Lily Braun
Im Schatten der Titanen
Lily Braun

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Freundschaft und Liebe

Jerome Napoleon

Die Zeit, in die Jennys Jugend fiel, pflegt heute als die des Biedermeiertums bezeichnet zu werden, und der moderne Gebildete, dessen prätentiöser Geisteshochmut jeden Zweifel an seiner tiefgründigen Kenntnis aller Dinge für verdammenswerte Majestätsbeleidigung erklärt, stellt sich darunter eine Periode geruhigen, geistesarmen Philistertums vor, eine ereignislose Pause inmitten der beiden Akte der Welttragödie: Napoleon und 1848. Redselige Gefühlsergüsse, die Pfeife und die geblümte Kaffeetasse sind, so meint er, ihre Symbole. Wer aber unter dem Einfluß dieser allgemein verbreiteten Auffassung in der Geschichte der Menschheitsentwicklung nach dieser Pause sucht – sehnsüchtig sucht vielleicht, wie der vom Lärm der Großstadt Umtoste nach einem stillen, grünen Winkel –, der mag die Jahresblätter noch so oft hin und her wenden, er findet sie nicht. Und vor dem, was er findet, löst sich das Bild der guten alten Zeit auf wie ein Traum am Morgen.

Nationale Kämpfe erschütterten Europa. Der Freiheitskampf der Griechen begeisterte die Jugend, der der Polen stempelte sie wieder zu bewunderten Märtyrern; die Magyaren und die Italiener rangen um ihr Volkstum. Unterirdisch und doch für alle schon fühlbar grollte der durch die Metternichsche Zuchthauspolitik erregte Zorn des Bürgertums. Politische Attentate in ungewöhnlich großer Zahl wurden zu Verkündern der Revolution der Zukunft. Und die trotz aller Beschränkung der Preßfreiheit sich rasch ausbreitende Tagespresse begann in das stille Heim des Bürgers den Strom des öffentlichen Lebens zu leiten und wurde zum Sprachrohr nicht nur der Unterdrücker, sondern auch der langsam zur Manneskraft reifenden liberalen Ideen. Daneben aber entwickelte sich mit der zunehmenden Zahl der zum Himmel ragenden Fabrikschlote, mit der wachsenden Herrschaft der Maschinen etwas Neues, nie Dagewesenes: das Selbstbewußtsein der in den Höllen der Industriemagnaten zusammengezwängten Massen. In England und Frankreich griffen sie zum erstenmal zur Selbsthilfe der Arbeitseinstellung, und gegenüber dem allgemeinen Elend fingen soziale Ideale an, Hirn und Herz der Denker und Dichter zu erobern. St. Simons Sozialismus ward vielen zur neuen Religion, von der sie die Erlösung der Welt erwarteten.

Doch das wachsende Interesse für politische und soziale Fragen nahm den geistig belebten und empfänglichen Teil der Bevölkerung nicht in dem Maße in Anspruch, daß Kunst und Wissenschaft darüber zu kurz gekommen wären. Die Tatsache, daß deutsche Gelehrte – Vertreter jenes Typus weltfremder Stubenweisheit – ihre stille Studierstube verließen und auf die große Bühne des politischen Kampfes traten, trug mit dazu bei, daß auch die Ergebnisse ihrer Forschungen über den engen Kreis der Fachgelehrsamkeit hinaus mehr und mehr in die Köpfe der Laien drangen. Aber von noch größerer Bedeutung als sie war die Kunst für das geistige Leben der Gesellschaft. Je älter der letzte der Klassiker wurde, desto lebendiger wurden er und seine Zeitgenossen, die Schiller, Herder, Wieland, für das gebildete Deutschland. Und die Romantiker mit dem Zauber ihrer weltentrückenden Phantasie, dem funkelnden Glanz ihrer Sprache machten ihnen den Rang vielfach streitig. Mit ihnen wetteiferten um Ruhm und Gunst die glänzenden Sterne am Dichterhimmel des Auslandes – Scott, Dickens, Shelley, Lamartine, George Sand, Balzac, Hugo –, während die Vertreter des jungen Deutschlands schon anfingen, der Romantik den Krieg zu erklären.

Da das Berufsleben den Bürger noch nicht in jenes Prokrustesbett fesselte, das ihn heute nur zu oft zu geistiger Verkrüppelung zwingt, und seine Frauen und Töchter die Befreiung aus innerer oder äußerer Not noch nicht in der Lohnarbeit zu suchen brauchten, so gab es in ihrem Familienkreise die schöne Ruhe, die geistiges Genießen ermöglicht. Eine andere Voraussetzung mußte allerdings noch hinzukommen, damit dieser kostbare Besitz nicht in gedankenlosem Zeitvertreib verschwendet werde: der Seelenhunger nach intellektueller Speise, die Sehnsucht nach Nahrung für das Gemüt. Hatten die Kämpfe der Zeit die Männer mehr und mehr aus dem lethargischen Schlaf geweckt, in den ein behaglich-einförmiges Leben so leicht zu versinken vermag, so hatten die Ideen des St. Simonismus, die geistige Vorkämpferschaft einer Staël und einer George Sand in Verbindung mit dem Einfluß der das weibliche Geschlecht auf das Piedestal geistiger Ebenbürtigkeit erhebenden Romantiker, die alte Überzeugung von der Minderwertigkeit der Frauen in ihren Grundfesten erschüttert und ihnen die Augen geöffnet für die Bedürfnisse ihres eigenen Wesens. Es war nur natürlich, daß ihre plötzliche Befreiung aus den Fesseln alter Sitten und Vorurteile sie auf der einen Seite zu einem Mißbrauch der noch unverstandenen Freiheit, einem kecken Hinwegsetzen über alle Hindernisse führen mußte, und auf der anderen, nach der bisherigen gewaltsamen Unterdrückung, ein überschäumender Ausbruch der Gefühle sich geltend machte. Nachdem die sturmbewegten Wogen sich aber geglättet hatten, blieb als nicht zu überschätzender Gewinn die lebendige Anteilnahme der Frauen am geistigen Leben, die freie Entfaltung ihrer Empfindung und ihrer Fähigkeiten zurück. Der geistige Einfluß einer Rahel, die soziale Wirksamkeit einer Bettina, der erste deutsche Frauenrechtskampf einer Luise Otto-Peters sind demselben Boden entsprungen wie der phantastische Selbstmord einer Charlotte Stieglitz, die Liebesrasereien einer Hahn-Hahn.

»Still und bewegt«, dieses schöne, von Rahel geprägte Wort war das Motto der Biedermeierzeit: still das tägliche Leben des einzelnen, still das Heim, ruhig das Zimmer mit seinen Mullvorhängen und geradlinigen Möbeln; der Geist aber und das Herz bewegt vom eigenen Denken und Fühlen und von dem der großen Welt.

Weimar war während der zwölf Jahre, die Jenny von Pappenheim als erwachsenes Mädchen dort lebte, wie ein Brennpunkt der Zeit. Hier hatte die Klassik der Romantik in ihren besten Vertretern die Hand gereicht, hier strömte alles zusammen, was geistige Bedeutung besaß, und wer von den Führern intellektuellen und künstlerischen Schaffens nicht persönlich kam, um einmal eine Luft mit dem Größten zu atmen – als einen Segen fürs Leben –, der wurde doch durch seine Werke den meisten vertraut. Angehörige aller Nationen kamen, brachten ihre Interessen mit und die Kunde von ihrem Heimatland. So waren denn die engeren und weiteren Kreise, die sich um Goethe zogen, in ihrer Mannigfaltigkeit bunt wie ein Regenbogen und vielfach wechselnd wie ein Wellenspiel. Je älter Goethe wurde, desto ausgedehnter wurde die Völkerwanderung. Aus England besonders, wo es damals zum guten Ton gehörte, die Sprache Goethes sprechen zu können, kamen zahlreiche Gäste.

Die jungen Mädchen Weimars sahen sie besonders gern, denn die Fremden waren meist reiche, unabhängige junge Leute, nur gekommen, um Goethe zu sehen, Deutsch zu lernen und sich zu amüsieren. Keinerlei Berufsarbeit zog sie von ihren literarischen und anderen Interessen ab, keinerlei Ermüdung durch des Tages Arbeit hinderte sie am Genuß der Geselligkeit. Zu jeder Zeit konnten sie sich den Damen widmen, der einheimischen männlichen Jugend waren sie daher stets ein Dorn im Auge. Alfred von Pappenheim, der seine Halbschwester Jenny zärtlich liebte und vor seinem Eintritt in russische Kriegsdienste in Weimar lebte, auch auf Urlaub oft dorthin zurückkehrte, konnte selbst in seinen Briefen seinen Ärger über die Engländer, die die »ersten Liebhaberrollen spielen«, nicht unterdrücken, und Karl von Holtei, ein häufiger, beliebter Gast in Weimar, sekundierte ihm dabei, indem er schrieb: »Zum erstenmal in meinem Leben wünsch' ich ein Engländer zu sein, wenigstens immer so lange, als ich in Weimar bin, denn

Weimar an der Ilm ist eine Stadt,
Schön, weil sie so viel Schönheiten hat,
Alle Fremden sind wohlgelitten,
Vorzüglich die Briten.«

Der Einfluß der Engländer, unter denen sich manch einer befand, der später im künstlerischen oder politischen Leben eine Rolle spielen sollte, war unverkennbar: das Interesse für englische Literatur, das sie erregten, stieg bis zur Schwärmerei. In den verschiedenen geselligen Kreisen war die gemeinsame Lektüre interessanter Literaturerscheinungen allgemein üblich. Sie regte zu ernsten Gesprächen an und trug dazu bei, daß zu oberflächlicher Unterhaltung und seichtem Tagesklatsch wenig Neigung blieb. Englische Bücher – Lord Byron vor allem und Walter Scott, die beide Goethes höchste Anerkennung gefunden hatten – wurden besonders gern gelesen. Aber auch die französische Literatur wurde nicht vernachlässigt. Graf Alfred Vaudreuil und seine schöne Frau Luise, der französische Gesandte am Weimarer Hof, und Graf Karl Reinhard, sein Attaché, der Sohn des uns aus Jeromes Geschichte bekannten Reinhard, sorgten dafür, daß sie der Weimarer Gesellschaft vertraut wurde, und Jennys französische Beziehungen, die besonders durch ihre Korrespondenz mit den Türckheims und mit Graf Eduard Waldner aufrechterhalten blieben, machten sie selbst zur geeigneten Mittelsperson für Frankreichs geistiges Leben, das in den Namen eines Chateaubriand, Lamartine, Balzac, George Sand, Victor Hugo kulminierte. Galt das Interesse der Jugend hauptsächlich der schönen Literatur, so wurde durch die häufigen Besuche berühmter Gelehrter in Weimar, durch die von Maria Paulowna eingeführten literarischen Abende am Hof, wo von ihnen oder von den stets geladenen Jenaer Professoren Vorlesungen gehalten wurden, auch für die wissenschaftliche Bildung und Aufklärung gesorgt.

In einem anderen geselligen Zirkel, der sich im Hause Johanna Schopenhauers zusammenfand, waren es die politischen Fragen, die am häufigsten erörtert wurden. »Es wehte eine eigentümliche Luft in diesen Räumen«, erzählte Jenny von Pappenheim in Erinnerung an sie, »die von der Luft Weimars verschieden war. Man atmete, man bewegte sich freier als bei Hofe, weniger frei als bei Ottilie. Die Interessen, die uns hier zusammenführten, waren mehr geistige als Herzensinteressen; der Kreis, in dem die Unterhaltung sich bewegte, umschloß nicht nur die Literatur, sondern auch jede Art der Wissenschaft; selbst die sonst unter uns verpönte Politik, der wir mit ziemlicher Gleichgültigkeit begegneten, fand hier Beachtung. Johanna Schopenhauer hatte eine unvergleichliche Art, sich selbst in den Hintergrund zu stellen und trotzdem, wie mit unsichtbaren Fäden, die Geister in Bewegung zu erhalten. Oft schien sie selbst kaum an der Unterhaltung teilzunehmen, und doch hatte ein hingeworfenes Wort von ihr sie angeregt; ein ebensolches belebte sie, sobald sie ins Stocken zu geraten schien. Ihre Tochter Adele, meine sehr liebe, wiewohl bedeutend ältere Freundin, war in anderer Art als die Mutter, aber doch auch ein belebendes Element dieses Kreises. Ihre Leidenschaftlichkeit riß sie oft über die Grenzen der geselligen Unterhaltung hin. Ihre Empfindungen waren von verzehrender Glut und ein Hauptgrund ihrer vielfachen körperlichen Leiden. Von Natur reich begabt, fehlte ihr die Kraft, sich zu beschränken, so daß sie weder ihr poetisches, noch ihr künstlerisches Talent zu Bedeutendem ausbildete. Goethes eindringliches Wort: ›Beschränkung ist überall unser Los‹, wollte sie nicht verstehen, daher das Gefühl des Unbefriedigtseins dauernd auf ihr lastete. Vollkommen und tadellos war ihre Geschicklichkeit im Silhouettenschneiden. Sie illustrierte einmal ein Märchen, das Tieck vorgelesen hatte, und zwar während er las, mit einer Feinheit und poetischen Auffassung, die deutlich zeigten, was sie hätte leisten können, wenn sie die Ausdauer gehabt hätte, zeichnen und malen zu lernen. Durchaus verschieden von Mutter und Schwester zeigte sich Arthur Schopenhauer, der, so selten er auch in Weimar war, doch oft genug erschien, um sich uns unsympatisch zu machen. Goethe verteidigte seine Persönlichkeit einmal ziemlich lebhaft. Er, der so innigen Anteil an dem Ergehen seiner Freunde nahm, sah ungern, wie das Zerwürfnis zwischen Johanna Schopenhauer und ihrem Sohne ständig zunahm und sein Einfluß machtlos dem gegenüberstand. Die Treue in der Freundschaft, die tätige Liebe zu den Kindern seiner Freunde ist immer einer seiner schönsten Charakterzüge gewesen, von dem die Schopenhauersche Familie das beste Zeugnis ablegen konnte. Er war ein häufiger Gast in deren Hause gewesen; nun, da er nicht mehr ausging, zog er Adele oft in seine Nähe, der Mutter so am besten seine Dankbarkeit für ihre Gastfreundschaft, ihren anregenden Umgang beweisend.

Ein ständiger Besucher ihrer Teeabende war Dr. Stephan Schütze, eine sehr beliebte, originelle Persönlichkeit. Er hielt sich bescheiden zurück, sprach nicht viel, aber dann mit liebenswürdigem, trockenem Humor, der auch in seinen Gedichten, die er uns häufig vorlas, Ausdruck fand. Vorlesen, Vorsingen, Vorzeigen eigener oder gesammelter Kunstwerke machte überhaupt unsre damalige Geselligkeit zu einer so belebten. Man wetteiferte darin, man hatte einen aufmerksamen, geschärften Blick für alle Vorkommnisse inneren und äußeren Lebens und teilte anderen die eigenen Beobachtungen und Erfahrungen rückhaltlos mit. Daß sie sich nicht auf die engen Grenzen Weimars beschränkten, daß uns auch für das politische Leben der Blick geöffnet wurde, war mit das Verdienst Johanna Schopenhauers.«

Diese vielfachen Anregungen sollten aber auch in verschiedenster Weise fruchtbar werden, zu eigener Fortbildung und selbständiger Tätigkeit anregen, und es war wieder Goethe, der dies Bestreben nach jeder Richtung eifrig unterstützte. An der Zeitschrift »Chaos«, die nur für einen abgegrenzten Teil naher Bekannter erschien, nahm er regen Anteil. Jenny, die sich darin in Versen – englischen, französischen und deutschen – und in Prosa oft vernehmen ließ, erzählt von ihr:

»Ihre Gründung war ebenso originell wie sie selbst. Wir saßen ziemlich einsilbig bei Ottilie im Mansardenstübchen, Emma Froriep, Hofrat Soret, Mr. Parry und ich. Eckermann, den sein Herr und Meister eben losgelassen hatte, kam ebenfalls hinauf und sah betrübt aus dem Fenster.

»Es regnet«, sagte er.

»It rains!« wiederholte Parry.

»Il pleut!« lachte Soret.

Ottilie, ärgerlich über diese animierte Unterhaltung, schlug vor, irgend etwas zu erfinden, um die einschlafende Gesellschaft wieder aufzurütteln. Nach langem Hin- und Herreden wurde ein »Musenverein« feierlich gegründet. Er sollte regelmäßig zusammenkommen und dichtend, singend, malend den Musen dienen. Goethe aber sollte unser Oberhaupt, unser Apollo sein; davon wollte er jedoch nichts wissen, und der Musenverein als solcher kam nur noch einmal zusammen, um dann dem »Chaos« Platz zu machen, das nun während fast zweier Jahre im Mittelpunkt unseres Interesses stand.Meinen Artikel »Weimars Gesellschaft und das Chaos« in Westermanns Monatsheften 1893. Es war ein geselliger Zeitvertreib, weckte, förderte Interessen, Talente und Talentchen und hinderte wertlose Klatsch-Konversationen, war also in Goethes Sinn. Ottilie, Dr. Froriep, Soret und Parry redigierten das »Chaos« mit vielem Takt und großer Verschwiegenheit. Es erschien jeden Sonnabend, man fand Herzensergießungen in drei Sprachen, riet, hoffte verstanden zu werden, hatte Stoff zu angenehmen Gedanken und Unterhaltungen; es war ein anmutiges Spiel. August Goethe, Karl von Holtei, der den ersten Prolog für sie geschrieben, und Felix Mendelssohn, Goethes David, waren unsere eifrigsten Mitarbeiter; Mendelssohn verfaßte einige allerliebste Verse dafür, sandte auch später einen Reisebrief aus Schaffhausen und mystifizierte uns, indem er, sich hinter dem Namen einer Dame versteckend, eine Warnungspredigt vor Weimars Gefahren einschickte. Sein immer sehr harmloser Zorn richtete sich gern gegen die Engländer, besonders gegen Mr. Robinson, den er stets nach seinem Freytag frug. Ganz besondere Freude bereitete uns Mendelssohn mit seinen Kompositionen einzelner Chaoslieder. Eins derselben ist fast zum Volkslied geworden und hat mich immer gerührt, wenn ich es hörte.Unter dem »Volkslied« ist das bekannte »Lieblingsplätzchen« gemeint, das nicht, wie Mendelssohn in der Komposition angibt, dem »Wunderhorn« entnommen ist, sondern dem »Chaos« Nr. 41. Als Verfasserin wird »Friederike« angegeben, das Pseudonym für Bettina. Im zweiten Jahrgang unserer Zeitung erschienen drei Briefe Mendelssohns,Es handelt sich nur um einen Brief vom 28. August 1831 (siehe Goethe-Jahrbuch XII. 1891), den Goethe unter dem Titel »Berner Oberland« im »Chaos« veröffentlichte. die dieser an Goethe geschrieben hatte. Die Briefe seiner Freunde, die Goethe an Ottilien zuweilen zum Zweck der Veröffentlichung gab, wurden von ihm erst einer genauen Revision unterworfen; er strich Unnötiges, kürzte die Sätze und änderte oft noch den ersten Druck. Ebenso verfuhr er mit Gedichten, die ihm in die Hände fielen. Er vernichtete oft über die Hälfte der Strophen; waren die Verse gar zu schlecht, so schüttelte er nur bedenklich den Kopf, brummte »hm, hm« oder »nu, nu« und legte sie beiseite. Von den Erzeugnissen unserer dilettantischen Muse, die er zurechtgestutzt hatte, pflegte Ottilie scherzend zu sagen: »Wir haben sie durch das Fegefeuer geschickt.«

Nach zwei Jahren des Bestehens unserer Zeitschrift mischten sich Neugier und Eitelkeit auch auswärtiger Kreise hinein, und da wurde sie so seicht, daß es eine Art Erlösung war, als der sehr kluge Irländer Goff daneben ein englisches »Creation« erscheinen ließ, dem ein französisches »Création« von Soret folgte.«

An Goethes Geburtstag, dem 28. August 1829, war das erste Blatt der Zeitschrift erschienen. Sie enthielt außer einigen Beiträgen von Goethe selbst solche von Riemer und Knebel, Fouqué und Chamisso, von Johann Dietrich Gries, dem geistvollen Übersetzer des Tasso, des Ariost und des Calderon, von Eckermann und August Goethe, von Adele Schopenhauer, von den reizenden Schwesternpaaren Egloffstein und Spiegel. Von Sulpice Boisserée wurde ein Brief an Goethe über das Oberammergauer Passionsspiel veröffentlicht, worüber Goethe ihm selbst Mitteilung machte: »Ihre anmutige Beschreibung der traditionellen Aufführung eines geistlichen Dramas ist sogleich in dem Abgrund der chaotischen Verwirrung verschlungen worden.« Auch Zelter schickte einen Bericht über Berliner Theaterereignisse, und Bettina von Arnim sandte zierliche Reime. Unter den Ausländern treten die jungen Engländer als Mitarbeiter besonders hervor: Lord Loveson Gower, Charles des Voeux, Samuel Naylor brachten Übersetzungen Goethescher Verse in ihrer Muttersprache, der Irländer Goff, der schließlich auf dem Grabe seines geliebten Kindes starb, nachdem er zehn Jahre lang jeden Winter nach Weimar gekommen war, um eine Nacht auf dem Kirchhof zuzubringen, sandte phantastische Träumereien, und W. M. Thackeray, der schon als ganz junger Mann nach Weimar kam, stellte hie und da schüchtern sein noch unbekanntes Talent in den Dienst des »Chaos«. Zur Erinnerung an ihn, der in Jennys noch vorhandenem Album durch einige seiner hübschen Zeichnungen vertreten ist, schrieb Jenny später: »Thackerays ›Vanity fair‹ rief mir wieder lebhaft den liebenswürdigen Verfasser ins Gedächtnis zurück, der ein so treuer Freund meines väterlichen Hauses war; sein treffender Humor, sein weiches Herz sprechen sich in jedem seiner Werke aus. Er war hauptsächlich in Weimar, um sein eminentes Zeichentalent zu entwickeln. Während wir um den Teetisch saßen und sprachen, zeichnete er die humoristischsten Szenen. Sich selbst zeichnete er in einer Minute und fing immer beim Fuß an, ohne die Feder abzusetzen, daneben pflegte er einen kleinen Gassenjungen hinzustellen, der ihn verspottete, da er einen durch Boxen eingeschlagenen Nasenknochen hatte. Sonst sah er gut aus, hatte schöne Augen, volles, lockiges Haar und war ziemlich groß. Er gehörte zu den beliebtesten Engländern, die sich in Weimar länger aufhielten, und deren gab es genug.«

Einer ihrer leidenschaftlichsten Verehrer, Prinz Elim Metschersky, Attaché der russischen Gesandtschaft, schrieb in Prosa und Poesie für das »Chaos« und widmete der Angebeteten, nicht zu Erobernden, darin folgendes Gedicht:

L'éclat de ton regard aurait trop ébloui
Si la nuit ne l'avait recouvert de son voile;
Il a la clair-obscur du jour évanoui,
Il a le feu brillant, le feu vif de l'étoile.

Le génie et l'esprit unis au sentiment
Voulurent tour à tour qu'il fut leur interprête,
La lyre exprime ainsi par son frémissement
Chaque sensation de l'âme du poète.

Er war es auch, der auf seine Bemerkung, daß man in Weimar nicht zu tanzen verstünde, von Jenny die Antwort erhielt: »Wir vergessen zu tanzen, aber die einzige Ursache ist: zu angeregte Unterhaltungen. Fragen Sie die bösen Zungen nach unserem schlimmsten Fehler, und sie werden Ihnen antworten: zu angeregte Unterhaltungen. Und um Ihnen zu beweisen, daß es nicht die Damen allein sind, die sprechen, sei Ihnen verraten, daß sie alle Englisch gelernt haben durch zu angeregte Unterhaltungen.« Durch seine Behauptung, »daß die deutschen Mädchen von sechzehn Jahren mit ebensolcher Sicherheit von der Liebe sprechen wie die Französinnen im gleichen Alter von ihren Puppen«, führte Metschersky einen anderen lebhaften Meinungsaustausch herbei. Die Antwort Ottiliens darauf ist so bezeichnend für die damalige Gemüts- und Geistesatmosphäre Weimars, daß sie wiedergegeben zu werden verdient. Sie schrieb:

»Über jede Empfindung sprechen wir uns mit Klarheit und Offenheit aus. Wäre Weimar ein Ort, wo man wenig Fremde sieht, oder diese sich doch in einem großen Zirkel verteilen könnten, wir würden, wie es Sitte und Gewohnheit verlangt, die ganze Stufenleiter, die man mit einem Fremden durchzumachen hat, von der ersten Frage an: Sie sind zum erstenmal in Weimar? bis zu all den Gesprächen über Theater und Wetter, durchkämpfen; doch da die verschiedensten Länder uns ihre Bewohner senden, so haben wir uns alle stillschweigend entschlossen, die entsetzliche Kette der Langenweile, die uns auf die hergebrachte Weise täglich und stündlich drücken würde, abzuwerfen und, nachdem wir die erste Phrase als Abfindungsquantum bezahlt, dann ruhig in unserer Weise fortzufahren, als wäre kein Fremder zugegen. – – Worin besteht denn der Unterschied sich fremd oder einheimisch fühlen? Doch nur darin, daß man den alten Bekannten mit Vertrauen und ohne Zeremonie entgegenkommt, also tut und spricht, als könnte man nicht mißverstanden werden; während man den Fremden eigentlich immer in anderen Orten mit einer Axt behandelt, die doch eigentlich nichts wie ein höflich gezeigtes Mißtrauen ist.

Sie loben den Enthusiasmus, den wir für unsere Dichter empfinden, und die Sorgfalt, mit der wir ihre unsterblichen Werke in unserer Seele aufnehmen. Doch ich frage Sie, was ist mehr das Eigentum des Dichters, als das gelobte Land der Liebe, als all die Wunderquellen, die ihm entspringen, sie mögen nun Namen tragen, wie sie wollen. Die Frauen verstehen sich überhaupt schlecht auf das Sondern, im Gegenteil, sie suchen alle Empfindungen zu verketten, und Liebe, Poesie, Ruhm, Vaterland, das alles bildet für sie eine elektrische Kette, von der man nur ein Glied zu berühren braucht, und es erzittert die ganze Reihe. So ist es auch mit ihrem Wissen und Verstehen aller Dinge, sie suchen stets den Teil davon zu erfassen, der es an eine Empfindung anschließt. Nehmen Sie uns die Empfindung oder vielmehr das Recht, sie zu zeigen, schneiden Sie uns von unseren Dichtern ab, und wir werden wie die Pariserinnen genötigt sein, zu witzeln und über Mode, Equipage und dergleichen zu reden; erlauben Sie Ihren Frauen, Frauen zu sein, das heißt ein Herz zu haben, und sie werden uns an Liebenswürdigkeit übertreffen, weil ihre angeborene Heiterkeit nur gemildert werden würde, während bei uns das Gefühl oft so despotisch das Übergewicht erhält, daß jede Eigenschaft des Geistes dadurch unterdrückt und gänzlich untüchtig für die Geselligkeit gemacht wird. – Man verspottet die Chinesinnen, daß sie in der frühesten Jugend die Füße ihrer Töchter in so enge Bande schnüren, daß dadurch der Fuß nie seine natürliche Form erhält, zum eigentlichen Gebrauch untauglich wird und sie durch das Leben schwanken. Doch mich deucht, nach Ihrer Schilderung, daß die französischen Mütter dasselbe Experiment mit ihren Töchtern vornehmen, nur mit dem Unterschied, daß sie statt des Fußes das Herz dazu wählen – und am Ende ist doch ein verkrüppelter Fuß besser als ein verkrüppeltes Herz.«

Wer heute die vergilbten Blätter des »Chaos« zur Hand nimmt, dem wird die ganze Zeit lebendig: wieviel Geist und Wissen, wieviel mehr noch Schwärmerei und Leidenschaft! Selbst das Lächeln glänzt nur zwischen Tränen, und in den poetischen Liebesgrüßen, die hin und her gewechselt wurden, herrscht weniger die Seligkeit als das Leid der Liebe.

Auch Jennys Herz, das achtzehnjährige, liebte zum erstenmal; es war nicht jenes wild aufflackernde, strahlende und rasch wieder erlöschende Feuerwerk, dem die erste Liebe junger Menschen gleichzusehen pflegt, es war die verzehrende Flamme heißer Liebesglut, die sie ergriffen hatte. Sie ist niemals ganz erloschen, und noch im späten Alter muß sie still auf dem Altar der verborgenen Herzenskammer gebrannt haben, denn junger Liebe, für die andere meist ein mitleidig-spöttisches Lächeln übrighatten, begegnete die Greisin mit tiefster, fast mit ehrfürchtiger Teilnahme. Und nie kam der Name dessen, dem ihr Herz gehört hatte, über ihre Lippen. So weiß ich nur, daß er ein Engländer war, daß sie sich ihm, den ein schweres Lungenleiden nach dem Süden trieb, gegen den Willen der Eltern heimlich verlobte und durch Ottiliens Unterstützung mit ihm in Verbindung blieb, bis er im Jahre 1834 in Korfu einsam gestorben ist. Die Schwermut, die alles beherrscht, was sie in diesen fünf Jahren sehnsüchtiger und sorgenvoller Liebe geschrieben hat, ihre Unnahbarkeit für die Bewerbungen derer, die ihr Herz an sie verloren hatten, ihre Abneigung gegen die gewohnten Freuden der Jugend sprachen für die Tiefe ihrer Empfindung. Was an den Geliebten erinnerte, hat sie vernichtet; vielleicht zeugt dieses Opfer aller Liebeszeichen von größerer Pietät, als wenn sie sie bewahrt und damit vor den Händen und den Blicken Gleichgültiger nicht geschützt hätte. Nur diese zwei Gedichte, die sie unter dem Eindruck ihres Schmerzes schrieb, und eine Erinnerung an das Haus Goethes, von dem ihres Lebens Inhalt in Glück und Leid ausging, sind erhalten geblieben:

        Menschenschicksal

Jüngst sah ich im Vorübergehn
Vor einem goldnen Gitter
Ein lieblich Kindchen rüttelnd stehen,
Im Herzen Ungewitter.

»Die goldnen Ketten fesseln mich,
Die goldnen Stäbe bannen,
Die goldnen Wände drücken mich,
Ich möcht', ich möcht' von dannen!«

Und was erreicht sein wild Bemühn?
Hat es sich losgerungen?
Zog es ins Weite stark und kühn?
Ist Großes ihm gelungen?

Am goldnen Gitter steht das Kind,
Schaut bleich ins Weltenrund,
Nur daß die Händchen blutig sind
Und Stirn und Füße wund.

 
        Ein Leichenbegängnis

Ich grabe im Herzen ein tiefes Grab
Und senke den bleichen Freund hinab,
Und decke es zu mit Tränen und Weh,
Damit kein Fremder es jemals säh!

Es tritt die Erinnerung leis hinzu,
Sie singet milde den Freund zur Ruh
Und baut im Herzen ein Monument,
Darauf eine ewige Lampe brennt.

Tief in der Nacht dann schleich ich hin
Und grabe mit treuem, liebendem Sinn
Ein Lebewohl auf den Grabesstein
Und ein Wiedersehen auf die Lampe ein!

». . . Ich stieg jene breite klassische Treppe empor, die meine Schritte schon so oft durchmessen hatten – mit fünfzehn Jahren, als ich im runden Hut, im Pensionskleid und grünen Spenzer mit kindlicher Erregung und jugendlichem Enthusiasmus an der Seite meiner Mutter hinaufging, um zum ersten Male den Nestor, den Herkules des deutschen Parnassus zu besuchen; mein Herz grüßte ihn mit jener heiligen Ehrfurcht, die uns die Arme über der Brust kreuzen läßt, mit jener vertrauenden Zärtlichkeit, die voll Hingebung einen Vater in dem erhabenen Greis mit den weißen Haaren, mit der Jupiterstirn findet; mit sechzehn Jahren ging ich denselben Weg, um mein Püppchen (Alma von Goethe) zu finden, ein reizendes Kind, das ich wickeln und umhertragen durfte; später wurde seine Mutter meine Freundin. Mit wieviel verschiedenen Gemütsbewegungen betraten meine Füße diese Stufen! Sie fühlten den leichten Schritt des jungen Mädchens, das, zum Fest geschmückt, nur dem Gedanken an das Vergnügen nachhängt, jenem Gedanken, der die Füße beflügelt und die runden Wangen abwechselnd weiß und rosig färbt; sie fühlten denselben Tritt, unsicher und zögernd vor Hoffnung und Furcht wegen einer möglichen Begegnung, die das Herz nicht mehr ganz gleichgültig ließ, und wenn die Füße wieder langsam die Stufen hinuntergingen, hätten sie fühlen müssen, ob andere sie begleiteten und oft für ein Wort, für einen Blick stillstanden, oder ob das junge Mädchen enttäuscht und allein, fast gedankenlos den gewohnten Weg betrat. Während vieler trauriger Tage stieg ich empor, teils um zu trösten, teils um selbst getröstet zu werden, um zu klagen, um zu lernen, um Gewißheit zu erlangen über dunkle Gerüchte oder um manchmal an der Freude über gute Nachrichten teilzunehmen. Als Krankenpflegerin stieg ich empor wie als harmloser Besuch, als Geladene zu einer geistreichen Gesellschaft, die sich am Flügel oder um den runden Tisch mit seinen zwei Kerzen versammelte. Mit brennenden Wangen ging ich hinauf, getrieben vom wild pochenden Herzen, zurückgehalten von zitternden Knien – ich glaubte unter diesem Dach mein Glück, meine Zukunft zu finden; – dann, eines Tages, schritt ich dieselben Stufen abwärts; an einer Stelle hörte ich ein Wort, und das Wort hieß ›Lebewohl‹; und es war so mächtig, daß es sich den Mauern, der Treppe einprägte; und noch nach acht Jahren, wenn ich eintrat, schrien Mauern und Treppe mir dies Wort bis in die Tiefe des Herzens zu.«

Wie Jenny einmal von Goethe gesagt hatte, daß er zu denen gehöre, die ihre Größe mit dem »Pfahl im Fleisch« bezahlen müssen, so erging es ihr: jede seelische Erschütterung ergriff auch den Körper. Jener furchtbare Abschied, der wohl den Abschied fürs Leben schon ahnen ließ, schien sie aller Lebenskraft zu berauben, und da keiner der Weimarer Ärzte ihr helfen konnte, wandte sich ihre Mutter schließlich an Dr. Samuel Hahnemann, den Begründer der Homöopathie, der nach langem Wanderleben und Anfeindungen aller Art sich endlich in Köthen als Hofrat und Leibarzt des Herzogs Ferdinand niederlassen konnte. Er nahm den wärmsten Anteil an dem Ergehen seiner Patientin, und seine Briefe an sie – winzige Zettelchen mit winziger Schrift – gewähren Einblick in die originelle Art seines Verkehrs mit ihr. So schreibt er im November 1827:

»Mein gnädiges Fräulein!

Die pünktliche Folgsamkeit, mit welcher Sie meinen Wünschen nachkommen und die Offenheit in Darlegung Ihres körperlichen und Gemütszustandes in Ihrem Berichte verdienen meinen ganzen Beifall. Seien Sie versichert, daß ich den innigsten Teil an Ihrem Wohle nehme und daß ich alles tun werde, Sie herzustellen. Auch Ihre trüben Ideen sind bloß Folgen Ihres körperlichen Unwohlseins, was bei Ihnen schon in zartester Kindheit begonnen haben muß. Mit der Gesundheit Ihres Körpers weichen aber jene niederschlagenden Vorstellungen gänzlich. Bis hierher hatte diese melancholische Gemütsverstimmung doch den großen Vorteil für Ihre Sittlichkeit, Sie vor dem Leichtsinn zu bewahren, welcher sooft junge Frauenzimmer Ihres Alters von dem edlen Ziele ihres Daseins entfernt und der modigen Frivolität preisgibt . . . So hat der Allgütige selbst durch dieses Seelenleiden Ihnen eine Wohltat erwiesen in Sicherstellung Ihrer Moralität, deren Reinheit mehr als alle Güter der Erde wert ist . . .«

Wenige Monate später hieß es:

»Mein liebes gnädiges Fräulein!

