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Ich war von der Landstraße abgeirrt, von der großen, vielbetretenen Straße aller, die unter alten Bäumen dahingeführt hatte, bald schattig, bald sonnig, sicher und bequem, ohne Steine und Dornen. Aber der Staub war mir ärger erschienen als Steine und Dornen, und die Sicherheit der wohlbestellten Bahn war vom Dämmergespenst des Staubes der vielbetretenen Wege umlagert, vom Schattengeist der Nüchternheit, Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit. Der Klang meiner Schuhe begann mich zu quälen und ertönte mir mehr und mehr wie das Ticken einer Uhr, die die Zeit maß, er teilte mir die Lebensstunden ein und pochte die Gedanken, die schwerhörigen Begleiter meines Herzens, wieder und wieder wach. Sie verbanden sich mit dem Staub und trübten die Schau der Seele, jenes unüberdachte Blicken des ganzen Wesens, über dem die Erde zu einem der Sterne des Alls wird und die Gräber zu Wegzeichen.
Obgleich ich den Winter über in der großen Stadt, aus der ich kam, bis weit in den Frühling hinein eine ruhige Arbeit gefunden, bei der meine Gesundheit sich gebessert hatte, begleiteten doch die Gestalten der vergangenen Tage mich immer noch und zogen mich in die Kreise ihrer Wirkung, so daß ich wie mit ihren Augen und Kräften lebte und ihnen Herberge in mir gewähren mußte.
Nun lockte mich ein Moorpfad, der zwischen Gräben und Buschwerk dahinführte und anfänglich noch hier und da von Birken beschattet war, die weißstämmig aus dem schwarzen Erdgrund emporstiegen und deren Kronen sich mit Licht und Himmel mischten und das Blau um ihre zarten, schwebenden Kuppeln tief und wunderbar erstrahlen ließen. Als es Mittag wurde, verlor sich der Weg in den Verwilderungen des Moorlandes, seine Wagenfurchen waren zur Rechten und Linken im Gelände verlaufen, bei armseligen, verfallenen Holzstadeln, deren Bretterdächer durchlöchert waren und deren gähnende Öffnungen Seufzer der Verzweiflung und Demut in die verlassene Landschaft auszustoßen schienen. Nur ein schmaler Fußpfad rann noch wie ein Bächlein durch das Heidegestrüpp, verschwand oft gänzlich unter den Pflanzen oder versank im Sumpf. Die erhitzte Luft flimmerte über der Einöde, in weiter Ferne zog sich die bläuliche Mauer eines Waldes dahin.
Wenn die Sonne den Zenit erreicht hat, so ist es nicht gut zu wandern, das Herz schlägt unsicher, wirre Eingebungen huschen, wie von außen her, unter die Stirn, und eine sonderbare Angst, die keiner der vertrauten Empfindungen zu vergleichen ist, stellt sich wie eine Reisebegleiterin ein. Dieser Zustand ist nicht zu überwinden, er erhöht seine quälende Macht, wenn er Widerstand findet, und umdunkelt die Seele bis zur Verfinsterung. So schritt ich auf einen Wacholderstrauch zu, der etwa so groß war wie ich, aber breit und weit verästelt. Ich barg mich unter seinem sacht webenden Schatten und versank in sein flimmerndes Wärmebett. Ein Ginsterstrauch wuchs neben meiner Stirn, seine herben olivgrünen Stengel, zäh und trocken, führten wie ein Gerüst zu den goldenen Schmetterlingen seiner Blüten ins Blau empor, das die blicklosen Augen trunken machte.
Je verlassener ein Herz ist, um so leichter wird es eine Beute der Mächte, von denen es sich verfolgt glaubt; in dieser Stunde der Mittagszeit, allein in der Natur, ist jedes Herz schwach, das sich die Kraft seiner Empfindung nicht durch gewaltsame Verhärtung verdorben hat. Und so erschienen mir nach einer Weile die Bilder und Gestalten, die mich schon seit langer Zeit heimgesucht hatten; ich sah wieder bunte Straßen mit geschäftig dahineilenden Menschen, die glitzernden Läden der großen Kaufhäuser, Dome und Säle und das ganze schillernde Wirrwarr des Menschentreibens in der großen Stadt. Die tausend Drähte des Himmels und der Erde, die ihr Denken und Wirken verbanden, mit sich fortrissen, steigerten, überhasteten und bis an die Grenzen des Unerträglichen verkleinerten, wurden in meiner Vorstellung zu einem Netz von Selbstsucht und Eigenliebe, von Sinnendurst und Ehrgeiz, von Liebe und Haß, Intrige, Verrat und jammerndem Unterliegen.
Und aus dem Entsetzen darüber, daß diese Welt der kreischenden Überhitzung sich tatsächlich auf dem Boden der gleichen Erde vollzog, die mich in dieser Sonnenfülle des Mittags in vollkommener Verlassenheit trug, wurde etwas wie ein quälendes Schuldbewußtsein, das ich bitterlich haßte, aber nicht zu verdrängen vermochte. Der grelle Lebenstrichter wird dich in seine Strudel ziehen, dachte ich, und kein Mensch deiner Zeit ist weniger gewappnet als du. Du bist auf der Flucht vor einem Feind, der dich einholen wird, wende dich um, geh ihm wieder entgegen. Was dort in der bevölkerten Ferne, im Licht der gleichen Sonne entstanden ist, die dich bestrahlt, ist nicht weniger Natur als das, was dich hier umgibt und ohne Abwehr aufnimmt und beherbergen muß. Es vermag sich nicht gegen dich müßigen Eindringling zu wehren, der seine Pflichten und Rechte verkennt. Du mißbrauchst Wohltaten, recht wie ein Eigennütziger, der sich der Leistung entzieht, um die schweigsamen Taten der anderen zu genießen.
Die blühende Pflanze, die dich beschattet, das Gras, das dich bettet, die Käfer und Schmetterlinge, die dich erfreuen und erheitern, und die Vögel, deren Gesang dich beruhigt, das sind diese anderen. Geh zurück unter Menschen! Die menschenlose Natur beherbergt Dämonen, und langsam, langsam werden sie dich zu einem der Ihren machen. Ein Hohn auf Sittlichkeit und Sitte, ein Gehaßter den Redlichen, ein Spott den Vernünftigen, jagt dich dein heilloses Gespenst der Verlassenheit von fessellosem Trieb zu planloser Entflammung, bis du als Irrlicht über den Sümpfen des gärenden Erdreichs verloderst, dessen Sinn und Ziel du mißkannt hast.
Die Beschwichtigungen des Einschlafens erhoben sich wie wohltätiges Gewölk, und der Zwiespalt meiner Gedanken verflüchtigte sich zu sanften und unscheinbaren Erwägungen, in denen sich Mächte meiner annahmen, die ich nicht mehr zu prüfen vermochte. Nehmt mich unter euch auf, ihr Dämonen der unerreichbaren Natur, ihr Spiegelkinder der Sinnbilder, ihr Gefährten der Gleichnisse. Lehrt mich die Wollust der Unverantwortlichkeit, die dem Zauber der Unschuld verwandt ist, und verwandelt mich in euresgleichen. Aber traut meiner Treue nicht, ich bin ein Mensch. Heute noch erscheint es mir großartiger, euch zu erliegen und, euch gleichend, in eurem Reigen zu vergehen, als ohne eure Ermächtigung das entgötterte Eintagsgezücht der Menschen aufzusuchen.
Die glühende Sonne erhitzte Luft und Feuchtigkeit, Erdgrund, Pflanzen und Getier zu kreisender, erbrausender Seingier und zu einer Entäußerung ihres Wesens in Dehnung und Wandlung, Preisgabe, Duft und saugendem Lichtverlangen, so daß aller Geist wie ein Gespött der Natur mit der vibrierenden Luft davonflimmerte. Entgötterter war die Erde nie, ich fürchtete mich im halben Traum. Ein blitzendes Insekt umkreiste meine Stirn mit einem singenden Urweltgetön, das dem Rauschen der Planeten im All vergleichbar sein mußte. Das Geschöpf war riesenhaft und von furchtbarem Selbstbewußtsein, zugleich lasterhaft böse und arglos und unschuldsvoll wie ein Kind, bereit, seine furchtbare Kraft in der unterlegenen Welt der schwächeren Geschöpfe wie im Spiel zu erproben, und unbegabt, auch nur in der Ahnung einer Absicht oder im Widerschein einer Kraft dem Schnabel des Vogels Widerstand zu leisten oder dem Maul des Frosches, der in irgendeiner Nähe wie ein beweglicher Abgrund vorhanden war.
Eifrig, böse und glücklich arbeitete sich ein grün schillernder Käfer mit leisen, feinen gierigen Tönchen in den Lichtabgrund einer kleinen Glockenblume hinein. Sie sank in den Schatten nieder und tauchte, aufschwankend, wieder in die Lichtflut empor, sie bebte und erzitterte, ihr zarter Leib rauschte, der Grund ihres Kelchs wurde grausam betastet, verwüstet, umgeackert. Die Schicksalstat ihrer einen, einzigen Sommerstunde riß sie bald in die Feuerwogen der Sonnenstrahlen empor, bald in die Dämmernacht des Schattens hinab. Wie laute Rufe flammte ihr süßes Blumenlicht auf und erlosch, der überzarte Stiel bog sich tief, als sei die Lichtlast der stummen Empfindung von Kelch und Blüte hoch über ihm, im Zenit ihres Seins, ihm zu schwer.
Auf der braunen Hand dort im Gras, der meinen, saß eine Libelle, und die Glasdächer ihrer Flügel legten die Härchen der Haut und die Furchen und Rinnsale ihrer vieltausendfältigen Fläche in gelinden Schatten. Es raschelte kaum hörbar in der Nähe, ein geheimnisvolles, leises Ziehen und Schleifen erklang sonderbar grauenhaft und viel zu still für den geahnten Aufwand von herannahender Gewalt. Es war eine Schlange. Als mein schläfriger Blick sie streifte und kaum erkannt hatte, wurde ich furchtbar wach, und ohne daß ich eine Bewegung an mir wahrnahm, straffte sich doch mein ganzer Leib wie in einer innerlichen Aufmerksamkeit. Der Geist des Bluts sandte seine frierenden Sendboten in alle Glieder. Was weißt du von der Schlange, aber ich, dein Leib, kenne sie aus vieltausendjähriger Erfahrung; verlaß dich auf mich, du armer Bewußtseinsfremdling in mir.
Die Schlange hob den Kopf und züngelte vorsichtig und lautlos zu mir herüber. Sie vergeudete keines ihrer Machtmittel, alles an ihr war verhaltene Prüfung. Da mein eigener Kopf in erhöhter Lage ruhte, vermochte ich, sie ins Auge zu fassen, und sah mit Grauen und Entzücken das schöne, schreckliche Haupt zwischen den Pflanzen, farbig wie sie, aber in tausend von ihr geschiedenen Energien geeint wie ein Diamant über einem Schutthaufen. Die kleinen Augen funkelten in einer strahlenden Gier, überwach, lichtbeseligt und von einer so erschütternden Lebendigkeit, daß das Lebensbett ihrer nächsten Nähe zu einem dumpfen grünen Tod zusammenschrumpfte.
Ich wurde ihre Beute und erkannte ihre Gewalt. Ich wurde kleiner als das geringste Wesen, das ihr zum Raub fiel, sie wurde groß wie ein Ungeheuer, das Grasmeer wandelte sich zum Urwald, die Erdbröcklein zu Felsstücken und die Risse und Rinnsale im Boden zu Schluchten und Strombetten. Hinter dem Gifthauch mit dem Spiel der Zunge, hinter den glitzernden Augen war ihr gräßlicher Leib verborgen, dessen Länge meine Vorstellung nicht zu ermessen vermochte. Vielleicht umzog er längst die Stätte meines Aufenthalts, vielleicht wand er sich hinter mir langsam zusammen, denn er vermochte sich lautlos zu bewegen, immer auf der eigenen Spur, im Weglosen sein eigener Pfad, die furchtbare Allmacht, die das Haupt darstellte, vor sich herschiebend, die blitzschnell die ewige Daseinsnacht eines Wesens ausbreiten konnte.
Die Schlange schien zu lauschen, aber war nicht alles still? Da erkannte ich, daß sie auf das Klopfen meines Herzens horchte. Hinter ungreifbaren Bergen dunkler Masse schlug ein unsichtbarer Hammer, der ihre Aufmerksamkeit wachrief und ihr Tiergewissen spannte. Mir war, als forderte sie mich zu einer Bewegung auf.
Ich bin ein Mensch, horch auf den Hammer! Aber ich will seinen Schlag in die Gloriole deiner freien Herrlichkeit hüllen, in den Widerschein deiner furchtbaren Unschuld und in die Unwandelbarkeit deiner Sinneneinfalt, in der die Dämonen des Triebs die heiligen Geistesgötter wieder und wieder entthront haben. Nun machst du dich still davon, als haßtest du die, die dich willkommen heißen. Die Pflanzenwildnis saugt dich in ihr Bereich der Wandlung zurück, aber mehr als nur der Widerschein deines Wesens ist bei mir zurückgeblieben.
An den Schatten des Wacholderstrauchs sah ich, daß die Sonne nicht mehr im Zenit stand, und beschloß zu wandern, bis ich ein Haus fand, denn ich hatte kein Brot mehr. Obgleich ich, soweit meine Augen reichten, kein Wahrzeichen menschlichen Daseins und Treibens erblickte, verfolgte ich den am Morgen eingeschlagenen Pfad doch weiter, denn so verloren und verlassen er sich auch dahinzog und sooft er sich auch völlig in Sumpf und Steppe verlor, erkannte ich doch, daß er hier und da begangen wurde und nicht zu jenen Wegen gehörte, die im Ungewissen enden oder sich in der Wildnis verlieren.
Das Leben in der Einöde des Moors veränderte von Stunde zu Stunde sein Wesen, einzelne Tiere waren verstummt und verschwunden, andere schienen erst nun zu ihrem Treiben zu erwachen. Ich näherte mich dem Wald, die Sonne sank zu meiner Linken, ein zweiter Pfad mündete von Osten her in meinen ein, der nun deutlicher verlief. Ich sah eine Baumgruppe von Birken auftauchen, deren Stämme von Gesträuch verdeckt waren und von Holunder, der blühte. Das Gelände um die grüne Gruppe herum trug Spuren menschlicher Arbeit, es war streckenweise von gleichmäßigem Grün, und nun erkannte ich auch die Stangen einer Feldeinfassung, wie Fäden, und die Furchen und Büschel eines Kartoffelackers. Mein Moorpfad lief nun in einen breiteren Weg über, der Wagenspuren trug; das niedrige Haus, an das ich kam, unter der Baumgruppe, war eine Schenke. Es standen zwei Tische und Bänke unter den Fenstern am Straßenrand sowie auch eine zernagte Holzkrippe mit einer rostigen Kette; die Türschwelle aus Ziegeln war ausgehöhlt wie ein tausendjähriges Bachbett im Gestein, und ich mußte mich bücken, als ich unter das rauchgeschwärzte Gebälk des Hausflurs trat.
