiren, die um jene Zeit anfingen zu erscheinen und aus denen ihres Vaters Bild ihr lebendig entgegentrat, vermochten sie von der Gegenwart abzulenken. »Sie enthalten nicht nur«, so schrieb sie, »äußerst wichtige historische Tatsachen, sie geben vor allem den richtigsten wahren Abglanz seines Wesens, Wollens, seines Charakters und seiner Liebenswürdigkeit.« Mit ihrem Mann begann sie wieder die gemeinsame abendliche Lektüre, aber zu einem stillen Einleben in die neue Art des Daseins schien es nicht kommen zu wollen. Eine innere Unruhe trieb Werner Gustedt hin und her, ließ ihn sich auf der einen Seite wieder in politische Angelegenheiten mischen, während ihn die Reiselust andererseits in die Ferne trieb. Eines schönen Morgens packte er denn auch seinen Koffer und fuhr trotz der Sommerhitze über Italien nach Algier. Zu Beginn des Herbstes, als Hans von Kretschman im Manöver sein mußte, traf Jenny in Heringsdorf mit der Tochter zusammen. Am 10. September 1864 schrieb sie von dort aus an ihren eben heimgekehrten Gatten:

»Mein lieber Werner!

Einen schriftlichen Gruß sollst Du wenigstens finden, wenn Du an unseren lieben häuslichen Herd zurückkehrst, wo ich Dir so gerne entgegenkäme, ich halte aber mich und meine Jenny gewaltsam hier fest . . . Meine Meerpassion wurzelt immer tiefer im Herzen, in den Nerven und in der Phantasie, obwohl ich immer schlecht schlafe. Am Tage aber fühle ich mich leicht an Körper und Geist. Wald und Umgegend erinnern an unser geliebtes Garden ohne Meer, und ich träume mich oft um zwanzig Jahre zurück! . . . Leben, Licht, Friede, Größe, Ewigkeit, Wechsel bei der göttlichen Ruhe des stillen Meeres und dann das majestätische Losdonnern des Sturmes wie der Zorn Gottes, und das geduldige Tragen der kleinen Schiffchen, wie das Tragen des kleinen Menschen durch die göttliche Liebe – es ist zu wunderbar schön und mit nichts auf der Welt zu vergleichen! Hätte ich meine Lieben alle um mich, ich möchte nie von hier fort. So aber werde ich gerne abreisen . . . Habe ich Jennchens Wohnung in Magdeburg eingerichtet, wo sie, so Gott will, im nächsten Sommer als glückliche Mutter hausen wird, dann setze ich, vereinsamte Mutter, mich zu meinem lieben alten Mann. Lebe wohl, mein guter, lieber Werner, ich hoffe, das Zuhause wird Dir doch wieder recht sein.«

»Beantwortet am 12. September«, steht von Gustedts Hand auf dem Briefe vermerkt. Es war der letzte, den er erhalten hat. Am 30. September war er tot. Still und starr in ihrem Schmerz, mechanisch verrichtend, was für sie zu tun war, ohne Anteilnahme für alles, was um sie her vorging – so sahen die Kinder ihre Mutter, wie sie sie noch nie gesehen hatten. Nicht nur der Gatte war tot, nein auch in ihr war etwas gestorben: ihm hatte sie sich in Liebe hingegeben, ihm hatte sie nicht nur jene banale Treue des geschriebenen Rechts, sondern die Treue der Seele unverbrüchlich gehalten, ihm hatte sie sich untergeordnet, wenn beider Willen nicht zu vereinigen war, ihm hatte sie vieles geopfert, was ihr Leben reicher und glücklicher hätte machen können, und gerade darum war es ein Stück ihrer selbst, das mit ihm starb. Die Opfer, die sie ihm bringt, verbinden das Weib dem Manne viel stärker als die Freuden, die sie von ihm empfängt, und je mehr sie sich hingibt, desto furchtbarer ist die Leere, die sein Tod hinterläßt.

Folgender Brief Jennys an Wilhelmine Froriep, die ihren Mann auch verloren hatte, gibt den Zustand ihrer Seele am besten wieder:

»Halberstadt, den 16. Oktober 1864.