Sie haben allerdings bei reiferen Jahren, wenn Ihr jetzt noch zu zartes und daher so viel bewegtes Herz mehr Kraft und ruhigere Schläge bekommen wird, auch Ihr inneres Siechtum noch mehr sich gebessert hat, frohere, gleichmäßigere Tage zu verleben. Die unnennbaren, Sie jetzt noch bestürmenden Gefühle werden sich dann am besten in einer, wie Sie verdienen, glücklichen Ehe zu einem ruhig frohen Leben auflösen unter schönen Mutter- und Gattenpflichten. Nur getrost; bei Ihrer edlen Denkungsart wird es Ihnen noch recht wohl gehen, da, wie ich sehe, Sie nicht zu große Ansprüche an diese etwas unvollkommene Welt machen und mehr bei sich selbst an Vervollkommnung arbeiten. Ich bitte mir ferner Ihre Körper- und Geisteszustände treu zu berichten, und versichert zu sein, daß ich auf alles achte, was Ihnen zum Wohlsein gereichen kann als

Ihr teilnehmender untertäniger      
S. Hahnemann.«

Im Tanze bitte ich stets sehr mäßig zu sein, dann kann er Ihnen nicht anders als wohl bekommen.«

Aus den übrigen Briefen sei noch folgendes wiedergegeben:

»Mein gnädiges Fräulein!

Billig hätten Sie mir längst den Gegenstand Ihrer so tiefen Betrübnis eröffnen sollen, wo nicht speziell und mit Namennennung, doch im allgemeinen bezeichnend – nicht etwa bloß, weil ich als Mensch herzlichen Anteil nehme, sondern weil ich als Ihr treuer Arzt doch wissen muß, ob auch der Gegenstand der Art war, daß auch eine gesunde Person so stark hätte müssen davon affiziert werden, oder so beschaffen, daß eine solche Trauer der Sache nicht angemessen war und Sie nicht so tief und anhaltend davon hätten gebeugt werden können, ohne körperlich krank zu sein. So aber stehe ich da, wie vor einem Rätsel, dessen Aufklärung ich von Ihnen erwarten muß, ehe ich besondere Rücksicht mit meiner Arznei darauf nehmen kann. Bloß beiliegende 16 Pülverchen bitte ich noch zu gebrauchen . . . Allein spazieren wünsche ich nicht, wohl aber recht viel ins Freie in Gesellschaft, damit Sie Ihren Gedanken nicht zu sehr nachhängen. Vor Wein sollten Sie sich gänzlich hüten . . . Nach Verbrauch der Pülverchen bitte ich sogleich zu berichten

Ihrem untertänigen    
Hahnemann.«

Köthen, d. 1. Sept. 1828.

 

»Mein liebes gnädiges Fräulein!

Wenn die gütige Vorsehung den sendet, der Ihrer würdig ist, der wird um Ihre schöne Seele freien, und Ihre Schönheit nur als vortreffliche Zugabe ansehen – der wird auch ein Mann sein, vor dem die Gecken fliehen und die Wüstlinge beschämt zurücktreten, die keine Ahnung von dem Werte einer engelreinen, weiblichen Seele haben, die ich durch Ihre Briefe in Ihnen zu verehren das Glück gehabt habe . . . Diese Pülverchen nehmen Sie getrost von Ihrem

untertänigen    
S. Hahnemann.«

Köthen, d. 3. Nov. 1828.

 

In einem der letzten Briefe lesen wir:

»Fahren Sie nur so fort, nächst Ihrer diätetischen Folgsamkeit, mir in Ihren Briefen Ihre Denkungsweise, Ihr Herz und Gemüt aufzuschließen. Sie haben einen alten Mann vor sich, der ungemein empfänglich für so etwas ist, ungeheuchelten Teil daran nimmt, auch wohl hierin guten Rat zu geben weiß. Erhält, wie bei Ihnen, das geistige Gefühl und die Empfindsamkeit die Oberhand, so wird das körperliche davon übermannt und über die Maße gestört. Da ist es nötig, auf den rechten Weg einzulenken, wo der Körper neben dem Geiste seine Rechte behaupten könne, da ist es nötig, solche Beschäftigungen zu wählen, wobei die Phantasie möglichst wenig aufgeregt und mehr das Denken und Beobachten geübt wird . . . Nächstdem bitte ich bloß leichte, frohe Lieder (keine andere Poeterei), gute, wahre Reisebeschreibungen, Lebensbeschreibungen und Geschichte zu lesen. Um Ihnen aber etwas und womöglich viel mehr Vergnügen bei Ihren Spaziergängen zu verschaffen, haben Sie in Weimar die beste Gelegenheit, sich einen unpedantischen Lehrer in der Naturgeschichte zu verschaffen, der Ihnen, im Beisein Ihrer gnädigen Frau Mama, Kenntnisse beibringen wird, die Ihnen dereinst weit schätzbarer und lieber sein werden, als viele andere weibliche Beschäftigungen. Dann sind Sie auf Ihren Spaziergängen nicht mehr einsam und ohne Unterhaltung. –«

Der gute Rat des Seelenarztes mochte dem trauernden Gemüt des jungen Mädchens eine bessere Arznei sein, als seine »Pülverchen« ihrem Körper. Aber den Rat, der überall zwischen den Zeilen seiner Briefe zu finden und sicherlich von den besorgten Eltern diktiert war: durch die Verbindung mit einem »würdigen Mann« die erste Leidenschaft zu überwinden, vermochte sie nicht zu befolgen. An Bewerbern fehlte es nicht; ihre Schönheit und noch mehr der Liebreiz ihres Wesens bezauberten alle.

In einem Briefe Eckermanns aus dem Jahre 1829 heißt es unter anderem: »Der rechte Balkon wird leer gewesen sein, denn es war ziemlich alles bei Frau v. Goethe. Man las den Egmont, welches bis gegen elf dauerte. Da ich, wie gewöhnlich, mich unter den Zuhörenden befand, so könnte ich über die lesenden Personen, ihre Art des Vortrags, ihre Betonung, im Vergleich zum Theater, meine stillen Bemerkungen machen . . . Was soll ich aber zu unserm Liebling Jenny sagen, auf der meine Augen ruhten und die sich nur auf andere Gegenstände wandten, um zu ihr erfrischter und mit größerer Neigung zurückzukehren.

Sie hatte die Rolle des Ferdinand, welcher, wie Sie wissen, erst spät kommt. Sie saß aber gleich von Anfang an dem Tisch der Lesenden, gegen den die Zuhörer einen langen Halbzirkel bildeten. An den übrigen vorlesenden Personen war besonders anfänglich eine gewisse Verlegenheit merklich, wie sie unter solchen Umständen gewöhnlich sein mag, und welche sich besonders darin zeigte, daß die Seele der Lesenden nicht ganz bei der Sache war, wodurch dann falsche Betonungen und dergleichen entstanden. Jenny aber saß da in der ruhigen Unschuld eines Kindes, die Hand unter ihr Köpfchen gestützt. ›Jetzt, dachte ich, ist freilich an Dir nicht die geringste Spur einer Verlegenheit sichtbar, aber ich will sehen, wie Du tust, wenn es an Dich kommt.‹ Nun kommt Alba, er spricht mit Silva, mit Gomez, er ruft seinen Sohn Ferdinand. Jenny fängt ihre Rolle an, es ist dieselbige Ruhe, dieselbige Unbefangenheit, dasselbe Kind. Die durchaus edle Rolle des Ferdinand sagte ganz ihrer schönen Seele zu, und ich kann nicht sagen, daß je die Unschuld eines reinen Wesens mir in solchem Grade und solcher Liebenswürdigkeit erschienen sei. Nach beendigtem Stück sagte ich ihr manches Gute. Sie sagte aber, daß sie groß Angst gehabt und daß ihr Herz während dem Lesen laut gepocht habe. Ich sah sie mit verwunderten Augen an und konnte nicht begreifen, wie einer Regungen des Herzens so verbergen könne, daß man ihm nicht das geringste ansieht.

Es waren auch zwei englische Damen zugegen, Lady Murray in mittleren Jahren und eine junge Lady in ihrer Begleitung, von deren Schönheit man mir viel gerühmt hatte . . . Allein neben der schönen Melany und Jenny konnte sie sich in meinen Augen nicht halten . . .«Erlebnisse in kurhessischen und russischen Diensten und Erinnerungen an die Gesellschaft in Weimar aus der Goethezeit des Freiherrn Alfred Rabe von Pappenheim. Marburg 1892. S. 40 f.

Alfred von Pappenheim schrieb einmal an seine Stiefschwester Cecile von Gersdorff, Dianens Tochter aus ihrer zweiten Ehe: »Es tut mir leid, daß ich Dich nicht begleiten kann . . . Mit Jenny würde ich mich nicht leicht entschließen, zu reisen, aber Du als Backfischchen fändest vielleicht nicht so viel Verehrer, und meine Rolle als Chapron würde dann nicht so schwer sein.« Und Karl Wolfgang von Heygendorff, der Sohn von Karl August und Caroline Jagemann, der Jenny sehr verehrte, schrieb noch in der Erinnerung begeistert, wie »wunderschön und engelgut« sie damals war.

Sie blieb allen gegenüber, die sich um sie bewarben, von gleichmäßig kühler Freundlichkeit. Die Freundschaft mußte ihr ersetzen, was ihr die Liebe schuldig geblieben war, und in einer Zeit wie der ihren, wo die Herzen einander weit offen standen, weil der eigene innere und äußere wüste Lebenskampf die Empfindungen noch nicht bis zu dem traurigen Rest vollkommener Selbstsucht abgestumpft hatte, gab es noch echte, teilnehmende Freunde. Ottilie Goethe nahm unter ihnen die erste Stelle ein. Deren Charakteristik, die sie bald nach der Trennung von ihr niederschrieb und auch im Alter noch für zutreffend erklärte, gibt ein deutliches Bild dieser merkwürdigen Frau:

»Ich fand meine Freundin in ihren hübschen Mansardenstuben, umgeben von Büchern und Papieren, vor einem kleinen offenen Bücherschrank; ihre Augen glänzten, ihre braunen Locken schienen schon zwanzigmal nach hinten geschüttelt zu sein; ihre kleine weiße Hand hielt ein Buch, ihre Wangen brannten, und schon ihre Begrüßung zog mich in die lebhafteste Unterhaltung.

»Herr Noël«, sagte sie, »fragte mich nach einer Charakteristik seines Geschlechtes, und ich gab ihm Gottes Rezept einer Männerseele: eine starke Dosis Egoismus, dreimal so viel Eitelkeit, ein gut Teil Berechnung, das sie Vernunft nennen, das alles gewürzt durch eine Portion Geist – und das Ragout ist fertig.« In dem Ausdruck, mit dem Ottilie ihr Epigramm begleitete, lag genug Wahrheit, um den verächtlichen Zug, der ihren Mund umspielte, anziehend zu machen, und Koketterie, um ihm den Stachel des Beleidigenden zu nehmen, aber auch genug Triumph, genug von dem ›je ne sais quoi‹ der Frau, welches die Sklavin neben der Gebieterin erraten läßt.

Mr. N. lehnte sich an den Bücherschrank; ich hatte mich in einen Lehnstuhl geworfen, dessen Rücken in kunstvoller Stickerei das Wappen Englands zeigte, Ottilie stand in der Vertiefung des Fensters, das durch die schrägen Wände gebildet wurde. Die Unterhaltung drehte sich um Irland und die Irländer, ein Thema, das sie ganz beherrschte; sie in dieser Festung anzugreifen, hieß alle Waffen ihres Geistes gegen sich richten.

»Nicht wahr, Du würdest bei einem Feuerwerk nicht versuchen, eine Ferse in Deinen Strumpf zu stricken?« sagte ich ihr; »und so kann ich mir an der Seite eines Irländers kein häusliches Glück vorstellen!«

»Ich liebe dieses Feuerwerk!« entgegnete sie; »ich würde ohne Strümpfe gehen und leicht diese prosaischen Kerzen entbehren, die man vernünftige Leute nennt; sie haben kein Herz und setzen die Vernunft an dessen Stelle – starke Liebe, starker Haß, ernster Kampf und keine Berechnung, das ist es, was ich liebe. Der Irländer allein hat Herz, Feuer, Mut –«

»Auch Narrheit und Unbeständigkeit«, unterbrach sie Mr. N. Nach diesem unerwarteten Einwurf trat sie vor, war mit einem Schritt auf der Fußbank, mit dem nächsten auf dem Stuhl und warf, wie ein verzogenes Kind, ein Buch nach dem andern auf die Locken ihres Gegners. Und doch war nichts Rohes in dieser Kinderei; ich, das junge Mädchen, lächelte wie eine Großmama zu den Schülerstreichen dieser Frau und Mutter, die von Zeit zu Zeit zwanzig Jahre ihres Lebens vergaß; alles war an ihr natürlich und ungeziert, aber ihrer Seele, ihrem Geist, ihrem Herzen fehlten die Zügel – wie schwer hat sie diesen Mangel büßen müssen!

Mr. N. suchte mit den Augen einen unauffindbaren Gegenstand. »Sie suchen eine Uhr!« rief sie aus; »ich besitze keine, ich bin dafür zu sehr Irländerin.« Erstaunt erwartete er eine Erklärung dieser weder in Roman noch Geschichte jemals erwähnten Nationaleigentümlichkeit. »Das heißt, ich habe eine zu hohe Meinung von Gastfreundschaft; es gibt nichts Gröberes als solch eine Uhr, die in jeder Viertelstunde die Besucher an die verflossene Zeit erinnert; schlimm genug für die, welche sich an die Zeit binden, bei mir findet sie keinen Platz, um ihre Sense anzulehnen.«

»Und dadurch«, antwortete er, »werden wir unpünktlich, denn die Langeweile vertreibt uns nie!«

»Warten Sie nur, habe ich erst Salons, Lakaien und schöne seidene Kleider, so werde ich schrecklich langweilig sein. Ich war es schon weniger, als ich aus Sparsamkeit noch Talglichter brannte, denn jedesmal, wenn ich sie putzen mußte, sah ich meine Gäste an, sagte schnell etwas Lustiges, und während sie lachten, putzte ich sie geschwind inkognito. Jetzt bin ich liebenswürdig zwischen meinen schiefen Wänden, weil ich sie dadurch meine hohen Besucher vergessen lassen muß.« Mr. N. nahm seinen Hut, sie sagte ihm freundlich Lebewohl, tauschte einen Händedruck von zehn Jahren Bekanntschaft mit ihm und kehrte zu mir zurück. ›Er ist doch sehr schön‹, sagte sie. »Der Vater hat mir eine angenehme Bekanntschaft ausgesucht. Er soll ein Herzogtum zu erwarten haben, jedenfalls paßt er gut in mein Herzogtum.«

»Also wieder und immer wieder«, rief ich traurig aus.

»O du neugierige kleine Katze, spielst du wieder die erfahrene Frau und ich das kleine Pensionsmädchen?«

Währenddessen hatte die Phantasie mit zauberhafter Schnelle andere Bilder aufgezogen. Einem Gedanken schien sie nachzusinnen, dessen Schatten schon ihre Züge bedeckte.

»Keinen Brief von H. und doch bin ich jetzt frei!«

»Er hat keinen Pfennig, Ottilie, du weißt es recht gut!«

»Was soll mir das Geld! Er wollte Missionar werden, ich stimme dem bei, es ist ein edler Beruf. Kannst du dir in der Mitte der Wilden deine Freundin vorstellen, sie selbst als seine ergebenste Schülerin? – Auch eine Schule wollte er gründen; ich würde die Wirtschaft führen –«

»Aber liebes Herz, du verstehst ja nichts davon.«

»Die Liebe wird es mich lehren! Nur eins beunruhigt mich, ich kann Des Voeux nicht vergessen; ich schrieb davon an H. –«

»Und erzählst es N. morgen.«

Sie lachte, aber ich hatte recht, denn nichts hatte Bestand in diesem Kopfe, in dem die Phantasie Alleinherrscherin war. Da warf sie zwanzig verschiedene Männerbilder, tausend Lebenspläne, Gedanken, momentane Empfindungen durcheinander, bis die Bilder zerbrachen, die Gedanken ausarteten – dann saß sie vor den Trümmern und weinte! Aber wie bei kindlichen Schmerzen, tröstete sie die Blume, die ein Fremder ihr reichte, sie lächelte, sie berauschte sich an ihrem Duft und warf sie schließlich in die allgemeine Unordnung zu Bildern und Gedanken. Und doch waren edle unter ihnen, Gedanken von Pflicht, Barmherzigkeit und Hingebung, aber kein einziger entsprang einem Grundsatz. Der Ursprung war Liebe, das Ziel war Liebe, das Leben war Liebe, obwohl diese Frau nicht mehr jung und nicht schön war. Die Strahlen der Schönheit, mit denen ihr Geist sie oft zu verklären schien, warfen sie nur noch tiefer in Gram und Reue, denn oft entzündete sich die Leidenschaft an diesem Glanz, um, wenn er erlosch, ebenso schnell zu vergehen; sah sie die Flamme matter und matter brennen, fühlte sie, daß ihr Atem sie nicht mehr anzufachen vermochte, so weihte sie die Stunden der Nacht ihrem wilden Schmerz. Und dennoch entsagte sie nicht diesem Phantom der Liebe, sie begehrte in der ganzen Welt nichts als sie, inmitten brennender Tränen rief sie aus: »Immer nur Leidenschaft, niemals Liebe!« Aber schon im nächsten Augenblick klammerte sie sich an die Leidenschaft, die ihr in der Maske der Liebe nahte – und dann immer dasselbe Trauerspiel: Glück, Seligkeit, Verlust und Reue. Trotzdem fehlte es ihr an Freundinnen. Sie hatte alte und junge, fromme und kluge, Weltfrauen und junge Mädchen, mit derselben Einbildungskraft wie die ihre; Freundinnen mit gebrochenen Herzen und Priesterinnen der Vernunft – sie alle waren ihr ergeben, denn sie war von Herzen liebenswürdig – liebenswürdig selbst in ihrer Torheit. Ja, sie hatte Freundinnen, doch diese hatten sie nicht!

»Glaubst du, daß er kommt?« fuhr sie fort. »Da stehe ich nun den ganzen Tag am Fenster und warte auf den Briefboten und denke dazwischen an D.«

»Du bist zu müßig, Ottilie!«

»Was soll ich tun? D. gab mir zu tun: den Tasso mußte ich übersetzen und drucken lassen, dann nahm ich drei Monate lang Zeichenstunden, weil er sich die Kopie eines Bildes wünschte, und ich hatte noch nie einen Bleistift berührt! Übrigens – doch du wirst lachen – nachdem N. mich gestern abend verlassen hatte, kam mir ein Gedanke, den ich diesen Morgen aufschrieb, ich will ihn dir vorlesen. – Du sagst, ich sei müßig, und weißt doch, daß ich sechs Stunden des Tages dem Vater widme; oft kann ich nicht mehr und glaube ohnmächtig zu werden vor Schwäche, doch der Gedanke, daß ich ihm nützlich, ihm notwendig bin, daß ich seine alten Tage verschönen und in der Welt zu etwas gut sein kann, dieser Gedanke gibt mir die Kräfte wieder. Neulich haben wir den Plutarch zu lesen angefangen, und schließlich las er mir aus dem zweiten Teil des Faust; es war schön und groß, als ich aber nach elf Uhr mein Zimmer betrat, fiel ich, meiner ganzen Länge nach, zu Boden.«

Ich erhob mich, um sie zu küssen; ich liebte in diesem armen Kinde der Phantasie dieses Gefühl, diese Pflicht, die ihrer Hingebung entsprang, dieser stillen, gewissenhaften, rührenden Hingebung mit all ihren kleinen, stündlichen Opfern, ihren verborgenen Anstrengungen bis zur Entkräftung, deren nur eine Frau fähig ist. Inzwischen hatte sie auf allen Tischen nach ihrer Schrift gesucht, doch vergebens; ich kam ihr zu Hilfe und entdeckte endlich unter Büchern, Briefen, Stickereien und Noten ein mit einer großen engen Schrift bedecktes Papier. Ich begann zu lesen; welch buntes Durcheinander: Kleider und Schärpen, Blumen und Bücher, die sie sich zum Geburtstage wünschte, verschiedene Adressen, quer darüber einige Verse ihrer Tasso-Übersetzung, den Titel einer neuen Geschichte Irlands, und endlich in der Mitte fand ich etwas, das eine Fortsetzung zu haben schien. »Gib her, das ist's«, sagte sie und begann:

»In einem dunklen Tempel verbreitete eine einsame Ampel ihr trauriges Licht; lange schon hatte sie gebrannt und niemand gab sich die Mühe, sie mit Lebensspeise zu versorgen; trotzdem leuchtete sie noch, denn der Tempel lag auf dem Wege frommer Pilger, und sobald die Flamme nahe am Erlöschen war, warf eine barmherzige Hand ihr etwas hin, das Leben zu fristen. Es war nicht immer geweihtes Öl, das ihr gebührte; die Pilger gaben, was sie hatten: eine Blume, ein Lorbeerblatt, einen Dornenzweig; der eine gab ihr einen Tropfen Blut, der andere seine Tränen – und die Lampe brennt heute noch!«

»Du bist es«, sagte ich; »diese Flamme ist deine Seele, doch der neue Pilger, Ottilie, bringt dir nur einen Dornenzweig!«

»Sei es darum, auch dieser bringt mir Leben.«

Goethe hatte während dieses Abends den Besuch eines Freundes, Ottilie war frei, ich blieb bei ihr; um sieben Uhr kam Herr N. und verschiedene junge Engländer, später der Tee auf rundem Tisch, den zwei Lichter erhellten.

Die Unterhaltung wurde lebhaft, wie immer, sie drehte sich um Armut und Reichtum, und Ottiliens Verachtung dieser ›kleinen Stückchen von schmutzigem Metall‹ trat deutlich zutage.

»Doch wie vereint sich deine Verachtung mit den Ansprüchen einer eleganten Frau?« fragte ich lächelnd.

»Ach, du triffst wieder meine schwächste Seite! Stellen Sie sich vor, meine Herren, sie mokiert sich über mich! Über mich, die ich ein neues Mützchen, eine seidene Schürze, russische Schuhe und die schönste aller Sammetkrawatten trage!«

»Man sagte mir, es sei nicht allzu lang her, daß du dich der Mode fügst!« gab ich zurück; »und deine Locken –«

»Sind tausendmal schöner als dein Vogelnest! Sie sind –«,

»Vom Jahre dreizehn«, unterbrach ich sie.

»Ja, vom Jahre dreizehn!« rief Ottilie bewegt; »alles Gute, alles Schöne ist vom Jahre dreizehn; – damals gab es noch Begeisterung, damals war Preußen herrlich, und unsere Herzen hatten ein Vaterland! Die Regimenter durchzogen die Stadt und ließen uns ihre Verwundeten; wie Engel des Friedens betraten wir die Krankenhäuser, und die Kranken segneten uns! Des Abends gab die Stadt einen Ball. Wenn wir einem der Offiziere einen Walzer versagen wollten, hieß es: vielleicht ist es der letzte, und wir gewährten ihn. Dann die Biwaks und morgens die Trommler, die Schlachtmusik – ein Gruß, ein Lebewohl mit gesenktem Degen – es gab in Deutschland keine Schlafmützen mehr, sie waren alle Männer geworden und die Männer Helden! Damals war es der Mühe wert, zu leben und zu sterben!« . . .

Die Stunden vergingen. Kein Klatsch, keine Frivolität, keine Taktlosigkeit störte unser Zusammensein. Ottilie hatte es mit jenem Talent, das keine Frau in dem Grade besaß wie sie, verstanden, jeden mit sich zufrieden zu machen; sie hatte mit jedem über das ihn am meisten Interessierende gesprochen, wobei jeder sich naturgemäß am wohlsten fühlt; sie hatte alle Geistesgaben geweckt und welche zu säen versucht, wo sie keine gefunden hatte.

So war meine Freundin, als ich wußte, warum mein Herz ihr entgegenschlug, jetzt – – Ich will diese dunklen Mysterien des Schicksals und der Schuld nicht berühren. Dank dem Himmel, der mich nicht zum Richter dieser unglücklichen Frau berufen hat! Ihre Seele war glänzend und liebenswürdig, doch für einen anderen Planeten geschaffen; sie hatte sich in ihrem Fluge getäuscht, statt der blühenden Gärten ihres Sterns fand sie die kalten Nebel des unseren, statt der Liebe fand sie die Vernunft auf dem Thron, statt des heiteren Lebens fand sie Arbeit und Sorgen, statt der unendlichen Räume des Sterns ihrer geflügelten Brüder fand sie die kleinlichen Verhältnisse unserer Erde, wo man geht – oder kriecht. Mit jedem Schritt verstieß sie gegen ein irdisches Gesetz, jedes Gesetz rächte sich, jeder Irrtum kostete ihr eine Feder ihrer Flügel, einen Strahl ihres Lichts, eine Blume ihrer Schönheit – sie weinte, doch sie lernte nichts! Man donnerte ihr in die Ohren: Die Vernunft ist König, du bist des Majestätsverbrechens schuldig; zum Schafott! zum Schafott! Sie wollte entfliegen – ihre Flügel waren gebrochen, sie wollte durch einen Strahl ihres Lichts ihre Richter gewinnen – das Licht war erloschen; auf ihrer Harfe wollte sie ihre Klagen singen – zerrissen waren die Saiten!«

Wie über der Familie Bonaparte, so schien über der Familie jenes anderen Titanen ein dunkles Schicksal zu walten, und wie der Schatten des einen über Jennys Leben seinen Schleier warf, so auch der Schatten des anderen, da die Freundschaft sich noch inniger als mit der Mutter das ganze Leben hindurch mit den Enkeln verband und ihr auch den Vater nahe geführt hatte. Die Nachwelt ist im Urteil über ihn so hart und ungerecht gewesen, wie die Mitwelt grausam war gegen seine Söhne. Jenny charakterisierte ihn folgendermaßen:

»August Goethe habe ich sehr gut gekannt; er war nichts Außergewöhnliches, sondern ein kluger, gutmütiger Mann, der, als Sohn eines anderen Vaters, einen ernsten, ruhigen Lebensweg gefunden hätte. Der alte Goethe liebte seinen Sohn unendlich, er sah in ihm ein Stück seiner selbst, oder wollte es vielmehr sehen; das empfand August aber nicht als Glück, sondern als drückende Last. Goethe hatte viele Kinder verloren, dieser eine sollte ihm alle anderen ersetzen. Er nahm ihn schon als Knaben auf seinen Wanderungen mit, versuchte ihm seine Passionen einzuimpfen. Augusts frischer Geist faßte leicht und fröhlich auf, was der Vater ihn lehrte; er zog aber, wie es ganz natürlich war, den Umgang mit gleichaltrigen Gefährten dem alleinigen mit seinem Vater vor. Das schmerzte diesen, denn er vergaß, wie so viele Väter den Söhnen gegenüber, die eigene Kinderzeit. Er wurde strenger, überwachte seinen Unterricht, überhörte ihn zuweilen und unterdrückte die aufwallende Zärtlichkeit, weil sie ihm nicht in sein Erziehungssystem zu passen schien. Augusts heißes Herz wandte sich mehr und mehr der Mutter zu, die ihn von Anfang an verhätschelte. Sie verstopfte das schreiende Mäulchen des Babys mit Süßigkeiten und anderen Dingen; sie öffnete dem streng bewachten Knaben jede Hintertür; sie steckte, was sie vom Wirtschaftsgeld erübrigte, dem Jüngling zu.

Er muß bildschön gewesen sein; eine dunkle Erinnerung aus meiner ersten Kinderzeit zeigt ihn mir wie einen jugendlichen Halbgott. Nun stelle man sich Weimar, stelle man sich die Welt ringsum vor, die von Goethes Namen erfüllt war, und man wird sich nicht wundern, daß jeder, der zu Goethe kam, um dem Vater seine Huldigungen zu Füßen zu legen, dem schönen Sohn alle erdenklichen Zärtlichkeiten erwies. Ein großer Charakter oder ein großes Talent allein hätten das Gegengewicht halten können.

Die Nähe des Vaters floh er, weil die forschenden Blicke, die unausgesprochenen Anklagen ihn einschüchterten. So kam es, daß er, der sonst so Fröhliche, sich in den Räumen Goethes am liebsten stumm und mißmutig in die Ecken drückte. Das Gefühl, hier nur als der Sohn seines Vaters betrachtet zu werden, der Gedanke, daß er den Mund nur auftun könne, wenn er etwas Geistreiches zu sagen wisse, wird jeder begreiflich finden, der sich in seine Lage versetzt. Schmeichler, wahre und falsche Freunde umgaben ihn außerhalb des väterlichen Hauses; unter ihnen ließ er sich nun vollständig gehen, sie nannten seine Streiche genial, die nur jugendlich und unvernünftig waren, sie bewunderten seine Verse, die heute von jedem Tertianer besser gemacht werden. Nur wenige, die Ottilie mir nach seinem Tode mitteilte, sind tief empfunden und schön ausgeführt, die aber kannte niemand. Goethe schien eine Zeitlang des Sohnes Leben nicht zu beachten, vielleicht daß er auch hoffte, ein Genie würde sich daraus entwickeln. Er wartete vergebens; der Punkt, bis zu dem jeder Mensch innerlich vorschreitet, war von ihm erreicht, er gehörte nicht zu seines Vaters Genossen, die ›immer strebend sich bemühen‹. Es kam aber auch für ihn eine Zeit, wo er die innere Leere empfand. Seine Wünsche gipfelten schließlich in dem einen Wunsch: Fort! Nach langem Kampf wagte er endlich, Goethe diesen Wunsch auszusprechen. Es kam zu ernsten Szenen, denn Goethe konnte oder wollte ihn nicht begreifen, selbst als Knebel sich auf seine Seite stellte. Fern von Weimar, womöglich unter anderem Namen, hätten Augusts gute Seiten bald die weniger guten unterdrückt.

Um dieselbe Zeit ungefähr lernte er Ottilie von Pogwisch kennen. Man hat erzählt, Goethe habe die Heirat mit ihr bewerkstelligt, August habe deshalb eine große Jugendliebe aufgeben müssen. Das ist nicht wahr; er hatte eine große Anzahl mehr oder weniger leichtsinniger Verhältnisse, aber, wenn bei ihm überhaupt von großer Liebe gesprochen werden kann, so gehört diese Ottilien allein. Deren Großmutter, Gräfin Henckel, die Oberhofmeisterin bei Maria Paulowna und also auch meine Vorgesetzte war, sträubte sich von Anfang an sehr gegen diese Verbindung. Erst als Christiane von Goethe gestorben war, willigte die stolze alte Dame in die Heirat ihrer Enkelin. Der Jubel und die Glückseligkeit waren groß damals, sie glaubten sich heiß zu lieben, und doch liebte Ottilie in ihm nur den Sohn seines Vaters, den sie mit den schönsten Träumen ihrer Phantasie ausschmückte. Es war nur Phantasie! Ihr Geist vermochte ihn auf die Dauer nicht zu fesseln, und eine Schönheit, die seine Sinne erregen konnte, besaß sie nicht. So ging bald ein jeder seine eigenen Wege. Ihre Ehe wurde, durch beider Schuld, sehr unglücklich. Die Enttäuschung, die sie empfand, wenn sie nach und nach aus der glänzenden Hülle ihrer Phantasiegebilde einen gewöhnlichen Menschen sich entpuppen sah, war immer sehr groß, am schmerzlichsten aber bei ihrem Gatten, bei Goethes Sohn. Sie hätte ihn vielleicht nun mit christlicher, helfender, duldender Liebe tragen und heben können, und er, als der Rausch der Leidenschaft verflogen war, mit ernstem Pflichtgefühl als treuer Gatte und Vater ihr zur Seite stehen – daß nichts davon geschah, war mehr Schicksal als Schuld. Charaktere, wie die ihren, durften sich nie verbinden. Wie das in einer kleinen Stadt immer zu sein pflegt, wo die Menschen dicht aneinander wohnen, mischte sich der Klatsch auch noch in die Ehe. Beide standen wie auf offener Szene, und besonders das Galeriepublikum verfolgte mit gehässiger Neugier den Fortgang des Dramas. Ottilie hatte unverdienterweise, denn sie tat wissentlich keinem etwas Böses an, viele Feinde, besonders Feindinnen, die sie ihrer Stellung wegen beneideten und sich zwischen sie und August zu drängen versuchten. Es gelang ihnen nur zu gut. Die gewohnten Schmeicheleien, die Ottilie ihm bei ihrer unbedingten Wahrheitsliebe nicht zuteil werden ließ, fand er anderswo zur Genüge; die Träume, die sein Geist ihr nicht verwirklicht hatte, suchte sie in ihrer Umgebung zu finden. Erschienen sie öffentlich zusammen, so war ihr Benehmen tadellos; auch zu Hause machten sie den Eindruck eines einigen Paares, sobald die Kinder bei ihnen waren. In der Erfindung immer neuer Spiele für sie war August unerschöpflich; sie zogen ihn – wie oft! – von seinen Kneipereien ab, die seiner an und für sich schwankenden Gesundheit schadeten. Aber auch die Freude an seinen Söhnen verbitterte ihm sein Mißtrauen. Ich stand einmal mit ihm am Fenster des Eßzimmers kurz vor Tisch. Im Garten ging Goethe auf und nieder, seine Enkel kamen hinuntergelaufen, um ihn zu holen. Jubelnd umschlangen sie den Großvater, erzählten, lachten, spielten; er freute sich sichtlich ihrer lieblichen Gegenwart, und ich sah mit Vergnügen zu. Da fiel mein Blick auf August: er starrte mit zusammengekniffenen Lippen, blaß und schwer atmend, auf dasselbe Bild, sein Aussehen sagte mehr als Worte.

Ein schöner, besonders hervorzuhebender Zug in Augusts Wesen war seine Freundestreue. Wen er lieb gewann – freilich waren's nicht immer die Würdigsten –, für den ging er durchs Feuer. Sein Unglück war, daß keiner von ihnen ihn, den Sohn Goethes, günstig zu beeinflussen versuchte, alle ordneten sich ihm unter, und doch bin ich überzeugt, daß er sich hätte beeinflussen lassen. Dem einzigen, der es versuchte, Ernst von Schiller, ist es stets geglückt. August liebte ihn zärtlich, und es wäre von dauerndem Erfolg gewesen, wenn sein Freund immer hätte um ihn sein können. Sein ruhiger Ernst, sein fester Charakter, seine Abneigung gegen alles Gemeine, seine Abstammung nicht zum mindesten, denn sie stellte ihn August gleich, stempelten ihn eigentlich zu seinem Freunde. Es sollte nicht sein – auch hier Schicksal und keine Schuld!

Am ›Chaos‹ beteiligte sich August mit großer Lebhaftigkeit; die meisten seiner Reime – Gedichte möchte ich sie nicht nennen – wurden darin gedruckt. Er schrieb hübsche Briefe, eine Tugend, die ich jetzt, wo sie so ganz verloren geht, doppelt als solche anerkenne. Die Briefe an seinen Vater waren weniger natürlich, sie zeigten den Zwang, den Goethe, mit der besten Absicht, auch darauf ausübte. August sollte Beobachtungen über Witterung, Naturerscheinungen usw. anstellen, die ihm fernlagen und ihn gar nicht interessierten. Von Menschen und Ereignissen erzählte er lieber, besonders von Italien aus, wo er sich endlich frei und als Herr seiner selbst empfand.