Es ist nicht ganz leicht, in einem solchen Fall von Einkehr die rechte Mischung von Freimut und Bescheidenheit zu finden, jene Beherrschung, die Wünsche, aber keine Gier verrät, Gleichmütigkeit, aber keine Kälte, Freundlichkeit, aber keine Unterwürfigkeit, und frohen Sinn ohne Frechheit. Ich mußte arm erscheinen, jedoch nicht allzu bedürftig, und es war schwer, hier eine wohlgemute Unabhängigkeit zu zeigen, wo ich in der von Gott und allen Menschen verlassenen Einöde abhängiger war als ein Ertrinkender vom rettenden Balken.
Einfache Menschen, die in einsamem Gelände von ihrer Hände Arbeit leben, sind mißtrauisch gegen alle Fremden, die nicht wie sie selbst arbeiten oder die sie nicht durch eine deutlich erkennbar bevorteilte Lage zur Bewunderung oder zur Ehrerbietung zwingen. Ihre Hartherzigkeit gegen Bettler ist bekannt. Menschen, die mit dem Erdboden um ihr Brot ringen, verschenken nichts, wie auch der Boden nichts schenkt, das meinen nur diejenigen, die sich zur Zeit der Ernte aus den Städten aufs Land begeben, um ihm Korn zu liegen oder unter den Obstbäumen.
Aus dem Dunkel des Flurs kam mir ein altes Weib entgegen, ich sah ihr Gesicht, da sie dem Licht zugekehrt war, und atmete auf.
»Kann ich zur Nacht bleiben?« fragte ich.
»Weshalb nicht, wenn du Geld hast«, antwortete sie, ging weiter und voran, so daß ich im engen Flur vor ihr zurückweichen und aus dem Hause heraus auf den Vorplatz treten mußte. Sie betrachtete mich ruhig und ohne Scheu oder Zartgefühl, den Rock, das Schuhwerk und dann das Gesicht. Als sie mir in die Augen sah, sagte ich:
»Geld habe ich nicht mehr, Mütterchen; soll ich weitergehen?«
»Kannst du mähen?« fragte sie.
Ich zögerte mit der Antwort, um nicht zuviel Bereitwilligkeit zu zeigen. Wer einem Bauern nicht widerspricht, der findet kein Vertrauen bei ihm. Dann nickte ich und blieb ernst und zögernd.
»Willst du essen?« fragte die Alte.
»Das eilt nicht«, antwortete ich, obgleich mich der Hunger schmerzte und meine Glieder vor Schwäche zitterten.
»Es steht am Herd«, sagte sie, »komm herein. Mein Sohn ist davon, ich kann wohl für ein paar Tage eine Kraft brauchen. Aber du wirst davonlaufen, wenn du gegessen hast.«
»Das kann wohl sein«, antwortete ich, »aber vielleicht geh' ich auch nicht.«
Dabei blieb es zwischen uns. Die Alte beschäftigte sich in der Küche, in die ich ihr folgte und deren Tür auf den Hof zu offenstand. Auf der Schwelle saßen Hühner und betrachteten mich neugierig, auf den Stachelbeerbüschen, am Rand des Gemüsegartens, hingen Wäschestücke, es roch wohltuend nach Holzasche, Milch und Mist. Das Haus schien sonst leer.
Ich trug der Alten Holz vom Hof herein und legte es auf den Herd, der noch warm war. Man darf alten Weibern nichts versprechen, Worte sind für sie nur Ausflüchte, Handlungen sind Münze.
Sie schien es nicht zu sehen, aber sie legte mir das ganze Brot hin. Das war weit mehr an Gunst, als wenn in der hohen Gesellschaft die Dame des Hauses eine goldgezierte Einladungskarte zum Nachtmahl durch ihren Diener überreichen läßt. Dann ging sie zu den Ziegen in ihren Stall und brachte mir Milch in einer Tonschale. Ich nahm sie, ohne zu danken, und sie sah mir zu, als ich trank. Seit sie von ihrem Sohn gesprochen hatte, war es mir leichter geworden, ihr Gast zu sein, eine rechte Mutter ist aller Söhne Mutter.
Als der Abend kam, führte die Alte mich ins Gastzimmer und gab mir eine Decke, wobei sie auf die Holzbank unter den Fenstern wies. Der Raum war so niedrig, daß ich das Gebälk über mir mit der Hand berühren konnte; eine Öllampe hing in einem Drahtgestell mitten im Raum, eine Bank umzog den Kamin, der in tiefem Schatten lag. Auf den beiden roh gezimmerten Tischen standen in Bierflaschen Mohnblumen, die zu verwelken begannen, aus den Sträußen waren einzelne Blütenblätter auf die Tischplatte niedergesunken. Es war noch spärliches Abendlicht im Raum, und ein schwerer Geruch von Rauch und Getränken lag in der Luft, aber auch er war welk.
In der Frühe weckte mich die aufgehende Sonne, die acht stille blutrote Rechtecke an die Wand warf und den fremden Raum sonderbar aufhellte, so daß ich mein Leben auf der Erde zu träumen glaubte und lange nicht wußte, wo ich war. Aber ein mächtiges Lebensgefühl durchströmte mich, eine wilde, heilige Neugier und der Menschenaberglaube vom Dasein in Raum und Zeit.
In der Stille und Einsamkeit sank ich wieder in Schlaf und erwachte ein zweites Mal von einem Hahnenschrei unmittelbar vor meinem Fenster, so daß ich glaubte, das Tier säße auf meiner Schulter. Ich sprang auf und schlug nach ihm, um es zu verscheuchen, aber ich schlug in die Sonnenbahnen, die wie schräge helle Balken über mich hinflossen. Die Lichtflecke lagen nun am Boden und waren nicht mehr rot, sondern blendeten, und ihre Ränder bewegten sich spielend. Ich traf die Alte schon auf und in der Küche beschäftigt, alle Türen im Hause standen offen, und die Lichtfluten des Sommers strömten mit Duft und Morgenkühle zu uns herein.
Sie nickte mir mütterlich zu, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, sie stopfte ungesäuberte Heidschnuckenwolle in einen Sack, langsam die weichen grauen Ballen knetend und einschiebend. Das Herdfeuer brannte schon. Sie sah, daß ich zum Marsch gerüstet vor ihr stand, und sagte gütig und mürrisch zugleich:
»Zuvor esse. Es ist wahr, du kannst für unsereinen nichts tun.«
»Dann darf ich gehen?«
»Wohin du magst«, antwortete sie gleichmütig und erhob sich nun von ihrer Arbeit, um mir Milch und Brot zu reichen.
»Kann ich nichts für dich tun, Mütterchen, nichts Gutes, das dich freute?«
Sie zog einen Brief unter der Schürze hervor, dessen Umschlag aufgerissen war, reichte ihn mir und bat: »Lese ihn laut für mich, die Brille ist schon lange zerbrochen, und wie sollte ich zu einer anderen kommen, wenn ich das Haus hüten muß. Der Brief ist von meinem Sohn.«
»Woher weißt du das?« fragte ich und schlug das Blatt auseinander.
Sie sah mich bestürzt an, als könnte ihre voreilige Gewißheit noch zerschellen, aber dann meinte sie ruhig: »Ich habe die Buchstaben an der blanken Kanne vergrößert, auch schreibt mir kein anderer Mensch Briefe, weil ich allein bin. Nur der Gregor kommt zuweilen und hockt in der Küche, aber er ist vom Kummer besessen und bleibt oft lange aus.«
Ich las ihr die kurzen und unbeholfenen Sätze vor, in denen ihr Sohn ihr aus einer großen Stadt mitteilte, er habe Arbeit gefunden und bliebe dort, die Einöde sei nichts für einen jungen Mann, denn er müsse vorankommen.
»Schreibt er die Straße und das Haus, wo er wohnt?« fragte die Alte. Ich suchte und fand nichts.
Sie saß am Herd und schaute vor sich hin. Die Morgensonne draußen auf den Stachelbeerbüschen, über den Grasflächen und in der Heideferne lockte mich mächtig. Alles ist draußen längst erwacht und durchschweift fröhlich das noch kühle Licht, die Raubvögel kreisen über den Wäldern, und die Wildtauben girren im Laubdickicht der Kronen.
Die Alte erhob den trüben Blick langsam zu mir und sah über mich hin. Ihre Hand forderte den Brief, den ich noch hielt. Ich gab ihn ihr zurück und sagte:
»Ich will bis zum Mittag bleiben und arbeiten.«
»Nein«, sagte sie, »geh deines Wegs. Die Einöde ist nichts für einen jungen Mann. Ihr müßt alle gehen. Wartet auch deine Mutter?«
»Ja«, sagte ich, »sie warten alle.«
Sie nickte und wandte sich dem Herd zu.
»Wer ist Gregor?« fragte ich, »sprachst du nicht vorhin von ihm, sagtest du nicht, er sei vom Kummer besessen?«
Die sonderbare Bezeichnung war mir lebendig in die Seele gedrungen, und ich fragte nicht nur deshalb, um der Alten noch ein paar Worte zu sagen.
»Er ist ein alter Lehrer, der Schäferenkel im Dorf, das du erreichst, wenn du deinen Weg durch den Wald nimmst. Er ist närrisch«, fuhr sie fort und winkte mit der Hand unwirsch ab, aber dann lächelte sie und fügte hinzu: »Ein guter Mann, sicherlich ... vorher war er unser Lehrer, aber das hatte keinen Bestand. Nun geh und sieh, du wirst fröhlicher werden als er.«
»Das soll gelten«, sagte ich, »freilich werde ich zu ihm gehen, gehe ich doch nur so ... von Mensch zu Mensch.«
Ich gab ihr die Hand zum Abschied, aber auf solche Art vermochte sie die Hand nicht zu reichen, die ihre lag hart und hilflos für eine kurze Weile in der meinen, die befangen einen raschen Druck wagte, dann griff sie zurück zu ihrem Tagwerk, und ich schritt von dannen, mein gut gewohntes Tun.
Ich gelangte in einen Wald, und die Baumkronen überdachten bald die Landstraße völlig, so daß ich mit meinen Gedanken wie in einem großen Höhlenweg dahinschritt, wie durch einen Dom, dessen durchflimmertes Schiff sich weit dahinzog. Fern am Ende leuchtete die Sonne im Korn, ein goldener Altar.
Ich erreichte das Dorf, ohne einem Menschen begegnet zu sein. Wie gewöhnlich schritt ich zur Kirche vor, fand den Gasthof, das Pfarrhaus und die Schule und entschloß mich diesmal, beim Lehrer vorzusprechen. Ich fand ihn im Garten beschäftigt, es war um die Mittagsstunde. Wege und Beete boten sich in kleinlichster Sauberkeit dar, die Früchte schienen alle gezählt zu sein, die Erdbeeren ruhten mit ihren Stengeln auf kleinen Gabeln, die sie vom Erdboden emporreckten, und reiften unter Aufsicht.
»Nehmen Sie sich in acht«, sagte der Lehrer und hob die Hand, »dort sind Bienen.«
Ich blieb stehen, der Abstand gab dem Mann ein ungefälliges Übergewicht über mich, denn er konnte mich in Ruhe von oben bis unten betrachten, während an ihm nichts zu sehen war, was mein Selbstbewußtsein gehoben hätte. Außerdem wäre ich sowieso nicht an den Bienen vorbeigekommen.
»Ich suche den alten, kranken Lehrer«, sagte ich.
»Ach so ...«, meinte er erleichtert. Weiß Gott, was er sich gedacht hatte.
»Den alten Gregor«, fuhr er fort, »nun, alt ist er ja gerade nicht, etwa in meinem Alter ist er. Was wollen Sie von ihm? Sind Sie mit ihm bekannt, vielleicht von früher her? Etwas älter, übrigens, ist er wohl doch.«
»Er ist mein Onkel!«
Er ließ den Spaten sinken und zog ein rotes Taschentuch.
»Aber ich habe ja nie gewußt, daß Gregor Brüder oder Schwestern gehabt hat.« Er schneuzte sich gewalttätig.
»Nein«, sagte ich rasch, »das hat er auch nicht.«
»Ja, wie kann er aber dann Ihr Onkel sein?«
Ich lächelte geringschätzig, weil ich nicht so rasch einen Ausweg fand; über Art und Grade der Verwandtschaft bin ich niemals sicher im Bild gewesen, weil ich mein Elternhaus früh verlassen habe.
»Wir nannten ihn Onkel«, sagte ich und runzelte die Stirn. Mich befiel die böse Ungeduld dessen, der sich freiwillig hat verurteilen lassen und am Unwert der anderen leidet, die diesen Entschluß sich zum Vorteil deuten. Mein Gegenüber besah den Inhalt seines Tuchs.
»Wer sind Sie?« sagte ich laut, »daß ich vor Ihnen ein wohlgesinntes Verlangen verleugne, statt es einfach zu bekennen, und daß ich eine flache Entschuldigung, einen schwachen äußerlichen Vorwand suche, um vor Ihnen bestehen zu können?«
»Ich bin der Lehrer«, sagte er und starrte mich an, aber dann stiegen Ablehnung und Verdruß in ihm auf.
»Und wer sind denn eigentlich Sie?« fragte er drohend und hob und senkte den Kopf, als plante er einen Angriff mit der ganzen Wucht seines Nackens.
Ich gab mich verloren, denn ich war plötzlich in der Schule. Ich stand gerade und sank. Noch sah ich die vier kahlen Fenster, ein Pult und die Wand mit der Landkarte. Ein schaler Hauch trockener, verbrauchter Luft preßte mir Stirn und Odem ein, und die Köpfe der Mitschüler wurden zu dunklen, schimmernden Flecken, von denen hämische Genugtuung oder karges, beklommenes Mitleid aufstieg, aber keine Hilfe. Vielleicht daß gerade jetzt, ach, gerade jetzt, die Stundenglocke des Pedells klang ...
Da krähte ein Hahn, und der Sommermittag empfing mich wie ein Engellied der Verkündigung, ich war erlöst und frei, bereit, zu leben, und bereit, zu sterben. Aber Ferien ohne ein Zeugnis gab es auch heute noch nicht.
»Sie haben sich eine Unwahrscheinlichkeit zuschulden kommen lassen«, sagte der Lehrer, nahm den Spaten fester und erwartete meine Antwort mit Herausforderung.
Ich wollte es nicht mit ihm verderben, denn es hielt mich die Ahnung gefangen, als sollte ich längere Zeit an diesem Ort verweilen und als sei ich von der Gunst der Bewohner abhängig, wenn ich mein Ziel erreichen wollte. War der Gesuchte krank und wurde er von Gnaden des Dorfs erhalten, so waren sicherlich Pfarrer und Lehrer seine Gönner. So lenkte ich frohen Sinnes ein, wie einer, der aus der Gruft einer schrecklichen Erinnerung an die beschienene Erdoberfläche einer sorglosen Gegenwart emporsteigt, und sagte freundlich:
»Ich habe ihn kennengelernt, es ist ja gleichgültig, wann, wie oder durch wen, ich habe von ihm gehört und möchte ihn nun sehen und sprechen. Wenn ich Ihre Güte nicht allzusehr in Anspruch nehme, so wage ich die Bitte, mir seine Wohnung zu nennen.«
Die Welt ordnete sich meinem Gegenüber wieder, weil seine Autorität nicht mehr in Frage gezogen schien. Wieviel Verachtung darf man doch ungestraft in seine Höflichkeit legen und wie wenig Aufrichtigkeit in ein Verhalten ohne Schmeichelei.