Mein liebes teures Minele!

Was ich damals zu verstehen glaubte, verstehe ich erst jetzt – Deinen Schmerz. Daß Du nach Jahren noch Tränen hast, ist die Erleichterung, um die ich Dich jetzt beneide; seitdem der geliebte Sarg meinen Augen entschwunden ist, kann ich selten weinen, und es ist mir, als versteinere etwas in mir. Nur dafür kann ich Gott nicht genug danken, daß er mir Frieden gibt, Frieden in mir, Frieden in der Erinnerung – Frieden im Gedanken an meinen Werner, dessen heiliges teures Totenbett von lauter lieblichen Bildern und Gefühlen umgeben war. – Gottlob, daß ich ihn pflegen, lieben, bedienen konnte bis zuletzt! Seine Krankheit lag eigentlich zwischen zwei Reisen für mich – ich kam eben von Heringsdorf und wollte im November zu Otto und meiner lieben Schwiegertochter nach Straßburg, wo sie ihre erste Entbindung erwartet. Mein armer Otto mußte den bittern Kelch des ›zu spät‹ ohne sein Verschulden leeren; am Sonnabend früh um halb ein Uhr war sein lieber Vater entschlafen, und am Abend um sieben Uhr kam er an. – Die andern Kinder standen um sein Bett; mich traf sein letzter Blick, ich hatte dreizehn Stunden um, mit, durch ihn gelebt, ohne von mir selbst etwas zu wissen – vorher glaubte ich an keine Gefahr. Wie Du weißt, meine Minele, gehört der Rest meines Lebens meinen Kindern, wenn ich aber übersehe, daß ich nur noch wenige Jahre Arbeit für sie habe, denke ich: wann wird mich der Herr in Frieden abrufen –? Wie gern beschloß ich mein Leben in Weimar, aber meiner Kinder Schicksal will sich da nicht einschichten lassen, und so weiß ich jetzt noch nicht wohin. Mein liebes Jennchen und ihr vortrefflicher Mann nehmen meinen Sohn Werner in Leitung und Obhut – ihr Beruf ist, oft umherzuziehen, Otto hat noch keine feste Häuslichkeit, so daß ich wirklich nicht sagen kann, wo ich wieder eine finden werde . . .«

»Ich muß mich selbst erst wieder finden«, heißt es in einem anderen Brief aus Straßburg, wo sie zwei Monate später der Niederkunft ihrer Schwiegertochter entgegensah, »muß Vergangenes und Gegenwärtiges mit dem Zukünftigen zu verknüpfen suchen, muß lernen, allein zu sein. Wer sich so lang und so fest wie ich auf den Arm des Lebensgefährten stützte, den überfällt ein Gefühl des Schwindels, wenn er plötzlich selbständig vorschreiten soll. Ich brauche Stille und weiß, daß ich sie nirgends sicherer finde als bei meiner lieben Nonne, zu der ich von hier aus reise, und bei der ich bleibe, bis meine Tochter mich braucht . . .«

Als die schwere Türe der Deersheimer Familiengruft sich hinter Werner Gustedts Sarg geschlossen hatte, schien auch das Leben hinter ihr leise die Türe zuzuziehen. An ein neues, das Wert und Inhalt für sie haben konnte, glaubte sie nicht mehr. Zu intensiv hatte sie für Mann und Kinder gelebt – er war tot, sie gingen ihre eigenen Wege – sie vermochte nicht zu begreifen, daß sie für sich selbst noch zu leben vermöchte.

An einem grauen Januartag klopfte eine schwarz verschleierte Frau an die Pforte des stillen Klosters in der brausenden Weltstadt Paris. Keine der Jungfrauen, die hier um Einlaß gebeten hatten, um eine Zuflucht wider die Verführungen und Schmerzen der Welt zu finden, war so voller Sehnsucht nach Ruhe hierhergekommen wie diese Frau, in deren Seele und in deren Herzen Ehe und Mutterschaft ihre unvergänglichen Zeichen hinterlassen hatten. Weit öffnete sich ihr die Pforte, unhörbar schloß sie sich hinter ihr.

 


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