Der Gedanke ›Fort von Weimar!‹ war schließlich zu einer Macht geworden. Fort, recht weit fort, wo er an Leib und Seele zu genesen hoffte. Daß er krank war, fühlte er immer deutlicher. Er kam zur Erkenntnis, auch seines seelischen Zustandes, ohne die Kraft zu haben, sich zu ändern, ungefähr wie ein Wahnsinniger, der in lichten Momenten seinen Zustand begreift und dadurch nur noch unglücklicher wird. In besonders trüben Augenblicken sagte er sich: ›Ich will nach Rom, um dort zu sterben.‹

Der Entschluß zu fliehen, reifte in ihm. Er glich darin dem alten Goethe, der sich von allen Qualen durch schnelles Losreißen aus den gewohnten Zuständen befreite. Nur wenige wußten um Augusts Plan. Mir teilte ihn Ottilie mit, und ich konnte mir nicht versagen, ihm die herzlichsten Wünsche mit auf den Weg zu geben. Ich war überzeugt, ihn neugeboren wiederzusehen. Der Abschied von seinem Vater soll erschütternd gewesen sein. Mir wurde erzählt, August sei ihm plötzlich weinend zu Füßen gefallen und dann davongestürzt, während Goethe, überwältigt von böser Ahnung, auf seinem Lehnstuhl zusammengebrochen sei. Die Kinder schieden fröhlich von ihm mit allen möglichen Wünschen und Bitten: sie sollten den Vater nie wiedersehen.

Ich will nicht mehr am Gängelbande
Wie sonst geleitet sein,
Will lieber an des Abgrunds Rande
Von jeder Fessel mich befrein!

so lauteten seine letzten Verse im ›Chaos‹. Und er ging, befreit von jeder Fessel, um auch die des Lebens abzuwerfen. Er wurde im Lande seiner Sehnsucht von allen Leiden erlöst, aber anders, als er es gedacht hatte.«

Die drei Kinder von August und Ottilie fanden in Jenny eine zweite und sorgsamere Mutter, als die eigene war. Die Knaben, Wolf und Walter, waren im gleichen Alter mit Jennys Stiefschwester Cecile von Gersdorff, Dianens Tochter aus ihrer zweiten Ehe, und innig befreundet mit ihr, so daß doppelte Bande der Liebe die Familien aneinanderfesselten. Jenny gab den Kindern zusammen den ersten Unterricht und setzte ihn fort, auch als ihr geliebtes Schwesterchen nach Straßburg in Pension kam. Sie schrieb darüber an diese:

»Weimar, den 22. April 1835.

. . . Meine Stunden machen mir und den lieben Kindern große Freude; sie werden ernster betrieben als zu Deiner Zeit, wozu Ernas Vernunft und Wolfs angeborener Ernst sehr beiträgt; letzterer ist mir unbeschreiblich lieb, sein Charakter entwickelt sich ausnehmend gut und tüchtig, er ist seinem Alter in jeder Beziehung ungeheuer voraus, läßt das Schönste hoffen; mein ganzes Herz hängt an dem lieben Knaben, und der Gedanke einer Trennung von ihnen wird mir täglich schmerzlicher, je unabwendbarer ich ihn in die Wirklichkeit treten sehe . . . Alma ist ein gutes, gehorsames, mühsam strickendes und knippelndes Kind, später verspricht sie jedoch mehr zu werden . . .«

Daß die Stunden ernst genommen wurden, bezeugt eine Stelle aus einem Briefe Walter Goethes an Cecile Gersdorff vom 6. Dezember 1834, worin er sagt: »Bei Jenny habe ich mit Anna, Erna und Wolf Stunde, was mir viel Freude macht. Leider mußte ich meine ganze Rhetorik kopieren, indem, als unsere Stunden begannen, meine Cahiers verschwunden waren.« Noch im Alter unterschrieb sich Walter in seinen Briefen an Jenny: »Dein dankbarer Schüler.« Persönlich näher als er stand ihr Wolf, dessen erste Knabenliebe seiner liebreizenden Lehrerin gegolten hatte. Sie schrieb von ihm:

»Mit sechs Jahren war er ein heiteres, sehr gesprächiges Kind mit den wunderschönen Goetheschen Augen, voll Lust zu jedem Spiel, der Liebling seines Großvaters. Er wurde ein denkender, lernender Knabe, der mit Leidenschaft auf- und erfaßte. Noch ein halbes Kind, fühlte er die Liebe eines Jünglings. So wie seine tiefen, dunklen, glühenden Augen alle Mängel in seinem Äußeren überstrahlten und ihn schön machten, so war es eigentlich die Liebe, die sein ganzes geistiges Ich durchstrahlte und ihn zum Dichter stempelte.«

Bezeichnend nicht nur für ihr Verhältnis zueinander, sondern auch für Wolfs Charakter sind die folgenden Abschnitte aus Jennys Briefen an ihn:

6. 6. 35.

»Solltest Du wirklich in Deinem jungen Herzen das tiefe, heilige Gefühl der Liebe zum höchsten Geiste vermissen, solltest Du wirklich stürmen wollen, wo sich Dein Knie verehrend beugen müßte, nun, so laß jeden Gedanken an Gott, an Glauben, an Religion eine Zeitlang dahingestellt, richte alle Kräfte Deiner Seele auf den einen Mittelpunkt Deines Wesens und entwickele mit Deinem ganzen Streben die Fähigkeit des Rechten in Deiner Brust, und alles Große muß sich stufenweise daran entwickeln. – Ersticke jedes kleinliche Gefühl, streife alles ab von Deiner Seele, was nicht aus edler Quelle fließt und kein edles Gepräge trägt; es ist des wahren Menschen unwürdig, und möchtest Du wohl ein Scheinmensch sein, der dem Feuerwerk gleicht, das eine Minute in dunkler Nacht ein Flammenrad bildet, sich in unruhigen Funken zerstreut und dann zwecklos verpufft? Sieh nicht verachtend auf eine ganze große, hohe Welt, laß auch sie jetzt dahingestellt, richte Deine Blicke nur auf Dich selbst, daß Du Dich Dir selbst erhältst; nicht einen Gedanken von Egoismus, von Eitelkeit, von Dünkel darfst Du wuchern lassen, sie müssen alle fort; in den Umriß, den Du Dir von Deiner Seele zeichnest, wie sie werden kann und muß, paßt solch elendes Gerümpel nicht. Wolf, ich beschwöre Dich, laß nicht so winzige Rücksichten Dein Ohr vor meiner Stimme schließen, daß Du keinen fremden Einfluß oder gar einen weiblichen erdulden willst. Ich fühle mich ganz frei von der Eitelkeit, als könnte ich etwas vollbringen, als solltest Du mir etwas zuliebe tun, um irgendeiner Prätension zu schmeicheln – kein Mensch bekehrt, aber eine Wahrheit tut es, aus welchem Munde der Zufall sie auch fließen lasse, und nur der Wahrheit spüre nach; ihre einzige Offenbarung und Besiegelung findest Du im Rechthandeln und -denken. Es gibt nichts auf der Welt außer dem Rechttun, was von Verwirrung, Unzufriedenheit, Kampf und Irrtum frei wäre, es gibt nirgends Befriedigung als in der Tugend. Ich sage Dir nicht, sie ist leicht, aber es ehrt Dich, wenn man Dir, dem Fünfzehnjährigen, das Schwere zumutet. Du willst nicht, daß ich Dir als Beispiel Deinen Großvater nenne. Ja, er war als Dichter ein Genie, aber als Mensch war er das, was jeder aus sich machen kann, der die Kraft, den festen Willen, das heilige Pflichtbewußtsein in sich fühlt. Die Bitterkeit in Deiner Seele muß weg, sie ist ein Unkraut, eine Schwäche. Die auf sich selbst gestützte Seele muß klar das Schlechte und Erbärmliche in der Welt ins Auge fassen können, ohne daran irre zu werden; es geht den Menschen nur insofern an, als er Krieg dagegen führen muß, auf ihn selbst und seine Entwicklung aus dem Mittelpunkt des tiefsten Innern hat es gar keinen Bezug, es ist von anderem Schrot und Korn als er.«

 

2. 4. 37.

»Du fragst mich, was ich von meinen Grundsätzen und den Bestrebungen, ihnen zu folgen, habe? Alles, was mir lieb und wert ist, habe ich durch sie; ich habe treue Freunde, auf die ich bauen kann, wie auf mich selbst, solange ich das in mir erhalte, was mich ihnen achtungswert macht; ich habe Ruhe der inneren Gedanken, Trost für jeden Schmerz, natürlich solange ich nicht durch physisches Kranksein unempfänglich und also nicht zurechnungsfähig bin; ich habe den Genuß, in hohen Geistern vertrauend, einstimmend schwelgen zu können, und so wenig ich noch das Ideal meines Selbst erreicht habe, so weit ich auch hinter einem Schleiermacher, hinter einer Rahel stehe, so bin ich doch schon hoch genug geklommen, um sie zu erkennen; ich habe ein ausgefülltes Leben, vollauf zu tun im kleinen Kreise der eigenen Ausbildung und der Verkündigung des Wahren, Schönen und Guten, so weit meine Stimme reicht. Es ist schon ein namenlos hohes Gefühl, sich als freiwilliger Soldat im Heer zu fühlen, das gegen Lüge, Unrecht und Schwäche zu Felde zieht; da ist von Dank oder Undank, Wert oder Unwert in den Menschen gar nicht mehr die Rede, man trägt die Fahne der Wahrheit und steckt sie freudig auf, wo man ein Plätzchen erobern kann, und weil der Boden, auf dem die Wahrheit lebt, der Menschen Seele ist, muß Seele zu Seele reden und sich nicht darum kümmern, ob der Boden hart oder viel Unkraut darauf ist.

Nun frage ich Dich, was hast Du wohl von Deiner Denkungsweise? Verachtung aller Dinge, selbst der höchsten, Mißtrauen in alle Menschen, selbst in lang erprobte Freunde Deiner Kindheit, ein mächtiges Streben und kein festes Ziel, eine leidenschaftlich aufgeregte Kraft und Langeweile, den Trieb zum Denken und keinen festen Mittelpunkt als Stütze. Das alles bist nicht Du, das ist Dein Irrtum, denn zu Deiner Kraft gehört ein edles Streben, zu Deinem Streben gehört ein hohes Ziel, zu Deinem heißen Herzen gehört ein wahrer Freund, und in Dein Denken, Wolf, gehört ein Gott!

Ich könnte jedes Wort noch einzeln fassen und ein Kapitel über jedes schreiben, doch ich bin zaghaft, weil ich nicht weiß, ob Dich der eine Bogen nicht schon schreckt.

Ich liebe nicht den Spott in Deinem Munde und muß mich immer überwinden, um meinen Glauben an Dich diesem Spott auszusetzen; ich liebe nicht Deine Zweifel an jeder treuen, wahren Neigung und möchte Dir nie Gelegenheit geben, sie durch Mißverstehen zu nähren oder durch Bitterkeit zu äußern.

Ich wollte Dir noch von Deinen Kinderjahren reden und Dir die erste Wurzel zeigen, worauf der Baum treuer Freundschaft steht, den ich Dir in Deinen Lebensgarten pflanzte, doch kannst Du dies den zehn verflossenen Jahren nicht glauben, so helfen auch die wärmsten Worte nicht.«

Schon damals also, zwischen Wolfs fünfzehntem und siebzehntem Jahre, zeigte sich bei ihm jenes unheilvolle Gefühl, das sein Leben in steigendem Maße verbittern sollte: das Mißtrauen. Mißtrauen gegen die Freunde, weil er glaubte, ihre Freundschaft gehöre nicht ihm, sondern dem Enkel Goethes, Mißtrauen gegen sich selbst, weil er an seine Leistungen den Maßstab der Leistungen seines Großvaters anlegte. Ottiliens Erziehung wirkte dabei nur nachteilig; sie verzärtelte ihre Söhne nie, aber sie erzog sie für »einen anderen Stern«. »Du weißt ja«, sagte Wolf später einmal zu Jenny, »wie wir durch unsere Mutter auf das Edle, auf große Gesinnung dressiert worden sind mit Liebe und, wenn es sein mußte, auch mit Sporn und Peitsche.« Eingehüllt in diese um ihn geschaffene weltfremde Atmosphäre, tat jede Berührung mit der Welt schon den Jünglingen weh. Sie gingen ihr aus dem Wege und lebten nur in dem Kreise, den das Goethehaus um- und abschloß. Zu denen, die ihnen von auswärtigen Freunden am nächsten standen, gehörten zwei der beliebtesten Gäste in Weimar, Felix Mendelssohn, der Walters musikalische Begabung weckte, und Karl von Holtei, der August Goethes Freund gewesen war. Beide traten auch zu Jenny in nähere Beziehungen.

Felix Mendelssohns erster Besuch in Weimar wurde ihr brieflich mitgeteilt, als sie noch in Straßburg in Pension war. »Bei meinen Eltern«, so erzählt sie, »war er auch einmal zu Tisch geladen, man zeigte ihm ein Bild von mir, und er wünschte, mich nach seinem ›Ringelreihen‹ tanzen zu lassen. Die Abschrift einer kleinen Komposition von ihm – ich entsinne mich nicht mehr, welche es war – versetzte mich in helles Entzücken, und lange Zeit hindurch beschäftigte mich der Gedanke an den ›wunderbaren Jüngling‹, an Goethes ›David‹.

Bald darauf kehrte ich nach Weimar zurück, wo Felix Mendelssohns Name in aller Mund war. Selbst August Goethe, der sehr selten ein liebevolles Urteil über fremde Menschen hatte, gab zu, daß er das Zeug dazu habe, alle Welt, selbst ihn mit sich fortzureißen. Es vergingen einige Jahre, bis ich die persönliche Bekanntschaft des jungen Musikers machte; vergessen jedoch konnte ich ihn nicht, da Goethe öfters Briefe von ihm bekam, die Ottilie sofort mitgeteilt wurden, und die ich dann vorlesen hörte. Sie atmeten alle die unendliche Verehrung für seinen Gönner, eine Verehrung, die nicht bei den Worten blieb, sondern sich durch Taten am schönsten äußerte. Das war es ja auch, was Goethe bezweckte, was ich immer mehr an ihm bewunderte: der Einfluß, den er auf alle, die ihm nahe traten, ausübte, dem keiner entging. Er weckte und förderte jedes Talent, und wie viele, die sonst im Dunkel verkommen wären, zog er an das Licht seines herrlichen Geistes. Es ging eine Wirkung von ihm aus, die mir, wenn sie auch heute noch nicht vergangen ist, doch damals eine unbeschreibliche elektrische Kraft zu haben schien, und die Mendelssohn, der selbst ein genialer Mensch war, mit doppelter Gewalt empfunden haben muß.

Im Sommer 1830 war es, als Ottilie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilte: Mendelssohn kommt. Daß ein musikalischer Besuch erwartet wurde, ahnte ich schon, als ich die Treppe hinaufkam, Goethes Tür offen fand und hineinsah: Riemer packte mit Friedrich, Goethes Bedientem, Noten aus, die abgestäubt wurden, und der damals einzige Mann, der kranke Flügelsaiten zu heilen verstand, entlockte dem langen, braunen Kasten kläglich wimmernde Töne. Ich vermutete Zelters Besuch und freute mich darauf, denn der alte Herr mit seiner derben Komik, seiner polternden Sprechweise und seinem liebewarmen Herzen war mir sehr wert geworden. Statt seiner kam nun sein Schüler, das Wunderkind, das Sonntagskind. Als ich ihm zuerst begegnete – er ging zu Goethe, ich kam von Ottilie –, beschlich mich ein leises Gefühl der Enttäuschung, er sah zart aus, ging etwas gebückt, und sein Gesicht machte mir keinen bedeutenden Eindruck. Denselben Nachmittag traf ich ihn bei Gräfin Henckel und glaubte einen anderen Menschen zu sehen: die Lebhaftigkeit seines Mienenspiels, seine Grazie, die doch durchaus nichts Weibisches hatte, sein strahlendes Lächeln, als ob man einen Vorhang vor einem Fenster wegzöge und nun in den schönsten Frühling sähe – das alles machte seine Erscheinung zu einer sich der Erinnerung dauernd einprägenden. Und nun sein Spiel, das so ganz er selber war: kein Gefühl, das ins Bizarre ging, keine Disharmonie, die sich nicht milde auflöste, keine Virtuosenkunststückchen, bei deren Anblick uns schwindlig wird. Hummel schien mir mit mehr Feuer, mit mehr äußerer Leidenschaft zu spielen, aber man empfand nicht, wie bei Mendelssohn, daß so ganz das Herz im Spiele lag.

Von Anfang an verbrachte er den größten Teil des Tages im Goetheschen Hause. Er war wirklich Goethes David, denn er verscheuchte jede Wolke von der Jupiterstirn unseres verehrten Dichters. Jedem, der damals Mendelssohn kannte, wird es begreiflich sein, trat er doch mit dem ganzen Zauber der Jugend, der Genialität, der glücklichen Zukunftsträume in unseren Freundeskreis. Es fiel niemand ein, wie das heute in anderen Städten der Fall sein würde, ihn seiner Abstammung wegen mißtrauisch zu betrachten. Der Gedanke wäre im damaligen Weimar unmöglich gewesen und wird es sein, solange die großen Traditionen nicht zur Fabel geworden sind. Goethe schätzte die Menschen nach ihrem Wert, Karl August hatte es stets getan und war von seiner einmal gewonnenen Überzeugung selbst durch Gegenbeweise nicht abzubringen gewesen. Am herrlichsten befolgte unsere geliebte Großfürstin diesen Grundsatz, und wir alle hätten uns geschämt, nicht diesen großen Vorbildern nachzueifern. So gehörte Rahel, so gehörte Mendelssohn zu unserer anerkannten Aristokratie.

Vormittags war er meist allein mit seinem Gönner, der nie müde wurde, ihm zuzuhören. Wie Goethe es bei allen Dingen liebte, nach einem bestimmten System zu verfahren, so auch hier: er wünschte die Geschichte der Musik in Tönen nach geordneter Zeitfolge zu hören. Irgendwo las ich einmal, daß man daraus die Folgerung zöge, er habe von Musik nichts verstanden und ihre äußerliche Kenntnis nur als für seine Bildung nötig erachtet. Das glaube ich nicht. Felix Mendelssohn war stets aufs höchste überrascht von Goethes tiefem Verständnis und sprach oft mit uns davon: ›Goethe erfaßt die Musik mit dem Herzen, und wer das nicht kann, bleibt ihr sein Lebtag fremd.‹ In Ottiliens Zirkel, den gerade damals das ›Chaos‹ vereinigte, beschäftigte und belebte, trat er als neues, willkommenes Element. Alles, was Kunst im weitesten Sinn berührte, faßte er mit Begeisterung auf, während das wissenschaftliche Gebiet, besonders das naturhistorische, nicht in seinen Interessenkreis zu ziehen war, obwohl er es gut zu verbergen wußte. Goethe, dem, seiner eigenen wunderbaren Natur nach, jede Einseitigkeit unverständlich blieb, versuchte oft auf Felix einzuwirken. Es blieb vergebene Mühe; einmal soll Goethe sogar – ganz Saul! – seinem Liebling zornig den Rücken gekehrt haben, weil er ihn nicht verstand. Aufs höchste erschrocken, saß Mendelssohn wie versteinert vor dem Flügel, bis er, fast unbewußt, mit den Fingern die Tasten berührte und, wie zu eigenem Trost, zu spielen begann. Plötzlich stand Goethe wieder neben ihm und sagte mit seiner weichsten Stimme: ›Du hast genug, halt's fest!‹ So erzählte Felix, der lange dem Sinn der Worte nachgrübelte. Ein andermal war er die indirekte Ursache eines heftigen Auftritts, der freilich wortlos verlief. Er spielte nachmittags bei Ottilie; ein Freund nach dem anderen kam herein, das neueste ›Chaos‹ lag vor uns, wurde besprochen, belacht, sein Spiel verhallte ziemlich ungehört. Da ging die Tür auf, Goethe erschien, warf einen Blick so voll Zorn und Verachtung auf uns, daß unser Gewissen uns sofort mindestens zu Räubern und Mördern stempelte, ging ohne Gruß an uns vorüber, auf Mendelssohn zu, und ehe wir zur Besinnung gekommen waren, hatte er mit ihm das Zimmer verlassen. Es war dies das einzige Mal, daß ich Goethe oben sah. Später sagte mir Ottilie, der Vater habe sie noch tüchtig ausgezankt und ihr befohlen, auch ihren Besuchern sein Urteil nicht vorzuenthalten.

Felix Mendelssohn machte Verse, wie wir alle, aber er beanspruchte nicht den Ruhm eines Dichters. Gesellschaftsspiele, wobei in möglichster Geschwindigkeit hübsche Reime gemacht werden mußten, waren an der Tagesordnung. Der Ungeschickte oder der, dessen Versfüße zu sehr humpelten, war verpflichtet, ein Pfand zu zahlen, das meist wieder durch ein Gedicht eingelöst wurde. In Tiefurt, wenn wir genug getanzt oder gespielt hatten, ruhten wir uns dabei aus, und vor kurzem fand ich noch ein Päckchen vergilbter Blätter, mit allen möglichen und unmöglichen Reimen bekritzelt, die mich lebhaft an jene Zeit erinnerten. Darunter befanden sich auch Mendelssohns Verse, mit denen er einmal in Tiefurt sein Pfand eingelöst hatte:

Ihr wollt durchaus, ich soll ein Dichter werden,
Weil ich mit euch in Weimar bin;
Ich aber kam als Musikant auf Erden,
Und meine Reime haben keinen Sinn.

Ich will in Tönen eure Schönheit preisen
Und eure Macht, die mich zum Dichten zwingt;
Verfaßt die Lieder nur zu meinen Weisen,
Und dann versprecht mir auch, daß ihr sie singt.

Vermessen scheint mir's, wollt' ich weiter dichten,
Denn ich verscherze damit eure Gunst;
Ihr Schönen seid zu streng im Strafen, Richten,
Mir hilft's doch nichts, ich lebe meiner Kunst.

Als unser verwöhnter Musikant, der doch im Grunde ein Dichter war, wie jeder echte Künstler, uns seine schon einige Male hinausgeschobene Abreise verkündete, war der Kummer groß. Er mußte versprechen, wiederzukommen, zu schreiben, uns einige Lieder zu schicken, die uns seine Gegenwart etwas ersetzen sollten. Ulrike von Pogwisch beschäftigte sich einen ganzen Abend damit, seine Silhouette auszuschneiden, die sie dann unter uns verteilte. Bei strahlendem Sonnenschein fuhr er fort, sein Wagen war angefüllt mit Rosen, die wir ihm zugeworfen hatten; Ottilie und Ulrike gaben ihm das Geleit, und so schied er von Weimar, recht als ein Sonnenkind. Er hinterließ nur trauernde Freunde, nicht einen Feind.

Als ich ihn nach vielen Jahren in Berlin wiedersah, war zwar der lachende Frühlingsglanz von seinen Zügen verschwunden, aber Herbst- und Winterstürme hatten sie nicht umbraust und störten auch wohl nie sein Sonnenschicksal. Sein Spiel war gehaltvoller, ruhiger geworden, die stürmischen Phantasien seiner Weimarer Zeit wiederholten sich nicht mehr. In der Erinnerung an die Vergangenheit leuchteten seine Augen auf, und er sagte mit dem Tone tiefster Überzeugung: ›Wer weiß, was ohne Weimar, ohne Goethe aus mir geworden wäre!‹«

In persönlich nähere Beziehung als zu Mendelssohn trat Jenny zu Karl von Holtei. »Er war einer der häufigsten Gäste unserer lieben Musenstadt«, schrieb sie. »Im Winter 1828 lernte ich ihn kennen, und zwar nach einer seiner öffentlichen Vorlesungen, die wir eines Hoffestes wegen nicht besuchen konnten. Bei Johanna Schopenhauer, wo er stets wie ein Glied der Familie aufgenommen wurde, traf ich ihn zum erstenmal. Wir erwarteten von ihm, dem Vielgereisten, viel Neues, Interessantes zu hören. Welch eine Enttäuschung, als er eintrat.

›Gottlob, hier bin ich der Engländerpest entflohen‹, sagte er. Das war keine Empfehlung für ihn, da die Engländer eine große Rolle spielten. Nach der allgemeinen Vorstellung begann er über die Interesselosigkeit der Weimaraner in ziemlich derber Weise herzuziehen, weil seine Vorlesung nicht besucht gewesen war. Wir bewiesen ihm, daß die Karnevalszeit keine günstige für dergleichen sei, worauf er uns vergnügungssüchtig schalt. Schnell legte unsere liebenswürdige Wirtin sich ins Mittel, um einer allgemeinen Verstimmung vorzubeugen, und bat ihn, uns durch einen Vortrag zu versöhnen, das würde uns zugleich reizen, den Saal späterhin zu füllen. Er ließ sich nicht lange bitten, las einzelne Gedichte und eine komische kleine Erzählung, improvisierte sodann eine Art Entschuldigung in Versen wegen seines ersten Auftretens im Kreise der Grazien und Musen, wobei er sich mit einem Satyr verglich, der zwar einen Bocksfuß habe, aber trotzdem die Gutmütigkeit selber sei; damit war der unangenehme Eindruck verwischt, wir nahmen ihn von nun an auf wie einen der unseren. Bei anderen, wo sein ungezwungenes Wesen ebenso gegen das Hergebrachte verstieß, wurde es ihm oft sehr schwer, ja manchmal unmöglich, sich so zu rehabilitieren wie bei uns. Um ihn ganz zu würdigen, mußte man ihn näher kennen. Er gehörte zu den Menschen, die, sei es aus falscher Bescheidenheit oder, was hier wohl besser zutrifft, aus einer Art Hochmut, ihre guten Seiten sorgfältig verstecken. Sie bauen um ihr schönes Selbst eine Dornröschenburg und wundern sich, wie selten ein Prinz die Dornhecke zu durchbrechen versucht. Sehen wir uns Holteis Leben an, so wird es verständlicher, daß er sein Bestes mißtrauisch verschloß. Er mußte mit viel Gemeinheit umgehen, mit viel Gemeinheit rechnen; edler Umgang war ihm selten geworden, und das, was den Menschen zeit seines Lebens am meisten verbittert, eine freudlose Kindheit in der Nähe unwürdiger Verwandter, hatte er wie wenige durchkosten müssen. Der Kampf mit dem Leben, der uns so leicht zu uns selber sprechen läßt: ›Landgraf, werde hart‹, hatte ihn längst gestählt. Bisher war mir der Kampf zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Glauben und Zweifel allein schmerzlich bekannt geworden, in Holtei trat mir zum erstenmal jener andere harte Kampf gegen die grauen Schwestern, Sorge und Not, entgegen.

Als Holtei einen tieferen Blick in unsere Welt getan hatte und sah, daß man hier frei atmen könne, fiel die rauhe Schale von selbst von ihm ab. Sein natürlicher Frohsinn, sein weiches Gemüt, sein Humor, der zwar immer etwas derb blieb, gewannen die Oberhand, er fühlte sich bald heimisch und war ein gern gesehener Gesellschafter. Die junge, einheimische Herrenwelt Weimars liebte ihn, weil er ihre Abneigung gegen die Engländer unterstützte, die Damen freuten sich, wenn er kam, weil er stets ein paar galante Verse bei sich hatte; Goethe empfing ihn häufig, weil er Neues und Interessantes hübsch vorzutragen wußte.

Sehr innig gestaltete sich die Freundschaft zu August Goethe. Holtei sah in ihm eine höhere, nur auf falsche Wege geleitete Natur und gewann den segensreichsten Einfluß über ihn, der sich sogar im häuslichen Leben angenehm bemerkbar machte. August liebte Holtei innig, beteiligte sich ihm zuliebe an unseren geselligen Freuden, so daß eine Zeit vollständiger Harmonie angebrochen zu sein schien, die aber nur so lange andauerte, als Holtei anwesend war.

Unter all den kleinen und großen Festen, die uns vereinigten, waren bei schönem Frühlingswetter die Picknicks die beliebtesten. Zu Fuß, zu Wagen, zu Pferde ging's hinaus nach Tiefurt, Ettersburg, Belvedere. Tiefurt besonders, unter dessen herrlichen alten Bäumen schon unsere Eltern jung und froh gewesen waren, galt als angenehmer Vereinigungsplatz, wo bei Spielen, Spaziergängen, dicker Milch, auch wohl bei einem ländlichen Ball im Pavillon große Heiterkeit herrschte. Dorthin kam jeden Nachmittag Lord Charles Wellesley, der Sohn des Herzogs von Wellington, und brachte uns Kirschen oder Erdbeeren mit, die er selbst bei der Hökerin eingekauft hatte. Er war äußerlich unansehnlich, etwas taub, sehr einfach und sehr liebenswürdig im Gegensatz zu seinem Bruder, Lord Donero, der stolz und zurückhaltend war, seinem Vater sehr ähnlich sah und nur unter Umständen liebenswürdig sein konnte. Mit Ottilie Goethe und Emma Froriep waren wir zur Zeit von Holteis Anwesenheit auch einmal hinausgefahren, eine Anzahl junger Leute fanden sich noch dazu, und wir saßen schon fröhlich um unseren frugalen Vespertisch, als Holtei in gehobener Stimmung vom alten Goethe aus zu uns kam. Er war wohl deshalb liebenswürdiger als sonst zu den Engländern und versprach sogar den Vortrag eines ganz neuen Gedichtes, wenn er dafür noch – dicke Milch bekäme. Die Satte wurde feierlich vor ihn hingesetzt, er sprang auf einen Stuhl und rezitierte ein Gedicht, das er auf Weimar verfaßt hatte.

Jubelnder Beifall belohnte den Dichter, der sich ruhig dem Genuß der dicken Milch überließ, während Ottilie einen Zettel aus der Tasche zog und ebenfalls höchst witzige Verse auf Weimar vortrug, zu denen sie allerhand aus dem Stegreif dazu improvisierte.

Nachdem ein jeder seinen Imbiß mit poetischer Begleitung zu sich genommen hatte, zerstreuten wir uns im sonnendurchleuchteten, frühlingsduftigen Park an den Ufern der Ilm, die rauschend und flüsternd von vergangenem Leid, vergangener Freude erzählte und immer wieder denselben Lebenszauber voll Liebeslust und Jugendglück in ihren Fluten wiederspiegelte.

Selbst Holtei wurde nach und nach bei uns ein Naturschwärmer, was ihm sonst fern lag. Er sprach es wohl aus, wie schnell der Herbst des Jahres, wie der Herbst des Lebens all die Freuden vernichtete und ihn, den Wandervogel, wieder in die Fremde treibe. In solchen Stunden habe ich ihn kennen und schätzen gelernt, in solcher Stimmung war es, wo er mir folgende Zeilen in das Album schrieb:

»Ach« ist unser erstes Wort,
Denn des Seufzers bittre Kunde
Dringt in stillem Friedensort
Aus des Kindes zartem Munde.

Und des Frühlings Zauberhauch,
Und der ersten Liebe Beben
Will mit bangem »Ach« sich auch
Kund den bunten Blüten geben.

Und der Trennung ernster Schmerz
Macht sich Luft mit diesem Worte,
Seinen Boten schickt das Herz
Aus der Lippen heil'gen Pforte.

Aber einmal noch umwehn
Freudig uns des Wortes Schauer,
Unerwartet Wiedersehn
Staunet: ach – nach langer Trauer.

Liebst du dieses Wortes Klang,
So verschmäh nicht diese Zeilen.
Jeder Vers wird zum Gesang,
Wird dein Aug auf ihm verweilen.

Weimar, März 1828.                 Karl von Holtei.

 

Im Herbst 1829 kam Holtei wieder nach Weimar. Er traf mit dem französischen Bildhauer David zusammen, der sehr gefeiert wurde und sich trotz seiner Jugend schon einen Namen gemacht hatte, dessen guter Klang durch die Büste Goethes ihm weit über die Grenzen Deutschlands und Frankreichs einen bedeutenden Ruf verschaffte. In der Gesellschaft machte sein Talent, aus Brot die Köpfe der Anwesenden abzuformen, ihn schnell beliebt, so daß Holtei, der etwas mißtrauisch und empfindlich war, sich zurückgesetzt fühlte. ›Wenn nur die guten Weimaraner mal einen Mondbewohner herbekämen, sie würden sogar Schiller und Goethe darüber vergessen‹, brummte er, und erst, als David fortreiste, kam der alte gute Freund wieder zum Vorschein.

Meine Korrespondenz mit Holtei begann durch das ›Chaos‹ und setzte sich fort, nachdem es eingegangen war.«

Einige Auszüge aus Briefen Jennys an ihn mögen hier folgen:

14.5.32.

»Meine Politik finde ich in der Geschichte und in der Philosophie, mein Staatsminister ist Herders Nemesis, diese allein rechnet gut und gerecht.«

 

14.8.32. Berka.

»Sie sehen am Datum meines Briefes, daß ich noch in meiner lieben Einsamkeit bin; die Natur ist so schön, die physische und moralische Luft so rein, daß die Brust freier atmet und alles Treiben und Drehen und Quälen der politischen Welt in dem unreinen Nebel versinkt, welcher unter den Bergen zu meinen Füßen liegt. Nicht Fröhlichkeit, aber Ruhe und Frieden bedarf das Herz, und dieses findet es in den majestätischen Wäldern, in der hehren Natur, welche, den Menschen zum Spott, in Frieden und Krieg, in Sturm und Ruhe, im Ungewitter und Sonnenschein immer groß bleibt. Möchten die Menschen, die Nationen, die Könige und Diplomaten sich ein Beispiel daran nehmen!«

 

22.9.33.

»Sollte die biblische Sage vom Baume der Erkenntnis nicht dieselbe Grundidee ausdrücken als die Fabel des Prometheus? Das Licht des Himmels, die Erkenntnis, raubte er, die Frucht des Paradieses, die Erkenntnis, raubte Eva. Ihre Schuld war die Begierde des Wissens, ihre Unschuld ein unbewußtes Rechthandeln. Sie wollten wissen, so mußten sie die Unschuld verlieren, denn nun begann das Forschen, das Streben, das Ergründen, das Zweifeln. Auch die Strafen des Prometheus und der ersten Menschen enthalten den tiefen Sinn der unbefriedigten Erkenntnisbegierde. Das Paradies, nämlich das Glück, liegt so nah und ist so unerreichbar, der Engel mit dem Flammenschwert: die Leidenschaften der Menschen, stehen drohend vor der Pforte. Der grausame Adler und das zurückweichende Wasser in den Strafen des Prometheus – wäre es nicht die Darlegung des Goetheschen Ausspruchs: daß nicht nur das Unmögliche, sondern so vieles Mögliche dem Menschen versagt ist?«

 

25.6.36. Kochberg.

»Mit der Veredelung der Seele muß der Mensch denselben Prozeß vornehmen, dem der Maler bei den Mosaikgemälden folgt, der Geist muß erst in schönem Umriß das Ganze vor sich haben, was er darstellen will: sein eigenes Ich in höchster Vollkommenheit. Dann müssen alle Fähigkeiten, alle Kräfte, alle Talente die bunten Steinchen zutragen, die das Gemälde bilden sollen. Es gehört die Geduld eines ganzen Lebens, die redliche Arbeit jeden Tages dazu, um das Werk zu fördern; jeder Gedanke, jede Kenntnis, jede Handlung mag ein Steinchen sein – glücklich, wer sich am Ende seiner Tage vor das vollendete Bild stellen und in Wahrheit sagen darf: es ist vollbracht.«

 

4.7.36.