»Er wohnt beim Brosy zu ebener Erde«, sagte der Lehrer langsam, »aber irren Sie sich nicht, Brosy heißt der Hof von seinem alten Besitzer her, der Bauer, der ihn jetzt innehat, heißt Schirrmacher, ein ordentlicher Mann.«
Ein Hündlein sprang mit hellem Gekläff den Gartenweg entlang und auf mich zu. Es hüpfte eifrig und ohne die Geschicklichkeit, seine Sätze in ein richtiges Verhältnis zu seinem Gebell bringen zu können. Es sprang zu oft und unnötig hoch, so daß die innere Beteiligtheit seines Angriffs fragwürdig wurde. Man sah es rasch: ein geringer Fresser, jedoch ein guter Ansager. Als der Blick des Lehrers ihn traf, wurde er kleiner und wedelte beherrscht.
»Sie gehen um die Kirche herum«, sagte der Lehrer, scheinbar erneut gestärkt durch die Gegenwart des Tiers, »und dann zur Rechten den Fahrweg entlang. Im Vorgarten des Hauses werden Sie Georginen erblicken, und der Misthaufen ist zu dicht an der Straße.«
»Ich werde aufmerksam sein«, versprach ich.
»Nichts zu danken«, antwortete er und ergriff wieder mit beiden Händen den Spaten. Das Hündlein schwankte in Erwägungen, welche Pflicht von ihm erwartet wurde, bellte aber nicht mehr, sondern sah mir in Gemeinschaft mit seinem Besitzer nach. Ich grüßte sie beide noch einmal von der Holzpforte des Gartens aus, indem ich meinen Hut lüftete und demütig lächelte.
Die Straße stieg ein wenig an; um die Kirche, eng geschmiegt wie ein zu kleiner Teppich, lag der Friedhof. Die wilden Rosen blühten und hauchten die Sonnenglut als zarten Duft über die staubige Straße. Es begegneten mir Kinder und grüßten. Ich fragte sie noch einmal nach meinem Ziel, denn vom Schulmeister wußte ich nur, daß es mir gelungen war, ihn zufriedenzustellen, aber nicht, was er mir gesagt hatte. Endlich fand ich das rechte Haus, breit und niedrig, zwischen Pappeln; ein freundlicher schmaler Weg, der mich im Grün seiner Rasen wie ein herzliches Willkommen berührte, führte gewunden zum seitlichen Eingang. Ich sah durch das Fenster neben der Haustür in einen niedrigen, fast leeren Raum, in dem ich wenig erkannte, da das Sonnenlicht im Glas blendete, und ich mochte die mit der Hand geschützten Augen nicht hart an die Scheiben bringen. So trat ich ein und stand im Flur, der nach Milch und Stall duftete, nahrhaft und friedlich.
Ich öffnete, ohne zu klopfen, die Tür, die ins Zimmer führte, in das ich durchs Fenster hineingeschaut hatte. An einem Tisch saß ein Mann, der mir den gebeugten Rücken zukehrte, er war groß und hager, und sein graues Haar fiel ungepflegt und strähnig über den Rockkragen. Was sollte ich tun? Der Mann rührte sich nicht, er sah sich nicht um und fragte nicht, er schien meinen Eintritt nicht bemerkt zu haben oder hielt mich für irgendeinen gewohnten Hausgenossen. Der Sonnenschein, hoch vom Himmel nieder und zerteilt durch das bewegliche Laub der Pappeln, wanderte wie hellfließendes Wasser über das graue Haupt und die eckigen Schultern. Ich dachte plötzlich an Asja, die Gestorbene, und erschrak, dunkle, ferne Glocken begannen ein drohendes Geläute. Ich wandelte mich jählings und hielt Einkehr, so daß Trauer und Mut mich wunderbar beseelten.
Damals erwog ich wenig, war ergriffen, ohne den Grund viel zu suchen, und sah auf diese Schultern mit einer Art heimlichen Dank. Da wandte der Sitzende sich um und schaute mich an und lächelte.
Nie, niemals werde ich dir Unrecht tun, dachte ich.
Dies Lächeln war keine Gebärde der Geselligkeit oder Höflichkeit, nicht Gruß noch Frage, keine der unzähligen Formen, die das Gesicht anzunehmen vermag, wenn es erwartungsvoll oder befangen dem Fremden begegnet, sondern es war ein unbewußtes Ausstrahlen des warmen Wesens, ungeschickt und hilflos, ein Wesensglanz aus uranfänglichen Gefilden der Herzensanmut. Aber es war rasch verflogen und hatte einem angstvollen, düsteren Forschen Platz gemacht. Du forderst dein Lächeln von mir zurück, das entflogene Herz, dachte ich, wie gut verstehe ich das, wer gibt einem Fremdling so reichlich.
»Was wollen Sie?« fragte der Lehrer und erhob sich. Er blickte sich wie nach einer Rettung im leeren, bescheidenen Raum um, schien Böses zu erwarten, und sein struppig umbartetes Gesicht sah grimmig aus. Aber ich richtete mich nur nach seinen Augen, nahm ihr gutes Lebenslicht an und barg es dankbar und fast gelassen bei mir.
»Die Frau des Bauern wird vielleicht etwas für Sie geben«, platzte er jetzt schnell und befangen heraus, »ich werde Sie hinführen und die Bäuerin zu veranlassen suchen, obgleich mir ein solches nicht häufig zu gelingen pflegt. Ja, ich muß sagen, es mißlingt mir jeweils in der Regel, die Leute haben auf ihre Art den Lebenskampf zu kämpfen und an harter Arbeit mehr als genug, dazu Kinder, bedenken Sie es, das Jüngste ist ein Knabe namens Gottlieb ...!«
Trotz seiner Absicht, mich zu führen, blieb er doch an seinem Platz stehen und senkte nun wieder beide Arme, die in wenig anschmiegsamen Gesten seine Rede feierlich begleitet hatten. Sie hingen nun von den gesenkten Schultern nieder, als wären sie nur durch die zu kurzen Ärmel seines Rocks am Körper befestigt. Er räusperte sich und sah mit schräggehaltenem Kopf auf mich hin.
»Kommt Gottlieb zuweilen zu Ihnen?« fragte ich.
»Ja«, sagte er rasch, »das ist nun freilich der Fall, obgleich es ungern gesehen wird, denn man will, daß ich hierorts für mich allein lebe. Aber der Knabe kommt augenscheinlich auf eigenen Antrieb, und so erfreut es mich denn.«
Er schien zu schwanken und erschrak sichtlich über sich selbst. Dann stieg eine Besinnung in ihm auf, als erwäge er erstaunt mein Recht zu solch schlichter Führung auf mich zu, aber er hieß es doch gut, ohne Arg, und seine Augen fragten mich kaum.
»Es ist nicht so schwierig«, bemerkte er nun nachdenklich, »und verdient keinesfalls die Mißachtung, die einige hierorts ansässige Bewohner mir zu verstehen geben ... ich meine, allein für sich zu leben. Nur will es gelernt sein.« Er lächelte bereitwillig: »Es kommt dann gar mancherlei zu uns, das die Geselligkeit uns vorenthält ... nicht jede, nicht immer – eine Kränkung soll nicht damit verbunden sein!«
»Ihr Amt üben Sie nicht mehr aus?«
»Nein«, antwortete er und sah mich mißtrauisch an.
Ich fragte, ob ich mich setzen dürfe, und er holte mir rasch einen Stuhl, stellte ihn mitten ins Zimmer, überstrich das zerschlissene Lederkissen mit der Hand, als ließe es sich glätten, und nötigte mich eifrig, Platz zu nehmen, indem er sich neben dem Stuhl verbeugte. Ich ließ mich nieder und sah ihn nicht an, tat recht versunken, gequält und unzufrieden mit mir, weil ich nicht wagte, diesem Mann mit raschen und geschickten Worten und Wendungen entgegenzutreten. Kommen die Kinder mit freiem Willen zu dir, dachte ich, so wirst du die Erfahrenen und Bewanderten nicht lieben.
»Die Landstreicherei ist gewiß sehr anstrengend?« fragte er und verbeugte sich noch einmal.
»Halten Sie mich für einen Landstreicher?« fragte ich.
»Sie erwecken einerseits den Anschein eines solchen«, entgegnete er ängstlich, »andererseits ließe sich natürlich auch auf etwas anderes schließen, etwa auf einen fahrenden Schüler, wenn ich mich so ausdrücken darf, auch könnte ein Handwerk in Frage kommen, wenn auch nicht eben gröberer Art. Immerhin ...«
Er schaute unauffällig in einen Spiegel an der Kalkwand und zupfte an seiner Krawatte, die man unter dem ungepflegten Bart eher vermutete als sah, und zog den unglaublich verblichenen und zerschlissenen bräunlichen Rock zurecht. Seine Hose, die sich in Wellen und Zickzackkurven von den verschwommenen Pantoffeln aufwärtsarbeitete, hatte die Farbe alter Stadtmauern bei Regenwetter, und seine gestickte Samtweste, die in weitem Abstand den mageren Körper umgab, mußten einst einem beleibten Bäuerlein gehört haben. Zwischen ihr und dem Gürtel hatte sich ein breiter Spalt gebildet, der dem Wollhemd einen Ausblick in das Menschentreiben der bewohnten Erde gewährte.
»Vielleicht ein Buchbinder ... ein begabterer ...«, brach es nun mit einem hastigen Stoß aus ihm hervor.
»Nein, mit Büchern habe ich nichts zu tun.«
»Aber ich, aber ich«, rief er fröhlich, sichtlich erfreut über den schicklich ersonnenen Übergang. Er wies auf ein Bücherbrett, das an vier Schnüren an einem Nagel an der Wand hing und auf dem einige sorgfältig der Größe nach aufgestellte Bände ihre verblichenen Rücken zeigten.
»Man ließ sie mir«, bemerkte er, »auch wollte sie niemand.«
Plötzlich verdarb ihm seine Kraft zu lebendiger Anteilnahme, er verdüsterte sich zusehends und sah mich abweisend an:
»Was wollen Sie eigentlich von mir? Sie dringen hier bei mir ein und erforschen mich. Wollen Sie Vorteil aus mir ziehen? Da lassen Sie sich gesagt sein, daß es derartiges nicht bei mir gibt und daß ich das Meine zusammenzuhalten weiß! Es könnte sich höchstens«, fuhr er böse fort, und seine Finger suchten erregt in der Westentasche, »um eine geringfügige Summe handeln, die ich geteilt oder eventuell auch ganz verabfolgen würde ...«
Er suchte angestrengt, fand nichts und wurde zornig.
»Nein, ich gebe nichts! Ein junger Mann soll nach Arbeit Umschau halten, ohne wählerisch vorzugehen.« Er ballte die Fäuste und kam drohend auf mich zu: »Sie sollten sich schämen, mich in eine solche Lage zu bringen, daß ich der Vernunft in mir gebieten muß, einen Riegel vor meine Absicht zu schieben.« Sein Körper zitterte vor Erregung und Schwäche, aber als ich antworten wollte, gefaßt, das rechte, ernste Wort zu sagen, warf er die erhobenen Hände zwischen sich und mich, die allem Einhalt geboten.
»So warten Sie denn!« Er wandte sich einer alten Kommode zu, hielt aber die Hand noch eine Weile beschwichtigend nach hinten gegen mich erhoben. Dann vergaß er mich über seinem Eifer, der deutlich eine beglückte Erwartung verriet, zog umständlich und mit Andacht die oberste Lade auf und stellte sich schützend vor das preisgegebene Gebiet, so breit, wie sein Körper es gestattete. Aber meine Augen waren rasch, und ich erblickte in der aufgezogenen Lade eine Reihe von bunten kleinen Pappschachteln, die mit farbigen Bändchen verschnürt waren. Er hob eine heraus, wie einen Schatz, und als ich sein Lächeln sah, erzitterte ich vor Ergriffenheit. Die mageren, ungewandten Finger mühten sich um die Verschnürung, endlich war sie gelöst, und ich erblickte in der dargebotenen Schachtel eine sorgfältig gelegte Anordnung von billigen Süßigkeiten, Zuckerwerk, wie man es in den Dörfern an Schulkinder verkauft.
»So bedienen Sie sich denn«, sagte er mit stolzem Lächeln, »und reichlich, ganz nach Gefallen. Nehmen Sie ein zweites Stück, vielleicht dieses – oder ... nehmen Sie diese ganze Schachtel! Auf weiten Wegen möchte es Ihnen zustatten kommen, man weiß nie, und solch ein Leckerbissen, denn um solche handelt es sich hier, tut seine Dienste und stärkt oft sogar den inneren Menschen. Nehmen Sie nur! Seien Sie unbesorgt, ich werde den Ausfall zu ersetzen wissen, und der Vorrat wird wieder vollzählig sein. Wollen Sie auch dieses blaue Bändchen? Nur zugegriffen, ungeniert, umschnürt verwahrt sich diese Schachtel besser, diese feine Schachtel.«
Nun hatte ich mich gefaßt und dankte ihm herzlich, statt seine Gabe anzunehmen, ich höflicher Tor. Seine erschrockenen Augen musterten mich erbittert, Schmerz und Zorn schüttelten ihn gleichermaßen, fast zerdrückte er die Schachtel in der geschwungenen Hand, als er sie wie zu einem Schlag gegen mich hob.
»Sie hochmütiger Mensch«, rief er laut, »Sie Verächter! Verlassen Sie eilenden Schrittes diesen Raum, dieses Haus. Ich gebiete es, obgleich es nicht mein eigenes Haus ist. Schütteln Sie den Staub von Ihren Füßen und gehen Sie Ihres Weges, denn ich kann Ihnen nichts geben. So haben wir nichts miteinander gemein, nichts miteinander zu schaffen. Hinaus! Aus meinen Augen!«
Ich hatte von meiner Niederlage gelernt und widersprach nicht, sondern wandte mich wortlos ab, indem ich ruhig grüßte und hinausschritt. Es blieb sonderbar still hinter mir. Durch die Scheibe erkannte ich, daß der Lehrer sich mitten im Zimmer auf dem Stuhl niedergelassen hatte und zusammengesunken vor sich hinstarrte, die bunte Schachtel in der herabhängenden Hand.
Wie mag der lange Tag mir verstrichen sein, in den Brombeerranken der Steinbrüche am besonnten Waldrand und in Kornfeldern voll Mohn? Endlich in der Abendsonne fand ich mich an einem Bach, von dessen Hängen aus ich im Buchenschatten die Forellen in der raschen Flut mit meinen Blicken begleitete. Dort nun entschloß ich mich, etliche zu fangen, was mir leicht gelang, da ich die Gewohnheiten der Tiere kannte und wußte, daß sie zumeist nach jeder Flucht in ihre Wasserburgen zurückkehren. Dies sind Schlupfwinkel unter großen Steinen und Uferlöcher unter dem Gewirr von Baumwurzeln, wohin man ihnen mit der Hand folgen muß. Sie verharren dort still im dunkelsten Schattenwinkel und scheinbar dessen gewiß, daß das Auge keines Feindes, die Fänge keines Räubers sie dort aufzuspüren vermögen. Man kann die Hand oft ruhig um die glatten Körper fester und fester schließen, darf dies jedoch niemals jählings und mit einem harten Griff versuchen, da sie dann unfehlbar entgleiten.
Als die Sonne herunter war und der Wald dämmrig wurde, so daß Abendöde und Tagesmattigkeit mich beschlichen, verlangte es mich nach der Nähe von Menschen, denn mir graute oft vor der gleichen nächtlichen Waldeinsamkeit, die ich, vielleicht schon am anderen Tage, mit Verlangen aufsuchen konnte. Zudem war es mein Vorsatz, den kranken Lehrer wiederzusehen, dies stand für mich mit der Unerschütterlichkeit eines Gesetzes fest, und sein schroffes Verhalten beim Abschied schreckte mich nicht ab, sondern bekräftigte mich in dem Glauben an den Wert seines Gemüts. Ich hatte den ganzen Tag an ihn denken müssen, und selbst wenn ich meine Besinnungen ablenkte, kehrten sie immer wieder zu ihm zurück. Auf diese Art hatte er mich begleitet, als wäre er bei mir gewesen.
Aber es war mir klar, daß ich mich jetzt nicht gleich wieder an ihn wenden durfte, und so beschloß ich, in die Schulmeisterei zu pilgern, deren strengen Beherrscher ich bei meinem Einzug in das Dorf kennengelernt hatte. Er schreckte mich nicht, der starre Tyrann, denn er besaß sicherlich alle jene Schwächen, die Gewaltherrscher aufweisen, die ihr Amt von des Gesetzes und nicht von Gottes Gnaden verwalten.
Aus dem Dorf schimmerte schon hier und da ein erleuchtetes Fenster herüber zu mir auf die Landstraße, aber es war noch hell umher, kaum daß mit Mühe der Abendstern am Himmel zu finden war. Nur die Baumgruppen um den weißen Kirchturm herum ruhten schon tief in ihrem eigenen Dunkel, und die Ferne im Osten war kalt und blau. Grillen zirpten im Heu und am grünen Hang des Straßengrabens. Vielleicht komme ich wieder zu euch, ihr Abendfrohen, dachte ich, und schlafe bei eurem Lied im geschnittenen Gras, die Augen gegen die Sterne gerichtet, so daß in der Kühle die Lider von selber sinken, bis der Tau sie im Morgenrot wieder hebt. Mich überwältigte die Erinnerung an den unnennbaren Frohsinn, der mich oft überströmt hatte, an das Übermaß von Helligkeit und Daseinsglück, wenn ich im Freien erwacht war.
Da stand ich am Gartentor des Schulhauses und zog rasch und ohne Besinnen die Glocke, wie man im Dunkeln über einen Graben springt, dessen Breite man nicht sicher weiß. Der Lehrer kam selbst, er trug Pantoffeln und einen kurzen Rock, eine Art Joppe, und schritt langsam dahin. Die geometrischen Formen der Gartenanlage schreckten mich in der Dämmerung aufs neue, rechts und links von der Pforte standen zwei Akazien, deren Kronen kegelförmig zugeschnitten waren.
Ich grüßte und bat um Einlaß, der mir ohne Widerspruch und fast bereitwillig gewährt wurde. Der schwere breite Mann war seiner Herrschaft sicher.
»Vielleicht ist es möglich, Herr Professor, daß ich bei Ihnen in einem bescheidenen Heuwinkel übernachten darf«, sagte ich, »ich komme heute nicht mehr weiter, will auch nicht, und es reut mich das Geld für das Gasthaus, weil ich nur sehr wenig Geld habe.«
»Das ist einzurichten«, antwortete er, »aber ich bin nicht Professor, ich bin ein einfacher Landschullehrer.«
»Nicht möglich!« rief ich.
Er prüfte mein Gesicht.
»Kommen Sie herein«, sagte er dann, »wir sitzen beim Abendbrot. Nehmen Sie teil daran, wenn Sie wollen, Sie waren doch heute mittag bei mir?«
Auf dem Tisch brannte eine Petroleumlampe, und es saßen eine freundliche Frau und eine Schar Kinder im Kreise um Teller und Schüsseln herum und starrten mich alle zugleich an. Die munteren Lebenslichter dieser arglosen Augen stimmten mich froh, ich legte Hut und Bündel an der Tür nieder und begrüßte die Hausfrau mit Anstand. Sie nahm es gütig hin, lächelte neugierig, aber nicht befangen, und bot mir einen Stuhl an, den ihr Söhnchen eifrig an den Tisch schleppte. Es war ein Knabe von etwa zehn Jahren. Ich sagte zu ihm: »Morgen werde ich dir zeigen, wie man Forellen mit der Hand fängt.«
»Das kann ich schon«, antwortete er mir.
»Aber hoffentlich tust du es nicht«, warnte ihn der Vater, und an mich gewandt:
»Die Forellen gehören dem Pfarrer.«
»Dann habe ich mich schuldig gemacht«, erzählte ich unbefangen, »ich habe ihrer drei erwischt, prächtige Tiere, allerdings in der Annahme, daß der Bach Ihnen gehört.«
Die Mutter fragte:
»Haben Sie sie mitgebracht?«
Ich nickte und zog die Fische hervor. Die drei Kinder erhoben sich und stellten sich um meinen Stuhl.
»Prächtige Tiere«, wiederholte der Lehrer, »und gerade die richtige Größe.«
»Am besten gibt man sie in die Küche«, meinte seine Gattin, noch die Klangfarbe seiner Einschätzung im Ohr, »man kann ja dem Herrn Pfarrer Gemüse schicken, oder ...?«
Der Lehrer nickte. »Nehmt eure Plätze ein«, gebot er den Kindern, und man trippelte auseinander.
Ich kam den Fragen zuvor, die in den Augen standen, das Paar war ohne Arg und, was meine Person betraf, nicht wißbegieriger, als berechtigt war. Im Gartenhaus sollte Platz geschaffen werden, sogar ein Feldbett wurde als überzählig erwähnt. Ich wurde plötzlich müde und nachdenklich. Es war ein langer bunter Tag gewesen, und wer viel allein ist, wird überwach, feinhörig und viel zu empfindlich. Aber der Lehrer ließ mich noch nicht los, und als Weib und Kinder zur Ruhe gegangen waren, fragte er mich:
»Haben Sie den kranken Gregor angetroffen?«
»Ja, aber er ist doch nicht krank.«
Der Lehrer lächelte überlegen und fast mitleidig.
»Was wollen Sie denn von ihm?« fragte er unvermittelt. Ich gab ihm Auskunft, soweit Ort und Teilnahme mehr als beiläufige Geständnisse gestatteten und im ausgleichenden Tonfall. Er schnitt meine Worte ab:
»Nun gut, so ist denn der Fall wohl für Sie erledigt. Wie haben Sie denn diesen Narren angetroffen?«
Er lächelte unsicher, heischte in etwas unlauterer Eilfertigkeit eine beiläufige Zustimmung für seine Meinung und schien gerüstet, in Gemeinschaft mit mir auf den gemiedenen Mann herabzuschauen.
Dagegen gab es ein Mittel.
»Ich habe mich mit ihm befreundet«, sagte ich.
Die Stirn meines Gegenübers zog sich nun forschend und mißtrauisch, ja fast drohend zusammen, seine Schultern senkten sich, und er schien schwerer auf seinem Stuhl zu werden. Er blies eine Rauchwolke aus seiner Pfeife in den Raum, so daß alles verdunkelt wurde und die Fliegen auf der bunten Tischdecke sich davonmachten. »Sie kennen diesen Menschen nicht. Ich warne Sie.«
»Wovor warnen Sie mich? Ich habe in ihm einen hilflosen und herzensguten Menschen kennengelernt.«
Der Lehrer unterbrach mich mit einem nun deutlich ausbrechenden Unwillen:
»Papperlapapp! Sie haben diesen Mann überhaupt nicht kennengelernt.«
»Was heißt Papperlapapp?« fragte ich.
»Schon gut. Es geht uns hier jetzt um Gregor, scheint mir. Sie meinen doch wohl nicht, daß Sie mir über diesen Mann etwas Neues sagen können? Ich habe meine Erfahrungen hinter mir und weiß, woran ich bin. Ich weiß es gründlich. Das fehlte mir! Kommt da einer und spricht von herzensgut, als sei das so schlechthin alles. Wenn Sie wüßten, welch ein Unheil dieser Mensch hier im Ort angerichtet hat! Ich hätte ihn längst als einen Schädling beseitigt, wenn er nicht, da er doch erkrankt ist, einen Anspruch an unsere Gemeinde hätte, in der sein Großvater Schäfer gewesen ist. Jawohl, Schäfer! Wir erhalten ihn hier, er ißt Gnadenbrot.«
Ich empfand nun deutlich, daß hier eine an Haß grenzende Abneigung vorlag und daß dieser schulmeisterlich Erregte sicher persönlich ärger an meinem Bekannten gelitten haben mochte als wahrscheinlich die Gemeinde, die hier als befleckter Mantel vor die eigene Wunde gehalten wurde. Ich bedurfte der Bestätigung nicht, die ich erhalten sollte, denn von allen Gekränkten, die sich durch Angriffe rechtfertigen, verrät sich ein Schulmeister am schnellsten. Ich brauchte seinen Eifer nicht zu schüren:
»Er war hier mein Vorgänger im Amt«, begann mein Gegenüber, »nun denken Sie sich diesen Mann auf einem solchen Posten. Sie haben ihn ja kennengelernt. Sie werden sich kaum eine Vorstellung davon machen können, welche Zuchtlosigkeit und Verwilderung im Laufe der Zeit in der hiesigen Jugend um sich gegriffen hatte. Unser Pfarrer hat es schwer büßen müssen, daß er diesem Sonderling immer wieder und wieder die Stange hielt. Es ist ihm später nicht leicht geworden, sich zu verantworten, und was führte er später der Behörde gegenüber an: ›Vergib mir Gott, ich weiß nicht, weshalb ich Gregor vor Ihnen verteidige, ich kann nichts zu seinen Gunsten als Schullehrer anführen, nichts bestreiten von dem, was man ihm vorwirft, aber wenn Sie den Mann strafen oder auch nur antasten, so geschieht ein schreckliches Unrecht.‹ Das sagt ein Pfarrer, er ist freilich schon ein alter Mann, doch nun warten Sie! Nun sollen Sie einige Beispiele der Wahrheit entsprechend hören, damit Sie sich selbst ein Urteil bilden können. Die Maßregelung ist endlich nur auf meine Fürsprache hin unterblieben, aber wie hat er mir das gedankt?«
»Sie wollten mir Beispiele erzählen«, warf ich ein.
»Wie hat er mir das gedankt? Dadurch, daß er mir hier, aus seinem Versteck her, Knüppel zwischen die Beine warf. Ich komme später auf die Beispiele. Kaum war ich hier mühsam am Werk, den Gang der Dinge erneut ins Geleise zu bringen, schon kehrten Respekt, Zucht und Achtung vor der Schule zurück, da wagte es dieser Narr, mich zur Rede zu stellen, mir Ratschläge zu erteilen, mir Vorwürfe zu machen. Und was für Ratschläge! Er tritt vor mich hin, hier in meinem Garten, mitten am Tag, in seinem Lumpenrock ohne Knöpfe und Kragen und spricht:
›Sie sind ein grober Mann, ein derber Keil, aber eine Kindesseele ist kein Klotz. Sie beugen alle die Seelchen nieder, anstatt sie emporzurichten, die schwachen, zärtlichen. So werden sie unterwürfig oder gar falsch, sicherlich aber betrübt. Schauen Sie sie doch an, alle Augen sind traurig.‹«
Er imitierte die Sprechweise des alten Gregor eifrig, war aber ungeschickt und ein wenig lächerlich.
Wie gut du dieses Wort behalten hast, dachte ich, machte aber keinen Einwand, denn ich wäre kaum dazu gekommen, mehr als einen halben Satz auszusprechen. Die Art, in der dieser Mann die Gegenrede abschnitt, seine Unfähigkeit, eine Meinung gelten zu lassen, die sich der seinen nicht anschloß, waren mir wohlbekannt, und da mein Interesse daran gering war, ihn etwa zu überzeugen oder auch nur zu überreden, ließ ich ihn sprechen, denn es lag mir daran, soviel als möglich über Gregor zu erfahren. Ich kann aus deiner Sprache übersetzen, dachte ich in heimlichem innerem Wohlbefinden, ich weiß das warme Geheimnis. Immer heller erstrahlte das arme, stille Bildnis vor meinen Augen. Dir aber werde ich nur soviel entgegnen als not tut, dich immer erneut zu Geständnissen zu bewegen. Ist nicht das Quälendste schon gesagt, sind sie heraus, die Worte, die dich verwundet haben? Nun baue ihrer Wahrheit noch Stufen, damit ich sicher zu ihr emporfinde. Ja, schau nur auf mein erbötiges Lächeln, dem du nur widerwillig traust und demgegenüber du befangen bist, weil du nicht meinetwegen sprichst, sondern um dich vor dir selbst zu rechtfertigen. Später werde ich zu allem schweigen, was du gesagt hast, so tief verachte ich dich. Aber es sollte doch ein wenig anders kommen.
»Glauben Sie nur nicht«, fuhr der Lehrer ein wenig lauernd fort, »diese seine Worte seien dem Gregor zum Triumph ausgeschlagen. Nimmermehr. Er selbst war ein paar Tage darauf bei mir und hat sich flennend entschuldigt, ja, fast fußfällig hat er mich um Vergebung angefleht. So sind diese Leute, erst werfen sie einem die Scheiben ein, und dann erzählen sie, der Stein sei ihnen aus der Hand geglitten.«
»Wie lange ist das jetzt her?« fragte ich.
»Etwa zehn Jahre«, antwortete der Lehrer und seufzte.
»Zehn Jahre! Und heute noch haben Sie nicht verziehen und nicht vergessen.«
»Verziehen habe ich wohl, aber nicht vergessen.«
»Wer wahrhaft verziehen hat, wird auch vergessen.«
»Das sagen Sie so ... Sie wissen ja nicht, was mir dies alles noch zu schaffen gemacht hat, zu raten und zu deuten gegeben. Am Vergessen und Vergeben allein liegt es ja nicht, es liegt an etwas ganz anderem. Nun, ich will es Ihnen sagen, warum soll man nicht auch einmal offen sein? Sehen Sie, das Quälende ist, daß dieser Gregor offenkundig und erweisbar in allem unrecht getan, mir und den anderen, das kann keine Vernunft bestreiten, niemand, der der Jugend wohl will, niemand, der etwas von Fragen der Erziehung und des Gemeinwohls versteht, er hat sich schwer an Pflicht und Recht vergangen – und doch hat er irgendwo recht. Und ich bringe nicht heraus, wo und inwiefern. Sehen Sie, das ist mir seit dieser Zeit ein qualvolles Rätsel geblieben, daß es auch andererorts, und im kleinen wie im großen, überall in der heutigen Welt unter Menschen die gleiche Frage gibt, und überall wirft sie sich mir auf und raubt mir die Sicherheit, frißt am Preis, am Errungenen und am Erworbenen meines Lebens, macht mich ungewiß und läßt mich Gewalt tun, wo ich Güte walten lassen möchte. Meinen Sie, das erginge nur mir so? Wie ist es denn mit unserem Pfarrer? Beachten Sie doch die Worte, die jener über Gregor gesagt hat: ›Er hat unrecht, wer ihn aber antastet, der hat hundertmal unrecht.‹ Was ist denn das?«
»Das ist der Frühlingswind«, antwortete ich.