»Ich halte es immer für einen Mangel an Menschenkenntnis, wenn man sich über schnelle Untreuen wundert. Gerade in der Aufregung der Gefühle, in der krankhaften geistigen An- und Abspannung, welche ein großer Schlag hervorbringt, der zerstörend in unser gewohntes Geistes- und Gefühlsleben eindringt, gerade in solchem Zustande ist das Herz eines neuen Gefühls, eines neuen Anschmiegens am fähigsten, es steht gleichsam offen. Später schließt es sich, andere Gewohnheiten wurzeln fest, und unter ihnen hat eine liebe Erinnerung wieder einen festen, bestimmten Platz; dann wird ihr Wegrücken schon bedeutend schwerer, und ich wundere mich viel mehr über zweijährige als über zehnjährige Treue.

Darum ist mir die Bemerkung Larochefoucaulds immer so wahr erschienen: ›On n'est jamais plus près d'une nouvelle passion qu'en sortir d'une ancienne.‹ Das ist schon ein sehr tiefes Gefühl, welches dem Reiz der Leidenschaftlichkeit widersteht, den die Seele eben gekostet hat, das ist schon die Kraft einer seltenen Liebe, welche mit Abscheu den Becher des Genusses von sich stößt, den es nur einem Herzen verdanken will; daher finden wir so sehr viel mehr Frauen, die nur eine Liebe empfunden haben, als solche, die bei einem zweiten oder dritten Verhältnis dieser Art stehengeblieben sind. Bildet nicht das tiefste, reinste Gefühl die Grenze, so kettet sich Leidenschaft an Leidenschaft zu endloser Kette.«

Von Holteis Briefen an Jenny sind nur die wenigen Zeilen vorhanden, von denen sie selbst erzählt: »Holtei schrieb mir nach Goethes Tod, und seine Worte bezeichnen am besten sein tiefes Empfinden: ›Es geht ein Riß durch die Welt und durch die Herzen, nun Er geschieden ist. Wer weiß, ob es uns, die wir ihn kannten, nicht besser wäre, wir sprängen hinein in diese Kluft und gingen so dort hinüber, wo Er herkam und nicht zum zweitenmal kommen wird!‹

Der intime Kreis um Ottilie und ihre Kinder schloß sich nach Goethes Tod besonders eng zusammen. Es war, als ahnten alle, daß diese vier Menschen es mehr als andere bedurften, von einer doppelten und dreifachen Mauer der Freundschaft vor dem Leben, das wie ein barbarischer Eroberer draußen stand, geschützt zu werden. Und doch war es schließlich stärker als ihrer aller Liebe!

Neben Adele Schopenhauer und Alwine Frommann, gehörte Emma Froriep zu den Intimen, die Tochter des Medizinalrats und späteren Leiters des Landesindustriekontors Ludwig Froriep, dessen Haus auch einer der Mittelpunkte des damaligen geistigen Lebens war. Jenny Pappenheim befreundete sich innig mit Emma Froriep, in deren elterlichem Haus sie viel verkehrte.

Wichtiger als die geistige Anregung, die sie im Froriepschen Hause fand, war für Jenny der Einfluß der ruhigen, charaktervollen Freundin. Sie verkehrte täglich mit ihr, und die beiden jungen Mädchen sahen es als eine besondere Weihe ihrer Freundschaft an, daß sie im Frühling und Sommer zuweilen in dem lieblichen, nahegelegenen Berka wochenlang allein zusammen hausen durften. Damals war es, nach den Zeichnungen in Jennys Album, noch ein einfaches Dörfchen und das Landleben kein Badeleben. Aber gerade das entsprach dem Geschmack der Freundinnen. Die Liebe Jennys zur Natur beherrschte schon das junge Mädchen. In Wald und Heide suchte sie den Frieden wieder, den sie im unruhigen geselligen Leben der Stadt verloren hatte. Emma Frorieps Gestalt war wie ein Stück dieser Natur. Jenny hat sie auf den folgenden Seiten gezeichnet:

»Inmitten der Mißlaute des Irrtums, der Leidenschaft, der Schmerzen, inmitten der Verwirrungen des Schicksals und der Seele, inmitten der Kämpfe zwischen Kopf und Herz, zwischen der Pflicht und dem Vergnügen gab mir Gott eine reine Harmonie. Wenn sich über meinem Haupt das Gewitter zusammenzog, der Donner über mir rollte und die Blitze hie und da die Nacht in mir erhellten, dann kreuzte ich die Arme, hielt mich gewaltsam aufrecht und wartete, denn bald sprach meine Harmonie in sanften Tönen zu mir; wenn tausend verschiedene Stimmen mir tausend verschiedene Worte zuschrien, wenn die Welt und das Leben mir ihre gefälschten Wertscheine zuwarfen, wenn jedermann um mich nach eigenem Takt sein eigenes Instrument spielte, wartete ich wieder, denn bald übertönte der reine Gesang meiner Harmonie alles. Wenn das Schicksal mit seiner Riesenstimme mir seine Befehle zurief, so flüchtete ich zitternd zu meiner Harmonie, die jene schrecklichen Laute sanft und zärtlich wiederholte, so daß ich ihnen ohne Angst zu folgen vermochte.

Emma heißt meine Harmonie, mein Gewissen, meine Vernunft, Emma ist der Name meines einzigen Ideals, das sich zur Wirklichkeit verkörpert hat. Eins hier unten ist für mich vollkommen gewesen: die Freundschaft mit ihr. Ich liebe meine anderen Freunde, ich spreche und lache mit ihnen, ich teile ihre Freude wie ihren Schmerz, doch nur vor Emma enthülle ich ganz mein Inneres, nur zu ihr sage ich: ›Ich leide‹, – und ich habe viel gelitten!

Lange schon bewohnten wir dieselbe Stadt, besuchten dieselbe Gesellschaft und kannten uns nicht. Ich war eben aus der Pension gekommen, war ein lebhaftes, leidenschaftliches Kind, dessen Herz und Geist für nichts anderes als für den Namen Goethe Platz hatte. Ich stürzte mich in den geselligen Strudel, das Amüsement war mein einziges Ziel; Emma, obwohl viele Jahre älter als ich, stand betrachtend, wo ich handelnd war, sie folgte instinktmäßig den Gewohnheiten der übrigen, sie erlaubte sich nichts, das nicht mit der Sitte übereinstimmte, ihr galten die Männer als eine andere Art Geschöpfe, die sie sich immer fernhielt, jeder freiere Blick empörte ihren Stolz, Liebe erschien ihr erniedrigend, auch hatte sie keine Verehrer; ich war überzeugt, daß sie sich entsetzlich langweilen müsse. Trotzdem fühlte sie sich glücklich. Um fünf Uhr frühstückte sie schon mit ihrem Vater, der ihre einzige Leidenschaft war, dann verbrachte sie den Tag in weißem Kleid mit frischem, ruhigem Gesicht und noch ruhigerer Seele; sie nähte viel, buk vorzüglichen Kuchen, sang harmlose Lieder, dachte wenig und schlief gut und fest. Mir erschien sie als ein steifes, kühles Mädchen, das mir imponierte, mich aber nicht anzog.

Wieviel Tränen mußten auf die Flammen meines Inneren fallen, wieviel Schicksalsstürme mußten das Feuer ihrer Seele anfachen, ehe unsere Herzen sich fanden!

Jetzt gehört das Amüsement nicht mehr unter die Ziele meiner Tage und die ihren haben die Farbe gewechselt. Zwar ist ihr Gang noch ruhig, zwar beherrscht Gesetz und Sitte sie noch, doch sie erblaßt, wenn sie die Herzenskämpfe ihrer Freunde sieht; oft steht sie nach einer schlummerlosen Nacht erst um acht Uhr auf und sitzt stundenlang stumm ihrem Vater gegenüber. Sie singt nicht mehr, sie näht wenig, liest viel und denkt immer. Die Männer sind für sie keine fremden Wesen mehr, doch ihre Kühle ihnen gegenüber ist noch nicht gewichen und ihre Natur wird niemals die zarte Schmeichelei lernen, welche die Frau dem, den sie liebt, entgegenbringt, diesen Instinkt, der uns treibt, ohne Berechnung das zu tun, was dem König unserer Seele gefällt, kurz, jenes Etwas, fälschlich Koketterie genannt. Und doch, als neulich vom weiblichen Stolz gesprochen wurde, der die Liebe besiegen müsse, unterbrach Emma ihre Freundin und sagte: ›Was hat der Stolz mit der Liebe zu tun?!‹

Ich weiß nicht, ob mein Herz oder meine glühende Phantasie Emma ihrer glücklichen Gleichgültigkeit entriß; ich glaube, daß ich im Augenblick des Erwachens zu ihr kam, als plötzlich der Vorhang der Vorurteile und Gewohnheiten zerriß und ihr die wirkliche Welt erschien. Ich sprach ihr ohne Zweifel von lauter neuen Dingen, alles, was ich vom menschlichen Geist und Herzen wußte, kam ihr zunächst wie eine Fabel vor. Doch ich vermochte sie zu überzeugen, und später frug ich sie, wenn ich ihr meinen Gedankengang enthüllt hatte: ›Verstehst du ihn?‹ und fast immer antwortete sie: ›Ja, ich verstehe ihn!‹

›Wir haben in unserem Leben keine andere Aufgabe, als in jedem Augenblick so zu handeln, wie unser Gewissen es uns vorschreibt; die Folgen gehören der Gewalt des Schicksals an, das ihrer doch immer Herr bleiben wird, welches auch unsere törichten Pläne sein mögen‹, sagte ich einst.

›Schon längst ist dies auch meine Überzeugung. Manchmal erschwert sie das Leben, doch als allgemeine Regel gibt sie uns Gesetze, Sicherheit, Ruhe und verscheucht auf immer Selbstvorwürfe und Reue. Nur nenne ich das, was du Schicksal nennst, Gott!‹ erwiderte Emma.

›Du weißt‹, unterbrach ich sie, ›daß ich Gott im Goetheschen Sinn verstehe.‹

›Verstehst du ihn? Ich nicht!‹.

›Auch weiß ich, daß Goethe einst sagte: Es ist ganz einerlei, was für einen Begriff man mit dem Namen Gott verbindet, wenn man nur göttlich, das heißt gut handelt!‹

›Mir‹, lächelte Emma, ›ist Gott der Gott der Liebe, der liebe Gott der Christen.‹

Doch genug davon – verwelkte Blumen sind die Worte, denen Blick und Händedruck fehlt; ich kenne keine Sprache, die das lebendige Gespräch ebenso lebendig wiederzugeben vermag; Herz, Gefühl und Geist haben ihre eigene Sprache. – Eine Erinnerung wird dauernd frisch in meinem Herzen bleiben, es ist die an unsere in Berka gemeinsam verlebte Frühlingszeit. Ein Tag daraus mag für das Bild unserer unschuldigen Freuden der Rahmen sein.

Auf einer kleinen Erhöhung in jenem Teil von Berka, der Dorf Berka genannt wird, erhob sich inmitten eines Gartens ein kleines Haus. Wie oft, sobald es am Horizont aufstieg, beschleunigte sich mein Schritt, und mein Herz, alle Sorgen von sich werfend, klopfte vor Freude und Hoffnung; es war keine andere Hoffnung als die auf Frieden und Ruhe, und doch war ich noch nicht zwanzig Jahre alt! In den oberen Räumen richteten Emma und ich unseren Haushalt ein. Wir hatten eine kleine Küche, einen großen Flur, ein Zimmerchen für unsere Jungfer und konnten im Notfall sogar einen Gast beherbergen. Unser Schlafraum war einfach, aber bequem, unser kleines Wohnzimmer war reizend: ein Schrank, zwei Bücheretageren, ein rosa und weiß drapierter Toilettentisch, darauf ein Spiegel mit goldenem Rahmen, zu jeder Seite eine Vase, mit jenen palmenartigen Farren gefüllt, die im Tannenwald an den verstecktesten Plätzen wachsen; dann unsere Schreibtische, nur durch die Fensterwand getrennt, an der auf weichem Teppich zwei Lehnstühle standen. Neben den tausend Dingen, die auf keinem Schreibtisch vermißt werden, standen drei blumengefüllte Gläser auf einem jeden; wir liebten vor allem die wilden Rosen, von denen ein einziger Zweig schöner ist als alle Zentifolien. Auch ein Sofa, ein runder Tisch, verschiedene Bilder fehlten nicht; auf allem lachte die Frühlingssonne, die bis zum Abend auf unserer Diele ihre Strahlen tanzen ließ, und aus jedem Winkel des Zimmers fiel der Blick auf das helle Grün der Hügel, auf die dunklen Tannen, auf drei breite, sich durch das Tal schlängelnde Wege, in nächster Nähe auf die Häuser der Bauern und jene regelmäßige Tätigkeit, um die man sie beneidet, sobald ein böser Gedanke drückend auf der Seele liegt. Aus dem anderen Fenster sah man den kleinen Fluß, die Kirche, die Brücke und den Markt, von dessen Häusern man nur die Dächer bemerkte, in der Ferne ein weites Tal, durch ein Dorf und einen alten Turm geschlossen, dann Hügel auf Hügel und jedes Jahr ein neues rotes Dach, das sich darauf erhob; schließlich ein spitzer, kahler Berg, auf dem der Fluch der alten Frau zu ruhen schien, die im Anfang des vorigen Jahrhunderts dort verbrannt worden ist. Dieser freundlichen Landschaft gebührt der dankbare Blick, mit dem wir jede Gegend betrachten, die das Glück mit uns bewohnt hat, der freundliche Gedanke für die Zukunft, eine Handlung der Barmherzigkeit für die Gegenwart, die Hand eines mitfühlenden Freundes in der unseren.

Bei meinem Erwachen stand Emma neben mir, zum Ausgehen bereit; sie ging, der Natur ihren Morgengruß zu bringen. Als sie zurückkam, war ich angezogen, die Stube aufgeräumt, frische Rosen, die ich im Garten gepflückt hatte, auf dem Tisch und das Frühstück daneben. Nachher mußten die Wirtschaftssorgen erledigt werden, bis daß jede sich an ihre Vormittagsbeschäftigung begab, die wir bis drei Uhr ausdehnten, nur hier und da durch gegenseitiges Vorlesen aus Büchern und Briefen unterbrochen. Der ruhige Schritt unserer blonden, freundlichen Jungfer mahnte uns an die Essenszeit; ihr strahlender Blick galt heute ihren Küchenerfolgen, die unsere vollste Anerkennung fanden. Hastiges Klopfen störte unsere sehr materiellen Freuden, und auf unser »Herein« flogen zwei Knaben lachend auf uns zu. »Wolf – Walter« riefen wir wie aus einem Munde, und nun überstürzten beide sich im Erzählen, wie es gekommen war, daß der Großvater sie im eigenen Wagen hierhergeschickt habe.

›Ich habe ihm gestern vorgespielt.‹

›Ich habe einen guten Aufsatz geschrieben.‹

Es gab viel zu fragen und zu erzählen, dazwischen wurde unserer Erdbeerspeise tapfer zugesprochen. Wolf berichtete von den Stadtneuigkeiten, von dem Großvater, der sich wieder einmal mit Tante Ulrike gezankt habe. Er ging, nach Art desselben, langsam, die Hände auf dem Rücken, den Oberkörper etwas geneigt, den Kopf gehoben, die weit offenen Augen auf uns gerichtet, im Zimmer auf und nieder, dabei sagte er mit grollender Stimme: ›Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen, ihr treibt's mir bald zu arg.‹ Ich mußte lachen, ermahnte aber doch meinen jungen Freund, des Großvaters nicht etwa zu spotten. ›Zu spotten?!‹ rief er, ›du glaubst, ich könnte das? Ist er nicht unser liebster, bester, einzigster Großvater?‹ Dann erzählten sie von den Eltern; dem Vater, der viel Kopfweh habe und selten zu Hause sei, der Mutter, die sich eifrig mit dem Plan zu einem Sommerfest beschäftige, und schließlich sprangen sie hinaus und fuhren davon, uns in einer Art Betäubung zurücklassend. In unseren Frieden war die Welt mit ihrem Zwiespalt gedrungen.

Bald darauf rüsteten wir uns zum Spaziergang: weiße Kleider, runde Hüte, das schottische Tuch über dem Arm, ein Buch in der Hand, das freilich nur selten geöffnet wurde. Wir gingen stumm Arm in Arm nebeneinander, meine Gedanken waren in jenem klassischen Hause, in dem ein über alles Erdenleid erhabener Jupiter zu thronen schien und dessen Mauern doch so viel Kummer verbargen; ist es nicht auch immer die mühsam zu ersteigende Jakobsleiter, an deren Sprossen nicht Engel, sondern Dämonen stehen, gegen die der Kletternde kämpfen muß, damit sie ihn nicht hinunterwerfen; wie wenige sind stark genug, um den strahlenden Tempel menschlicher Größe zu erreichen, wie wenige sind so stark, um die schwächeren Genossen nach sich zu ziehen. Ich wäre längst am Boden zerschellt ohne den vorschreitenden erhabenen Führer!

Wir hatten den Wald erreicht, sein Duft ließ uns freudiger atmen, und ein weicher Moossitz entschädigte uns, wenn wir zu hastig gegangen waren. Manchmal tönten aus der Ferne Axtschläge gegen einen zum Tode verurteilten Baum; ein Krach, ein Fall, der wie schluchzend verklang, entlockte uns einen Seufzer – der Tag war schön, wer wünschte sich, zu sterben? Nach und nach verlängerten sich die Schatten, unsere Unterhaltung hatte zwischen Gefühl und Erzählung, zwischen Philosophieren und Schweigen, zwischen Vergangenem und Zukünftigem, zwischen Ernstem und Heiterem gewechselt. Wir hatten neue Pfade entdeckt, neue hochgelegene Matten, auf denen sich schöne Luftschlösser bauen ließen, und traten aus dem Wald, als der Mond schon hoch am Himmel stand. Sobald wir die ersten Häuser erreichten, begrüßten wir die freundlichen Bewohner, deren rosige Kinder schon schlafen gegangen waren, um den nächsten Morgen noch rosiger zu erwachen; die Eltern saßen vor der Haustür, der Vater rauchte seine Pfeife, die Mutter legte die Hände in den Schoß. Kennt ihr solch ein beseligendes Ausruhen, ihr Untätigen, die ihr euch mit euren leeren Gedanken gelangweilt in den Lehnstuhl werft?! – Zwei Schritte weiter sahen wir ein neues Häuschen entstehen; es hatte, wie die anderen, nur eine Stube, eine Kammer, Küche und Ziegenstall. Wir hatten oft in bewohnte Räume gesehen, überall fanden wir die peinlichste Sauberkeit; vor der Tür neben der Steinbank einen blühenden Rosenstock, ein kleines Gärtchen hinter dem Hause mit gut gepflegten Gemüse- und Blumenbeeten, ein Höfchen daneben mit ordentlich aufgeschichtetem Holzvorrat, einige unglückliche Vögel in Käfigen, die sangen und die weißen Wände garnierten, und dazu zufriedene Gesichter, einen freundlichen Gruß für jedermann.

Unsere Jungfer erwartete uns: ›Der Pächter hat schon wiederholt nach Ihnen gefragt, und das Abendbrot wartet. Auch hat der Bote Briefe in Menge gebracht.‹

Der Mond leuchtete uns zu unserem einfachen Imbiß, den wir in Gesellschaft unseres guten alten Pächters, der zugleich unser Hauswirt war, einnahmen. Er erzählte uns von einem armen Tagelöhner, der sich beim Holzfällen verwundet habe und nun für sich und seine Familie nichts verdienen könne; dabei sah er uns erwartungsvoll an. Ich wollte sofort hinstürzen, Emma hielt mich zurück.

›Morgen in aller Frühe packen wir unseren Korb mit Fleisch und Brot, vergessen auch unser Verbandzeug nicht, und freuen uns, daß es Menschen gibt, denen mit so wenig Mühe geholfen werden kann.‹

›Und denken an all das namenlose Elend, dem wir nicht steuern können.‹

Der Abend war herrlich, wir saßen noch lange vor der Tür und sahen, wie nach und nach ein Licht nach dem anderen hinter den Fenstern erlosch. Die Stille herrschte und schien durch die Majestät des Mondes zu regieren; die Ilm flüsterte kaum, sie fürchtete durch ihr Gemurmel das silberne Licht zu stören, das friedlich auf ihrem Wasser flimmerte.

Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz –
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz,
Breitest über mein Gefild
Ruhig deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick.

Zukunftsbilder stiegen vor mir auf, Träume von Glück wurden lebendig; weit in der Ferne verschwand die Vergangenheit.

Die Lampe im Zimmer machte uns wieder gesprächig, während eine Schleife nach der anderen sich langsam löste. Wir dachten mit Schrecken an die Stadt, an den Winter, den Schnee, den Kerzenglanz, an die falschen Blumen und an das falsche Lächeln, an Toiletten und Gesellschaftsklatsch, und freuten uns der Gegenwart, in die nichts von alledem gehörte. Noch eine zärtliche ›Gute Nacht‹ und es wurde still in Haus und Herzen.

In den Rahmen dieses Tages gehört das Bild meiner Freundin; dann ist alles Harmonie, Friede, Klarheit. Ihre schöne Gestalt, ihr ruhiger Gang, ihre glatten, über der sanften Stirn gescheitelten Haare, dieser ganze Typus einer deutschen Schloßfrau, paßten so gut zu den schlanken, ernsten Tannen, zu dem majestätischen Wandel des silbernen Mondes auf dem klaren Firmament; ihr verschleiertes weibliches Herz, ihre angeborene Reinheit des Charakters paßten so gut in diese ruhig träumende Landschaft ohne zerrissene Felsen, ohne feuerspeiende Berge. Und in mein Leben gehörte dieser Engel des Friedens.«

In einem direkten Gegensatz zu diesem Engel des Friedens stand eine andere Freundin Jennys, Gräfin Louise Vaudreuil. Aber auch bei ihr, der Weltdame großen Stils, bewährte sich das Talent, das Jenny in ihren späteren Jahren zur höchsten Kunst entwickelte: das Beste aus den Menschen herauszuholen. Etwas von dem allumfassenden Goethegeist, dem »nichts Menschliches fremd war«, lebte in ihr und machte es ihr möglich, schon mit einundzwanzig Jahren – zu dieser Zeit sind die Charakterbilder Ottiliens, Emmas, Louisens und das des Professors Scheidler entstanden – in den Seelen ihrer Freunde, wie in einem offenen Buche zu lesen. Louise Vaudreuil schilderte sie folgendermaßen:

»Es war zwei Uhr nachmittags, als ich in ein elegantes Boudoir trat, das nur durch auf allen Stühlen und Tischen umherliegende Toilettengegenstände verunziert wurde. Eine junge Frau saß vor dem Spiegel, sie war blaß, ihre Augen schwarz umrändert, doch jeder ihrer edlen Züge von rührender Schönheit; sie hielt einen ihrer glänzenden schwarzen Zöpfe in der Hand und legte ihn mit größter Vorsicht um ihre Schläfen; alles verriet, daß sie eben erst das Bett verlassen hatte.

›Guten Tag, mein Kind‹, sagte sie; ›ich freue mich sehr, dich zu sehen. Denke dir, ich habe heute keinen Brief von Alfred und bin so besorgt.‹

›Doch warum dich ängstigen, liebe Louise, erst vorgestern hattest du Nachrichten aus Paris.‹

›Doch du weißt, ich bin unter einem Unglücksstern geboren, auch nehme ich immer alles von der trüben Seite. Und gerade heute bin ich schlechter Laune; Margarethe ist wieder unartig gewesen; meine Tochter hat kein Herz, keine einzige Neigung wurzelt darin, sie ist so selbstsüchtig und so kalt!‹

›Aber liebe Freundin, sie ist drei Jahre alt!‹

›Der Hut und das Kleid, das ich für dich bestellte, sind auch noch nicht angekommen.‹

›Gnädige Frau haben es vor acht Tagen bestellt‹, sagte die alte Kammerfrau, ›man kann die Postpferde von Paris hierher nicht beflügeln!‹

›Schweigen Sie, man hat Sie nicht gefragt.‹

Dann eine Pause. Die junge Frau hatte ihre Frisur beendet, doch sie war noch immer damit beschäftigt, eine widerspenstige Locke zu bändigen; es schlug dreiviertel auf drei Uhr, ehe diese große Arbeit getan war.

›Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen, das sind sicher die Vorboten einer neuen Krankheit.‹

›Das kommt von dem scharfen Duft, den du an dir trägst und in allen Räumen verbreitest.‹

›Ach nein, Kind; das Ausbleiben des Briefes regt mich zu sehr auf, auch ist der Klatsch, mit dem diese Stadt mich verfolgt, zum Verrücktwerden! Ich schrieb meinem Mann davon, der mich beruhigte und sagte, er würde zurückkehren, um wie früher in seinem Lehnstuhl hinter der großen Zeitung zu sitzen, während ich mich mit Prinz Friedrich Schwarzenberg unterhalte. Man ist zu schlecht in diesem kleinen Weimar; denke nur, daß Graf K. vorige Nacht vor meinem Hause wartete, bis der Prinz fortging, um dies Ereignis mit seinem Kommentar jedem Menschen zu erzählen.‹

Louise weinte und ihre Stimme zitterte.

›Ich versichere dir, liebe Freundin, daß ich glaubte, du habest dich längst über den Stadtklatsch erhaben gefühlt. Außerdem kannst du nicht annehmen, daß deine langen Unterhaltungen mit dem Prinzen unbemerkt bleiben würden; wir sind hier nicht in Paris. In Weimar geht man um zehn Uhr schlafen, wenn bei euch die Feste anfangen, und steht auf, wenn sie enden; es ist ganz natürlich, daß gewöhnliche Leute den Maßstab ihrer Gewohnheiten auch an andere legen; doch da dein Mann davon weiß, hat es nichts auf sich, und dein Kummer verfliegt, sobald er zurück ist. Gehst du an den Hof heut abend?‹

›Ja, man sagt, er wäre voll von kleinen deutschen Prinzchen, und diese Stückchen Souveränität amüsieren mich. Am liebsten freilich bliebe ich zu Haus, ich finde keinen Geschmack an der großen Welt; mein Buch, meine Malerei, meine Kaminecke, das ist es, was meiner Natur entspricht, die faul und indolent ist; auch schwöre ich dir, daß ich, wenn es nicht um die kleinen Triumphe der Eitelkeit wäre, die mir Spaß machen, gar nicht ausgehen würde; ich begreife deshalb nicht, wie eine häßliche Frau daran Freude haben kann! Hast du heute den Alten schon gesehen?‹

›Louise!‹ rief ich vorwurfsvoll.

›Soll ich sagen den Meister?! Ich teile eure kniefällige Bewunderung nicht, dafür ist er mir zu menschlich, hat zu sehr, wie wir gewöhnliche Sterbliche, seine kleinen und großen Aventüren gehabt.‹

›Trotz eurer kleinen und großen Aventüren seid ihr aber alle kein Goethe geworden!‹

Louise lachte, jede Spur von Tränen und Ärger war verwischt.

Man meldete den Schneider, er kam von der Leipziger Messe.

›Frau Gräfin haben noch zweiundzwanzig Kleider im Stück liegen‹, meinte die Jungfer kopfschüttelnd; doch der Schneider wurde empfangen, mußte alle seine Waren ausbreiten, die aufs gründlichste examiniert wurden; Louise suchte drei der schönsten Stoffe aus, schenkte mir einen davon, ließ die zwei anderen in den Schrank legen und den Preis dafür auf die Rechnung setzen. Der Schneider wurde von dem Antiquar abgelöst, dem sie ein Rokoko-Armband für vier Louisdor abkaufte.

›Der Kammerdiener des Prinzen fragt, ob Antwort nötig wäre‹, sagte der eintretende Bediente, indem er Louise ein Billet übergab.

›Ich werde sehen.‹ Sie las, während ich in einem Pariser Modejournal blätterte. ›Höre nur, Jenny, wie prachtvoll er schreibt‹ – auf ihrem Gesicht malte sich staunende Bewunderung, doch sie galt nur der Schönheit des Stils; ihre Stimme klang erregt, doch nur aus geschmeichelter Eitelkeit: ›Wenn der Verdammte, an der Himmelstür sich anklammernd, nach einem einzigen Ton des Gesanges der Engel verdurstet, wenn das Kind des Verderbens, in dessen Ohr das furchtbare Wort Ewig klang, durch das Rütteln der Verzweiflung jene ehernen Tore erschüttert – würden Sie, Gräfin, es in den dunkelsten Abgrund stoßen, weil es sich mit riesiger Kraft zu dem herrlichsten Glücke emporhob? Ich sah durch das Gitter, welches mich vom Himmel trennt, sein strahlendes Licht, ich sah die Träume meiner Jugend, die Wünsche meines Herzens, das Ideal meines Lebens in Wirklichkeit an mir vorüberschweben – ich streckte flehend die Arme danach aus – das war mein Verbrechen; ich büße es durch erneute Verdammnis. Sie werden mir verzeihen; von nun an sollen Sie in mir nichts als den ergebenen Haushund finden, der nach dem Hieb so treu bleibt wie nach der Zärtlichkeit, der treu bleibt, wenn ihm Unrecht geschieht, treu bleibt, wenn er nur der Gleichgültigkeit begegnet – –‹

Ich hörte ihr verwundert zu und verstummte. Ich verstand, daß er zu weit gegangen war, daß sie ihres Widerstandes wegen triumphierte, daß sie stolz auf ihre tugendhafte Handlungsweise war, die niemals hätte notwendig sein dürfen. Ein Besuch rechtfertigte meine Schweigsamkeit, oder vielmehr sie zog uns aus der Verwirrung, denn Louise sah zu klar, ihr Urteil war zu fein, als daß sie meine Gefühle nicht, wortlos wie sie waren, verstanden hätte. Die Besucher gehörten zu jenen Menschen, die ihrer Güte, ihrer Familienbeziehungen, ihrer negativen Verdienste wegen von der Gesellschaft geduldet werden; die bösen Zungen entschädigen sich für deren Nichtigkeit durch wohlfeile Witze über sie; die Geistreichen behandeln sie wie Tische und Stühle, sie benutzend, wenn der Augenblick es mit sich bringt; die Liebenswürdigen sprechen im Vorübergehen mit ihnen; im ganzen ist alles, was man ihnen bietet, gerade lau genug, um sie nicht vor Frost zittern zu machen. Ich fürchtete Louisens Ungeduld und Spottlust; es wäre nicht nötig gewesen, denn nie habe ich sie gesprächiger, freundlicher, zuvorkommender gesehen, nie hat ein Gast befriedigter über sie und sich das Zimmer verlassen.

›Du warst äußerst liebenswürdig, zu meiner größten Überraschung‹, sagte ich, als wir allein waren.

›Und du, Kind, beurteilst mich falsch. Ich spotte nie über gute, anspruchslose Leute und habe Freude daran, Unterdrückte zu unterstützen.‹

In der Ebbe und Flut meiner Gefühle dieser eigentümlichen Frau gegenüber gingen nach dieser wahren, gütigen Antwort die Wogen zu ihren Gunsten hoch.

›Habe ich dir schon erzählt‹, sagte sie, ›daß ich einen Brief von Frau von Y. erhalten habe?‹ Die Arme leidet so sehr und ist dabei ein Engel an Güte und Tugend; Gott weiß, was aus ihrer unglückseligen Leidenschaft werden soll! Ist sie allein mit Georg, so könnte die Welt zugrunde gehen, der Tod neben ihnen stehen, sie würden es nicht bemerken. Neulich besuchte sie Georg, sie war allein – doch eine einzige Tür nur trennte sie von ihrem Gatten, und diese Tür war nur angelehnt, und dieser Gatte vergöttert Charlotte. Manchmal schafft seine Phantasie ihm einen Nebenbuhler: ›das war kein langer Schmerz‹, sagt er dann, ›eine Kugel für ihn, eine für mich und für dich die Qual des Lebens!‹

›Und sie ist imstande, diese Liebe zu betrügen!‹ rief ich empört; ›und du kannst von ihrer Tugend sprechen!‹

›Nun ja, meine Liebe, denn sie betrügt im Grund ihren Gatten nicht. Ihre Mutter hat sie, als sie fünfzehn Jahre alt war, mit ihm verheiratet; er verlangte keine Liebe von ihr und gab ihr seinen Namen wie sein Vermögen. Georg, ihr Vetter und Spielgefährte, hatte nichts!‹

Ich hörte zu, wie man ein Kapitel der ›Vie privée‹ von Balzac liest, Louise erzählte das Trauerspiel, dessen Heldin Charlotte war, wie dieser Schriftsteller es beschrieben haben würde.

›Isabella hat mir von ihrem Bett aus geschrieben‹, fuhr Louise in ihren Neuigkeiten fort; ›sie ist gestürzt und hat sich schwer verletzt.‹

›Ist sie nicht die Gattin des Mannes, den du zuerst heiraten solltest?‹

›Ja, gewiß. Das war meine erste Erfahrung! Ich hatte mit diesem Gedanken die Kinderstube verlassen; er war schön und reich, er sprach von Liebe und ich war glücklich. Da erfahre ich eines Tages, daß er sich mit Isabella verlobt hat, sie konnte ihm ihre Mitgift bar auf den Tisch zählen, ich hatte erst nach meines Vaters Tode eigenes Vermögen zu erwarten. Kurz nachher wohnte ich seiner Heirat bei, dann hat er mir auf die niedrigste Weise den Hof gemacht, und du verlangst, daß ich die Männer achte, daß ich sie bemitleide und schone – sie verdienen kaum, daß man sich über sie lustig macht; auch ist es nicht meine Schuld, wenn sie sich nicht an mir rächen. Ah, wie ich die Rache liebe!‹

Ich stand auf.

›Hier, Kind, sind noch zwanzig Taler für deine Armen. Werden wir ihre Schuld bald bezahlt haben?‹

›Noch dreißig Taler und sie sind sorgenfrei.‹

›Die bettele ich heute abend bei Hof zusammen!‹

Der Hof war vollzählig erschienen. Louise kam als letzte: ihre Schönheit war die einer Sultanin, ein bunter Turban hob ihre regelmäßigen Züge, ihre schönen schwarzen Haare glänzten auf dem tadellosen Teint, den das Licht noch strahlender machte, prachtvoll rote Seide floß in schweren Falten um sie, es war ein Bild, auf das die Natur stolz sein könnte, wenn die Koketterie nicht die Natur betrogen hätte. Die Männer umgaben sie, sie entwickelte all ihren Geist, all ihren Witz, all das Feuer ihrer Blicke, und ich sah mit tiefster Traurigkeit dieses glänzende Arsenal der schönsten Fähigkeiten zu einem Feuerwerk verpufft. Nichts mahnte an die Blässe und Traurigkeit dieses Morgens, sie lachte, sprach und sah mit ihrem durchdringenden Blick, hörte mit ihrem feinen Ohr alles, was in vier Sälen getan und gesagt wurde.

Der Großherzog näherte sich in all seiner tadellosen Höflichkeit. Nach einigen einleitenden Liebenswürdigkeiten begann Louise eine jammervolle Armengeschichte zu erzählen von Kindern, die auf dem Ofen schliefen, um nicht zu erfrieren, von Eltern, die ihnen Kartoffelschale als Delikatesse vorsetzten usw., das sah der Wirklichkeit nicht ähnlich, und doch war diese Wirklichkeit schon traurig genug! Louise brachte mir triumphierend zwei Louisdor. ›Ich danke dir sehr‹, sagte ich; ›aber ich erkläre dir, daß, wenn der Großherzog mich nach der Sachlage fragt, ich deine Märchen nicht unterstützen kann und von deinen Armen nichts wissen werde, denn ich weiß wirklich nichts von ihnen.‹ Sie lachte und fuhr fort, mit mehr oder weniger Erfolg ihre Geschichte zu erzählen.

Später traf ich sie noch einmal, und sie erwähnte wieder ihrer Freundin, Frau von Y.: ›Im Grunde ist sie eigentlich ein kleines, mageres, törichtes Ding, das sich gehen läßt, obwohl dein deutsch-sentimentales Mitleid für den Gatten mir auch nicht angebracht scheint. Auf eine Heldentat in ihrem Leben ist sie sehr stolz, hat sie doch eigenhändig einen Pflasterstein aufgehoben, um ihn auf die unglücklichen Soldaten zu schleudern, die sich für diesen verrückten Karl X. massakrieren ließen! Das ist gerade keine edle Handlung, und von einer Frau ausgeführt, wird sie gemein; auch habe ich ihr einmal gründlich meine Meinung gesagt. Ich sprach bewundernd von England, und von dem, was dort besser sei als bei uns. Sie glaubte sich als Patriotin zeigen zu müssen, und plötzlich höre ich eine spitze Stimme, die mir zuruft: Sie haben wohl nicht das Glück, Französin zu sein? – O doch, gnädige Frau, ich bin sogar im Herzen von Paris geboren, ohne jemals sein Pflaster zu beschädigen.‹

Alles lachte; ich schlich beiseite. Hatte sie doch diesen Morgen erst in den höchsten Ausdrücken der Bewunderung von derselben Frau gesprochen! Mich widerte es an, zu sehen, wie all ihre Geistesgaben der Frivolität geopfert wurden; meine Liebe zu ihr tat mir weh, und doch habe ich sie mir nie aus dem Herzen reißen können.

Sie hatte genug Verstand, um über alles zu plaudern, sie fand stets die passendste Antwort, um selbst Klügere zu verwirren, sie hatte Beobachtungstalent, um ihren Märchen den Schein der Wahrheit zu geben, sie beherrschte die Sprache, um die Abenteuer ihrer Freunde geschickt erzählen zu können, sie hatte die Herzen der großen Welt durchschaut, um mit Effekt Sentenzen à la Rochefoucauld auszusprechen, sie kannte Hingebung und Opferfreudigkeit, um sie von anderen zu verlangen, sie interessierte sich für alles, um über alles zu schwatzen. Sie war die Weltdame, die Pariserin, die schöne Frau, das Kind der Eitelkeit und der Schmeichelei und hätte der Stolz ihres Geschlechts, der Engel der Tugend, die echte Frau sein können, die ohne zusammenzubrechen eine Welt voll Kummer trägt, die liebt, leidet, tröstet und die Sprache der Menschlichkeit hört und versteht.«

Louise Vaudreuil war stets von Bewunderern umgeben; Prinz Friedrich Schwarzenberg, der einst viel genannte Verfasser der Memoiren eines Landsknechts, war einer ihrer treuesten. Während einer Badereise, als Jenny das kleine Töchterchen Louisens in ihre Obhut genommen hatte, schrieb ihr Graf Vaudreuil: »Louise hat viele Verehrer, Prinz Schwarzenberg und Prinz Kotschubey vor allem. Ich liebe diese Mehrzahl, denn nur die Einzahl fordert die böse Nachrede heraus. Übrigens hat bisher weder die Einzahl noch die Mehrzahl mein Vertrauen in eine Frau zu erschüttern vermocht, die Herz und Geist besitzt, und die weiß, daß ein guter Gatte, den man liebt, einem Goldbarren gleicht, den nur der Wahnsinn gegen die kleine Münze der Bewunderer eintauschen wird.« In demselben Briefe heißt es: »Vom Tode des Herzogs von Reichstadt haben Sie gewiß erfahren. Was ich bei dem Erlöschen der napoleonischen Rasse empfinde, werden Sie am besten verstehen, denn trotz Ihrer Betonung Ihres Deutschtums haben wir uns in der staunenden Bewunderung für einen der größten der Menschen immer gefunden.« Jenny antwortete darauf: »Mir erscheint Napoleon als eines jener gewaltigen Werkzeuge der Allmacht, die zuweilen notwendig sind, um das unterste zu oberst zu schütteln, damit der von Jahrhunderten aufgehäufte Staub und Moder davonfliegen und die Erde sich für neues Blühen bereiten kann. Auch wie ein großer Pflug ist er, der sie aufrührt, der welke Pflanzen, die das neue Leben hindern wollte, in Dünger verwandelt und unterirdisches Gewürm tötet. Nur schade, daß die Arbeit diesmal so wenig vorhielt: mir scheint, als täte uns jetzt schon ein neuer Pflug not, und ich würde ihn herbeisehnen, wenn nicht mein Herz von Grauen erfüllt wäre vor allem Blut – auch vor dem des Gewürms, das ja nichts dafür kann, daß die Natur es zu dem machte, was es ist.« Ein merkwürdiges Urteil für ein einundzwanzigjähriges Mädchen. Vielleicht war es doch der unbewußte Einfluß des Blutes, der sie also empfinden ließ und dadurch noch unterstützt wurde, daß ihr nicht die deutsche, sondern die französische Sprache Gedankensprache war: Sie dachte in ihr, wie sie hauptsächlich in ihr schrieb. Es war ja auch ihre Muttersprache: Diana, die Elsässerin, sprach nach wie vor fast ausschließlich französisch, und am Hofe herrschte seit dem Tode Karl Augusts die französische Sprache um so mehr, als sie für die Großherzogin Maria Paulowna, die geborene russische Großfürstin, die gewohnte war.

Seit 1829 war Jenny als Hofdame in deren Dienste getreten. Durch ihre Freundschaft mit den Prinzessinnen, vor allem mit Augusta, wurde sie jedoch stets mehr als ein Kind des Hauses, wie als Mitglied des Hofstaates angesehen. Das zeigte sich auch in der geschwisterlichen Beziehung, die sich zwischen ihr und dem um sieben Jahre jüngeren Erbgroßherzog Karl Alexander entwickelte. Sie wurde seine Vertraute, der seine Bewunderung galt, und wenn er ihr als Sechzehnjähriger, ähnlich wie Wolf Goethe, eine schüchtern-poetische Knabenliebe widmete, so war das nur eine weitere Grundlage für die lebenslange Freundschaft.

Zu Maria Paulowna sah Jenny, die sie in ihrem Schein und Wirken täglich beobachten konnte, in ehrfürchtiger Liebe empor: »Sie war für sich selbst«, so schrieb sie, »demütig und anspruchslos: ihr ganzes Leben, Wirken und Sein gipfelte in der fürstlichen Pflicht des Beglückens. Sie übte die größte Strenge gegen sich; jede Stunde ihrer bis zur Ermüdung ausgefüllten Tage hatte eine Wohltat oder eine Pflicht zum Ziel. Sie stand sehr früh auf, und wenn dann die letzte Pflicht des Tages, die Hofgeselligkeit, an sie herantrat, war es denen, die das Glück hatten, ihr nahezustehen, rührend, wie oft die Müdigkeit des Körpers sie zu ihrem eigenen Schrecken übermannte. Nie klagte die russische Großfürstin über die kleinen Verhältnisse Weimars; sie sprach es aus, wie das schöne Wort Schillers bei ihrem ersten Einzuge in Weimar sich ihr als Lebensregel eingeprägt habe: ›Wisse, ein erhabener Sinn legt das Große in das Leben, und er sucht es nicht darin.‹

Weimars geistiges Leben, das versicherte sie oft, ersetze ihr vollkommen den Glanz des russischen Hofes, darum unterstützte sie es auch und förderte es, wo sie konnte. Dabei war ihr Goethes Urteil stets maßgebend; wie oft ließ sie einen Wunsch fallen, weil Goethe nicht damit einverstanden war, wie ergreifend war ihr Schmerz bei seinem Tode, wie treu blieb sie seinem Geiste. Die Wohltaten, die sie öffentlich und noch mehr im geheimen tat, die durchdachten praktischen Pläne zu Erziehungsanstalten und Krankenhäusern, welche alle zur Ausführung kamen, das alles zeugt für ihr tiefes Erfassen des Berufs einer Landesmutter. Trotzdem hatte sie stets noch Zeit und Lust zu geselliger Unterhaltung, aber eine unüberwindliche Abneigung gegen das gewöhnliche Hofzeremoniell mit seiner öden Langenweile. Deshalb löste sie gern diese drückenden Fesseln und wünschte ihre Umgebung, wie ihre Gäste, in freier körperlicher und geistiger Bewegung zu sehen. Auch den Fremdesten wandelte sie nach und nach, ihm selbst unmerklich, zum natürlichen Menschen um, dem sie die Maske leise abnahm, ohne welche die meisten nicht glauben, bei Hofe erscheinen zu können. Ebenso unmerklich bestimmte sie auch die Grenzen des freiheitlichen Umgangs, und schwer verzieh sie es, wenn sie überschritten wurden.

Die Sommer in Wilhelmsthal sind mir in freundlichster Erinnerung geblieben. Dort in der herrlichen Luft und reizenden Umgebung schien alles Unnatürliche von selbst von uns abzufallen. Wir vergnügten uns mit heiteren Spielen, besonders das Federballwerfen war sehr beliebt, machten Spaziergänge, lasen und schrieben entweder im Schatten der schönen alten Bäume oder in unseren einfach-ländlichen Stübchen. Dabei kamen so mancherlei Phantasien, Gedanken und Verse zu Papier, die nicht unser Geheimnis blieben, denn die liebe Großfürstin interessierte sich lebhaft für jedes Glied ihres Hofstaats und hörte mit gütiger Nachsicht, aber auch mit scharfem Urteil der Vorlesung unserer Schreibereien zu. Nach und nach wurden die dilettantisch-literarischen Abende zur Gewohnheit, sie waren eine angenehme Unterhaltung für die jüngere Hofgesellschaft und den damaligen Erbgroßherzog, der auch, wie wir, Beiträge dazu lieferte. Es gab nur noch wenige, die sich der Zeiten des ›Tiefurter Journals‹ erinnerten und das ›Wilhelmsthaler Journal‹ für eine recht schwache Kopie desselben halten konnten; näher lag der Gedanke an das mit Goethe zu Grabe getragene ›Chaos‹ oder an die literarischen Abende, die während des Aufenthalts in Weimar eine große Anzahl bedeutender Gelehrter bei Hof versammelten. Wir hörten Vorträge von Humboldt, Schleiden, Apelt, Froriep, Schorn, Schöll und vielen anderen, die uns weit mehr bildeten, als es dicke Bücher getan hätten.»Die litterarischen Abende der Großherzogin Maria Paulowna«, von Lily von Kretschman, in der »Deutschen Rundschau«. Berlin 1893. Dabei gewöhnten wir uns daran, das Gelernte aufzuschreiben, was auch in Wilhelmstal fortgesetzt wurde, sobald Interessantes uns auffiel. Die Anregung zu diesem geistigen Leben ging von Maria Paulowna aus; sie wußte, daß darin Weimars Größe lag und immer liegen würde, deshalb erzog sie auch ihre Kinder in diesem Gedanken und hob uns in ihre Atmosphäre, die allem Kleinlichen fern war, die eine belebende Kraft ausströmte.«

Wenn kindliche Verehrung, wie hier, mit zu lichten Farben malt, so ist das immer begreiflich gefunden worden, aber man pflegt im Urteil ungerecht zu werden, wenn der Freund auch beim Freunde die Schatten vergißt. Und doch ist gerade das am natürlichsten. Je näher wir einen Menschen kennen, je mehr uns jede Stufe seiner Entwicklung vertraut ist, desto mehr verstehen wir seine Natur, und die Fehler erscheinen uns nicht wie dem Außenstehenden als etwas selbständig Verdammenswertes, sondern als die Bedingungen oder Ausartungen seiner Tugenden. Wir gewinnen sie beinahe lieb, wie jene. So sah Jenny ihre Freunde an, und ihre Schilderungen ihres Wesens sind dann immer besonders schwer zu verstehen, wenn es sich um Persönlichkeiten handelt, die der Geschichte angehören und der Kritik aller unterliegen, die je nach der Gesinnung und dem politischen Standpunkt eine andere sein wird. Das gilt vor allem von Augusta, der späteren deutschen Kaiserin, der sich Jenny mit jener treuesten Freundschaft verbunden fühlte, von der es heißt:

Laß adlermutig deine Liebe schweifen
Bis dicht an die Unmöglichkeit heran;
Kannst du des Freundes Tun nicht mehr begreifen,
So fängt der Freundschaft frommer Glaube an.

Aus der Jugendzeit, die sie zusammen verlebten, erzählt sie folgendes von ihr:

»Früh schon entwickelte sich in ihr jene weiblichste Tugend, das Mitleid, die sich aber nie in Klagen und Tränen äußerte, sondern, geleitet von der Mutter, zur praktischen Tatkraft wurde. Wir besuchten oft zusammen unsere Armen und mußten daher nicht selten hören, daß wir im Gefühlsübermaß zu viel getan hatten oder ihnen statt Arbeit, Kleidung und Nahrung, Geld gegeben hatten, das nur zu bald wieder ausgegeben war und zur Trägheit führte, während Anleitung zur Selbsthilfe die beste Armengabe ist.«

Als Prinz Karl und Prinz Wilhelm von Preußen an den Weimarer Hof kamen, wußte jeder, daß sie um die Hand der Prinzessinnen Marie und Augusta werben wollten. »Merkwürdig schnell«, so schreibt Jenny, »faßte Prinzeß Augusta Vertrauen zu Prinz Wilhelm, dessen Güte und Liebenswürdigkeit uns gefiel, dessen militärische Straffheit uns, denen der preußische Drill etwas ganz Fremdes war, sehr imponierte. Langsam, aber stetig zunehmend, entwickelte sich bei der Prinzeß eine tiefe Neigung zu ihm. Sie sprach nicht davon, ihr Stolz verbot ihr, die Unterwerfung ihres ganzen Wesens unter einen Mann einzugestehen, von dem sie wußte, daß er ihr jetzt nur Freundschaft entgegenbrachte. Man hatte ihr diensteifrig seine Herzensgeschichte zugetragen, ihr auch nicht verhehlt, welch ausgezeichnetes Mädchen deren Heldin war. So stand es um sie, als ihre Schwester sich vermählte. Heiter und glänzend waren die Feste dieser zu Ehren, wehmütig der Abschied. Sie schenkte mir noch zuletzt ein Album, in das sie folgende Worte geschrieben hatte:

This above all, to thine own self be true,
And it must follow, as the night the day,
Thou canst not then be false to any man.

Votre souvenir est toujours là!

                                Marie.

Fast zwei Jahre vergingen, ehe Prinz Wilhelm die zur vollendeten Schönheit erblühte Prinzeß Augusta heimholte. Sie hatte ihn treu im Herzen getragen, wie sie jedem Treue bewahrte, den sie einmal lieb gewann. Er war und blieb die einzige große Leidenschaft ihres Lebens, die sie zu schöner Weiblichkeit entwickelte und alle Härten ihres Wesens abschliff.

In meinem Album finden sich diese Zeilen von ihr:

Doux lieux où l'amitié vint charmer mon enfance
Il faut, hélas, vous fuir,

Mais vous viendrez me consoler mon absence
Par un doux Souvenir!
Otez l'amitié de la vie,
Ce qui reste de biens est peu digne d'envie,
On n'en jouit qu'autant qu'on peut les partager;
Desir de tous les cœurs, plaisir de tous les âges,
Trésor du malheureux, divinité des sages,
L'amitié vient du ciel habiter ici bas,
Elle embellit la vie et survit au trépas!

Weimar, 3.6.29.

Ces vers expriment ce que j'éprouve en les traçant, puissiez-vous en être persuadée, chère Jenny.

Yours faithful          
Augusta.«

Eine eifrige Korrespondenz entspann sich zwischen den Freundinnen, die, da sie sich fast durch ein halbes Jahrhundert fortspann, ein interessantes Bild der Zeit geben könnte, wenn die Briefe der Kaiserin nicht, einem Versprechen getreu, von meiner Großmutter zum großen Teil verbrannt worden wären. Aus der ersten Zeit der Abwesenheit Prinzeß Augustas finden sich folgende Stellen aus Briefen Jennys an sie:

1. 7. 1832.

». . . Die Herzen der Leute der großen Welt sind alle nach einer Form gegossen, die leider in allen Ländern die gleiche ist, und in die sie so genau eingepaßt werden, daß schließlich für nichts als für Gleichgültigkeit und Langeweile Platz übrig bleibt.«

 

29.8.1832.

»Die Erziehung sollte die Einleitung, die Vorrede des Lebens sein; man sollte daraus den Zweck der ganzen Arbeit, ihre Tendenz und wenn möglich ihren Preis, ihren moralischen Wert kennenlernen. Darum ist es notwendig, daß die Eltern, ohne den klaren Himmel der Kindheit zu trüben, die Rolle des Schicksals spielen, so daß die Fehler der Kinder sich so viel als möglich durch ihre natürlichen Folgen bestrafen; sie würden frühzeitig dazu gelangen, nicht den Himmel der Ungerechtigkeit und die Menschen der Falschheit anzuklagen, wenn sie sehen, daß fast immer sie selbst die Hauptursachen ihrer Schmerzen und Leiden sind, wenn sie in der Tiefe ihres eigenen Wesens die Ursachen des Unglücks erkennen, das sie trifft. Nur selten dürfte ihr Gewissen ihnen keine zu zeigen vermögen. Ist die Vorrede eine vollkommene gewesen, so muß sie, indem sie uns eine sichere Vorstellung von dem Buche gibt, das Interesse dafür steigern, unsere Erwartungen würden nicht getäuscht werden können, und die Eindrücke, die wir vom Stil und von den Details erhalten, würden mehr von unserem Herzen abhängen und von der harmonischen Verbindung unserer Seele mit dem Autor. Die allgemeine Idee, die uns die Vorrede gegeben hat, sollte uns vor großen Überraschungen und Enttäuschungen bewahren.«

 

12.9.1833.

»Wenn man das Leben mit seinem Unglück, seiner Niedrigkeit, seinen getäuschten Hoffnungen kennengelernt hat, so ist nichts natürlicher als die Neigung zur Misanthropie und zur Menschenverachtung, und dieses Gefühl, das man gewöhnlich für eine Folge reifster Erfahrungen und tiefgründigster Gedankenarbeit ansieht, entspricht nur dem gewöhnlichsten Einfluß des Unglücks auf die Menschen. Eine starke und edle Seele ist die, die sich aus dem Schiffbruch des Lebens den Glauben an die Menschheit und die Liebe zum Menschen retten konnte – eine starke und edle Seele, weil sie den Schlüssel des Rätsels in sich selbst suchte und fand.«

 

1.11.1835.

»Alle großen Leidenschaften sind göttlicher Natur; sie sind die Emanationen Gottes im Herzen der Menschen. Man kann sie weder willkürlich heranrufen, noch vernichten, sie sind Inspirationen des Himmels, denen wir uns unterwerfen müssen, und die für ihren göttlichen Ursprung dadurch Zeugnis ablegen, daß sie über den allgemeinen Gesetzen der Natur stehen und diese sich ihnen unterordnen müssen.«

Diese wenigen Proben – alles andere schlummert in mir unzugänglichen Archiven – zeigen, wie weit der Briefwechsel unserer Großeltern von dem Depeschenstil der Gegenwart entfernt war. Sie wollten nicht nur mit ihren fernen Freunden vereinigt bleiben, es gelang ihnen auch, weil sie die Verbindung durch Gedankenmitteilungen, nicht durch bloße Lebensdaten, hinter denen sich die tiefgehendsten Wesenswandlungen verbergen können, aufrechterhielten.

Außer Prinzeß Augusta war es noch eine andere Prinzessin, mit der Jenny auf diese Weise in naher Beziehung blieb: Helene von Mecklenburg, spätere Herzogin von Orleans. Ihr Gatte war jener französische Thronfolger, den ein tödlicher Sturz davor bewahrte, durch die Revolution seiner Hoffnungen beraubt zu werden. Die Schilderung ihrer Beziehungen zu Helene leitete Jenny folgendermaßen ein:

». . . Die Armut, die Niedrigkeit darf klagen und weinen, auf den Höhen der Menschheit regiert das Lächeln, das klaglose Verstummen. Und die nicht geweinten Tränen wiegen zentnerschwer. Mir war es vergönnt, in das Herz, in die Seele solch einer Märtyrerin zu schauen, als sie noch unberührt war von dem giftigen Hauch des Weltenschicksals, als sie noch nicht selbst mitten im Wirbelwind des Lebens stand. Fast ein Kind noch, kam Helene von Mecklenburg zum erstenmal nach Weimar. Im Andenken an ihre verewigte Mutter, Karl Augusts liebliche Tochter Caroline, wurde sie ganz als Kind Weimars empfangen und blieb vom ersten Tage an des Großvaters Liebling. Trotzdem dauerte es sehr lange, bis ihr durchaus unkindlicher zurückhaltender Ernst einem offen-freundlichen Wesen Platz machte. Ich gab mir viel Mühe um sie, weil ihre tiefen, forschenden Augen mich reizten, sie zu enträtseln. Was mir zuerst seltsam auffiel, war die hinter dem kühlen Äußeren versteckte schwärmerische Phantasie, deren realer Mittelpunkt schon damals Frankreich war. Ihre französische Gouvernante wie die französische Hofdame ihrer Stiefmutter mochten wohl diese Gedankenwelt in ihr mit geschaffen haben, die nach und nach alles andere verdrängte. Unsere Unterhaltungen drehten sich meist um französische Geschichte, französische Literatur, und immer, wenn sie wieder nach Weimar kam, erstaunte ich, welche Fülle neuer Kenntnisse sie sich darin erworben hatte. Ich hatte ihr versprechen müssen, alles Neue, das an guten französischen Büchern erschien, ihr mitzuteilen oder zuzusenden, was dann auch gewissenhaft geschah. Mein Berater war der liebenswürdige, geistreiche Graf Alfred Vaudreuil, der mit französischer Gewandtheit und Leichtlebigkeit deutschen Ernst und deutsche Gründlichkeit verband und mir immer neben seinem Freunde, dem Prinzen Friedrich Schwarzenberg, von dem Ida von Düringsfeld so richtig sagte: ›er war immer ohne Umstände er selber‹, als der Typus wahrer Vornehmheit erschien. Wir hatten bisher, wie Vaudreuil sich ausdrückte, nur mit den Blumen und Zephyren Lamartines gespielt; jetzt gab er uns Werke von Dumas und Victor Hugo, auch las er aus Chateaubriands Büchern vor und unterrichtete uns in der sonst nur in verworrenen Bildern zu uns dringenden französischen Zeitgeschichte. Es war auch zum Teil sein Verdienst, daß er uns, eine sonst der Politik fernstehende Gesellschaft, auf die Geschehnisse des äußeren Lebens aufmerksam machte und uns etwas ablenkte von der ausschließlichen Beschäftigung mit Seelen- und Herzenskämpfen. Mein Stiefvater Gersdorff, selbst ein Staatsmann, war mir gegenüber mehr Philosoph; er meinte, Politik sei nichts für Frauenzimmer. Als aber die erste Kunde der Julirevolution zu uns drang, da war auch uns auf lange Zeit ein Gesprächsthema gegeben. Der Eindruck, den sie auf uns machte, war ein anderer als der, den sie bei der vornehmen Gesellschaft im übrigen Deutschland hervorrief. Wir schwärmten für die Ideen der Volksbeglückung, wir schwärmten für Griechenland, selbst für Belgien, warum sollten wir es nicht für Frankreich tun und in Louis Philipp den Retter des Volksglücks betrachten? Wer ahnte denn, daß er es nicht sein konnte? Am interessantesten war mir, mit welcher Lebhaftigkeit Goethe die Dinge verfolgte. Mein Stiefvater schrieb lange politische Berichte für ihn, so sehr er sonst mit Geschäften überlastet war, und unser Diener sagte uns, der alte Herr sei ihm oft aufgeregt entgegengekommen, um die Briefe selbst in Empfang zu nehmen.

Noch waren wir ganz erfüllt von dem Thronwechsel in Frankreich, als Prinzeß Helene wieder nach Weimar kam. Ihre Begeisterung für Louis Philipp und seine ›Mission‹ spottete jeder Beschreibung, und es dauerte nicht mehr allzulange, so fing man an, erst leise, dann immer lauter davon zu sprechen, daß sie seinem Sohne bestimmt sei. Sie selbst sprach nie davon, auch brieflich nicht, so offen auch ihr Herz sonst vor mir lag; aber ich las die Hoffnung auf Erfüllung ihres Kindertraumes in ihren seelenvollen Blicken. Während sie sich mit ihrer Mutter in Jena aufhielt, besuchte ich sie häufig. Man nahm die Krankheit der Herzogin zum Vorwand des Fernbleibens von Mecklenburg, während die unerquicklichen Verhältnisse dort es nötig machten. In Jena versammelte sich bald ein geistig bedeutender Kreis um die Fürstinnen; ich vermittelte die Bekanntschaft mit meinem lieben Freunde, dem Professor Scheidler, der seiner Taubheit wegen sehr menschenscheu war, und hatte die Freude, zu sehen, wie Prinzeß Helene sich ihm anschloß und sich von ihm bilden ließ. Dort und in Weimar fühlte sie sich weit mehr zu Hause als in Mecklenburg; wäre sie ein echtes Kind jenes strengen, nordischen Landes gewesen, niemals hätte sie dem Sohne des Bürgerkönigs die Hand gereicht. Obwohl sie, wie gesagt, nie mit mir darüber sprach, war mir dieser Schritt nicht unverständlich. Sie liebte den Herzog nicht, denn sie hatte ihn nie gesehen, sie war nicht ehrgeizig, dazu war ihr Charakter ein viel zu weiblicher. Was sie wollte, suchte, ersehnte, war ein Beruf, eine Pflicht; woran sie glaubte, das war an ein unabänderliches Schicksal, das ihr schon früh die Liebe zu Frankreich ins Herz geprägt habe. Sie war überzeugt, recht zu tun, auch als sie mit ihrer Familie brach und wie eine Ausgestoßene von ihrer Heimat scheiden mußte. Strahlend glücklich waren ihre Briefe; strahlend schön soll ihr Äußeres gewesen sein, schrieben mir meine Verwandten aus Paris, und ich freute mich ihres sonnigen Schicksals. Erst nach und nach gingen ihr die Augen auf über den König, über das Treiben am Hof, über die sogenannte ›Volksbeglückung‹. Es schmerzte sie tief, aber sie hatte ja ihren Gatten, der sie in keinem ihrer Träume und Hoffnungen jemals getäuscht hat; sie hatte ihre Kinder, denen sie sich mit der vollsten Glut der Mutterliebe widmete; sie hatte Frankreich und seine Zukunft!

Da begann ihr Märtyrertum. Langsam, mit fürchterlicher Grausamkeit riß das Schicksal ein Glück nach dem anderen aus ihren Armen, enthüllte ihr eine bittere Wahrheit nach der anderen, bis das Leben, all seiner rosigen Schleier entkleidet, ein grausiges Skelett vor ihr stand. Sie schauderte wohl davor zurück; aber nicht lange währte es, so saß sie wieder am Webstuhl und schuf neue Hoffnungsgewänder für dies Bild des Todes.«

Jenny korrespondierte eifrig mit Helene. Von den Briefen der Herzogin sind eine Anzahl verwahrt worden, die aus ihrer Mädchenzeit und aus der ersten Zeit ihrer Ehe stammen, ebenso einige von Jennys Antworten. Helene zeigt sich in ihnen als eine Schwärmerin, die uns kühlen Modernen, die wir selbst Empfindungen, die wir haben, schwer aussprechen, ganz fremd erscheint.

Ihre ganze Persönlichkeit wird nur dann verständlich, wenn wir sie als Kind ihrer Zeit betrachten, das sich über die Gefühlsschwärmerei der Romantik selbständig nicht zu erheben vermochte, und ihre Briefe sind als Spiegelbild des Seelenlebens vieler Frauen jener Epoche so bezeichnend, daß einige von ihnen, trotz ihrer tatsächlichen Inhaltlosigkeit, hier folgen mögen. Wenn Jenny sich auch dem Einfluß ihrer Zeit nicht zu entziehen vermochte, so unterwarf sie sich ihm doch nicht. Das zeigt sich auch in ihrem Briefwechsel mit Helene.

Aus ihren Briefen an sie sei folgendes angeführt:

3.8.33.

»Mir gibt es neben der Natur keine sicherere Kunde von Gott, als den umfassenden Geist des Menschen, keine höhere Schwungkraft zum Guten und Großen, als dessen Erkenntnis in allen seinen Zweigen; hätte ich nur Kraft und Zeit und Gedächtnis, um alles zu prüfen, was der menschliche Geist seit Jahrhunderten hervorgebracht hat, wie gänzlich würde dann alles Kleinliche verschwinden! – Ich möchte keine Unruhe in Ihre Seele bringen, Ihren Glauben nicht antasten, denn darüber liegt der heilige Schleier der Jahrhunderte; Beweise sind schwer, es wäge sie daher jeder in seiner eigenen Seele mit Glauben und Vernunft ab, an der reinen Moral der Christuslehre ändert es ja durchaus nichts. Mit Ihnen möchte ich Herder, Schiller, den Faust lesen, mit Ihnen die Geschichte, die erfahrenste Lehrerin der Menschheit, studieren, mit Ihnen die Höhen des Geistes und Lebens erklimmen, wo die Brust frei atmet und die Seele sich rein und entzückt zu Gott erhebt.«

 

3.9.33.

»Wie verschieden die Philosophien, die Religionen, die Gedanken der Menschen auch seien, in einem Spruch stimmen alle Vernünftigen überein: ›Wer nach seiner innigsten Überzeugung recht tut, hat vor dem Tode nichts zu fürchten.‹ Dieser Spruch muß als heiligste Wahrheit aufgestellt bleiben, und so lassen wir die Frage über Nichts und Ewigkeit, lassen wir die Sorge für die Zukunft und das Grübeln über Unerforschliches dahingestellt. Wir haben genug, wir haben vollauf zu tun, um recht zu tun allerwege.«

 

9.10.34.

»Man sollte eigentlich nur Unglück nennen, was tief in die Seele eingreift, was einen Charakter und ein Lebensglück umzuändern mächtig genug ist, was eine bleibende Kränkung in der Seele läßt und was, wenn auch die Zeit ihren milden Einfluß übt, immer als umflortes dunkles Bild in der Erinnerung bleibt, es sei nun zu moralischer Kräftigung oder zu ewiger, innerer Trauer. Und doch, wie viele solcher Unglücksfälle stehen gerade nicht auf der Liste der von den Menschen im allgemeinen anerkannten und aufgezählten, wie oft jammern sie vor dem Schutte eines alten Hauses und wissen nichts von dem Schutte, der allein von einem ganzen, glänzenden Jugend- und Lebensglücke übrig blieb!«

Unter den Büchern, die Jenny der jungen Prinzessin sandte, befand sich auch Victor Hugos »Hernani«, das sie ihr nach Eisenberg, dem Landsitz des Herzogs von Altenburg, geschickt hatte. Darauf bezieht sich folgender Brief Helenes:

»Eisenberg, den 10. April 1834.

Empfangen Sie meinen herzlichsten Dank, mein teures Fräulein, für die Freude, die mir Ihre Güte bereitete, und täuschen Sie nicht meine Hoffnung, die vertrauensvoll auf Ihre Nachsicht rechnete, als Ihr Büchlein Tage und Wochen – ja Monate bei mir ruhte. Meine Entschuldigung kann nur in der Vorliebe für dieses Werkchen und in dem sicheren – vielleicht zu sicheren Glauben an Sie bestehen. Nein, sicher genug kann nie der Glaube an die liebe Jenny sein! Ein Herz, wie das Ihre, kann vergeben, wenn man ihm edelmütige Gesinnungen zutraut, und wird vergeben, wenn ich sage, daß ich der Besitzerin wegen das Büchlein hochhielt, und des Inhalts wegen mir der Abschied schwer fällt. Sie sind der freundliche Engel meiner Lektüre gewesen, bleiben Sie es und deuten Sie mir, ich bitte Sie, die Schriftsteller an, die Ihnen vielleicht noch Graf Vaudreuil als empfehlenswert nannte, ehe er schied; denn seinem Geschmack, glaube ich, dürfen wir getrost folgen –, und die Perlen der neuen französischen Literatur noch mehr kennenzulernen, ist mein lebhafter Wunsch.

Recht lang scheint mir die Zeit, die seit unserer letzten Begrüßung liegt; ich glaube, es war auf dem Kinderball, wo Sie des kleinen Findlings Schutzgeist waren; ein unfreundlich Geschick trennte uns seitdem; doch hoffe ich, Sie verbannen mich nicht ganz aus Ihrem Andenken, denn hat man sich einmal gefunden, so mag Zeit und Raum kämpfen. Ein freundlicher Stern leuchtet segnend am Horizont und führt zusammen hier oder dort.

So unendlich glücklich und froh ich hier im liebenden Kreis der Familie lebe, so sehr werde ich mich dennoch freuen, mein liebes Weimar mit seinen freundlichen Bewohnern wieder zu begrüßen, denn ihm gehört ein großer Teil meines Herzens –, Sie, liebes Fräulein Jenny, wiederzusehen, wird mir eine wahre Herzensfreude sein.

Ihre Helene.«

Etwas später bekam Jenny ein Gipsrelief der Freundin mit diesen Zeilen:

»Ludwigslust, den 27. Sept. 1834.

Um einen freundlichen Blick meiner lieben Jenny möchte ich bitten, indem ich ihr das unbedeutende Dingelchen in die Hand drücke, welches meine Züge vor ihre Augen führen möchte. Ruhen sie von Zeit zu Zeit auf dem kalten, toten Gips, so werden sie auch Leben hineinhauchen und die Seele hervorrufen, die es verbirgt, die die Ihrige liebt und versteht und sich in froher Vergangenheit mit ihr fühlte.

Mag auch jene Vergangenheit immer mehr zur Vergangenheit werden – mögen gleich tausend Eindrücke das Gemüt berühren, sie wird nimmer zurückgedrängt, sondern wie ein Glanzpunkt meines Lebens mir teuer und unvergeßlich bleiben. Sie, liebe Jenny, waren eine der freundlichsten Erscheinungen derselben, und Ihr Andenken wird sich nie verwischen, es erweckt nur den den Wunsch in mir, Ihnen nähertreten zu können und tiefer noch in Ihre liebliche, zarte Seele blicken zu dürfen.

Sollte uns auch eine lange Zeit trennen, ich glaube, wir werden uns doch immer wieder verstehen und gleich nahestehen. Meine innigsten Wünsche für Ihr Glück werden Sie umgeben. ›Es gehe Dir nie anders als wohl‹, sage ich mit Jean Paul, ›und die kleine Frühlingsnacht des Lebens verfließe ruhig und hell – der überirdische Verhüllte schenke Dir darin einige Sternbilder neben Dir und nicht mehr Gewölk, als zu einem schönen Abendrot vonnöten ist!‹. Denken Sie, wenn Ihr Herz sich freut, auch einmal an

Ihre Helene.«

Bald darauf wurde Helene von einem für sie, der die Mutter schon sehr früh gestorben war, doppelt großen Unglück betroffen, das wie eine Vorahnung des künftigen, noch größeren erscheint: infolge eines Sturzes vom Pferde starb ihr zärtlich geliebter Bruder Albrecht. Jenny schrieb ihr voll warmen Mitgefühls und bekam diese Antwort:

»Ludwigslust, den 12. Nov. 1834.