»Ihre Antwort ist sozusagen Poesie, damit ist mir nicht gedient. Ich habe gefaßt zu leben und habe zu wirken, aber seit Gregors Wort gefallen ist, daß der Kinder Augen alle traurig seien, prüfe ich nun oft die Angesichter, die mir zugewandt sind, und sehe darin diese Traurigkeit. Oft habe ich in der Schule einen raschen Scherz gemacht, nur um die Traurigkeit aus den Augen zu vertreiben, aber nicht alle lachten, und ich begann zwischen denen zu unterscheiden, die sich erheitert zeigten, und denen, die ernst blieben. Ich wählte in meinen Gedanken heimlich aus, sagte bei mir selbst: Diese und diese sind die braven, die guten und wertvollen Kinder, jene aber sind die leichtfertigen, argen, welche werden nun bei meinem Scherz lachen, und welche werden dabei ernst auf mich hinschauen? So quälte ich mich und entdeckte darüber, daß ich nach neuen Maßstäben suchte, die einzelnen zu werten und zu verurteilen, zu belohnen und zu bestrafen, und so auf diejenigen heimlich achtete, die mir widerstanden.«
Er schwieg und sann vor sich hin. Im Zimmer summte das Flämmchen der Öllampe, und hinter den Scheiben ahnte ich das Wehen der dörflichen Nacht, aus deren geheimnisvoller Stille hin und wieder Nachtfalter, vom Licht gelockt, an unsere Scheiben gerieten. Meine Gedanken irrten hinaus und in die dunkle Weite. Plötzlich klang wieder die Stimme des Lehrers vor mir, der heimlich auf meine Aufmerksamkeit gewartet zu haben schien und nun sich selbst und mich zu seinem Thema zurückrief:
»Wissen Sie«, begann er leise und selbstbetrachtend, »was der Pfarrer ein anderes Mal von Gregor gesagt hat: Er sei ein verworfener Baustein. Nun, dies schien mir klug und gerecht, und ich hatte mich eine Weile dabei beruhigt, bis mir im Sinn aufgetaucht ist, daß von solch verworfenem Baustein ein dunkles Wort in den Evangelien zu finden ist, auch wollte mir das Lächeln des Pfarrers bei seiner Erklärung nicht recht gefallen, denn ich hatte das Gefühl, als sei meine Unruhe ihm eine heimliche Genugtuung. Hören Sie zu? – So habe ich denn nachgeforscht, bis mir die Stelle vor Augen gekommen ist: ›Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Welcher auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen.‹«
Da ich schwieg, weil ich ihm auf solchem Weg zu folgen vermochte, wurde er erneut unsicher, vielleicht auch, daß er ein ausgleichendes und herabminderndes Lächeln bei mir erwartet hatte, wie es den Menschen aus Befangenheit zu Gebote steht, wenn sie jemanden die Schranken der gewohnten Denkart überschreiten sehen. Aber um so eifriger warf er sich nun auf die Seite der zehrenden Gegnerschaft in der eigenen Brust:
»Aber nun hören Sie doch, was dieser Mensch hier zuwege gebracht hat, und urteilen Sie selbst, wohin Nachsicht mit ihm geführt hätte. Es sind eine Unzahl der abenteuerlichsten Unmöglichkeiten, Phantastereien und geradezu komische Absonderlichkeiten, die ich aufzählen könnte, die sich meinetwegen einer gestatten kann, der die Unabhängigkeit dazu hat, aber niemals ein Mann von Verantwortlichkeit. Ich möchte übrigens nicht unerwähnt lassen, daß ich mich mit dem alten Pfarrer in pädagogischen Fragen durchaus nicht immer einig weiß. Aber zurück zu Gregor! Fehlt da eines Morgens in der Schule ein Knabe, von dem es heißt, er sei erkrankt. Er war am Tage zuvor in der Egge verunglückt und hatte ein Bein gebrochen. Was tut unser Lehrer? Er läßt die ganze Klasse sitzen, wie sie hockt, eilt vom Katheder fort durch die Ortschaft, eine gute halbe Stunde weit über Land, und wird endlich am Bett des Kranken gefunden, dem er allerhand Torheiten vorschwatzt, Spielereien vorführt, was weiß ich, kurz, der Pfarrer ordnet die verwilderte Schar endlich im Klassenzimmer, angelockt durch einen Lärm und ein Tollen, die man bis ins Pfarrhaus gehört hat. Das ist noch das Wenigste. In der Schule wird ein Diebstahl am Gut eines der Knaben entdeckt, und der Täter, der sich natürlich nicht meldet, kann nicht ausfindig gemacht werden. Was tut unser Lehrer? Sie werden es mir nicht glauben, er bekennt sich vor der versammelten Schülerschaft schuldig und ersetzt dem Bestohlenen den Verlust. Nicht, daß er sich als Dieb bezeichnet hatte, aber als schuldig. Das ist nicht mehr Gutmütigkeit, nicht Irrtum, das ist Wahnsinn! Ich will ehrlich sein und nicht unterlassen zu berichten, daß der kleine Dieb sich abends zu ihm schlich und bekannte. Das wäre nie unter die Leute gekommen, denn Gregor schwieg, als wäre alles getan und gut. Also nicht einmal eine allgemeine pädagogische Absicht hat er damit befolgt! Keiner wüßte noch heute den Täter, wenn mir der Junge nicht in späteren Jahren alles erzählt hätte, als ein junger Mann, längst nicht mehr schulpflichtig. Aber das sind ja alles Kleinigkeiten. Der Mann kam in Schulden, die jedes Kind wußte, er verschenkte sein Einkommen, ja Dinge seines notwendigen täglichen Bedarfs, endlich sah er aus wie ein Straßenbettler, geflickt, zerlumpt und zerrissen. Es bleibt mir ein ewiges Wunder, daß er nicht zum Gespött der Kinder wurde. Er wurde es nicht, jedoch hier gibt es auch Erwachsene. Bei allerhand Umhertreibereien im Freien, die er hier widerrechtlich und gegen die Verordnung eingeführt hatte, begab er sich jeder Würde. Die Kinder taten mit ihm, was sie wollten. Natürlich war er stets schon zu Beginn des Monats völlig mittellos und ohne Nahrung. Die Kinder teilten ihr Brot mit ihm, auch brachten sie ihm Obst und Eier, die sie aus den Vorräten ihrer Eltern entwendeten. Natürlich ist das unter anderem auch rührend, gewiß hat er sie nicht dazu angestiftet. Es trug sich so zu, daß ein Kind, ein Mädchen, ihm erstmalig in der Pause, die zur Winterszeit im Klassenzimmer verstreichen muß, von ihrem Brot ein Stück aufs Pult legte. Er küßte dem Kind die Hand, nahm das Brot und aß. Wir konnten später, bei der Verhandlung über ihn, natürlich die Kinder nicht zuziehen, aber als seine Entlassung bekanntgegeben wurde, standen sie im Schulgebäude an der Wand und heulten.
Aber nun reden Sie doch, sagen Sie doch selbst, wie läßt sich solche Handlungsweise mit den Pflichten vereinen, die das Schulamt uns auferlegt? Meinen Sie, mir fehlte der Sinn für die planlose Hochherzigkeit, für die charakterlose Güte dieses Menschen? Ich meine zu empfinden, wie Sie sich scheinbar etwas darauf zugute tun, daß Sie diesen Menschen anders einschätzen als ich, aber Sie sind auch nicht Lehrer, und es quält Sie kein Zwiespalt. Der Mann machte hier auf die störendste Art Partei, nicht nur unter den Kindern, denn er bevorzugte die einen willkürlich, andere sah er überhaupt nicht! Ich glaube fast, er konnte sie nicht sehen. Er war krank an einem unfaßbaren Zug der Seele, übersichtig hier und blind dort. Ist das Gerechtigkeit, entsteht so eine Atmosphäre, die der Jugend zum Heil, zur Entwicklung förderlich ist? Es ist meine Pflicht und Aufgabe, mich auch des Kindes anzunehmen, das meiner Art fremd ist und das mir von Natur fernsteht. Wie darf ich Neigung oder Abneigung oder gar Liebe und Haß zum Maßstab meines Verhaltens machen?!«
»Es muß eine große Helligkeit von ihm ausgegangen sein«, sagte ich.
»Ja!« rief der Lehrer, »ja, das ist ja der Fall. Wer bestreitet es denn? Sie haben recht, meinetwegen. Aber wo sie nicht hinfiel, diese Helligkeit, da gab es traurigen Schatten, da litten die Kinder in Zorn und Scham und Widerwillen, da wucherten Gehässigkeit und Angeberei, Spottlust und Schimpf!«
»Nein, nein«, sagte ich, »nicht im Schatten zeigen sich diese Übel, sondern im Licht.«
Der Lehrer ließ sich auf diese Unterscheidung nicht weiter ein, sondern betrachtete mich aufmerksam und nachdenklich, obgleich beides sich keinesfalls auf meine Person bezog, sondern einem fernliegenden Gegenstande galt. Ich sah seinen Augen an, daß sie nichts erblickten, sondern gewissermaßen nur seinen Geist in die Welt hinausließen, die fremd und geheimnisvoll war wie draußen die Sommernacht, deren blauer Glanz hinter den Scheiben mich erneut mahnte. So erhob ich mich und bat darum, daß mir mein Nachtlager angewiesen würde, und wir schritten miteinander durch den geordneten Garten, den das Mondlicht und der Nachtgeruch des Landes in ihre natürlichen Wohltaten genommen hatten. Im hölzernen Gartenhäuschen sah ich ein aufgeschlagenes Feldbett zwischen allerlei Geräten, es roch nach Heu und Moder, an der Decke hingen trockene Blumenzwiebeln und Bast, und eine große Gießkanne reckte mir aus der Ecke her ihr rundes, poröses Angesicht auf langem Hals entgegen. Hier ließ sich schlafen, und man bot einander gute Nacht.
»Der Brunnen ist im Hof beim Holunderbusch«, sagte der Lehrer, »aber Sie werden mich schon mit Sonnenaufgang im Garten finden.«
Im Einschlafen dachte ich an Gregor und sah seine Gestalt. Von seinen Worten, die so wirr und sonderbar von vielerlei widerspruchsvollen Empfindungen veranlaßt worden waren, hoben einzelne sich sinnvoll und gewichtig hervor und halfen mir sein Wesen begreifen: »Gehen Sie Ihres Wegs, denn ich kann Ihnen nichts geben.«
Ich lege es aus nach meinem Sinn, und wenn ich es besser verstehe als andere, so habe ich vielleicht ein Vorrecht erworben, dein Freund zu sein; lehre mich, alle aus meinem Leben zu weisen, denen ich nichts geben kann.
Im Halbdunkel hörte ich Schritte auf dem Gartenweg und dachte, daß ich träumte, aber sie kamen deutlich heran. Es war kein Zweifel, im Rahmen der geöffneten Tür, im dämmrigen Licht des schon sinkenden Monds stand die Gestalt Gregors, noch ein wenig vom Häuschen entfernt, mitten auf dem Weg. Ich erkannte ihn sofort, obgleich ich nur die Umrisse sah, aber diese Gestalt verriet mir sein inneres Wesen so erkennbar, als erblickte ich auf einer Landkarte den vertrauten Umriß eines von Kindheit an bekannten Erdteils. Er sah zugleich armselig und drohend aus, sonderbar statuenhaft, wie ein Monument aus Holz, Arme und Füße waren nirgends durch einen Durchblick des Lichts vom Körper geschieden, und der Kopf zwischen den Schultern hing leicht herab. Ich erkannte nicht gleich, ob er kam oder ging, das machte seine Erscheinung unwirklich und geisterhaft.
Er mußte meine Regung wahrgenommen haben, denn er trat nun heran und sagte:
»So schlafen Sie denn also noch nicht?«
Ich verneinte und erhob mich, so daß ich auf meinem Lager saß. Er kam dicht zu mir an die Bettstatt, ließ sich auf seine Knie nieder und hob die zusammengelegten Hände bis zur Höhe seines Kinns empor, so daß sie sein Gesicht nicht verdeckten und ich im schwachen Nachtlicht den Ausdruck seiner Augen erkannte.
»So möchte ich denn«, hub er stockend an, »daß Ihr Herz sich nicht um meines unbilligen Betrages willen verhärten möge, denn ich habe nichts Arges mit meinen bösartigen Worten im Sinne getragen. Entglitten sie mir doch vielmehr bedachtlos, wie es jeweils bei Aufwallungen zu geschehen pflegt ...« Er hielt inne und senkte das Haupt.
»Mein Gott – –« sagte ich. Ich sprang auf, denn ich lag angekleidet, ergriff seinen Arm und bat ihn, ein paar Schritte mit mir durch den Garten zu wandern. Er folgte mir bereitwillig, aber seine Augen im seitlich gewandten Gesicht forschten sorgenvoll in meinen Zügen.
Ich sprach eifrig und überquellenden Herzens, tief beschämt und zugleich glücklich, ohne den Grund zu wissen. Er hörte mir schweigend zu, und sein Gesicht erheiterte sich. Wir waren in den Obstgarten geraten, das Gras unter den Bäumen war feucht, man sah den Kirchhof hinter dem Bretterzaun.
»Wenn es mir gelingen sollte«, sprach er plötzlich und mitten in meine Worte hinein, »diesen Zaun ungefährdet zu übersteigen, so erreiche ich meine Stube um ein beträchtliches rascher. Da Sie nun wissen, nichts Böses sollte Sie betreffen oder verwunden, wird es recht sein, sich der Nachtruhe zu überlassen. Was Sie aber Gutes über mich gesagt haben, ist keinesfalls zutreffend.«
Er gab mir die Hand, als wäre der Abschied ein Glückwunsch. Ich wagte nicht, ihm beim Überklettern des Zauns behilflich zu sein, ich hätte sicherlich sein Ungeschick nur erhöht. Er hing eine Weile zwischen und über den Brettern, als suche er dort ein Nachtquartier, schien weit besorgter um seinen Rock als um seinen Körper und sprang endlich aus einer hockenden Stellung von der Zaunhöhe auf die andere Seite nieder, wobei er laut »Potztausend!« rief, womit er in einer Haltung am Boden anlangte, die ich nicht deutlich erkennen konnte. Aber dann sah ich ihn würdevoll und langsam, die Füße ein wenig nach außen setzend, über den Kiesweg des Friedhofs schreiten, bis er hinter der Kirche verschwand. Sein langer Schatten glitt ihm lautlos nach, und nun lag wieder das matte Licht des sinkenden Mondes im Gelände, die Stille umfing mich in ihrer geheimnisvollen Allmacht.
Ich verschlief, ein unhöflicher Gast, die arbeitsreiche Frühmorgenstunde meines Wirts. Wohl weckte mich einmal in der Nähe des Gartenhauses ein vernehmbares Räuspern, ich sah die Morgensonne scheinen und hörte die Vögel. Da ich auf diese Art den Garten und den Tag versorgt wußte, wälzte ich mich auf die andere Seite und schlief weiter. Niemand störte mich, erst viel später hörte ich die Kinder in der nahen Schule singen und beschloß den Beginn meines sorglosen Tags. Als ich mich am Brunnen wusch, rief die Lehrersfrau mir durch das Küchenfenster einen Morgengruß zu und stellte ein Frühstück in Aussicht. Ihre beiden kleineren Kinder und etliche Hühner hielten sich am Holzgitter des Gartens auf, den sie nicht betreten durften, aber die Sonne erreichte sie auch dort, und auf Hof und Straße ließ sich leben.
»Könnte man vielleicht hier im Dorf eine Beschäftigung finden?« fragte ich die Lehrersfrau, als sie mir mit aufmunternder Miene am Küchentisch gegenübersaß.
»Wollen Sie Gregors wegen bleiben?« fragte sie.
»Etwa eine Gärtnerei oder etwas Ähnliches?«
»Ist er Ihnen lieb geworden?« fragte sie.
»Es müßte eine leichtere Arbeit sein, die nicht viel Kenntnisse des Fachs erfordert.«
Sie sah mein Lächeln, verstand mich heiter und antwortete:
»Auch ich mag ihn gut leiden, immer rührt er mich tief, aber nicht nur das, er kann bewegen, und sein Blick ist voll Güte. Mir ist oft, als sähe er mehr, als er weiß, und als hätte er Kräfte, die er nicht gebraucht.«
Die Frau war etwa fünfunddreißig Jahre alt, und ich sah erst nun, daß ihr Gesicht schön war. Die wahre Schönheit entdeckt man immer erst langsam, Züge, die rasch als schön auffallen, verlieren gewöhnlich bald. Die Art, in der sie auf Gregor schaute, nahm mich für sie ein, denn ich fühlte, daß sie aufrichtig, wenn auch sehr zurückhaltend über ihn sprach und kein Hehl aus ihrer Wärme machte. Mir ward wohl, und ich fühlte mich geborgen, so daß mein Leben mich freute wie stets, wenn ich in den Wirkungskreis eines guten, klugen Weibes trat.
»Er ist närrisch«, sagte ich, »man kann sich nicht an ihn halten.«
»Sie dürfen meinen Mann nicht mißverstehen«, antwortete sie freundlich, »auch er nimmt auf seine Art an Gregor Anteil, aber seine Vorstellung von Pflichterfüllung, seine Stellung zu Amt und Beruf, läßt ihm nicht die Freiheit, die er sich wünscht. Ich meine, das müßten Sie verstehen.«
»Wieviel ist eine Pflicht wert, die nicht Freiheit bedeutet?«
»Sie fragen mit Recht, denn Sie wissen es nicht.«
Da senkte ich den Blick und sann nach.
»Kommen Sie wieder, wenn Sie mögen«, sagte die Lehrersfrau, »ich weiß, auch mein Mann würde sich freuen, und ich will diese Freude bei ihm fördern, er hat wenig Anregung hier im Dorf.«
»Ein Pflicht, die nicht Freiheit bedeutet, kann viel wert sein«, sagte sie und lächelte, »einmal werden Sie es auch wissen, aber jetzt ist es viel besser für Sie, Sie suchen nach der Pflicht, die Ihnen Freiheit bedeutet.«
»Wie gern man auf Ihre Worte hört«, sagte ich und nahm meinen Hut, um zu Gregor zu gehen.
Die Sommersonne des Morgens umfing mich mit ihrem Goldmantel. Geblendet schritt ich durch Helle und Stille der Stunde, die Welt flimmerte und strahlte, alles schien seinen Gang und sein Werk in glühendem Glück zu vollbringen. Meine Gedanken verloren ihr Alltagskleid und beflügelten sich, denn der Sonnenschein fördert, wie alles Wachstum, so auch den Geist, und das Licht ist der Thron auch der Erkenntnis. Freiheit umfing und trug mich, als zöge ich mühelos in einem leichten Kahn auf den Fluten des heiligen Lebensstroms dahin.
Ich hatte mich auf einem Umweg über Felder und durch Waldwiesen wieder dem Bauernhaus genähert, in dem Gregor wohnte, und als ich über einen niedrigen Ackerhügel schritt, noch von Buschwerk verborgen, sah ich ihn in Gemeinschaft mit einem kleinen, etwa vierjährigen Knaben auf dem Rasen hinter dem Haus spielen. Sie tummelten sich an den begrünten Wiesenhängen eines kleinen Bachs, der den Obstgarten durchfloß, das Gras war geschnitten, und die Bäume mit ihren schon deutlich erkennbaren Früchten standen dort, wie es ihnen gefiel, groß und klein beieinander, und bildeten in ihrer glücklichen Unordnung jene so unsagbar erinnerungsreiche Baumgemeinschaft, die mich wie kein anderer Garten zu entzücken und zu bewegen vermag. Wege gab es hier nicht, nur Rasen, diese Rasen, auf denen im Frühling Löwenzahn und Primeln blühen und vor Sommer Glockenblumen und Schafgarbe, deren verwitterte Zäune von Holunder beschattet sind, die bald Wäsche, bald Kinder und immer Hühner beherbergen, und endlich die reifen, farbigen Früchte im Herbst. Stets schimmert die Mauer eines Bauernhauses irgendwo weiß durch ihre Stämme oder der goldene Teppich des Korns, auch wohl das graue Band der Landstraße. So habe ich mir Jahre um Jahre die Heimat gedacht, wenn ich von der Straße aus den Blick im Schatten der Bäume ruhen ließ, und wußte doch, wenn ich ihr freundliches Reich betreten hatte, daß draußen die Straße die Heimat bleiben würde.
Dies wird der Knabe namens Gottlieb sein, dachte ich, als ich das Kind betrachtete, mich der ersten Sätze erinnernd, die Gregor zu mir gesagt hatte. Es war ein hübsches, rotwangiges Kerlchen mit hellem Kraushaar und nur mit einer kurzen Hose bekleidet. Er hielt in der Linken eine Schnur, deren beide Enden an Gregors Armen befestigt waren, so daß rasch erkennbar war, daß der Lehrer hier die Rolle des Pferdes übernommen hatte. Seine Bewegungsfreiheit war dadurch ins rechte Verhältnis zu der des Kindes gebracht worden, daß er sich auf allen vieren fortzubewegen hatte, was er fromm und geduldig ausführte, redlich bemüht, hin und wieder die stolzen und freien Sprünge eines Galopps darzustellen. Auf die Behinderungen, die seine Statur ihm auferlegte, wurde von seinem Führer keine Rücksicht genommen, noch weniger auf die Hilflosigkeit und das Ungeschick. Gottlieb schaute pflichtbewußt und mit Ernst auf die Leistung, die gefordert wurde, und schlug in grausamem Frohsinn eine lange Weidengerte unbarmherzig und mit erkennbarer Übung über Kopf und Rücken seines Tieres. Wohl ließ sich Gregor zur größeren Eile nötigen, aber er umhüpfte die Bäume mit Vorsicht und in weitem Bogen, sich dessen bewußt, daß der Kleine sie nicht so rasch zu umeilen vermöchte, falls die Schwenkung zu kurz ausgeführt wurde.
Der Jubel des Kindes erfüllte die Luft des Sommermorgens, sonst war es still umher, ich betrachtete das Schauspiel, das sich mir bot, und meine von Tagestand und Stundenmühe befreite Seele nahm das Bild demütig auf, als geschehe sonst nichts auf der Erde und als geschehe es für mich.
Als ein Hieb der Gerte Gregors ungeschützte Stirn traf, erhob er sich auf die Knie, beschwichtigte mit einer fast ängstlichen Gebärde die Ungeduld des Kindes und hob den Finger:
»Wenn denn schon, mein lieber Knabe«, sagte er, »das Pferd einer dauernden Züchtigung bedarf, wollen wir zuvor seine Brille beseitigen, damit nicht späterhin ein Schaden zu verzeichnen sein möchte.«
Gottlieb schien zu verstehen, jedoch die Brille beschäftigte ihn, da sie ihm, von ihrem gewohnten Platz gehoben, neu und sonderbar vorkam. Darüber erblickte er den roten Striemen auf der Stirn Gregors, den sein Schlag zurückgelassen hatte. Er fuhr mit der kleinen, derben Kinderhand darüber hin, zog den ergrauten Kopf an sich, wie er es durch seine Mutter erlebt haben mochte, wenn ihm selbst ein Leid geschehen war, und küßte den Knienden ernst und innig auf den bärtigen Mund, so herzlich, wie nur Kinder küssen können, deren gläubiger Sinn das ganze Wohlwollen in solche Hingabe zu legen vermag. Gregor erschrak vor Glück und faltete die Hände, ich aber wandte mich ab und verarmte.
Als ich nach kurzer Weile wieder zu den beiden hinübersah, hatte Gottlieb sich der Brille bemächtigt, die er aufmerksam und vorsichtig auf ihre Eigentümlichkeiten hin durchforschte. Er schien Spiel und Pferd vergessen zu haben und ließ die Sonne in den Gläsern funkeln. Gregor hockte noch immer auf den Knien im Gras, mit hängenden Schultern, so daß seine beiden Hände den Boden berührten. Sein Kopf war gesenkt und sein Mund ein wenig geöffnet, das strähnige Haar, das vom Spiel in arge Unordnung geraten war, hing ihm in die Stirn, seine Augen suchten unbeherrschten Blicks und ruhend jene stille Weite, die nah oder fern ist, jenes immer vorhandene Land der Seele, das sich auftut, wenn wir die Welt um uns her vergessen. Und plötzlich begriff ich aufs neue dieses Land und wußte, wonach ich suchte.
Ich ließ mich nach einer guten Weile an dem ergrauten Bretterzaun nieder, im Halbschatten des Holunderbusches, der heraufsteigenden Mittagssonne zugewandt. Es roch nach den sommerlichen Verwitterungen, die die Sonne auf altem Holz im Freien zurückläßt, und war heiß und still umher. Mein Entschluß, zu Gregor hinüberzugehen, nahm keine Gestalt an, ich zögerte und wußte nicht, weshalb. Ich muß etwas mit meinem Leben anfangen, dachte ich, etwas tun und vollbringen, etwas, das vom Herzen geführt wird, bei dem es zerbricht oder leuchtet. Was ist denn diese quälende Leere in mir, die sich wieder und wieder mit dem Gut anderer anfüllt? Ich bin ein Zaungast und Eckensteher im Weinberg, arglos und gefährlich, arm und gesegnet. Ich leide unter der Unruhe meines Gemüts, und wenn ich sie verloren habe, so trauere ich um so heftiger. Soll so mein Leben verstreichen?
Im Haus des Schulmeisters wurde ich mit Freundlichkeit aufgenommen, als ich mich um die Mittagsstunde durch die Holzpforte drückte. Ich merkte dem Hausherrn an, daß seine Zuneigung nicht einzig aus eigenen Eingebungen floß, und sah seine Frau an, als er mir anbot, eine Weile bei ihnen zu bleiben. Der Tisch war vor dem Haus in einer Laube gedeckt, die mit wildem Wein umsponnen war, und wir saßen nun noch eine Weile allein auf den Holzbänken im Duft der Gartenblumen und im Sonnenwarm des schönen Tags.
»Ein rechter Handwerksbursche sind Sie ja allem Anschein nach nicht?« meinte der Lehrer im fragenden Ton.
»Nein«, antwortete ich, »viel weniger; ich verstehe nicht einmal ein Handwerk.«
»Und wollen keines erlernen? Nein, dazu eignen Sie sich wohl nicht, aber irgendwie muß sich der Mensch endlich doch tätig einfügen. Ich kann mir nicht denken, daß Sie dauernd andrer Meinung sein werden.«
Es schien deutlich so, als wünsche er zuvor zu wissen, ob er mit seiner Gastlichkeit nicht der Untugend des Müßiggangs und der Freibeuterei Vorschub leisten würde. Da ich nicht antwortete, begann er vom Gartenhaus zu sprechen, das für mich eingerichtet werden könnte, zum Schlafen tauge es im Sommer schon, sogar sein Schwager habe es früher benützt, und im übrigen stünde mir tagsüber das Wohnzimmer zur Verfügung, falls es mir nicht gleich gelingen sollte, eine Beschäftigung zu finden. Hier machte er eine Pause, und es entstand Raum für Entschlüsse und Versprechungen. Ich ließ ihn leer, aber ich dachte über das Verhältnis von Selbstbewußtsein und Schamlosigkeit nach, lässig-froh und ohne jeden Groll, nur weil es mich im Augenblick interessierte, kaum in bezug auf meinen Nachbarn, dem ich mit so strenger Scheidung der Gefühle und Einschätzungen unrecht getan hätte.
Wer täte gern Unrecht in der Sommersonne, wenn er ein von Natur leichtsinniger, ein wenig grüblerisch veranlagter und, nach außen gerichtet, anspruchsloser Mensch ist, der in einer Weinlaube auf die Suppe wartet? Zudem hatte ich noch Tabak die Fülle, aber der Lehrer ließ durchblicken, daß das Rauchen vor der Mahlzeit nicht bekömmlich sei, dagegen nachher sei es eine Sache. Ich legte meine Pfeife neben den Teller, und er sah sie dort an, so daß ich sie dort wieder fortnahm und in die Tasche schob. Es schien ihn doch etwas verstimmt zu haben, daß ich mit meinen Personalien und mit einem Bekenntnis zur Arbeitsfreudigkeit zurückhielt; Wohltaten ins Blaue hinein beunruhigten ihn, wennschon er Wohltaten für berechtigt hielt. Der Haushalt seines Daseins erinnerte mich an den Federkasten eines meiner Schulkameraden, darin lagen parallel nebeneinander zwei wohlzugespitzte Bleistifte so gerade, als hätten sie Angst, sich schon vor Beginn der Unendlichkeit zu schneiden, ein Radiergummi war mit Seidenpapier umwickelt, das Federdöschen enthielt zwei Reservestahlfedern von verschiedener Spitzenbreite. Ein Leinenläppchen zum Reinigen der benützten Feder diente zugleich als Bett für ein Messerchen an langem Stiel, und das Lineal hatte eine Zentimetereinteilung und Metallkanten. Der Kasten war verschließbar, der Verlierbarkeit des kleinen Schlüsselchens war durch ein rotes Band Rechnung getragen, das zur Not um den Hals geschlungen werden konnte. Bei diesem Schulkameraden erinnere ich mich außer dieses Besitzes und dessen Pflege nur noch des Umstandes, daß er mich eines Tages wegen irgendeiner Untat dem Ordinarius anzeigte, freilich erst als er gefragt wurde, dann aber ausführlich und mit Überzeugung.