Den innigsten, den liebewärmsten Dank meiner lieben teilnehmenden Jenny für die Worte, die Sie in meinem Schmerze zu mir reden, und die in ihrer seelenvollen Tiefe mich so innig rühren und erheben, daß ich sie oft wieder durchlese. Ihr Herz wird durch Gottes Gnade vor einem solchen Verlust bewahrt werden. Er, der Sie liebt und schützt, wird Sie durch freudigere Wege zum Ziele führen, dessen stiller Sinn schon in Ihrem edlen Gemüte liegt. Das ist mein Wunsch, denn je mehr ich leide, je mehr möchte ich die, die mir teuer sind, mit Freude und Glück umringen können. Ach, aber blicke ich im Geiste hinein in Ihr tiefes, dunkles Auge, dringe ich in die Schriftzüge, die mir Ihre Grüße und Worte der Liebe brachten –, ach, da ergreift mich ein schmerzvoller Klang aus tiefem, verborgenem Quell, und ich muß weinen, um Sie weinen, um die Klage Ihres eigenen Herzens. Sie weinen gewiß oft, meine liebe Jenny, aber in Ihren Tränen bricht sich der Strahl des Himmels und die Melancholie, die das Gepräge Ihres ganzen Wesens ist, die Sie umgibt wie ein Glanz des Mondes, sie zieht Sie ab von der tändelnden Nichtigkeit des Tageslebens, und enthüllt Ihnen in eigner Brust das Leben der Liebe, das ewig Nahrung gebende Prinzip, das, vom Himmel stammend, uns Tatkraft und Mut in den Kämpfen, Ergebung eines Kindes in den Fügungen, Glaube und Freudigkeit in jeglichem Wechsel des Lebens verleiht. Die Leichtfertigkeit der faden Welt verletzt das verwundete Gemüt – ich weiß es, und Sie müssen es empfunden haben, drum hinein ins eigene Sein, in das Herz – ›my heart my only kingdom is‹ . . .

Liebe Jenny – mir ist das Herz so voll, daß meine Worte mir immer dürr erscheinen – Worte sagen wenig, die Sympathie versteht aber auch kaum angedeutete Gefühle. Ich möchte Ihnen die Hand reichen über die weiten Fernen hinüber – wir sind beide betrübt – ich weiß nicht, warum ich Tränen in Ihren Worten lese, täusche ich mich, so danke ich Gott, wenn er Ihnen einen froheren Weg zeigt als mir. Sagen Sie es mir, wenn Sie glücklich sind, und Sie finden gewiß ein Lächeln der Freude in meinem betrübten Gemüt. – Sind Sie geprüft, nun, so blicken wir vereint hinauf, von wo uns Hilfe kommt. Gott mit Ihnen und

Ihrer Helene.«

»Mein Brief war gesiegelt, da öffnete ich das Zeitungsblatt und fand die Todesnachricht des Grafen Vaudreuil! Nichts konnte mir unerwarteter sein, heute noch dachte ich an ihn, an seine Liebenswürdigkeit und freute mich seiner Bekanntschaft, nun ist auch er hinübergezogen in das ›stille Land‹ . . . Was wird jetzt aus Ihrer kleinen Marguerite, die er so liebte! Könnte sie doch zu Ihnen!«

Aus dem folgenden Jahre stammt ein acht Seiten langer Brief, der nichts ist als ein einziger Gefühlserguß und durch Jennys Geständnis ihres traurigen Herzensschicksals hervorgerufen wurde. Er beginnt:

»Ludwigslust, den 4. Febr. 1835.

Mein Herz trieb mich zu Ihnen, liebe vertrauensvolle Jenny, seit Sie meinem Blick erschienen sind, wieviel mehr, seit Ihre holde reine Seele der meinigen ihr Leben, ihr teuerstes Geheimnis anvertraute und damit Gegenliebe dem liebedürstenden Gemüte bewies . . . Ja, ich irre sicher nicht, Sie wußten es längst, welchen wehmütigen Lebensglanz Ihr Brief auf mein Herz geworfen hatte, Sie wußten, wie innig ich Sie liebe, seit ich mit Ihnen geweint . . .«

Die Verbindung zwischen beiden blieb über alle Freuden und Leiden des Lebens hinaus bestehen, wenn es auch zweifellos ist, daß hier, wie im Verkehr mit Prinzeß Augusta, Jenny die Gebende war, die anderen die Empfangenden. Ihre Briefe, von denen leider so wenige erhalten blieben, sind stets die stärksten Emanationen ihrer Seele gewesen. Die Form des Briefes wählte sie auch da am liebsten, wo ein größeres Publikum der Adressat war, wie z. B. im »Chaos« und später im »Wilhelmsthaler Journal«. Für die Hofgesellschaft war dies ein literarischer Mittelpunkt geworden, wie das »Chaos« es für Ottiliens Kreis gewesen war. Manche jener schwärmerischen Briefe der Herzogin Helene fanden Aufnahme darin; da jedoch das Blatt nicht gedruckt wurde, ging der größte Teil seines Inhalts verloren.

Von Jennys Beiträgen dagegen ist viel erhalten geblieben: Reflexionen, Erinnerungen an Personen und Bücher, Erzählungen, Märchen, auch Familiensagen und Anekdoten, die von den verschiedenen Gästen erzählt und von ihr festgehalten worden waren. Gerade diese kennzeichnen die Richtung einer Zeit, der die napoleonische Epoche noch so nahe war, daß Lebende sich ihrer erinnern und von ihr erzählen konnten, und in der Kriege aller Art die Gemüter erregten. Alte Offiziere Napoleons erzählten von ihm; andere, wie Prinz Friedrich Schwarzenberg und Alfred von Pappenheim, berichteten von ihren Erlebnissen in den italienischen, polnischen und türkischen Feldzügen oder im griechischen Freiheitskrieg. Auch die romantisch-mystische Neigung der Zeit kam zu ihrem Recht: der eine wußte von dunklen Schicksalen zu berichten, die wie ein ehernes Fatum über bestimmten Familien schweben, oder von geheimnisvollen Einwirkungen einer unsichtbaren Welt. Und während so die bunten Bilder des Lebens und der Phantasie an den geistigen Augen der Zuhörer vorüberzogen, saßen die jungen Mädchen still im Kreise und stickten Vergißmeinnicht und Rosen mit glänzenden Perlen auf Brieftaschen und Geldbeutel für die, die ihrem Herzen nahestanden. Nur Jenny stützte zumeist, ihrer Gewohnheit gemäß, das Köpfchen auf die feine, schlanke Hand, denn sie konnte sich nie mit dem, was man weibliche Handarbeit nennt, befreunden, die ihrem künstlerischen Geschmack widerstand. Lieber nahm sie den Bleistift und das Skizzenbuch und porträtierte die Anwesenden. Ihr Talent dafür war ein nicht gewöhnliches. C. A. Schwerdgeburth, der das letzte Porträt Goethes zeichnete, war ihr Lehrer, und eine Mappe voller Bildnisse aus dem Ende der zwanziger Jahre spricht noch heute für den Lehrer wie für die Schülerin.

Erfindungs- und Darstellungsgabe zeigen ihre kleinen Erzählungen für das »Wilhelmsthaler Journal«, wenn auch der schwärmerisch-sentimentale Inhalt sie uns heute schwer genießbar macht. Was sie dagegen in der Form freundschaftlicher Briefe an Erfahrung und Lebensweisheit bot, läßt es erstaunlich erscheinen, daß ein so junges Mädchen die Verfasserin sein konnte. Zwei dieser Briefe mögen hier folgen. Im ersten, der Antwort auf ein in den Schleier der Anonymität gehülltes Schreiben Karl Alexanders, gibt sie sich als alte Frau. Er lautet:

»Wie gut steht es der Jugend, wenn sie ihre Spiele, ihr Lachen, ihre Torheit vergißt, um dem trüben, ernsten Alter ihr Leben und ihre Farbe zu borgen; sie gleicht dem Efeu, der mit seinem frischen Grün den sterbenden Stamm umschlingt, dem wilden Wein, der sich zärtlich um die Ruinen der Jahrhunderte windet. Sie kommen zu mir mit der Güte der ersten Jugend, mit den liebenswürdig höflichen Formen der großen Welt: Sie bitten um Verzeihung wegen Ihrer Gabe, Sie entschuldigen sich Ihrer Liebenswürdigkeit wegen, mit dem Mantel der Demut wollen Sie Ihre Gefälligkeit bedecken, für die Sie mir den Dank zu ersparen suchen; trotzdem sollen Sie ihn haben, und offenherzig haben: ich danke Ihnen für Ihren reizenden Brief, ich danke Ihnen, daß Sie einen jener glücklichen Augenblicke erfaßt haben, die ich dem Anschein nach für dauernd halten würde, die dem Ausdruck der Gedanken so günstig sind; ich danke Ihnen sogar für den Krieg, den Sie gegen die Einsamkeit und das Gefühl eröffnen – denn, haben Sie nie von jenem magischen Trank gehört, der plötzlich verjüngt, von jenen Streichen mit dem Zauberstab, die jene Hexerei der Zeit, Alter genannt, verbannen? Nun denn, mein Herr, Ihre Worte enthalten diese magische Kraft; meine Krücke werfe ich fort, ich richte den gebeugten Rücken auf, meine grauen Haare färben sich wieder, meine Stimme wird stark und jung und ruft Ihnen den Kriegsruf entgegen; jawohl, den Kriegsruf, denn Sie haben den Trost und die Freude meines ganzen Lebens angegriffen: Einsamkeit, dunkle Wälder, Gedanken, die das Herz erforschen und unter der sichtbaren Form der Taten in das tägliche Leben eingreifen; das alles verdammen Sie mit dem einen Wort: Sentimentalität. Erinnern Sie sich der Worte von Casimir de la Vigne an Lamartine:

Pourquoi donc trop séduit d'une fausse apparence
Nommer la liberté, quand tu peins la licence?

Mein Herz erkennt diese Entheiligung des Gefühls, Sentimentalität genannt, nicht an: zwar ergeht sie sich gern in der Natur, hat stolze Worte für die Schönheit des Waldes, heiße Tränen für den Tod einer Blume, doch das wahre Gefühl allein hat Kraft und Taten. Die Natur in ihrer Pracht und Schönheit hat für diese Kinder des menschlichen Geistes zwei verschiedene Sprachen, sie sagt der Sentimentalität: ›Atme dieses weiche, unbestimmte Glück der Lüfte, der Sonne, der Blumen ein, mache eine Ode daraus, singe ein Lied dafür, und vor allem entsinne dich alles dessen, was andere in ähnlicher Lage empfunden haben, um auszusprechen, wenn du nicht so fühlst‹, dann wirft sie ihr einige Reime, wie ›Herzen – Schmerzen, Tränen – Sehnen‹ in den Schoß, macht ihr ein Rezept nach ihrem Geschmack: träumerisches Schmachten, Blicke gen Himmel, süße Traurigkeit und, siehe da, die Sentimentalität ist fertig! Sie braucht weder Vernunft noch Stärke, sie kümmert sich weder um die Seele noch um den Nächsten, sie badet sich wohlgefällig in dem echten oder künstlichen Genuß des Augenblicks – ich überlasse sie Ihnen, mein Herr, wir wollen sie zusammen richten, und alle Kräfte unseres Geistes sprechen ein furchtbares ›Schuldig‹ gegen sie aus.

Aber das ist nicht die Lehre der Natur, der Einsamkeit für das echte Gefühl; diese Sprache ist in anderen Sphären entstanden, ihre Worte verlangen Taten: ›Mein Donner, mein Sturm predigt Dir Gottes Macht, meine Tannen und Eichen predigen Dir seine Größe, meine Felsen, die Pfeiler der Schöpfung, predigen Dir seine Kraft; mit den Strahlen der Sonne sendet er Dir seine Liebe und Güte, in jede Blume, in jede Vogelfeder hat er die heiligen Gesetze ewiger Ordnung eingeschrieben, und Du, Widerschein seines Geistes, Du wagst es, schwach und schüchtern zu sein; erhebe Dich aus Deinem kleinen irdischen Leid, schau um Dich, auf dieser reichen Erde gibt es Wesen, die hungern, die frieren, geh, hilf ihnen; Du hast Brüder, die Dich beleidigten, Dein Herz brachen, Dein Leben zerrissen, geh, vergib ihnen; siehst Du furchtbare Irrtümer, schreckliche Verirrungen, geh und bekämpfe sie; Du seufzest, Du wankst unter der Last Deiner Tränen; schnell, trockne sie, und dann vorwärts, vorwärts ohne Furcht! Der Neid, der Leichtsinn, die Selbstsucht schlagen Wurzeln in Deinem Herzen, reiße dieses Unkraut aus, Du darfst nicht, nein, Du darfst nicht schwach und klein sein inmitten der Unendlichkeit!‹

Die Natur hat dem Gefühl ihre Predigt gut gelehrt – nicht wahr, sie verdient die Priesterweihe, wir werden ihr die erste freie Oberaufsicht anvertrauen; ich freilich werde verlieren, da ich sie bisher allein meines Hauses Hüter, meinen Lehrer und Beichtvater nannte, aber ich opfere mich der Gesamtheit und werde ihren Worten folgen, die sie zu allen spricht.

Während meiner langen Wanderungen zog dieser unsichtbare Priester meine Seele vor Gericht, wir sprachen miteinander über mein Leben, über meine Schmerzen und die Schmerzen anderer, wir teilten sie in zwei Hälften und nannten die eine Schicksal; sie enthielt alles Leid, das wir nicht ändern können; die andere Hälfte trug verschiedene Titel, wie: Pflichten, die zu erfüllen, Fehler, die zu vermeiden sind, und zum Schluß den Wahlspruch: kämpfen! Und wenn ich mich in Theorien verlor, wenn Gedanke sich auf Gedanke türmte, so hoch, daß die Erde drohte zu verschwinden, hielt mein Führer mich zurück und zeigte mir eine Tanne, die sich stark und gerade zu den Wolken erhob.

›Höre die Geschichte dieses Baumes‹, sagte er, ›vergiß nicht, eine Lehre für Dich darin zu finden, und wende sie, die von oben kam, hier unten an. Auf seinen Flügeln trug der Westwind die Samen zweier Tannen bis zu jenem Hügel, und bald entschlüpfte das Leben dem Kerker und erschien grün und frisch in den Strahlen der Sonne. Die eine von ihnen war bezaubert vom Anblick des blauen Himmels, von seinem wunderbaren Glanz, und beschloß, sich bis zu ihm zu erheben. Sie strengte alle ihre Kräfte an, sie wuchs, zum Neid ihrer Nachbarn, mit fabelhafter Geschwindigkeit zu nie gesehener Höhe. Solange nur der Zephyr mit ihr spielte, freute sie sich ihres Wachstums, doch als der Sturm nahte, schlug sein hochgeschwungenes Zepter mit einem einzigen Schlag den ehrgeizigen Stamm zu Boden. Sein Genosse war viel kleiner als er; er hatte, während er wuchs, nie seinen Ursprung vergessen und fest die Wurzeln in die Erde gesenkt; er widerstand dem Sturm, er wuchs empor, er sah Jahrzehnte ihn bewundern, doch nie in seinem höchsten Ruhm vergaß er die Erde. Des Himmels heiliges Licht nährte ihn, doch was er empfing, gab er der Erde als Kraft und Gesundheit zurück, sie brachte seinen Wurzeln den Saft, und er gab ihn als Schönheit und Größe dem Himmel wieder.‹

Ich liebte die Lehren meines Predigers, ich dachte ihrer stets, und ich schämte mich sehr, wenn ich bei der Rückkehr von meinen langen einsamen Spaziergängen keinen guten Rat für den, der ihn bei mir suchte, kein Hilfsmittel für den Leidenden, keinen Trost für meinen Kummer gefunden hatte, kurz, wenn ich keinen Gedanken der Tat aus meinen dunklen Wäldern heimbrachte. Wie gut verstand ich die Sage der Alten von der Göttin der Wälder, deren Diener auf glühenden Kohlen schritten, ohne sich zu verbrennen; die Kohlen sind die Proben des Lebens, die ihre geflügelten Füße kaum berühren. Ich bin ein Weib, der Kreis meiner Tätigkeit ist eng begrenzt; es kommt vor, daß ich nur mein Herz zu untersuchen habe, daß mein Rat, meine Hilfe nicht gefordert wird. Dann denke ich manchmal an alles das, was mein Prediger mir zu sagen hätte, wenn ich über andere gestellt wäre, wenn ich einer jener Männer wäre, die von Tausenden gesehen werden, an denen die Hoffnung von Tausenden hängt, von denen sie mit Recht Glück und Trost verlangen; wieviel würde er zu tun haben, um mich von Stadt zu Stadt zu führen, ihre Einrichtungen, ihre Leiden, ihre Wünsche kennenzulernen, um meine Gedanken von der Hauptstadt zum Dorf, vom Verbrechen des einen zur Arbeit des anderen zu führen; zu wissen, wie der Bürger Handel treiben, der Bauer sein Feld bestellen kann, ob die Behörden der Gerechtigkeit dienen, die Tatkraft das Grundgesetz des Landes ist, was der Boden trägt und tragen könnte; ferne Reiche aufzusuchen, um dort zu finden, was dem meinen nützlich und angenehm sein könnte; die Universitäten, die Schulen im Auge zu behalten, um in der jungen Generation den Samen einer ernsten Erziehung zu säen, den Keim einer einfachen, starken Moral einzupflanzen.

Doch genug der Predigt! Vorwärts, ihr kleinen Nymphen des Waldes, ihr kleinen Dämonen der Unterwelt, ihr kleinen Elfen der Blumen und des Wassers, zu euren Tänzen, euren Spielen und Possen! Bringt uns die Freuden eurer Wälder und Haine, naht euch auf den Sonnenstrahlen, die durch die Blätter tanzen, die sich hinter Baumstämmen verstecken und die sich, wenn man sich gut mit ihnen stellt, auf dem Papier, dem Antlitz, den Augen niederlassen; schnell eine Wendung, und die Schatten breiter Blätter zeichnen sich auf dem Schoß, ein leiser Westwind rührt den Zweig, und wieder tanzt der Sonnenstrahl vor Dir, entreißt Dir neckisch den eben gesponnenen Gedanken und entflieht mit ihm. Du streichst mit der Hand über die Stirn, Du erfassest ihn wieder, Du bringst ihn zu Papier – husch – ein kleiner Dämon wirft Dir eine Handvoll geflügelter Teufelchen zu: rote, grüne, blaue, bunte, vielfarbige, kurze und lange, kleine und große, eine ganze Sammlung niedlicher Käfer, des Ansehens wert. Jetzt gilt's ein wenig träumen – da schleudert ein Dämon, ein böser Dämon einen mächtigen Raubvogel durch die Lüfte gerade auf eine arme Taube zu, nun fühlst Du die Erschütterung des Trauerspiels in deiner Seele, Dein Herz schlägt, Du nimmst die Partei der Schwachen, Du möchtest der Unschuldigen zurufen: Komm zu mir, ich kann Dich beschützen! – aber der Räuber und seine Beute sind verschwunden, der Ausgang bleibt Dir unbekannt – man denkt noch einen Augenblick an den Tod, an die rohe Gewalt, an das Unglück, um zu seinem Buch zurückzukehren. Man läßt die Käfer summen, die Sonnenstrahlen auf der Stirn tanzen, man sieht nicht einmal nach dem Eichhörnchen, das sich vor unserem Anblick erschreckt, man will lesen – Nymphen, Dämonen, Elfen tanzen und spielen, man beachtet sie nicht, da sammeln sie einen Vorrat süßer Gerüche, sie suchen in den Tannen, den Blumen, im Heu, in der Luft und kehren beladen zurück – lebt wohl, Fleiß, Buch, Ernst, tiefe Gedanken – die Träume kommen wieder, und all die kleinen Geister der Natur triumphieren! Oh, diese lieben kleinen Schauspieler, die niemand bezahlt, diese reizenden Feuerwerke, die keinen Pfennig kosten, diese geistreichen Unterhaltungen ohne Verleumdung und Klatsch, diese frischen, strahlenden Gewänder, die keinen zugrunde richten, dieser liebliche Duft in all den weiten Räumen, diese herrlichen Konzerte der selbstlosen kleinen Sänger! – Nun, mein Herr, was sagen Sie zu den heimlichen Freuden dieser melancholischen Einsamkeit? Ich biete Ihnen Oper, Drama, Ballett, Feuerwerk, ich biete Ihnen Unterhaltung, Predigt und Farben und Diamanten, soviel Sie wollen, und lebende Blumen und wahre Freuden, und all das stark und schön und groß, und doch habe ich noch die Seele des Freundes vergessen, der dazu gehört, das Herz, das ein Teil des unseren ist, die Augen, die die unseren widerspiegeln, die sanfte Hand, die unsere Tränen trocknet; ich will nicht davon sprechen; für den, der es erfuhr, ist es bekannt, daß Gott uns über solche Freuden schweigen heißt, er gab uns keine Worte, um sie auszudrücken.

Ich bin nur eine alte Prophetin an dem Altar des Lebens, der Kummer hat mich inspiriert, im Kummer verschrieb ich mir selbst die Mittel dagegen, und ich habe sie erprobt. Sie, Sie sind jung, es ist gut, es ist natürlich, daß Sie die Städte und die Welt und die Sonne und die lachende Landschaft lieben, deren Freuden keine Mysterien sind; doch all das tut den Augen weh, die viel geweint haben, sie brauchen Schatten und Stille; nach einem erfahrungsreichen Leben zieht mein Alter die Bäume den Türmen und Dächern, die Dekorationen des Schöpfers denen der Menschen vor.

Doch ich sehe voraus, daß mein Predigen, mein Klagen und Fabeln die Fäden Ihrer Geduld fast ganz zerrissen hat; zunächst den, welchen Sie meinem Alter gewährten, wie meinem Geschlecht und meiner Freundschaft; so halte ich mich nur noch an dem einen starken Faden Ihrer Güte, wenn dieser mich nicht aus dem Abgrund der Ungnade emporzieht, bleibt mir keine andere Hilfe, und ich verliere die Hoffnung, mich ferner nennen zu dürfen

Ihre ganz ergebene                
Schwätzerin vom Walde.«

Der zweite Brief war auch an einen jungen Freund gerichtet:

»Denken – –. Unter zehn Menschen können nicht zwei denken, und ein richtiger, wahrer Denker findet sich noch unter tausend nicht – und ich sage tausend Deutschen – die denkendste unter allen Nationen. Denken – die meisten Menschen haben noch keinen Begriff, was dieses Wort in sich faßt – alle Fähigkeiten des Geistes auf einen Gegenstand heften, ihn durchdringen, ihn von allen Seiten beleuchten, ihn dem Für und Wider des Scharfsinns wie einer Wasser- und Feuerprobe unterwerfen – ihn durch anderer Menschen Weisheit behutsam durchsichten und dabei recht acht haben, daß uns nichts Falsches imponiere, nichts nur Liebliches irre leite, daß nichts Äußerliches uns unterjoche – die Vernunft als Mentor nie aus dem Auge lassen – dann das Herz reinigen von Nebenabsichten und in letzter Instanz an das Gefühl als Bestätiger appellieren – dies ist, meines Erachtens, der Prozeß des guten und nützlichen Denkens.

Zuerst sei unser Denken auf uns selbst gerichtet – wir sind das wichtigste Studium für uns selbst. Haben wir schon einen Charakter oder nur die Fähigkeiten dazu? d. h. ist unser Inneres mit bestimmten Strichen gezeichnet und hingestellt – oder ist es noch ein Chaos, in dem sich die Elemente kreuzen, stoßen, verwirren? Wissen wir schon, was aus uns werden kann und muß? oder haben wir von der Wiege an Tag für Tag hingespielt und genießend oder leidend hinweggelebt? Haben wir einen Lebenszweck? Stehen wir und unsere Bestimmung als Ganzes vor uns? Sind wir Arbeiter oder Müßiggänger im Weinberge des Herrn? – Was haben wir getan, seitdem wir von der Welt etwas wissen? was haben wir in unserem Berufe geleistet? was haben wir vor allem an uns selbst hervorgebracht? welche Fähigkeit entwickelt, welche Fehler zurückgeworfen, welche Tugend gekräftigt? Haben wir uns ein Bild gemacht von uns selbst, was wir erreichen können, haben wir danach gestrebt, es einst in höchster menschlicher Vollkommenheit darzustellen? – und dürfen wir, ohne zu erröten, uns selbst im Innersten der Seele beschauen? Und wenn nein auf alle diese Fragen erfolgte, und wenn wir noch nichts gedacht, erreicht, begonnen oder erstrebt hätten – nun denn frisch ans Werk – es ist immer Zeit; aber klar und stark und mutig muß man daran. Wehe dem, der sich nicht herausraffen kann aus der schlaffen Sinnesexistenz, wehe dem, der seine Kräfte versauern läßt im Kochtiegel des täglichen Wasser- und Brotlebens, er wird auch an das Lebensziel angeschlendert kommen, d. h. er wird gegessen, getrunken, geschlafen haben und dann gestorben sein, aber er weiß nichts von neuen blühenden Gefilden im innersten Sein, er weiß nichts von den reichen Fruchtgärten der Wissenschaft, er weiß nichts von dem edlen Selbstgefühl, das zu Gott aufsieht und sagt: Herr, ich war ein Kind, und vor Dir und durch Dich bin ich zum Manne geworden; Herr, ich war arm, und vor Dir und durch Dich bin ich reich geworden; Herr, ich klebte an der Erde und war erdrückt von ihren Sorgen und ihrem kleinen Treiben und ihren elenden Interessen, und vor Dir und durch Dich habe ich mich emporgeschwungen und kenne eine höhere Heimat und ein höheres Ziel! Wie ruhig schaut der irdisch vollendete Mensch auf die Ewigkeit; und wäre sie nicht, und täuschte uns die eigene Seele über eine Zukunft ihres Lebens, doch hätten wir auch hier schon schöneren Gewinn, denn so eng ist die Tugend und das Recht in der Sphäre unserer irdischen Laufbahn mit der höheren Tugend, die nur auf die Ewigkeit ihre Kreditbriefe zieht, verschwistert, daß der Mensch, der in sich hoch steht, schon einen erhöhten Standpunkt im Kreise der menschlichen Gesellschaft einnimmt, und er wird ihm instinktmäßig von seinen Mitmenschen, ohne Gesetz und ohne Zwang eingeräumt. Dieselbe Weisheit, die seine eigene Seele erzieht, dieselbe Vernunft, die seinem Herzen Gesetze gibt, tut sich auch kund in den Handlungen, die er in die äußere Welt hinausschickt. So wird ohne sein Zutun, ohne weltliches Interesse sein Wirkungskreis erweitert, weil er in stetem Verkehr mit seiner Vernunft ist, werden auch seine bloß weltlichen Handlungen vernünftig sein. Weil er denken gelernt hat, wird er auch die täglichen Lebensereignisse besser durchdenken und leiten können als sein nicht denkender Bruder, und so dient ihm zum irdischen, weltlichen Wirken das erstrebte Große in seiner Brust. Dem Nebenabsichtslosen vertrauen die Menschen, den eisern Tugendhaften suchen sie sich zur Stütze, dem Wahren glauben sie, dem Edlen unterwerfen sie sich; hat also der Mensch sich selbst bemeistert, erkannt und gebildet, so fällt ihm von selbst die Herrschaft über andere zu, und nun kann er sein Leben ausfüllen, nun kann er Gutes stiften, nun kann er jeden Tag einen Kranz des treuen, guten Wirkens auf den Altar seines Gottes legen – da ist das Leben nicht mehr leer, öde und wüst und langweilig, da braucht man des Frivolen nicht mehr, um die schöne heilige Zeit zu töten, sie zieht nicht mehr zürnend, rächend, strafend vorüber, sie schüttet freundlich ihr Füllhorn aus vor unsere Füße, und jede Stunde winkt gern ihrer Schwester, daß sie uns neue Gaben spende. Dann erst sehen wir mit tiefem, wahrem Jammer hin auf die armen Menschen, die so gar nichts vom eigentlichen Leben wissen, und wir möchten sie herbeirufen und heranziehen und ihnen die Schätze in ihrer eigenen Seele zeigen, und ihnen begreiflich machen, daß sie die Tasche voll Dukaten haben und sich mit Zahlpfennigen herumplagen. Wohl dem, der dieser Stimme folgt und nicht blind ist seinem eigenen Heile, der nicht, wie Mummius in Athen und Korinth, sein reichliches Mahl verzehrt und den Beutel mit schlechten Drachmen füllt, während die schönsten Werke des Altertums unbeachtet oder verstümmelt oder mit roher Gleichgültigkeit auf den Straßen gelassen oder auf die Schiffe als Ballast gepackt wurden.

Was oft den ersten Schritt hindert auf dem Wege der Selbsterkenntnis und der Veredelung, ist ein gewisses Ungeschick im, ich möchte sagen, Mechanischen des Werkes, man weiß die Art, die Stunde, die Gelegenheit nicht; aber Gelegenheit ist der erste Gedanke und Entschluß, jede Stunde ist gut, und die Art verlangt nur Beharrlichkeit, Geduld und Klarheit. Man setzt sich hin und beschaut seine Seele wie einen fremden Gegenstand, man macht sich eine Liste der Fehler, der guten Eigenschaften, der Schwächen, der Fähigkeiten, die man hat. Ist man heftig und aufbrausend, so muß dieser Fehler ganz gemildert werden – das tut die Vernunft, wenn man ihr ununterbrochene Wache gebietet –, und ist er gemildert, so muß von seinem Feuer so viel Kraft übrigbleiben, daß es unsere Tätigkeit aufregt und uns frischen Enthusiasmus für das Gute gibt; ist man neidisch, so muß dieser Fehler total weg, davon kann kein gutes Hälmchen kommen, er muß mit der Wurzel heraus – zu diesem braucht man nicht allein Vernunft, sondern auch Gefühl; da muß die Nächstenliebe eingreifen und gestärkt werden und mit ununterbrochener Sorge wachen, daß der häßliche Gast unter keiner Form und keiner Maske sich einschleiche. Ist man faul, so muß dieser Fehler total weg, denn nichts Gutes gedeiht dabei; dazu gehört nur Konsequenz und eine unerbittliche Disziplin über den Fehler; man muß sich vorschreiben wie einem Kinde, was an jedem Tage getan werden soll, und dieses muß ohne einen Erlaß Monde und Jahre durchgeführt werden. Ist man leichtsinnig, so muß der Ernst herausgebildet werden, dazu ist Denken, fortgesetztes Beschäftigen mit gehaltvollen Büchern und Männern der Weg; doch kann dieser Fehler bis zur Tugend gemildert werden, und es darf uns der philosophische leichte Sinn bleiben, der unnötige Sorgen über Bord wirft, übertriebenen Schmerz nicht aufkommen läßt und uns durch Abwenden oder heiteres Aufnehmen der Schattenseiten des Lebens die innere Kraft zum Wirken erhält.

Sind wir nun im reinen mit unseren Fehlern und Mitteln dagegen, so müssen wir eine ebenso strenge Prüfung unserer Fähigkeiten vornehmen, damit wir unser Pfund nicht vergraben.

Haben wir uns so nach jeder Richtung geprüft, so haben wir zunächst einen Blick auf die uns umgebende Welt zu werfen, um zu sehen, was wir in bezug auf sie wirken können, was ihre Hauptmängel sind, wo wir ihnen abhelfen können; der Frau ist ein enger Kreis gezogen, aber weit genug, um ihr Leben, ihre Seele, ihre Bestimmung auszufüllen – so verzweigt mit seinen Wurzeln in die ganze Welt und die ganze Zukunft, daß ihr stiller magischer Einfluß unberechenbar in seinen guten und schlimmen Wirkungen ist. Dem Manne ist die ganze Welt offen, und auf einmal tritt sie ihm entgegen, da beschaue er sie vom engsten Kreis aus in immer sich ausdehnendem Bogen, bis daß er an die fernsten Ufer mit seinen Gedanken reiche; er möge denselben Prozeß ausführen wie der Stein, den man ins Wasser wirft: von seinem Zentrum aus bilden sich Kreise, die vom engsten zum weitesten nach und nach das entgegengesetzte Ufer berühren. Er betrachte mithin zuerst seine nächste Umgebung, prüfe ihr Tun und Treiben, den Grund, den Erfolg desselben, den Geist, der sie beseelt, frage sich, was sie leisten und ausführen, was sie sind und werden, was sie sein sollten und könnten – und diesem Gedanken schließt sich unmittelbar der an: was kannst du zu ihrer Förderung tun? Und so ist das erste Glied geschmiedet, das unsere Veredelung mit der Veredelung des Nebenmenschen verkettet. Hier fängt schon der Einfluß eines stillen Beispiels an. Nun blicken wir weiter um uns und machen uns bekannt mit dem Staat, in dem wir leben, überlegen uns seine Tätigkeit und seine Mängel, ob und was wir dabei zu wirken fähig sind oder werden können; jetzt schon erklären wir innerlich den Krieg allem unredlichen Treiben, allen Irrungen, allen Übelständen – der Kreis dehnt sich aus. Sind wir Deutsche, so liegt uns nun Deutschland als Ganzes am nächsten, das Verhältnis unseres Staates zu den vaterländischen Nachbarstaaten, ihr Einfluß, ihr Zustand, ihr Fortschritt – nun muß notwendig die Geschichte uns zur Seite stehen, damit wir die jetzigen Zustände aus den früheren entwickeln und beurteilen und die Wurzel der Übelstände kennenlernen, um sie womöglich ausrotten zu helfen, und die Wurzel des Guten, um sie zu schonen. Von Interesse zu Interesse steigert sich schon in uns die Wißbegierde aufs höchste, unsere Kreise erweitern sich, unsere Ansichten gewinnen neue Formen, unsere Erkenntnis bildet neue Regionen, und schon ist ein tieferes, gehaltvolleres Leben in uns eingegangen, ohne daß wir noch die philosophischen und politischen Höhen erstiegen haben.

Jeder Fähigkeit sind ihre besonderen Wissenschaften angewiesen. Haben wir uns geprüft, unseren Geschmack und unsere Kräfte erwogen, so entscheiden wir uns für einen oder zwei Zweige, und diese treiben wir nun mit Ernst und Eifer. Wir müssen uns nach den besten Büchern in diesen Zweigen erkundigen, nach den Autoren, die darüber geschrieben haben; wir machen eine Liste von ihnen, um sie nach und nach durchzunehmen, wir nehmen ein Werk und machen Auszüge, ein anderes lesen wir nur durch, je nachdem wir es ratsam finden – schämen uns vor uns selbst, wenn wir uns von den Schwierigkeiten abschrecken lassen, erlassen uns nichts, feuern uns immer von neuem an und werden so nach und nach ein tüchtiger, brauchbarer, befriedigter Mensch, dem seine Stellung in der Gesellschaft und in der Welt nicht fehlen kann – weil leider diese Klasse noch sehr in Minderzahl steht – und der mit Ruhe, Zuversicht und Hoffnung jeder Zukunft in die Augen zu sehen vermag.«

Die Ratschläge, die sie hier anderen erteilte, hatte sie selbst befolgt und erprobt. Für sie gab es jenen Widerspruch nicht, durch den wertvolle Menschenkräfte der Wirkung auf die Allgemeinheit so oft entzogen werden, jenen Widerspruch zwischen einem bis in seine letzten Konsequenzen verfolgten Individualismus, der sich die Ausbildung des eigenen Ich zum Ziele setzt, und dem sozialen Altruismus, der im Wirken für andere seine Aufgabe sieht. Verfolgen wir Jenny in ihrer Selbsterziehung, die sie so früh schon zu einer harmonischen Persönlichkeit machte, so dürfen wir freilich nicht aus dem Auge lassen, unter welchen günstigen äußeren Bedingungen sie aufwuchs: Nur an den großen Schmerzen und Kämpfen des Herzens und des Geistes entwickelte sich ihre Kraft; jene quälenden, zehrenden Nöte des Lebens, die Sorgen ums tägliche Brot, die schon im Kinde, das der Angst der Eltern zusieht, die besten Keime ersticken können, kannte sie nicht. Noch andere Ursachen aber mußten zusammenwirken, um sie zu dem werden zu lassen, was sie war. Ein Durchschnittsmensch wird weder durch den Reichtum geistiger Anregungen, der ihm zuströmte, noch durch die bittere Erfahrung getäuschter Liebeshoffnungen, die ihm zuteil wurde, solcher Entwicklung teilhaftig werden. Lebt doch so mancher inmitten geistigen Überflusses und bleibt selbst blutarm, und anderen begegnet ein großes Geschick, um, wie es scheint, nur ihre Kleinheit durch den Vergleich besonders scharf hervorzuheben. Jennys Natur dagegen war ein fruchtbarer Boden, dessen Atem nach dem Gewittersturm doppelt erquickend ist, weil er den ganzen Reichtum der Früchte ahnen läßt, den er hervorbringen wird. Ihre natürliche Anlage war es, die sie befähigte, aus allem – dem Guten und dem Bösen, den Menschen und den Büchern – den für das Wachstum ihres Geistes und für die Bereicherung ihres Herzens nötigen Nährstoff zu saugen.

So wenig sie über sich selbst geschrieben hat – im Unterschied zu der Mehrzahl der Memoirenschreiber, bei denen die Lebens- und Seelenanalyse der eigenen Person stets im Vordergrund steht –, so läßt sich die Bedeutung ihres Wesens für ihre Entwicklung ziemlich genau nachweisen. »Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist«, das gilt für die lebendigen wie für die toten Freunde – die Bücher.

In ihrem oben zitierten Brief legt Jenny ihnen im Hinblick auf die Selbsterziehung die größte Bedeutung bei. Die Lektüre war für sie nicht eine Ausfüllung müßiger Stunden, und danach richtete sich auch ihre Auswahl. Mit Hilfe der schöngebundenen, mit zierlicher Goldpressung versehenen, von anmutigen Bronzeschließen zusammengehaltenen Quartbände, die Jenny mit Auszügen füllte, läßt sich nicht nur verfolgen, was sie las, sondern auch, wie sie gelesen hat. Da sind Seiten und Seiten mit Auszügen aus Byrons, Scotts und Shelleys Werken gefüllt. Aber bald darauf zeigt sich schon, daß die Beschäftigung mit den englischen Dichtern sie zu England selbst geführt hat: Auszüge aus historischen und kulturhistorischen Werken folgen, denn mit jenem Feuereifer, den sie bei allem entwickelte, was sie ergriff, studierte sie englische Geschichte. Ihr Interesse und ihre Sympathie für England, für seine demokratische Verfassung, seine Art der Erziehung, der Armenpflege, der sozialen Gesetzgebung wurden dadurch geweckt und blieben dauernd lebendig; die politische Überzeugung ihrer späteren Jahre wurzelte in diesen Jugendeindrücken.

Von den deutschen Dichtern steht Goethe, was die Häufigkeit und den Umfang der Auszüge betrifft, an erster Stelle, Schiller findet sich seltener, dagegen Jean Paul um so häufiger; selbst Zacharias Werner, der wie seine Freundin Schardt katholisch geworden war und dessen »Kreuz an der Ostsee« viel gelesen wurde, erscheint neben den Klassikern. Sehr früh schon – ein Zeichen für das persönliche künstlerische Empfinden Jennys, das Schönes selbständig zu finden wußte – werden Grillparzer und Heinrich Heine zitiert. Einen weit größeren Raum aber als Poesien nahmen Prosastellen ein. Goethe erscheint wieder als der Bevorzugte, auch die Briefwechsel mit seinen Freunden, die Schriften, die über ihn erschienen, verfolgte sie genau. Zuweilen werden auch die Eindrücke, die die Bücher hervorriefen, kurz festgehalten. So schrieb sie über Goethes Briefe an Lavater:

»Für das große Publikum sind vielleicht diese Briefe von keinem großen Interesse, für das deutsche Publikum aber von dem allergrößten, denn wenn auch die eigentlich bedeutenden und kräftigen Gedanken in zehn Seiten zusammengefaßt werden können, so läuft doch durch jede Zeile die jugendlich wirksame, strebende Kraft, welche unsere Literatur und Sprache gewaltsam aus dem Schlummer der Zeiten zu herrlichem Leben rief. Der Riesengeist, der sich fühlt, das Jünglingsherz, das sich innig an- und aufschließt, die reife Männerseele mit der großartigen Toleranz und dem sicheren Adlerblick, der planende Kopf, der die Zukunft mit Schönem bevölkert, der feine, satirische Witz, der den Mephisto schuf – es liegt alles skizziert in nicht zweihundert kleinen Seiten. Und dann welches Leben und Regen, welches geistige Zusammenleben, welcher Frühlingshauch von Luft und Frische! Es kam mir vor, als ob ich unter Gräbern wandle, und auf einmal zöge sich vor mir ein Vorhang auf, und Karl August, Herder, Wieland, Lavater, Jacobi usw. usw. ständen lebendig vor mir.

Es war nur Traum, denn bloß Knebel ist noch nicht hinter den großen, dichten, rätselhaften Vorhang getreten!«

Und über Schillers Leben von Frau von Wolzogen:

»So, ganz so, wie sie ihn geschildert, stand Schillers Bild seit meiner frühesten Jugend vor meiner Seele, so rein, so groß, so erhaben über alles Kleinliche schwebte mir sein edler Geist vor, und in jeder Zeile fand ich eine Ahnung meines Herzens in schönste Wirklichkeit getreten!

Mir fällt dabei ein, was Goethe zu Ottilie sagte, als sie meinte, Schiller langweile sie oft: ›Ihr seid viel zu armselig und irdisch für ihn!‹«

Herder, Schleiermacher, Schelling, Jean Paul sind weiter viele Seiten gewidmet, und wenn wir ihren Inhalt prüfen, um mit den französischen Abschriften aus Chateaubriands und Lamartines Werken zusammenstellen, so geht die Neigung Jennys zu religiöser Vertiefung, ihre Sehnsucht nach einem festen Gottes- und Unsterblichkeitsglauben deutlich daraus hervor. Von jener Zeit sprechend, heißt es in einem ihrer Briefe an mich: »Als ich zwanzig Jahre alt war, schrieb ich mein Glaubensbekenntnis, das also begann: Ich verehre den Gott, den Pythagoras verehrte«, und in einem anderen: »Mein Verstand befand sich mit meinem Gefühl dauernd im Streit; beide taten einander weh wie bittere Feinde.«

Neben den philosophischen Schriften gehörten naturwissenschaftliche zu ihrer bevorzugten Lektüre, und auch an Auszügen aus Memoiren und Reisebeschreibungen fehlt es nicht. In bezug auf die erstgenannten bevorzugte sie die französischen, besonders alles, was sich auf Napoleons Zeit bezog. Unter den Reisebeschreibungen wurden den Auszügen aus Fürst Pücklers »Briefen eines Verstorbenen«, die leider heute zu den vielen vergessenen guten Büchern gehören, viele Seiten gewidmet. Pückler war ein alter Weimaraner und Jenny persönlich gut bekannt, was ihr besonderes Interesse an ihm erklären dürfte. Charakteristisch für sie ist folgendes Urteil über ihn, das sie 1833, also mit zweiundzwanzig Jahren, niederschrieb: ». . . Ich kann nicht leugnen, daß ich seine Briefe mit wachsender Sympathie gelesen habe. Wie oft habe ich sein Gefühl and seinen Geschmack für die Natur, die reine ungekünstelte Natur, mitempfunden, und die Leere in der großen Welt, die doch durch ein unwiderstehliches Beobachtunigsbedürfnis bei heiterer Stimmung eine philosophische Ausfüllung findet, und dann dies Gefühl von Einsamsein unter Menschen, und vereint mit allen Lieben in der einsamen Natur. Es liegt eine tiefe Religiosität in der Seele dieses geistesadligen Menschen, und ich habe durchaus nicht jene Frömmigkeit vermißt, wegen deren Mangel ihn die Pietisten verdammen. Starke Geister mögen ihre menschenrechtlich angeborene Freiheit benutzen, um sich ihren Glauben selbst zu bilden . . . In vielen kleinen Geschmackssachen habe ich meine Meinungen, ja oft meine Worte gefunden, über Frauen- und Gartenschönheiten, in seiner Ansicht über Häuslichkeit und geselliges Leben. Auch in größeren Dingen: seinem poetischen Aberglauben, seiner Geisterahnung und seinen metaphysischen Träumen über Seelenwanderungen, vor allem auch in seiner Bewunderung Napoleons und seiner Entrüstung über das seiner Familie bereitete Ende.«

Daß bei der jungen Aristokratin, die den beginnenden Kämpfen um die Rechte der Frauen persönlich zunächst fernstehen mußte, das Verständnis für deren geistige Bedeutung in vollstem Maße vorhanden war, zeigt ihre Beurteilung jener drei Frauengestalten, die als letzte Repräsentantinnen der Romantik gelten können, von denen zwei jedoch, auch von der fernen Warte unserer Zeit aus betrachtet, als Führerinnen in die neue Welt der Frau angesehen werden müssen: Rahel Varnhagen, Bettina von Arnim und Charlotte Stieglitz. Im Anschluß an Varnhagens Buch des Andenkens an Rahels Freunde, an Bettinas Briefwechsel Goethes mit einem Kinde und an Theodor Mundts Madonna, Gespräche mit Charlotte Stieglitz – jener unglücklichen Frau, die sich das Leben nahm, weil sie glaubte, die durch ihren Opfertod hervorgerufene ungeheure Erschütterung würde ihren geliebten Gatten aus geistiger Lethargie erwecken – schrieb Jenny das Folgende über sie:

»Drei wunderbare Erscheinungen im weiten Bereiche der Literatur und Psychologie sind in neuerer Zeit wie glänzende Meteore in der Frauenwelt Deutschlands erschienen: die tiefe Beschaulichkeit des Nordens mit seiner sinnenden Philosophie, mit seiner nebelhaft ossianischen Ideenpoesie, mit der schwärmerischen Aufopferungslust, mit allen Reizen und Gefahren der reinen Geistigkeit, steht feenhaft, hinreißend, in tief empfundener Seelen- und Herzensverwandtschaft vor den deutschen Frauen. Jedem der drei Genien in ihrer Größe und in ihren Irrtümern tönt ein leiser, geistiger Schwesterngruß aus dem heiligsten Innern ihrer Landsmänninnen entgegen. Unberechenbar ist daher der Eindruck, das Fortwirken dieser Bücher auf die Frauenwelt: als geistige Heerführerinnen treten diese Erscheinungen an die Spitze der sich längst im stillen Sinnen, Bilden, Denken emanzipierenden Frauen Deutschlands; sie erkämpften sich mit ihrem Geist Sitz und Stimme unter den Intelligenzen ihres Landes, sie räumten den Platz zu dem einflußreichen, weiblichen Wirken, das zwar höher in Deutschland anerkannt ist als in allen anderen Ländern Europas, das aber doch noch lange nicht zu seiner Blüte, zu seinem eigentlich angemessenen Umfang sich entfaltete. Sie zeigen, wie die reine, nebenabsichtslose, unegoistische Seele der Frau in jede Geistesfaser eingreifen kann, sie zeigen die Gewalt ihres Denkens, ihres Fühlens, ihres Wollens und Vollbringens. Sie fordern durch ihre weise Erkenntnis und klare Auffassung, ja, mehr vielleicht durch ihre Irrtümer, die Bildung, die ihren Geist von den Schlacken des Falschen befreien und in lichtem Wissen und Erkennen darstellen kann; sie fordern die sorgsame Beachtung ihres intellektuellen Fortschreitens um ihres edlen Selbstes willen; sie fordern sie mehr noch als Mütter der Vaterlandssöhne, als Geliebte seiner Jünglinge, als Gattinnen seiner Männer. Sie treten hervor in aller Würde ihrer Geistesmacht, und ist auch seit den ältesten Zeiten die Stellung der deutschen Frauen ihrer Bestimmung und ihrer inneren Höhe angemessener gewesen als in anderen Teilen der Welt, hat sich auch gern der deutsche Mann in Liebe und Verehrung vor ihrer Reinheit gebeugt, so war doch im allgemeinen ihre Schätzung noch viel zu sehr auf das bloß dienstbare häusliche Wirken, nicht eigentlich auf die Würde ihrer Bestimmung, auf die Macht ihres Einflusses gerichtet.

Jetzt, in dem Jahrhundert der Berechnung und eines oft kleinlichen Nützlichkeitsprinzips, tritt die große Seele einer Rahel an das Licht der Welt, mit dem Prinzip des allgemeinen Großartigen, des ewig Rechten, mit der einzigen Berücksichtigung des Wahren, mit der enthusiastischen Liebe des Schönen und Guten. Sie geht umher in Ländern, in Verhältnissen, in Charakteren mit der gigantischen Fackel, die sie am Altar der Wahrheit entzündete; sie beleuchtet das Kleinliche, Lügenhafte und Elende vor der ganzen Welt, und manches Johanniswürmchen, das uns ein Edelstein schien, stellt sie auf seine Füße, und es wird dunkel, und manchen Edelstein, den wir für einen Kiesel hielten, schleift sie zurecht, und er wird leuchtend. Sie selbst greift mit ihrer Philosophie in das Leben ein, ihr Denken wird zur Tat, und wie sie mit ihrem Geiste in anderen Seelen unermüdlich Geistesfunken weckt, wie sie das kleinliche Interesse in allen Herzen abzustreifen sucht, wie sie im Kreise ihrer Pflichten beglückt und wirkt, wie sie, ohne aus ihrem weiblichen Beruf herauszutreten, das Große in den Männern fördert und die kleinen Räder der Staatsmaschine, die ihrer Sorgfalt anvertraut sind, fleißig von jedem Stäubchen reinigt, ohne die schwache Frauenhand in die großen Räderwerke zu wagen, bei einem doch so richtigen Blick in die großen Verhältnisse, so steht sie in dem praktisch häuslichen Kreise mit voller Berufskenntnis da, in schweren Kriegszeiten die Trösterin und Pflegerin der Verwundeten, die Retterin der Elenden, Arzt, Näherin, Wartfrau, Bittende bei Reichen, Ermunternde bei Armen, ohne Ruhe und Rast, voll Einsicht und ununterbrochener Aufopferung, unbekümmert um ihre eigenen Körperleiden, unbekümmert um Dank oder Undank, die Gutes Tuende um des Guten willen, die echte, wahre, reine deutsche Frau!

Nicht nur aus ihrem Buch habe ich das alles gelesen, in ihren Augen, in ihren Worten, in ihrem ganzen Benehmen war es ausgedrückt. ›Da werdet ihr Bedeutendes kennenlernen‹, sagte Goethe zu uns. Einfach und ohne Prätensionen trat sie auf, schien mit ihren klugen, forschenden Blicken in unseren Seelen zu lesen, regte uns an zu frohem Geplauder, scherzte und lachte mit uns und wußte nach und nach das Gespräch auf die höchsten Dinge zu lenken. In wenigen Stunden lernte ich sie kennen und sie mich, denn in der reinen Luft ihres Seins vermochte ich mich nicht anders zu geben, als ich war, mein Herz lag auf der Zunge, sie erreichte, was sie wollte; denn ausgebreitet, wie der Entwurf eines Gemäldes, lag meine Seele vor ihr.

›So jung und schon so viel gekämpft‹, sagte sie, ›kämpfen Sie nur weiter, immer weiter; hüten Sie sich vor der Ruhe, der Seelenbequemlichkeit; das gibt's nicht für uns. Faust ist auch in weiblicher Gestalt vorhanden, in Ihnen, in mir.‹

›Ist nicht aber Ruhe das, wonach alles in uns strebt?‹ wandte ich ein.

›Nicht Ruhe, Leben ist es und immer wieder Leben. Nur der allzeit Lebendige, Wache, Tatkräftige erreicht große Ziele, übt große Wirkungen aus. Glauben Sie nicht den Propheten der Ruhe, glauben Sie dem Allmächtigen, der schaffend überall in der Natur Ihnen entgegentritt.‹

›Aber ich bin Christin, möchte Christin sein‹, bemerkte ich schüchtern, ›und dem folgen, der sagt: Meinen Frieden lasse ich euch!‹

Rahel sah mich gütig lächelnd an und erwiderte: ›Folgen Sie ihm getrost, aber lernen Sie ihn verstehen. Den Frieden, den Christus meint, übersetze ich mit Befriedigung. Sie allein gibt innere Ruhe, gibt Kraft und Lebensfreude; sie wird aber auch nur durch Tätigkeit in uns und außer uns, durch Pflichterfüllung, Gott und den Menschen gegenüber, erreicht.‹

Das war meine kurze und doch nachhaltig wirkende Bekanntschaft mit ihr. Varnhagen schenkte mir nach ihrem, ach so schmerzlich beweinten Tode das erste Buch ›Rahel‹, das nicht im Buchhandel erschien. Auch meine Freundinnen Ottilie Goethe, Alwine Frommann und Adele Schopenhauer waren dadurch erfreut worden.

In der Absicht, unserem tiefgefühlten Dank würdigen Ausdruck zu geben, schenkten wir ihm eine Schreibmappe, auf der ich Rahels schönen Traum illustrierte. Sie träumte von einem ungeheuren Sturm, und mitten in den Wogen ihr Lebensschiffchen; aber vom Himmel herab rollte der blaue Mantel Gottes, sie fühlte sich als kleines Kind, legte sich in eine große Falte des Gottesmantels und schlief ein. Einige Widmungsverse begleiteten die Gabe. Unbegreiflich blieb mir immer, wie dieser Mann der Welt, der Reklame, des Egoismus zu dieser Frau nach dem Herzen des Höchsten passen konnte. Die Erinnerung an ihre reine Erscheinung wollte ich mir durch den Verkehr mit ihrem Gatten nicht trüben lassen, deshalb gab ich möglichst schnell die Korrespondenz mit ihm auf. Das Buch, das er mir gab, läßt mich jedoch dankbar seiner gedenken, und sooft ich es aufschlage, weht Rahels lebendiger Geist mir daraus entgegen.

Sie trat ein in unsere Krümel liebende Zeit, die gigantische, ganze Seele. Es hebt sich die Brust der Frau, daß sie Frau, des Menschen, daß er Mensch ist, und mit neuem Schwunge regt sich mancher Geist, und ein großartiger Maßstab wird von Tausenden an die Bestimmung des Lebens, an die Forderungen unserer Welt gelegt. Rahels magische Gestalt schwebt über der Atmosphäre der Gebildeten, und vor dem leuchtenden Kreis ihres Wesens zieht sich das Kleinliche beschämt zurück.

Was soll aber in dem sogenannten vernünftigen, überpraktischen Jahrhundert eine Bettina? Was will die kleine Elfe unter den Nützlichkeitsmenschen? Was fördern ihre gaukelnden Tänze, ihre Wipfelspiele, ihre Blumenpaläste? Sie schwankt mit den Elfenschwestern ihrer Phantasie in goldenen, glänzenden Nebeln, sie singt ihre Herzensphilosophie in das Wehen der Frühlingslüfte, zuerst an niemand, für niemand, wegen niemand. Die Menschen sind ihr nicht da, von Zweck und Nutzen hat ihr nichts geredet, die Sünde hat sie nicht gesehen, Gesetz und Regel hat sie nicht gekannt; sie träumt, sie spielt, sie liebt, sie singt in die Welt hinein, und ihre auserwählten Spielkameraden findet sie in der Natur. So tanzt und schwebt sie auf und nieder in Gottes großen Schöpfungswerken; man überlegt sich lange, woher sie kam. Da ist's, als hätte man auf einmal die Sage singen hören, daß einst an einem schönen Maientage viel deutsche Kinderseelchen zurück zum blauen Äther kehrten, und als sie an die Himmelspforte kamen, überzählte Petrus ihre Reihen und sagte: ›Eine ist zu viel, nur neun hat der Herr gerufen.‹ Die zehnte sah betrübt hinab auf die kleine dunkle Welt: ›Es ist so kalt, so farblos auf der Erde, und ist so warm und farbenreich bei Gott!‹ rief sie weinend. Das Gebot aber war unumstößlich; da gaben alle Kinderseelen ihre Poesie der einen erdbestimmten und sagten: ›Damit schaffe dir Wärme und Farben auf der irdischen Welt, wir schöpfen schnell aus ewigem Borne, was wir dir jetzt geben‹, und traurig lächelnd flog das Kind zurück. – Dies ist die Seele, die in Bettinens Briefen lebt und dichtet. Sie konnte als Kind wohl unter Blumen schwelgen und wild und ungebändigt mit der Natur verkehren, doch das Kind ward Mädchen, und das Mädchen liebte. Nicht wie Undine wird sie dadurch gezähmt, nein, sie bleibt die wilde, ungestüme, unfügsame Kinderseele, und nun paßt nichts mehr auf der ganzen Welt, nicht andere Menschen, nicht Verhältnisse, nicht die Lebensweisen und nicht ihr eigenes Ich. Da sucht sie in Natur und Poesie die Elemente, um sich einen Herzensliebling zu schaffen, denn tief in ihrer Seele fühlt auch sie das einfach große Wort: ›Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.‹ Als sie fertig mit dem Bilde ist und es nun schön und groß vor ihrer Phantasie vollendet steht und ihre Herzensglut ihm Leben gibt, da sieht sie sich nach einem Namen um. Mit dem herrlichsten, den sie erfahren kann, ›Goethe‹, benennt sie ihren selbstgeschaffenen Gott. Sie umgaukelt in Elfentänzen und mit Elfenliedern unseren Hohenpriester, und ihn, den ernsten mit der Götterstirne, will sie als Schäfer mit in ihre Tänze ziehen. Er reicht ihr wohl die Hand, er läßt sich von ihren Blumen umduften, er läßt den Elfenreigen im Mondenschein an sich vorüberziehen, doch der Genosse der Elfe kann der greise Denker nicht sein!

Im reinsten Lichte, in der einzig klaren, ungetrübten Atmosphäre steht sie der Mutter ihres Weisen gegenüber; ganz herrlich, ohne Irrtum, ohne Verkehrtheit, ohne Mißverstehen läßt das Leben diesen Bund. Doch Goethes Mutter stirbt, die Jugend flieht Bettinen, aber ihre wilde Poesie bleibt; ihr Wesen tritt nun aus aller Harmonie, unheimlich werden beim ergrauenden Haupte ihre Spiele und Tänze, und, wie Varnhagen von ihr bemerkte, die Elfe tritt zurück, die Hexe tritt hervor.

In diesem Stadium lernte ich sie kennen. In leidenschaftlichster Aufregung kam sie nach Weimar. Sie hatte in Berlin eine Klatscherei über Ottilie gemacht, die ihr Goethe sehr übel nahm; sie wollte sich entschuldigen, er beharrte dabei, sie nicht zu sehen. Ottilie, die immer groß und gut war, aber nichts für sie erreichen konnte, räumte ihr schließlich ein Kämmerchen im Gartenhaus des Stadtgartens ein, wo sie den Zürnenden wenigstens aus der Entfernung sah. Nachher sprach ich sie. Ihre großen Augen, die etwas Nichtirdisches an sich hatten, musterten mich mißtrauisch. Ich war jung, war täglicher Gast in Goethes Hause, genug, um ihre flammende Eifersucht zu erregen. Sie war sehr unfreundlich, und als ich mich in die Fensternische zurückzog, rief sie: ›Aha, ich gefalle wohl der Demoiselle nicht?‹ Ich wurde feuerrot, sagte aber nichts, sondern versuchte das Fenster zu öffnen, um mich fortwenden zu können; dabei klemmte ich mir die Hand, und während Ottilie davoneilte, um einen Verband zu holen, wurde ich ohnmächtig. In Bettinens Armen fand ich mich wieder. Voll Mitleid sah sie mich an und sagte freundlich: ›Armes Kind, liebes Kind, tut es sehr weh?‹ Sie kühlte und verband meine schmerzhafte Wunde, lief hinunter, um gleich darauf mit einem Blumenstrauß und einer darin verborgenen Tüte voll Schleckereien wiederzukommen. Ihr Groll, ihre Aufregung waren vergessen, sie war ganz Weib: liebevoll und sorgsam. Da, wie ich fortgehen wollte, verabschiedete ich mich unvorsichtigerweise von Ottilie mit den Worten: ›Also morgen zu Tisch bei Goethe.‹ Bettina sah mich starr an, brach in herzzerreißendes Schluchzen aus, lief wild im Zimmer umher und stürmte dann an uns vorüber, die Treppe hinunter, zum Hause hinaus, ohne Hut, ohne Handschuhe, gleichgültig gegen die verwunderten Blicke der Menschen. So war sie und so erschien sie mir: unordentlich in Geist, Haus und Wesen. Was ich am meisten bei ihr schätzte, war ihre glühende Barmherzigkeit, durch die sie sogar praktisch werden konnte, ihr Mitleid, das sie tatkräftig machte. Doch was soll Bettinens Buch für unsere Zeit?

Zwar hatte ihre Seele als bunter Schmetterling sich auf allen Blumen geschaukelt, als emsige Biene aus allen gesogen: Weisheitssprüche, Liebestöne, Schönheitshymnen, Philosophenworte, die tiefste Offenbarung über das Reich der Töne; aber wie es die Poesie des Augenblicks ihr eingegeben, wie es der fliegende Gedanke ihr gebracht, wie es die Phantasie ihr eben zugetragen. Nicht wie bei Rahel geht ein Prinzip des ewig herrschenden Rechts, ein Streben des Erkennens, ein Lebenszweck der höchsten Ausbildung durch ein ganzes herrliches Dasein; Bettina lehrt nicht das Leben kennen, verstehen und im höchsten Sinn ergreifen – was, frag' ich nochmals, soll uns dann ihr Buch?

Vertreter soll es sein für das poetisch Schöne, das unabhängige Bereich der Kunst und des Gefühls soll es beschützen, das nicht als dienende Magd Moral und Recht befördern soll, sondern frei für sich selbst im eigenen Reiche besteht. Im Schönen finden sich dann beide wieder, nur Schönes kann vollkommene Kunst erschaffen und erwecken, nur Schönes kann Moral und Recht im höchsten Sinn erzeugen, im Schönen reichen beide sich schwesterlich die Hand. Im Schönen reift das echte, glänzende Gefühlsleben, das durch Bettinens ganzes Werk die reichsten Farben trägt. Auch dem Gefühl soll es Vertreter sein, auch ihm soll es sein altes Recht beschützen, und weil es in früherer Zeit vom Lande der Vernunft zuviel besessen, soll es jetzt nicht um Haus und Hof, um Sitz und Stimme gebracht, aus seinem alten Erbteil vertrieben werden, um ehrgeizigen Generälen der Vernunft einen bequemen Ruhesitz zu schaffen. Zurückgeführt in seine Grenzen, soll das Gefühl dort Herr und Meister bleiben; ist es doch die letzte Instanz für jede Wahrheit, die sich der Überzeugung des tiefsten Innern vermählen will. Für unsere Frauenwelt ist Bettinens Buch ein gültiges Meisterstück des weiblichen Vermögens, für das Jahrhundert eine Bittschrift der Poesie, daß man sie nicht im Schatten der Vernunft erstarren lasse, daß man die bunten Flügel vor dem Verschrumpfen, die zarten Glieder vor dem Erfrieren retten möge! – –

Wie naht man dem Lager eines Fieberkranken, der einer schlimmen Seuche unterliegt, weil er durch seine treue Pflege den Bruder von dem Übel heilen wollte? Wie naht man wohl in Gedanken dem Menschen, der mutig, stark, mit Engelsseelengröße für einen falschen Glauben starb? Mit heiliger Scheu, mit tief ergriffenem Herzen, mit billigem Erkennen seiner Größe, mit tiefem Schmerz um den unseligen Wahn. Nur so naht würdig dem Totenbette der Charlotte Stieglitz; laßt vor der Tür ihrer stillen Kammer das Klatschgeschwätz der Basen eurer Stadt; paßt Alltagsurteil an die Alltagsmenschen, sprecht über Oberflächlichkeit das schnelle, unbedachte Wort des Tadels aus, doch hier bleibt stehen, denkt tiefer, fühlt besonders, ehe ihr redet, denn auch in große Seelen schleicht der Irrtum ein, und dies ist der Fluch des engbegrenzten Wissens, daß reines Wollen nicht vor dem Wahne schützt.

Dem Gehalte dieses Denkmals nach, als Darstellung des Lebensinhaltes der Charlotte Stieglitz, steht es bei weitem hinter Bettina und Rahel zurück; es enthält weder die ewig sprudelnde, feenhafte Quelle der Poesie der einen, noch die tapfere, kugelfeste, immer vorwärtsdringende, tiefe Philosophie der anderen. Die ersten Briefe sind durchaus unbedeutend, ja sogar in einem Grade, der sogleich im Leser die Vermutung aufsteigen läßt, daß der Herausgeber, der sie wichtig finden konnte und nicht nur einen oder zwei als Probe und zum Belege ihrer späteren Entwicklung dem Publikum gab, wohl nichts in dem Leben seiner Heldin unbedeutend fand und einen Maßstab an ihr Wesen legte, der nicht von der Vernunft allein gefertigt war. – In den letzten Jahren sind ihre Äußerungen und Tagebuchblätter größtenteils um vieles bedeutender, das Sinnen, Denken, Erfahren, das reiche innere Fühlen tut sich kund, und es ist nicht zu bezweifeln, daß sie in der schönsten Blüte ihrer geistigen Entwicklungsperiode dem Leben entschwand . . .

Zwei meiner Cousinen und ich hatten von Charlotte gehört und wünschten, sie entweder in Weimar begrüßen zu können oder mit ihr in brieflichen Verkehr zu treten; wir schrieben alle drei im Sommer 1833 an sie, an Mundt und an Stieglitz und bekamen umgehend die drei Antworten, die besser als jede Kritik die unglückliche Charlotte kennzeichnen. Sie schrieb:

›Meine inniggeliebte, unbekannte Freundin! Wahre Seelengröße zeigen Sie mir, denn dieselbe setzt sich mutig im Gefühl ihrer Würde über Hergebrachtes hinweg; darum fürchten Sie kein Mißverstehen von meiner Seite. Ein gemeinsames Band umschließt uns Frauen, das des Leidens, und leichter tragen wir die Bürde, wenn wir sie zusammen tragen. Sie sind noch jung, so scheint es, denn es geht ein freudiger Zug durch Ihre Worte, der mich wie aus anderer Welt berührt. Haben Sie noch nicht gelitten? Haben Sie noch nicht Ihr Liebstes leiden sehen? Ihr Teuerstes verloren? Glauben Sie noch an einen gütigen Gott? Oder lernten Sie, wie ich, durch namenlose Schmerzen nur der eigenen Kraft vertrauen? Kennen Sie die heiße Gewitterschwüle eines Sommertages und die Sehnsucht nach Blitz und Donner? Lassen Sie mich tiefer in das Heilige Ihres Inneren schauen, damit auch ich Ihnen meine Seele ganz enthüllen kann. Aber erwarten Sie kein Frühlingsbild zu sehen, sondern einen tiefen, dunklen See, zu dessen Spiegel nur selten ein Sonnenstrahl sich verirrte. – Leben Sie wohl, Sie liebes Herz; es drückt Sie, feuriger Empfindung voll, an den Busen

Ihre

Charlotte Stieglitz.‹

Theodor Mundt und Heinrich Stieglitz sprachen sich ähnlich aus. Ersterer schrieb:

›Teuerstes Fräulein! Wie das Mädchen aus der Fremde traten Sie in die enge Hütte unserer Alltäglichkeit. Seien Sie mir gegrüßt im Namen unserer Heiligen, Charlotte. Sie wollen von ihr Näheres wissen? Was soll ich Ihnen sagen? Soll ich sie mit menschlichen Worten preisen, mit irdischen Lauten schildern? Wollen Sie den Glanz ihres Auges beschrieben haben, oder den Glanz ihrer reinen Seele? Erlassen Sie dies einem Mann, der nur zu verstummen vermag, wenn er bewundert. Und auch ihren Gatten möchten Sie kennen? Wünschen Sie es nicht. Ach, er ist ein gebrochener Stamm, noch vor der Blüte. Die Melancholie seines Wesens ist in seinem Leiden begründet. Oft hat er blitzartig herrliche Gedanken, eines Goethe, eines Schiller, noch mehr eines Jean Paul würdig; dann versinkt er in dumpfes Brüten, aus dem selbst die göttliche Liebe seines Weibes ihn nicht erweckt. Dunkle Schatten schweben um uns alle, darum suchen wir den Verkehr mit den Menschen nicht. Wir müssen still in unserer Klause bleiben und des Helden warten, der uns von den lastenden Ketten des Unglücks befreit. Bewahren Sie ein mitleidig-wehmütig-liebevolles Gedenken Charlottens treuem Freunde

Theodor Mundt.‹

Als seltsamstes Schriftstück gebe ich noch den Brief des Gatten wieder:

›Holde mitleidige Genien! Von uns wollen Sie wissen, uns wollen Sie kennenlernen? Aus dem Licht Ihres Daseins möchten Sie in die dunklen Wohnungen verbannter Sünder sehen? Senden Sie uns Ihr Licht, daß es mich erhelle, und einstimmen will ich in Ihre Hymnen zum Lobe des Schönen, des Guten und Wahren. Und nach Weimar rufen Sie uns, um am Grabe Ihres Propheten zu weinen, Lebenskräfte zu schöpfen. Wissen Sie denn, ob er auch mir ein Prophet ist? Und der Glaube allein kann Wunder verrichten. Für uns gibt es keine Wunder. Lesen Sie Byron, und Sie kennen mich; lesen Sie, wenn Sie es können, die goldene Schrift der Sterne, und Sie kennen Charlotte. Dem gütigsten Schicksal empfehle ich Sie,

Heinrich Stieglitz.‹

Wir schrieben noch einmal an Charlotte und bekamen im Dezember 1833 ihre merkwürdige Antwort:

›Ich flatterte ängstlich am Lebensbaum umher, von Zweig zu Zweig; ich brachte ihm Frucht um Frucht hinab, und er erstarkte nicht; ich sang, und er erstarkte nicht; ich hob ihn hebend empor auf meinen Flügeln, und er erstarkte nicht; und da ich alle Mittel meines durch Liebe und Pflicht geschärften Denkens umsonst versucht hatte, da dachte ich des erziehenden Unglücks.‹

Wenige Monate später ward sie Schicksal und Opfer durch eigenen Willen und durch eigene Kraft! Irrte auch der Gedanke in dieser treuen Frau, war auch ihre Tat ein grauenvoller Wahn – die Absicht trägt das edelste Gepräge, und im Gefühl offenbart sich in reiner Glorie das ›ewig Weibliche‹! –

Triumphieret nicht, ihr Alltagsfrauen; rufet ihr nicht über dem Strickstrumpf und der Kartoffelsuppe ein ›überspannte Närrin‹ nach; denkt sinnend ihres keuschen, mutigen Todes. Sie starb für einen Irrtum, doch sie starb groß, wie jede Heilige für ihren Glauben. Ihr nennt, die Brust bekreuzend, die Namen der Märtyrerinnen –, keine ging mutiger in den Tod; ihr beugt das Knie vor Müttern, Gattinnen, Geliebten, die freudig für die Lieben starben; ihr singet ewige Lieder den Helden, die für das Vaterland die blutige Weihe suchten, – aus Herzen wie Charlottens gingen diese Taten!

Der Irrtum, unser ewiger Erbfeind, hat dies schöne Opfer zu sich hingelockt.