Mag sein, daß ich seit jener Stunde ein besonderes Mißtrauen gegen Leute mit ausgeprägtem, übertriebenem Ordnungssinn hege, das mich zeit meines Lebens zu einem einseitigen Beurteiler und ungerechten Fanatiker gemacht hat, aber vielleicht ist es auch richtig, daß ein großes und gutes Herz die Ordnung des Daseins durch seinen Schlag bestimmt und daß der Schlüssel zum Himmel nicht verlorengehen kann.
Wir kamen später einmal auf diesen Fall zu sprechen, als der Schulmeister mir wegen meiner Zeiteinteilung einen gelinden Verweis erteilte. »Unser Gott ist ein Gott der Ordnung«, sagte er. Und als ich ihm darauf antwortete, wenn dem so sei, so brauche man ihm ja nicht ins Handwerk zu pfuschen, war er für einen ganzen Tag verstimmt und ließ am Abend sogar seinen Spaten im Mistbeet stecken, freilich ohne daß Gott ihn ins Gartenhaus gebracht hätte.
Nun, zum wenigsten was den Anstand des Benehmens betraf, sollte er mir nichts vorzuwerfen haben, ich vermied es, mich beim Essen vor den anderen zu bedienen, sprach nicht über die Qualität der Nahrung und lächelte die Kinder an. Ich hatte mir einen besonderen Trost von der Gegenwart der Lehrersfrau versprochen, aber sie war still und beachtete mich kaum, ihr Gatte nannte sie Elisabeth, streng und sehr milde. Am Abend vorher hatte er »Schatz« gesagt, es mußte also eine Einigung in irgendeiner Streitfrage stattgefunden haben, die Harmonie bei Tisch war sehr groß. Mich fror ein wenig in ihren Strahlen.
Aber ich hatte ja einen Grund zu bleiben, einen tiefen, verpflichtenden Anlaß, ein inneres Recht. Fast hätte ich es vergessen und wäre einem Gefühl von Beschämung erlegen, das ich immer empfand, wenn ich eine beziehungslose Gastfreundschaft annahm oder ohne Grund an einem fremden Tisch saß, statt im Wald oder in einer Schenke mein Brot zu essen. Der Schulmeister hatte recht, ich war kein Handwerksbursche, nicht einmal ein Landstreicher oder ein echter Vagabund, wie sie hinter den Zäunen schlafen und froh sind, auf anderer Leute Kosten einen Vorteil ergattert zu haben. Wie schwer es doch ist, sich reich zu fühlen und niemandem etwas geben zu können, ist das nicht das eigentliche Leid aller Jugend, deren Gemüt mit vergänglichen Gaben überschüttet wird, bis es verschüttet ist? Wenn wir mehr von der Jugend zu nehmen vermöchten, so würden wir sie reicher und glücklicher machen, aber wir haben den Blick für ihren Reichtum verloren.
Da erfuhr ich über solchen Besinnungen die große Macht des Erlebnisses meiner Morgenstunden, und eine heiße Woge von Menschenglück erhob mich aus der Enge der Stunde, so daß ich mich stark fühlte, Ärgeres und Schweres zu ertragen als ein wenig ungeschickte Gastgebergunst. In diesem Augenblick sah mich die Lehrersfrau mit offenen, liebevollen Augen an, als wünschte sie teilzuhaben an dem, was mich bewegte, und als wüßte sie es, und ich sagte in das Bereich der fragenden Teilnahme hinein:
»Nein, ich habe ihn nicht gesprochen.«
»Wen?« fragte der Lehrer an ihrer Statt.
Ich nahm noch rasch das verstehende Lächeln der Frau an und wandte mich dann dem Lehrer zu:
»Gregor«, antwortete ich, »ich dachte an Gregor.«
»Schon gut«, warf er hin, die Pfeife lenkte ihn eine Weile ab, das Essen war beendet. Wir blieben allein, denn seine Gattin brachte das jüngste ihrer Kinder zur Ruhe und gesellte sich erst später wieder zu uns. Ein Dienstmädchen, ländlich drall, von niegesehener Schüchternheit, brachte uns Kaffee. Das war einmal eine prächtige Sache.
Der Lehrer ordnete die Brotkrumen auf der Tischdecke zu einer Pyramide, verwarf aber den Bau und entschloß sich für ein schneckenhausartiges Ornament, dem er Sorgfalt zuwandte. Ich prüfte die Art seiner Gedanken an den Rauchwolken, er stieß sie miteinander vereint in die Sommerluft hinein. Eilig, ein verworfenes Gewölk, zogen die beiden in die grünen Blätter und leuchteten auf, wenn sie durch einen Sonnenstreifen mußten, ich glaube aber, es war der Rauch, der dann leuchtete. Ich fürchtete, er würde das Gesprächsthema von vorhin wiederaufnehmen, aber es geschah nicht; da nun einmal Gregors Name gefallen war, ließ er sich herbei:
»Es ist da gestern allerhand über den Mann gesagt worden, das natürlich einseitig gewesen sein kann. Sein närrisches Wesen ist harmlos, seit er seines Amtes enthoben ist, und ich würde heute der letzte sein, der ihn beunruhigte oder ihm sein armes Dasein da hier erschwerte. So werden Sie mich wahrscheinlich auch verstanden haben. Ich hatte heute morgen eine Unterredung mit meiner Frau, sie hat zwar nicht mit angehört, was gestern abend gesprochen worden ist, befindet sich aber, nach Frauenart, leicht im Zustande der Besorgnis, es könnte Gregor unrecht getan werden. Frauen werden eine sachliche Kritik leicht verkennen, und sie ertragen sie selten.«
»Weil sie nicht nur die Kritik selbst hören, sondern oft mit großer Schärfe unterscheiden, wann sie gefällt wird, vor wem, von wem und weshalb überhaupt.«
»Das verstehe ich nicht«, antwortete der Lehrer, und seine Blicke warnten mich.
»Die Unfähigkeit der Frau, sich dort sachlich einzustellen, wo sie persönlich beteiligt ist, entspringt oft einem tieferen Sinn für Gerechtigkeit als die Fähigkeit des Mannes zur Sachlichkeit. Natürlich nicht immer, aber wenn der Mann seine verborgenen Gefühle hinter Sachlichkeit verschanzt, so verschanzt die Frau dafür ihr Herz hinter Widerspruch. Der Widerspruch einer Frau, die nicht unecht ist, meint für gewöhnlich nicht das Argument, das ihr entgegengehalten wird, sondern die heimliche Gesinnung, aus der es gewählt wurde. Eine Frau ist meist nur dort sachlich, wo sie völlig unbeteiligt ist.«
Ich sprach schon ein wenig gereizt, und die tiefe Falte zwischen den Brauen des Lehrers erfrischte mich.
»Nun, ich verstehe, was Sie da meinen; hätten Sie aber recht, so spräche das sehr gegen die Rechte und Pflichten des Mannes überhaupt. Eine Frau nur sachlich, wo sie unbeteiligt ist? Das hieße also, daß ihre Beteiligtheit an unseren Angelegenheiten sie zu Unsachlichkeit und Widerspruch zwänge? Ich meine, es sollte umgekehrt sein.«
»Das sollte es vielleicht, aber welche Angelegenheiten sind gemeint? Fügten die Frauen unserer Zeit sich den schamlosen Gewalttaten und gewalttätigen Armseligkeiten, aus denen heute der Begriff Männlichkeit in der Vorstellung der meisten zusammengesetzt ist, so wäre die letzte Hoffnung unserer Zeit und unserer Jugend verloren. Solange die Autorität des Mannes sich auf den Zwang einer äußerlichen Überlegenheit stützt, solange die sittliche Forderung der Freiwilligkeit der Gehorchenden nicht die einzige Vorbedingung aller Führung ist, so lange wird eine Volksgemeinschaft tiefer und tiefer sinken. Die Frauen sind die eigentlichen Märtyrer unserer Zeit, sie sind die Leidenden, die im Grunde Natürlichen und Echten, wir haben es noch immer nicht zustande gebracht, sie völlig zu verderben.«
»Nun ja«, meinte der Lehrer böse, »so wollen wir die Hoffnung nicht ganz aufgeben; es haben ja schon einmal die Gänse das Kapitol gerettet.«
»Das war eine ›männliche‹ Antwort«, sagte ich.
»Vielleicht wirklich«, meinte der Lehrer freundlicher und versteckte sein Schmunzeln hinter dem Rand seiner Kaffeetasse, in deren Inhalt er den Schnurrbart badete. Er sah sich mit einem Ausdruck des Bedauerns um, als vermißte er Zuhörer. Ich war ihm dankbar für den Zorn, der in mir aufstieg, hatte ich mir doch kaum mehr als ein flaches Geplauder von dieser Stunde versprochen und sah mich jetzt mitten in guter Bewegung. Es ist nun freilich sicher, und zur Ehre meines Gastgebers muß ich es erwähnen, daß ich meine Ansicht bestimmt nicht genau mit den Worten vorgetragen habe, wie ich sie heute niederschreibe. Sie sind hilfloser und deshalb sicherlich weniger maßvoll gesagt worden, auch fehlte es mir an Erfahrungen, sie recht zu stützen, aber mein Lebensgefühl und meine Haltung sind die gleichen geblieben, denn entweder lernt ein Mensch im Leben das Wesenhafte niemals schauen, oder er schaut von Anfang an richtig.
»Sie werden besser verstehen, was ich meine«, versuchte ich mich zu erklären, »wenn Sie recht bedenken, für welche Eigenschaften und für welches Tun der Männer heute die Anteilnahme der Frau beansprucht wird. Seit wir ein zivilisiertes Volk geworden sind und unsere Kultur mehr und mehr verschüttet wird, ist der Mann einseitig geworden, obgleich sich diese Einseitigkeit an sich natürlich komplizierter darstellen kann als jemals zuvor sein ganzes Verhalten. Sein Sinn ist mit einer Ausschließlichkeit auf Erwerb gerichtet, die die andere Hälfte seines Menschentums vollständig vernachlässigt, denn dieser Erwerb ist nicht mehr an den Acker gebunden, sondern an die Maschine. Ich verspreche mir natürlich nicht alles Heil vom Ackerbau allein, jedoch ich glaube, daß die Kultur bodenständig ist, dagegen die Zivilisation heimatlos. Das Wesen des Weibes drängt unbewußt zu Bodenständigkeit und Heimatrecht zurück, die Einstellung des heutigen Mannes aber auf Zivilisation und Entfremdung. So meine ich es, wenn ich sage, daß wir völlig verloren wären, wenn die Natur der Frau sich den Forderungen fügte, die heute vom Manne aufgestellt werden. So ist es nicht nur heute, so war es stets in der Entwicklung, und so wird es immer wieder sein. Hier liegt die Ursache der meisten heutigen Konflikte zwischen Mann und Weib, deren Vielgestalt ich Ihnen in ihrer tausendfältigen Auswirkung nicht zu schildern brauche. Die Kultur erzeugt Staatsbürger, die Zivilisation erzeugt Spießbürger, das Weib aber wird eher einem Räuber als einem Spießbürger anhangen, denn ihr Wesen sucht die Kraft, weil ihr Glück in der Hingabe besteht. Diese Kraft wird sie weder aus Fabrikschloten noch aus einem Bankkonto ablesen, sondern aus den Anzeichen eines vollen und umfassenden Menschentums, zu dem außer der Erwerbsfähigkeit und ihren sogenannten Mannestugenden auch die Ausstrahlung und Pflege eines echten Gemüts gehören. Fülle und Umfang des Gemüts sind in allererster Linie männliche Eigenschaften und Tugenden.«
Wir schwiegen beide, ich hatte aber das Bedürfnis, den Lehrer zu versöhnen, denn er sah verstimmt drein und gab mir auf eine Art recht, in der er die Aussichtslosigkeit, mich zu belehren, zu verstehen gab. Es verminderte seinen Verdruß auch durchaus nicht, als er mir aus irgendeinem Grunde endlich antwortete:
»Als ob das alles etwas mit Gregor zu tun hätte! Mir scheint es immer noch das Beste, ein jeder tut an seinem Ort nach besten Kräften und Ermessen seine einfache Pflicht. Ich gestehe Ihnen, daß ich nicht viel von solchen Diskussionen halte.«
Ich gab ihm recht. »Nur kommt es darauf an, wer einer ist und ob er am rechten Ort steht. Auch Gregor glaubte seine Pflicht zu tun, auch nach besten Kräften und bestem Ermessen, Sie haben mir aber gestern nacht erklärt, daß trotzdem nur Unheil daraus erwachsen sei.«
»Aber das ist doch deutlich«, rief der Lehrer gereizt, »daß dieser Mann nicht am rechten Ort stand.«
In diesem Augenblick trat seine Frau aus dem Hause und gesellte sich zu uns, indem sie sich ruhig und mit freundlichem Lächeln auf der Bank an der Hausmauer niederließ. Es war sichtbar, daß ihr Kommen die Laune ihres Mannes nicht verbesserte, er schien sich wie nach zwei Seiten hin zu rüsten und seufzte mit einem Ruck. Die guten Augen seiner Frau wanderten rasch von mir zu ihm:
»Matthias«, sagte sie, »du darfst uns unseren Gast nicht gleich am ersten Tag totschlagen, wir wollten doch seinen Untergang eine Weile miteinander genießen.«
»Wer schlägt tot? Was ›Totschlagen‹?« entgegnete ihr Gatte, jedoch er lächelte versöhnlich. »Muß denn immer von Gregor die Rede sein? Es wundert mich nicht, daß ihr euch über ihn einig seid, ihr macht es euch leicht miteinander. Aber genug, denkt, wie ihr wollt. Niemanden werde ich totschlagen. Und Ihnen gegenüber«, wandte er sich an mich, »wiederhole ich hiermit, daß Sie mir als Gast willkommen sein sollen. Und das Thema von vorhin, das wollen wir zu guter Stunde noch einmal aufnehmen. Sie werden dann schon sehen.«
Er erhob sich und begab sich zu seinen Bienen. Vom Garten strömte der Duft des Jasmin durch die Weinblätter, die Schmetterlinge flatterten über den Gemüsebeeten, und die Dorfglocke schlug.
Da erinnerte ich mich meiner Begegnung mit Gregor und dem Kind und erzählte sie der Lehrersfrau. Zu Anfang sprach ich nur zögernd, dann fing ich einen Blick von ihr auf und verstand den Geist ihres Lauschens und Schweigens. Ich sah in ihren Augen Sorge, es möchte ein ungelenkes Wort sie verletzten, ja es sprach wie Angst aus ihrem Blick. Da wich alle Furcht von mir, ich möchte jemals vor dieser Seele Gregor preisgeben, und in der Freiheit, die ich nun gewonnen hatte, begegnete ich dieser Frau zum ersten Mal, um sie niemals in meinem Leben wieder zu vergessen.