Laßt dies stille Grab unentweiht, lernet daran Selbstverleugnung, Opfermut, Liebe!«

*

Jennys Jugendbild würde ein unvollkommenes bleiben, und vieles in ihrer späteren Entwicklung bliebe unverständlich, wenn des Mannes vergessen würde, der ihr unter ihren männlichen Freunden nicht nur am nächsten stand, sondern auch den nachhaltigsten Einfluß auf sie ausübte: des Jenaer Professors der Philosophie K. H. Scheidler. Dieser tapfere Menschenfreund, der trotz seiner Taubheit sein Leben lang ein Optimist geblieben ist, brachte dem schönen, klugen Mädchen freilich mehr als Freundschaft entgegen, aber erst sehr viel später, als sie längst Frau und Mutter war, erfuhr sie von seiner tiefen, stummen Liebe. Er blieb auch dann, und mit noch größerem Recht als zuvor, ihr Hausphilosoph, und als er sich nach Jahren doch noch zur Ehe entschloß, wurde seine Tochter ihr Patenkind. Ihre philosophischen Studien betrieb sie unter seiner Leitung und pflegte in Erinnerung daran zu sagen: »Er führte mich vom Kinderparadies durch das Dunkel irdischer Hölle zum Himmel reiner Menschlichkeit«, und ihre in ihren Kreisen so seltene Fähigkeit, auch den politischen Idealen der äußersten Linken ein weitgehendes Verständnis entgegenzubringen, hatte sie ihm, dem ehemaligen Fahnenträger der Wartburgfeier, zu verdanken. Das Bild, das sie von ihm zeichnete, ist der beiden Menschen und ihrer Freundschaft würdig:

»Ich war einsam und betrübt. Ich hatte gebetet ohne Trost. Ich hatte ein geschichtliches Buch zu lesen versucht, es war mir in den Schoß gesunken. Der graue Himmel hatte einen Sonnenstrahl für meine Blumen und keinen Strahl der Freude für mein Herz. Vergebens hatte ich zu den Schriften gegriffen, in denen ich in Weihestunden des lebendigen Auffassens edler Weisheitslehren angestrichen hatte, was mir als zuverlässiger Leitstern, als Pilgerstab auf meinem Lebenswege erschienen war. Nichts war mir übrig als die Geduld; sie flüsterte mir jenes Wort immer wieder zu, das zugleich landläufige Redensart und tiefes Geheimnis Gottes als ein Lebensrätsel für jung und alt in jedermanns Munde ist: Alles geht vorüber. Ich schlug die Arme ineinander, senkte das Haupt und sagte mir leise: es geht vorüber. Ich wollte das abwarten. – Da tönt auf dem Korridor ein fester sporenklirrender Schritt, man meldet den Professor Scheidler. Ich stehe auf, reiche ihm die Hand und heiße ihn durch Zeichen willkommen, denn das traute Wort hätte er nicht gehört; seit mehr als zehn Jahren unheilbar taub, lebt er von Todesstille umgeben. Dieser Mann der Tapferkeit, der Reinheit, des tiefen Denkens und edlen Tuns, der Mann, welcher höher steht als das Unglück, der Mann ursprünglicher Natur, er ist mein Freund.

Niemals hat der Schmerz weniger Gewalt über einen Sterblichen gewonnen, obwohl er vielleicht keinen mit grausamerer Hartnäckigkeit angefallen hat. Denn dieser Mann mit der heiteren Stirn und dem Blick eines Kindes, mit seinem sicheren Auftreten, seinem Ausdruck von Zufriedenheit, dieser Mann, der nie klagt, nie müde wird, nie murrt, ist inmitten alles menschlichen Treibens allein, allein mit seinem Herzen voll Teilnahme und Liebe. Keine Familie, kein Herd, an dem er einem Blick begegnete, der ihm sagte: ich gehöre dir an. Kein Haus, wo er Karl genannt wird, er ist für jeden nur der Professor Scheidler. Keine Frau, die ›wir‹ sagte, kein Wesen auf Erden, dessen erste und oberste Neigung ihm gehörte. Dieser tatkräftige Mann, der alle Mißbräuche, alle Irrtümer bekämpfen möchte, der seine hochgegriffenen Überzeugungen auszubreiten sich berufen fühlt, der den Drang empfindet, seine Lehren der Uneigennützigkeit und des Fortschritts in die Seele jedes Jünglings hineinzudonnern, als Apostel der Sittlichkeit das Böse zu zerschmettern, das Gute bis in sein kleinstes Fünkchen hinein zu schützen, dieser Mann ist ausgeschlossen vom vertrauten und lebendigen Verkehr mit seinesgleichen, oft verliert seine Stimme sich ins Leere, bei jedem Schritt ist er gefesselt und aufgehalten, eine eherne Wand ist zwischen ihm und der Welt, und der Gedanke der Vervollkommnung, für den er lebt, kann sich bloß für ihn selbst und einen engen Kreis von Freunden geltend machen. Nicht einmal von Sorgen um das tägliche Brot ist dieser Mann der Hilfe und des Rates für die Leidenden frei, bei aller Einfachheit und Einsamkeit; er, der niemals an sich denkt, wenn es gilt, einem, der weniger hat als er, zu geben. Er hat keine Vorkehr getroffen gegen das Kommen der Armut im Krankheitsfalle oder in dem des frühen Alters: sein Vermögen sind einzig seine Arbeiten und seine Bedürfnislosigkeit. Er hat aber Zeiten erlebt, wo die schwere Last des Leides, das er dauernd zu tragen hat, durch äußere Entbehrungen noch schwerer wurde. Auch da hat er sich nicht beklagt, niemals dem Schmerz gegenüber die Waffen gestreckt; nein, diese Stirn hat sich nicht gebeugt, auch wenn ihre Heiterkeit von dunklen Prüfungswolken überschattet wurde. Der Kampf hat ihn niemals erschöpft, stets behielt er, um dem Nächsten zu helfen, die Hand frei. Einst legte er mir Rechnung über das, was ich mit ihm zusammen für einen in Not befindlichen jungen Gelehrten an Hilfe zu schaffen gesucht hatte, und da ich mich wunderte, wieviel er zusammengebracht hatte, obwohl, wie ich wußte, er selbst nicht bei Kasse war, fragte ich nach dem Woher. ›Das ist nicht schwer‹, antwortete er in aller Schlichtheit: ›ich habe täglich zwei Stunden mehr gearbeitet.‹

Er führt ein durchaus geistiges Leben; seine Bücher trösten, beleben, erquicken ihn; sie sind sein Genuß und gegen das Andringen innerer Feinde seine Waffe. Auch war kein Arsenal jemals so wohlversorgt, kein Vorrat von Verteidigungs- und Angriffswaffen, um allezeit bereit zu sein, so wohlgeordnet. Scheidler ist ein Mann der strengen Wissenschaft, ohne daß er darum aufhörte, ein Freund der schönen Literatur zu sein; ein zierliches Gedicht, ein guter Roman findet bei ihm offenen Eingang neben den tiefsten Gedanken über Philosophie und Geschichte. Und wie die es tun, die Freunde und Familie haben, teilt er zwischen seinen stillen Gefährten seine Zeit ein; er hat regelmäßige Stunden für das Studium, für den Broterwerb, für die Erholung. Er redet mit den großen Geistern der Vergangenheit, die in ihren Werken fortleben. Ist dann der lange Morgen würdig verwendet, so fordert der Körper eine Rücksicht: nach dem einfachen Mittagsmahl ein Spazierritt, hierauf eine Fechtübung, abends zuweilen Schach oder Whist, häufiger einsames Denken. Menschenfurcht, Eigennutz, Neid, Unwahrhaftigkeit kennt Scheidler nur, soweit er sie in anderen zu bekämpfen hat, seinem eigenen Herzen sind sie fremd; er hat jene Unschuld der Seele, die das Böse kennt, wie man Geschichte weiß, niemals aber damit durch eigene Erfahrung befleckt ist; die mit der Sünde zu schaffen gehabt, nie aber sie in sich aufgenommen hat; eine Unschuld, die nicht, wie bei einem Kinde, Unwissenheit ist, vielmehr angeborene Reinheit, Unnahbarkeit, ein Tugendgranit, dem Sturm und Tropfenfall nichts anhaben, über den die Zeit keine Macht besitzt. – Von Luxus wird Scheidler in keinerlei Form berührt. Auf Gold und Purpur der Kaiser würde er blicken, ohne daß seine schwarze Tuchweste mit der einfachen Stahlkette darüber, sein noch nicht zur Krawatte gewordenes schwarzes Halstuch, sein blauer, je nach den Umständen neuerer oder älterer Überrock und seine derben Sporenstiefel ihm auch nur in den Sinn kämen. Ob ein Zimmer elegant ist, sieht er nicht, und wenn man ihm das Auge auf ein komfortables Möbel oder eine hübsche Zierlichkeit lenkt, so lacht er, wie wir über eine ingeniöse Spielküche für Kinder lachen; er findet sie allerliebst, aber in seiner Miene erscheint kein Gedanke, daß er sie besitzen möchte.

So war der Mann, der in mein Zimmer trat. Und ich, ich wagte ihm gegenüber traurig zu sein, zu klagen, den Schmerz zu fliehen.

›Ihr letzter Brief war betrübt; ich bin herübergekommen, um Ihnen zu sagen: seien Sie tapfer. Machen Sie es wie ich! Kommt mir ein Leiden, so sehe ich ihm ins Gesicht, und dann sage ich: Bagatelle! – und nehme es auf mich. Dergleichen Gäste sind der Seele heilsam; ich weise sie nicht ab, ich nehme sie auf in mein Herz und lasse sie da arbeiten. Sie bringen die Seele in Bewegung, sie sind für unsere Entwicklung, was der Sauerteig für das Brot, sie machen, daß sie sich hebt. Und greift der Schmerz tief, so sieht man ihm noch tiefer ins Antlitz und ermißt daran seine eigene Kraft, die, um ihn eine Minute auszuhalten, allemal reicht. Halten Sie ihn so eine Minute nach der anderen aus, und wenn Sie nachher in der Erinnerung die Minuten zusammenrechnen, so werden Sie froh sein über den guten Kampf und den guten Sieg. Daß wir im Kampfe mit dem Schicksal unsere Kraft zu entwickeln streben, ist einmal unser Lebenszweck. Frisch sein! Das Göttliche in uns zur Erscheinung bringen! Für einen edlen Gedanken leben und gegen alles furchtlos kämpfen, was sich ihm entgegenstellt! Keine Schwachheiten. Einem vernünftigen Wesen gestattet ist sie höchstens im Falle der Krankheit, das aber ist die einzige Ausnahme. Niedergeschlagenheit ist Zeitverschwendung. Immer arbeiten! Immer seine Ideen klären! Die Philosophie in die Tat umsetzen! Sie darf nicht verwahrt werden wie der Schatz eines Geizigen, vielmehr sie muß Zinsen tragen. An andere denken lernen – voran an die Armen! Alles, alles, alles, was uns auf diesem Wege begegnet, aufnehmen! Immer inwendig tätig, immer gegen den Irrtum bewaffnet sein! Dann hat man so viel zu tun, daß man gar nicht einmal Zeit hat, seine Tür dem Schmerze aufzuschließen.‹

Ich begann freier zu atmen. Ich horchte auf jedes Wort und blickte in das Angesicht, das für so tapfere Worte den Stempel der Wahrhaftigkeit trug. Ich schämte mich meiner Schwäche; das ist der erste Schritt, wieder Kraft zu gewinnen. Ich mit meinen gesunden fünf Sinnen, meiner Jugend, meinen Zukunftsaussichten, mit der gesicherten und bequemen Fülle meiner Lebenslage, mit meiner Familie und meinen Freunden ließ mich niederschlagen durch ein Leid, und er, der Arme, Einsame, dem die Welt keinerlei Aussicht bot, redete mir zu. Dafür hatte ihn der Himmel mit seinem heiligen Geiste erfüllt und mit seinem göttlichen Feuer entzündet. – Dennoch wagte ich noch, das Wort ›Glück‹ aufzuschreiben. Er schüttelte den Kopf, und indem er mit gütigem Lächeln meine Hand ergriff: ›Auch da soll man sagen: Bagatelle. Glück ist ein ganz gleichgültiges Ding. Man muß nicht daran denken, dazu ist die Welt nicht da. Halten Sie, was Sie Glück nennen, Ihr ganzes Leben lang, was wollten Sie damit im Grabe? Glauben Sie, Sie würden Ihre Anlagen dann entwickelt haben? Glauben Sie, daß in der lauen Luft eines beständigen Wohlseins Sie das Bild des Menschen, wie Gott ihn gewollt hat, würden dargestellt haben? Nein, dazu ist Sturm und Wirbelwind nötig. Sie müssen dahin kommen, den Schmerz zu segnen. – Das Leid, das mich selbst betroffen hat, ermißt niemand: es kann sich keiner vorstellen, was es heißt, dies: niemals eine Menschenstimme vernehmen, dies Gestorbensein für die Musik, die ich leidenschaftlich liebte, die ich so gut kannte, daß ich noch heute neue Kompositionen lese wie ein Buch. Sie wissen, wie ich bei jedem Schritt im Verfolgen meiner Lebensziele gehindert bin, und andere Genüsse haben keinen Wert für mich. Dennoch, wenn Gott mir zur Wahl stellte, das Gehör niemals wiederzuerhalten oder niemals verloren zu haben, ich würde das Nichtwiedererhalten wählen, denn der Verlust hat mich umgewandelt, mich durchgearbeitet, mich zum Philosophen gemacht, mich mehr gelehrt, als ein Leben voll Glück. Ja, wenn ich jetzt wieder hören könnte! Aber das wäre zu glücklich, ich könnte es vielleicht nicht ertragen. Jedenfalls‹, setzte er mit Nachdruck hinzu, ›soll es nicht sein, denn es ist nicht.‹ Es war das erste und einzige Mal, daß er mir von seinem Unglück gesprochen hat. Ich blickte zu ihm auf mit der tiefen Verehrung, die ein Mann, der sein Leben mit dem Heiligenschein eines einzigen göttlichen Gedankens umgeben hat, einflößt. Ich allerdings war nicht imstande, sein Leid zu ermessen; ich stand davor wie vor einem jener großen grauen Gefangenenhäuser, die man anschaut, ohne alle die Seufzer und Tränen zu kennen, die sie umschließen. ›Ja‹, schrieb ich ihm auf, ›daß Glück nicht die Hauptsache ist, weiß ich und fühle ich, und verspreche, mein erster und oberster Leitstern soll allezeit das Gutsein bleiben. Aber nach dem Gutsein kommt mir das Glücklichsein. Bietet es sich mir dar ohne Sünde, so will ich, indem ich es ergreife, Gott auf meinen Knien danken, daß Er es mir geschenkt hat. Es gleichgültig zu finden, werde ich niemals stark genug sein.‹ Er schüttelte sein Haupt. Seine Philosophie erschien mir riesengroß; aber er redete von außerhalb der Welt her, und ich war inmitten der Welt; er stand zu fern und zu hoch, um zu verstehen, was ich zu erwidern hatte. Niemals war ihm der Kreis nahegetreten, in den ich vom Schicksal gestellt war, mit seinen Irrtümern und Fesseln, seinen Kleinlichkeiten und seiner Eleganz, seinem Glanze und seinen Pflichten, seinen Masken, seinen Regeln, seinem Katechismus des Scheins. Seine Versuchungen waren ihm fremd, seine lästigen Anforderungen töricht; er nannte Schwachheit, was ich als ein pflichtgemäßes Opfer empfand. Dennoch, vor dem Gerichte der unbeirrten und gesunden Vernunft war alles richtig, was er sagte, alles gut, was er riet. Die Welt hatte allemal unrecht, wo er und sie Entgegengesetztes verlangten. Allein sie ist die mächtigere: Scheidler riet, die Welt befahl.

Ich hatte mein Gleichgewicht wieder. Ich fühlte, dieser Mann war mein Freund, er hatte recht, ich mußte ihn hören und seinen edlen Grundsätzen gehorsam sein. Als er mich neu belebt sah, gewann sein Gesicht den Ausdruck reinster Befriedigung. ›Nicht wahr?‹ sagte er, ›wir sind von einer Partei. Es gibt bloß zwei in der Welt, die eine für das Gute, die andere für das Schlechte, für eine muß man, wie Solon von den Athenern es verlangte, sich entscheiden. Wir beide kämpfen für das Gute, wir sind Krieger desselben Heeres, und auf unserer Seite kämpfen alle Menschen, die das Gute wollen. Keine Schwachheit! Man muß sie wegweisen. Kein Schmerz um ein Ding der Welt! Man muß ihn bekämpfen und zu ihm sagen, wie ich: Bagatelle. Sie wissen, meine Philosophie ist die der Tapferkeit. Keine Feigheit! Keine Klage! Man soll die Erde nicht zum moralischen Krankenhause machen, sondern zu einer lebenskräftigen Schule und zu einem Schlachtfelde, auf welchem man Siege erficht.‹ – Er stand auf, drückte mir die Hand, mehr, wie es seiner männlichen Stärke, als wie es meinen schwachgebauten Mädchenfingern entsprach, seine Sporen verhallten auf dem Korridor, und er kehrte zurück zu seiner einsamen Arbeit.

Scheidler ist recht eigentlich ein Kind deutscher Erde. Er ist der echte deutsche Mann. Vor allem, er ist der Mann von deutschem Gemüt, dessen angeborene Redlichkeit und festgewurzelte Gerechtigkeit ein so freies und offenes, allem Menschlichen mit brüderlichem Vertrauen entgegenkommendes Herz gibt. Er ist der Mann der Güte, der zwar durch Erfahrung vorsichtig wird, aber ohne einen Tropfen von Galle; der Mann der Uneigennützigkeit, der niemals sich als souveränes Ich fühlt, dem andere nachstehen müßten. Zum Nächsten sagte er nicht: trage die Last, denn ich habe Macht, sie dir aufzulegen, er nimmt sie auf die eigenen Schultern und sagt: ich bin der Stärkere, ich will sie tragen. Niemals hat die Frivolität mit ihren graziösen Oberflächlichkeiten diesen Mann zum Diener gehabt. Seine Manieren sind brüsk, und auch das kommt vor, daß von dem gewaltigen Schwunge des Gedankenrades, das die härtesten Gegenstände, die inhaltreichsten Körner zermalmend, unablässig in ihm arbeitet, kleine Blumen der Freundschaft und der Freude ohne Erbarmen erfaßt und gestaltlos, duftlos, leblos uns vor die Füße geworfen werden. Einerlei. Gott sei gedankt, daß Er den guten und starken Mann geschaffen, ihm Seinen Geist der Wahrheit und der Liebe geschenkt, ihm den Stempel edler Menschlichkeit auf Stirn und Herz gedrückt hat.«

Folgende Briefe Jennys an ihn mögen als Ergänzung seiner Charakteristik dienen und zugleich die Art ihrer Freundschaft beleuchten:

25.7.32.

»Manche Erfahrung hat mich gelehrt, daß das Beispiel auch bei intimen Freunden die beste Predigt ist und dieser stille, sich immer wiederholende Vorwurf viel mehr Eindruck macht als ausgesprochener Tadel. Strafpredigten lassen fast immer eine kleine Bitterkeit zurück, das liebe Ich fühlt sich gekränkt, die Eitelkeit, diese mächtige Gewalt in jedem Menschen, wird beleidigt, und oft entsteht wenig Gutes aus diesem direkten Erziehen.«

 

3.1.33.

»Ich halte die Freude für ein solches Mittel zur Kraft, zum Leben, zum Fortschreiten, ich betrachte sie so sehr als den erwärmenden Strahl der Sonne, ohne welchen nichts zur Reife kommt, bei dessen gänzlicher Abwesenheit die Seele verkümmert und zusammenschrumpft, daß ich beim letzten Bettler neben dem Nutzen der Gabe auch die Freude berücksichtige.

So kaufe ich dem jungen Mädchen einen warmen Rock im Winter und gebe einige Groschen mehr aus, um bunte Streifen daran zu sehen, weil dies das Teilchen Freude ist; so gebe ich zu Weihnachten jedem Kinde neben dem Nützlichen auch Spielsachen und ein Zuckerbäumchen, und wenn ich der Mutter Mehl gekauft habe, so bekommt jedes Kind zwei Groschen, um auf das Schießhaus zu gehen. Dann erst glänzen die Augen, und die Armen sagen sich: Das Leben ist nicht immer hart! Diese Momente sind etwas wert, das nenne ich das Freudenalmosen.«

 

17.6.33.

»Die in unserer Zeit Neugeadelten kommen mir vor wie jene Ruinen, die nie Schlösser oder Tempel oder Klöster gewesen sind, jene Trümmer ohne Vergangenheit, die hingebaut werden, um einen Park zu zieren. Man sieht sie an ohne Ehrfurcht, ohne das philosophische Gefühl der Nichtigkeit auch des Großen und Festen auf Erden, ohne den Forscherblick, der auf den Steinen die Geschichte der Jahrhunderte lesen möchte; man betrachtet sie lächelnd und lobt die Nachahmung, wenn sie wirklich gut, bemitleidet sie, wenn sie geschmacklos ist. Sie gilt nur als Zierde, wie der Neugeadelte auch nur zum Putz eines Hofes oder Höfchens gestempelt wird. Die Macht des Adels ist an der Zeit und der Unvernunft ihrer Geschlechter zersplittert, die geschichtliche Erinnerung ist geblieben und wird bleiben, solange man lieber einer Reihe von Herren als von Dienern angehört, – das aber läßt sich nicht erkaufen.«

 

17.8.33.

»Der Charakter ist die Komposition des Menschen, seine Tugenden sind die Melodie, seine Fehler das Akkompagnement, das Instrument ist das Leben, wohl dem, der es zu stimmen versteht! Das Schicksal schlägt den Takt dazu, und nur ein großer, starker Menschengeist wird es selbst tun können und ihn fest und ohne Schwanken beibehalten.«

 

10.9.33.

»Es gibt einen anscheinenden Leichtsinn, den die Philosophie gerade den tiefsten Gemütern lehrt, es ist das oft mühsame Überbordwerfen von Schwerem und Trübem. Wenn die Leiden der Menschheit das innerste Herz zerreißen und die Trauer darüber fast jede Kraft lähmt, so muß man das zu lebhaft fühlende Herz zu einem gewissen Leichtsinn erziehen, damit die Kraft ungebrochen und das Leben erträglich bleibe, damit man Mut und Stärke habe, wo es Hilfe und Taten gibt.

Wenn Sie wüßten, wie schwer und wie nötig gerade mir dieser Leichtsinn ist, wie sehr ich schon meinen Hang zur Schwermut bekämpft habe, wie tötend die fortwährende Verletzung meines Herzens war! Jetzt habe ich durch Selbsterziehung Kraft gewonnen zum Unvermeidlichen und Einsicht zum Wegräumen des Vermeidlichen. Ich empfinde für Tiere ebenso wie für Menschen, und seit den zweiundzwanzig Jahren, die ich lebe, habe ich mich noch gar nicht an den Mord der Tiere und das Recht des Menschen dazu gewöhnen können. Der Gedanke an einen geblendeten Vogel oder selbst das Prügeln eines Hundes verbittert mir jede Freude.«

 

5.12.33.

»Nur kranke Herzen mißtrauen und mißverstehen einen wahren Freund. In dem ganzen klaren Spiegel steht hell und deutlich das Bild, welches er reflektiert, in dem zerbrochenen steht es zerstückelt, zerschnitten, verdoppelt, verdreht, und das Auge, das wir uns anlächeln sahen, wird zur Karikatur, während es doch ebenso heiter vor dem Spiegel steht als zur Zeit, da er ganz war.«

 

21. 9. 34

»Ich fühle mich oft wie eine Taube mit Adlersgedanken; meine eigentliche Täubchengesellschaft langweilt mich, fliege ich zu den Adlern, dann atme und lebe ich erst, aber die Luft drückt meinen Taubenkopf, die Sonne füllt meine Taubenaugen mit Tränen, und ich schaudere vor den zermalmten Gliedern der Adlernahrung, so daß ich zu meinen Körnern zurückfliege und Tauben wie Adlern fernbleiben möchte. Soll ich mir nun die Flügel beschneiden, um gewiß bei den Tauben zu bleiben? oder soll ich mich auf einen befreundeten Adlersfittich stützen und Luft und Sonne suchen und die Wildheit der Höhe mir zur Heimat gewöhnen?«

 

13. 10. 35.

»Die Natur hat nicht, wie bei Ihnen, alle Linien meines Charakters deutlich gezeichnet, sie hat hier und da zu schwach aufgedrückt, da habe ich nachhelfen müssen, und das wird leicht krumm und verkehrt. Ich habe viel anschaffen müssen, was am Ganzen fehlte, ich habe viel wegschaffen müssen, was verunstaltete, und noch fühle ich zu deutlich, wie unvollkommen mein Wesen ist. Doch gerecht und treu für meine Freunde, das bin ich, und darum werde ich Sie nie durch meine Schuld verlieren und nie durch irgendeine Schuld verkennen.«

 

2. 4. 37.

»Die dogmatisch historischen Fragen über Christus haben mich lange sehr gequält, dann bin ich zu der Überzeugung ihrer Unerweislichkeit gelangt und bin eigentlich ganz zufrieden mit dem Dahingestelltseinlassen. Ich verehre Jesum auf dem Throne der Tugend und Wahrheit, und dieser ist mir mit so viel glänzenden Wolken umgeben, daß ich die anderen Throne der Weisen daneben nicht sehe und auch nicht ausmessen wollte, in welchen Graden sie von- oder aneinander stehen. Wie oft höre ich, was meiner Ansicht ganz zuwider ist, daß der Glaube an Christi vollkommene Persönlichkeit, das Hängen an ihm als Person das Haupterfordernis zum Christsein sei. Meiner Seele ist hingegen unerschütterlich gewiß, daß einzig und allein der ein Christ sich nennen darf, der, wie der Heiland sagt: ›seine Gebote hält‹, daß Christus uns fremd, sogar unbekannt sein könnte und daß wir doch echte Christen wären, wenn wir den Geist seiner Worte kennten, glaubten und übten.

Darum erscheint mir auch das Beweisen der Sündlosigkeit oder Göttlichkeit usw. gar nicht so wichtig, und ich kann mir vorstellen, daß Christus ganz aus den Annalen der Geschichte verschwände und daß es noch ebenso vollkommene Christen geben könnte. Wie Rahel sagt: ›Ein gutes Buch muß gut sein, und wenn es eine Maus geschrieben hätte‹, so müßte das Christentum herrlich sein, und wenn es aus der Erde gewachsen wäre.«

*

Inzwischen war Jenny sechsundzwanzig Jahre alt geworden, ein Alter, das das übliche Heiratsalter der jungen Mädchen ihrer Kreise bei weitem überstieg. Ihre Stiefschwester war erwachsen, sie, wie ihre lieben Schüler Walter und Wolf Goethe bedurften ihres Unterrichts nicht mehr, Ottilie, deren unruhiger Geist nicht mehr durch Goethe gezügelt wurde, und die haltlos ihren Leidenschaften folgte, rüstete sich, Weimar zu verlassen, die Freundinnen hatten sich alle ihren eigenen Herd gegründet, Emma Froriep zog mit ihrem Vater nach Berlin – es wurde merkwürdig einsam um sie her, und jeder Abschied mahnte leise an den Abschied der ersten Jugend. An ihr Herz klopfte, stärker und stärker Einlaß begehrend, jene natürliche Weibessehnsucht, die sich, wenn das Herz schon entschied, im Verlangen nach Mannesliebe äußert, die aber, solange eine leise Stimme an den auf immer verlorenen Geliebten mahnt, im Verlangen nach dem Kinde zum Ausdruck kommt. Um so stärker wird die Sehnsucht nach dieser Richtung alle Empfindungen beherrschen, je reicher die weibliche Persönlichkeit ist, je mehr sie also, bewußt oder unbewußt, danach drängt, einen ihr entsprechenden Lebensinhalt zu finden. Auf dieser Stufe ihrer Entwicklung, die keiner unverdorbenen Frau erspart bleibt, die nicht sehr jung schon geheiratet hat, war Jenny angelangt. Ein paar Worte aus dem Briefe einer Freundin an sie, die sie zur Hochzeit beglückwünscht hatte, zeugen dafür: »Mein Lieblingsgedanke ist, Sie mir in einem ähnlichen Verhältnis zu denken. Ich wünsche es um Ihret- und um der Welt willen. O Jenny, wie müssen Sie beglücken können! Mir war es sehr lieb, Sie der Ehe geneigt sprechen zu hören. Sie haben recht, man macht Ihnen den Vorwurf, daß Sie mit der Liebe nur tändeln, alle ernsten Bande verschmähen. Doch ich weiß es besser! ein Blick in dies Auge, in Ihr Innerstes hat mich belehrt, daß Sie die Liebe kennen, daß Sie ihrer bedürfen.«

Noch mehr aber spricht dafür ein Gedicht von ihr, in dem folgende Verse sich finden:

». . . Mein Auge sucht auf Erden sehnend Liebe,
Im Himmel nur erscheint sie hehr und groß;
Daß sie verzehrend mir im Herzen bliebe,
War, Herr, du weißt's, mein jugendtötend Los . . .
Und weil ich Irdisches durch sie verloren,
Hab' ich sie mir als Himmelsglück erkoren . . .

Doch willst du freundlich mir das Leben schmücken,
So gib mir, Gott, ein Herz voll Liebe nur,
Ich faß' es feurig dann, und mit Entzücken
Leist' ich dem Himmel meinen Liebesschwur.
Gib, Herr, mir Einsamkeit im Schoß der Liebe,
Daß ich dir treu in meinen Kindern bliebe . . .«

Um diese Zeit kam Werner von Gustedt als Gast seiner Tante, der Hofmarschallin von Spiegel, nach Weimar. Er war nicht viel älter als Jenny, der Typus eines vornehmen jungen Mannes seiner Zeit mit dem feinen, glattrasierten Gesicht, vom hohen Biedermeierkragen eingefaßt, den vollen kurzen Locken, der schlanken, hohen, biegsamen Gestalt. Er gehörte einem braunschweigischen Geschlechte an, das sich rühmen konnte, älter zu sein als die Hohenzollern, und dessen Güter seit Menschengedenken keinen anderen Herrn gehabt hatten als einen Gustedt. Hofdienst war nie dieser echten Freiherren Sache gewesen, von keinem Fürsten besaßen sie den Adelsbrief; sie saßen stolz und selbstzufrieden auf ihrem Besitztum und kümmerten sich wenig um die Schicksale der großen Welt. Wenn Werner eine höhere Bildung genossen hatte, als es sonst bei diesen Landjunkern für gut befunden wurde, so hatte er es dem Umstand zu verdanken, daß er als Zweitgeborener keine Anwartschaft auf das väterliche Gut besaß und sich durch akademisches Studium zu einer anderen Laufbahn als der des Gutsbesitzers vorbereiten sollte. Wie Jenny aber später oft selbst erzählte, war es weder die äußere Erscheinung, noch die Geistesbildung – die in Weimar als etwas Selbstverständliches bei jedem vorausgesetzt wurde –, die ihn anziehend machte, sondern neben der großen Frische und Natürlichkeit die unberührte Reinheit seines Wesens. Problematische Naturen, sogenannte interessante Männer mit bewegter Vergangenheit und differenzierten Gefühlen, oder sentimentale Schwärmer, bei denen die Empfindung Modesache war, hatte sie bisher kennenzulernen Gelegenheit genug gehabt. Hier trat ihr die durchsichtige Natur eines einfach-klaren Mannes entgegen, und jenes Gefühl, das nächst dem Mitleid bei den Frauen so oft der Übergang zur Liebe ist – Vertrauen –, mag wohl das erste gewesen sein, was sie ihm gegenüber empfand, und blieb das Grundelement ihrer Beziehung zu ihm. Eine Natur wie die ihre, die in ihren Gefühlen wie in ihren Taten ihr ganzes ungeteiltes Selbst ausströmte, hatte die volle Glut der Leidenschaft nur dem einen, dem Toten, geben können; als sie Werner Gustedt ihr Jawort gab, geschah es in ruhiger, vertrauender Liebe. Daß sie sich dabei glücklich fühlte, daß sie der Zukunft hoffnungsvoll entgegensah, geht aus einem Glückwunschbrief der Herzogin von Orleans hervor, der also lautet:

»Petit Trianon, d. 8. Oktober 1837.

Wie sehr hat mich die Kunde Deines Glückes erfreut, meine liebe, teure Jenny – wie innig teilt mein Herz die Gefühle, welche das Deinige erfüllen und ihm in der Zukunft so schöne gesegnete Tage verheißen. Laß mich es Dir aus voller Seele aussprechen, wie ich Dir das reiche Glück wünsche, welches der Himmel mir beschert hat, wie ich von dem Leiter unserer Schicksale und unserer Herzen die Erfüllungen Deiner goldenen Hoffnungen erbitte. Schon einige Tage vor Empfang Deines so lieben Briefes, für den ich Dir den wärmsten Dank sage, erfuhr ich, daß Dein Los bestimmt sei, Du meine liebe Tante verlassen würdest – was mir recht leid tut – und die glückliche Braut eines vortrefflichen jungen Mannes wärst – dessen Name Dein guter Onkel wohlweislich vergessen hatte . . . Rechne in allen Verhältnissen des Lebens auf meine Liebe und auf die warme, treue Teilnahme, welche Dir immer widmen wird

Deine Helene.«

Eine Bleistiftzeichnung Friedrich Prellers, des Meisters der Odyssee, der ein häufiger Gast im Gersdorffschen Hause war und manch reizende Skizze in Jennys Album zeichnete, hat das Bild der Braut festgehalten: das kindliche Wangenrund hat dem feinen Oval des Antlitzes Platz gemacht, um den Mund ruht ein Zug tiefen Ernstes, die Augen erscheinen größer und tiefer als früher, die Locken an den Schläfen sind dem glatten Scheitel gewichen, der sich um die hohe Stirn legt, von einem Schmuckstück umschlossen wie von einem Königsreif. Den Bräutigam schildert Jenny selbst: »seine dunkelblauen, glänzenden Augen, sein etwas wolliges, dunkelblondes Haar über der schönen weißen Stirn, das lebhafte Kolorit, der scharf und fein geschnittene Mund, die fest und edel geformte Nase, der männliche Schritt – das alles vereinte sich zu einem Bilde selbstbewußter, deutscher Vornehmheit.«

Ehe sie sich ihm auf immer verband, nahm sie in aller Stille Abschied von der Vergangenheit: im Kaminfeuer ihres Mädchenstübchens schichtete sie aus ihren Tagebüchern den Scheiterhaufen, legte die Briefe dessen darauf, den sie geliebt hatte, und weihte alles dem Feuertod. Zur Dämmerstunde ging sie dann in jenes stille Goethe-Haus mit den geschlossenen Fensterläden, das ihrer Jugend Glück und Weihe verliehen hatte; die breite Treppe schritt sie hinauf und wieder hinab – es war vorüber!

Im Mai 1838 fand die Trauung statt. Noch einmal versammelte sich Weimars glänzende Gesellschaft um das gefeierte Hoffräulein Maria Paulownas –, weinend, glückwünschend, segnend umgaben sie die Gefährten und die Beschützer ihrer Jugend, noch einmal zog vom offenen Hochzeitswagen aus, der sie entführte, das Bild ihrer Heimat an ihren Augen vorüber, die engen, holprigen Straßen, das Schloß mit seinen sonnenglitzernden Fenstern, das Vaterhaus an der Ackerwand mit dem murmelnden Brunnen davor, die hohen Bäume im Park und die rauschende Ilm, und zuletzt: das stille Goethe-Haus mit den geschlossenen Fensterläden – schluchzte nicht doch in der jungen Frau das alte Leid noch einmal auf –? Oder grüßte sie nur ernsten Blicks den Geist ihrer Jugend, ihm Treue schwörend fürs Leben, wie sie sich dem Manne neben ihr zugeschworen hatte?

 


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