Es ist seltsam genug, daß uns bei einer ersten Begegnung mit neuen Menschen in unauffälligen Verhältnissen so leicht Leben und Weben, Tun und Wandel in leeren Formen erscheint und daß wir so selten zu glauben vermögen, daß sich hier, wie einst bei uns selbst in vertrauten und durchforschten Gefilden, das gleiche große Leben in ganzer Fülle und Kraft vollzieht. Ein Schulmeisterlein und seine Frau, eine Dorfgemeinschaft, simples Behagen in beschränkten Kreisen, Rückständigkeit und Langeweile, das waren so etwa die Erwartungen gewesen, mit denen ich diesen Kreis betreten hatte, wenn man es überhaupt Erwartungen nennen will, es war eher eine kaum bewußte, gedankenlose Einstellung ohne Neugier. Und langsam erfuhr ich nun, wie bunt und beziehungsvoll nach allen Seiten hin, wie von Freude, Leid und Schicksal durchwoben sich hier wie dort im Grunde immer das gleiche Angesicht des Lebens zeigte. Es geht in anderem Licht und durch verschiedenartige Kraftströme getrieben einher, vollzieht sich hier allen weithin erkennbar oder dort in tiefer Verborgenheit, aber es ist im wesentlichen immer und überall das gleiche. Wem es in Hütten nicht erscheint, der wird es in Palästen nicht entdecken, und sicherlich ist es immer eine kleine Seele, die vom sogenannten großen Leben das Heil erwartet.
Als ich meine Erzählung beendet hatte, fragte ich:
»Sie haben mit Ihrem Mann heute morgen über Gregor gesprochen?«
»Sie sehen meinen Mann falsch«, antwortete sie kurz.
»Man kann sich auch zwischen beide stellen.«
»Ohne deshalb einem von ihnen unrecht zu tun.«
»Aber auch ohne einen von ihnen wirklich zu lieben.«
»Sie gehen sehr rasch«, sagte sie gütig und lächelte, »Sie sind jung genug, um es zu dürfen, auch sind Sie ja auf der Wanderschaft, und was kann Ihnen daran liegen, wenn Sie dabei einmal auf die Beete treten, die in den Gärten anderer angelegt sind, morgen sind Sie davon.«
»Meine Jugend«, antwortete ich, »wirft man mir nun schon so lange vor, als ich hören und denken kann. Immer ist ein Ton der Ermunterung und des nachsichtigen Bedauerns zugleich in diesem Vorwurf. Es ist aber viel schlimmer, daß die Erfahrenen nicht mehr jung sind, als daß die Unerfahrenen noch nicht wie die Gereiften denken und empfinden.«
»Sie wissen doch«, antwortete mir die Lehrersfrau, »daß ich Ihnen nicht in diesem Sinn Ihre Jugend zum Vorwurf mache. Wie begann denn unser Gespräch? Ich mache nicht mit Ihnen zusammen Partei gegen meinen Mann, das wollte ich sagen, und ich füge hinzu: Ich mache gern mit Ihnen Partei für Gregor.«
»Das geht nicht zu gleicher Zeit«, sagte ich.
»Es geht deshalb in Ihren Augen nicht, weil Sie meinen Mann nicht kennen, und so begann ich meine Worte. Er ist der Vertreter einer anderen Welt, als die ist, in der Sie leben, Sie sollen diese Welt nicht betreten, wohl aber sollen Sie ihn in ihr als berechtigt anerkennen.«
»Nein«, sagte ich, »das werde ich nicht tun, auch dann nicht, wenn Sie es können. Ich werde mein Bündel aus dem Gartenhaus holen und fortgehen. Ich kann Gregor auch sehen, ohne daß es mir im Schulhaus erlaubt wird. Mir ist gleichgültig, in welcher Welt Ihr Mann lebt, jedoch mir ist nicht gleichgültig, daß Gregor aus dieser Welt heraus geschmäht wird.«
»Wenn wir miteinander in den Wald pilgern«, sagte Frau Elisabeth nach kurzem Besinnen, »so will ich Ihnen ein wenig aus diesem Leben hier erzählen. Ich kann jetzt gut für ein Stündchen abkommen, und ich möchte nicht, daß Sie uns davonlaufen, mir nicht, Gregor nicht und auch meinem Mann nicht. Wollen wir miteinander einen Spaziergang machen?«
Nun, das wollte ich von Herzen gern. Ich fühlte mich unsicher und suchte nach einem Ausgleich, denn ich hatte bei meiner Erzählung so offenen Herzens von Gregor gesprochen, daß ich zornig über mich selbst war. Unser gemächlicher Weg führte uns durchs sonnige Dorf, es war heiß und still umher, auf dem Kirchhof, den wir durchquerten, dufteten die Rosen betäubend auf den Gräbern, aus dem Pfarrhaus sah uns eine wohlbeleibte Köchin besorgt und erschrocken nach. Wir kamen dann an dem Bauernhaus vorüber, in dem Gregor wohnte, und lächelten uns an, als wir beide flüchtig zu seinem Fenster hinaufschauten, das eben noch über den Wiesenhügel blickte, über den duftigen Bauernteppich der Scharfgarbe fort. Die Straße führte zu einer Wassermühle, wir kamen bald an den kleinen Fluß, der uns mit wohltuenden Stimmen zur Rechten der Landstraße begleitete.
Anfänglich sprachen wir von diesem und jenem, Frau Elisabeth ließ sich von mir erzählen, sie hatte jene unmerklich zarte Art, den Dingen des Gesprächs Wendung und Führung zu geben, wie nur Frauen sie ohne Absichtlichkeit aufzubringen vermögen, in einer zarten Lebensbegierde, die nicht Neugier ist, und in einem arglosen Forschen, das ohne Ermüden nur das Gute erhofft. So sprach ich bald wieder ganz ohne Bedenken und nur von Dingen, die mir in Wahrheit nahelagen, ich merkte darüber, wie lange ich schon die gutgläubige Vertrautheit eines leidenschaftslosen Daseins entbehrt hatte, ohne Spannung, Gefahr und jäher Glut. Ich dachte an Els, und die wilden Geigen meiner Brust klagten auf. Wie schön bist du in diesem stillen Rahmen!
Frau Elisabeth sah mich forschend an. Wir saßen auf einer Holzbank, die zur Mühle gehörte, nicht fern dem großen Wasserrad, das sich träge drehte und auf dessen Speichen das Wasser glitzerte.
»Wie es in Ihnen auf und nieder geht«, sagte Frau Elisabeth, »Rosen und Disteln, Felsbäche, Trümmer, Sturm und Sonne. Ja, ich spreche von Ihnen, mögen Sie glauben, sich gut zu verbergen, in unserer Stille hier lernt man, auf unhörbare Stimmen zu lauschen. Aber dazu muß man die Dinge aufnehmen, so, wie sie sich nahen, nicht so, wie man möchte, daß sie sich nahen. Ich habe es erst hier gelernt.«
Sie schwieg und sah vor sich nieder, als erwäge sie mit Zögern, ob es gut sei, die Bilder ihrer Seele dem fremden Blick zu öffnen und ob sie sich nicht auch verhüllt darbieten ließen, hier ein wenig, dort ein wenig ...
»Ja«, sagte sie dann, »da haben Sie schon recht, mit guter Teilnahme, gesehen und verstanden ...«
Ich sah sie fragend an.
»Ich meine die Geschichte mit dem Knaben und mit Gregor, heute morgen ...«
»Also würde ich auch Sie nicht mißverstehen?«
Da lachte sie, und ich lachte mit.
»Sonderbar genug bleibt es«, rief sie fröhlich, »daß Sie die Schranken so rasch fortschieben können, so recht wie ein Vagabund, der durch einen Zaun bricht, um in einen Garten einzudringen.« Und sie gab mir die Hand.
Hierauf sah ich sie lange mit gesenktem Blick neben mir auf der Holzbank im Grünen sitzen, die Hände über den Knien verschlungen und leicht gebeugt, und ihre Stimme vermischte sich mit dem leisen Plätschern des Wassers.
»Ich war damals noch eine junge Frau«, erzählte sie mir, »als ich meinem Mann in diese Dorfverlassenheit folgte, aus Kreisen, die Welt und Leben weiter umspannten, als die seinen es tun, und aus anderem Stand. Ich erwachte langsam über ihm und meinen Kindern zu mir selbst, je mehr ich meine inneren Augen aufschlug, um so deutlicher erkannte ich, daß ich mich von meinem Gatten entfernte. Wir haben nur ein Leben, und über solchen Erfahrungen gilt es, wichtige Entscheidungen zu treffen, die meisten Frauen wissen oder empfinden das nicht und greifen nach der ersten Rettung, die sich ihnen mit der Aussicht auf eine Änderung bietet, als könnte man die begonnene Lebensbahn auf einem Seitenweg von vorne anfangen. Das ist ein Irrtum, denn die Seitenwege kommen in immer kürzeren Abständen und werden immer leerer.
Um diese Zeit war es, als ich, eine unzufriedene und unglückliche Frau, Gregor kennenlernte, der damals schon seines Amtes enthoben war und hier sein armes Dasein führte, wie Sie es gesehen haben. Ich befand mich in so herber Gegensätzlichkeit zu allem, was mein Mann unternahm, fühlte oder dachte, daß mich schon deshalb für den Gescholtenen Teilnahme ergriff, denn mein Mann setzte ihn herab und verhöhnte ihn. Er war damals in weit heftigerer Abwehr gegen Gregor als heute, ja in einer an Haß grenzenden Erbostheit, und ich erkannte noch nicht, daß diese entschiedene Ergriffenheit weit mehr für meinen Gatten sprach als gegen ihn. Jedenfalls beschloß ich von vornherein, Gregors Partei zu nehmen, wenn auch mit bösem Gewissen und heimlichem Widerstreben, denn er erschien mir unsäglich lächerlich und armselig. Aber mich lockte weit mehr das, was mein Gatte ablehnte, als was ihn anzog.
Ich begegnete dem Geächteten eines Sommertags im Wald, als ich mit meinem Kinde Beeren und Pilze suchte. Er saß in einer warmen Lichtung auf einem Baumstumpf, in weit abgelegener und verlassener Gegend. Mein kleiner Junge, der mir beim Beerensuchen vorausgeeilt war, während ich selbst noch im Walde war, erblickte ihn zuerst. Er zögerte, da er ihn erst entdeckte, als er, schon dicht vor ihm angelangt, vom Boden aufschaute, wie es so Kindern ergehen kann, und sie sahen sich an. Dann lief mein Kind in den Schein seiner Augen hinein, als liefe es in die Sonne. Ich habe so etwas nicht für möglich gehalten und niemals im Leben wieder gesehen. Ich hörte sie fröhlich miteinander sprechen, ehe ich sie erreicht hatte, und kein Kummer meines Lebens war tiefer als der, daß ich mein Kind befangen und traurig schweigen sah, als ich mich endlich, nach langem Zögern, zu ihnen gesellte. Auch Gregor verdüsterte sich, und zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, daß mein Wesen Schatten warf, und ich dachte an die Schatten in unserem Hause, die ich bisher nur von der Stirn meines Mannes hatte fallen sehen.
Diese Erkenntnis war bitter genug für mich, aber seit jenem Tag liebte ich Gregor. Ich bin ihm in jener heiligen, herben Liebe zugeneigt, deren Wirkung, unter manchem Schmerz, in keiner anderen irdischen Wohltat erkennbar ist. Es ist so, als gäbe es nicht nur mich und ihn, sondern ein Drittes, das uns beide in seinen Segen gestellt hat. Von diesem Segen geht meine Kraft aus. In meinem Leben ist darüber nichts leichter oder anders geworden, aber ich sehe vieles als gerecht an, das ich vorher für ungerecht gehalten habe.«
Gregor, zu dem es mich mit mächtigem Verlangen in beinahe quälender Unruhe zog, empfing mich am anderen Tage abweisend und erschrocken über meinen Besuch. Düster und voller Mißtrauen forschten seine Augen in meinem Gesicht, ängstlich und verschlossen, als sei ich gekommen, um eine Schuld einzutreiben.
Die Stunde, die ich an diesem Morgen mit ihm verbrachte, gehört zu den unvergeßlichsten meines Lebens, und obgleich wenig von dem geschah, was die Menschen gemeiniglich Ereignisse zu nennen pflegen, obgleich nichts von dem ausgesprochen wurde, was uns wesentlich bewegte, schlang doch die Güte des Geschicks mein Gemüt in die Bande einer reichen Zugehörigkeit. Der Geist der Stunde, menschenblinden Auges, war wie eine noch ungeborene, wichtige Einsicht um mich her verbreitet. Was sage ich viel von diesem Manne, wenn ich als seine Wahrzeichen eine vollkommene Abgekehrtheit von den Dingen der Welt nenne und eine Bescheidung, die voll frommen Stolzes war? Vollzog sich doch seine Einwirkung gerade im umgekehrten Bilde der Erscheinung, denn Gregor war mit Hingebung und Eifer in recht äußerliche Dinge der Welt verstrickt, er nähte Knöpfe an seinen braunen Gehrock und glättete mit Wasser und einem Tischmesser ein grellrotes Seidenband, das für seinen Strohhut bestimmt war.
So saß er zu Anfang auf seinem Bettrand, von dem er sich nur für die mürrische Begrüßung erhoben hatte, seinen Rock auf den Knien, und blinzelte ab und zu aus dem Gebüsch seiner Brauen und seines Bartes mißtrauisch zu mir herüber, er setzte nicht einen Groschen auf meine Teilnahme, soviel war sicher, und er wollte allein sein. Und doch bebte zuweilen um den kaum sichtbaren Mund, um die trotzig aufgeworfenen Lippen ein Verlangen, das nicht der Gunst galt, die von anderen erhofft wurde, sondern dem Wunsch, es möchten die Gaben seiner Natur und seines Geistes nicht verschmäht sein. Dieser heimliche Zug war es, der mich wie mit Engelshänden in seiner Nähe hielt; und tief verborgen, eine wehende Ahnung des letzten Geheimnisses, erfühlte ich bang und suchend das mystische Gehabe und Sein von Gabe und Empfängnis, deren falsche Ausdeutung die Welt verwirrt und zugleich fruchtbar macht.
Gregor hatte einen großen Knopf auf der Stopfnadel und betrachtete ihn genau durch die Brille, er erwies sich als größer als seine schon befestigten Gefährten, wurde aber doch für gut befunden, das Knopfloch mußte freilich ein wenig erweitert werden. Mir fiel der Rockkragen in die Augen, und ich versuchte festzustellen, ob er aus uraltem Samt oder neuem Leder war. Die Strümpfe, die er trug, waren von verschiedener Farbe, und die großen, viel zu schweren Stiefel konnten unmöglich ursprünglich für seine Füße bestimmt gewesen sein.
Draußen zwitscherte ein Singvogel, Gregor hob die Schere und wies hinaus.
»Es ist nun Sommerszeit geworden, und die Vögel singen nicht mehr, nur vereinzelt noch, aber da Sie ja auf der Wanderschaft sich befinden, so wissen Sie diesen Vorgang selbständig zu deuten.«
»Soll das rote Band um den Hut gelegt werden?« fragte ich.
»Freilich«, antwortete er, »man hat es mir als ein Geschenk überbracht, und der Hut wird alsdann geschmückt erscheinen.«
»Darf ich versuchen, es anzubringen? Es ist glatt und schon trocken.«
Gregor nickte, unterbrach seine Arbeit und sah mir zu.
»Es gelingt!« rief er, nahm mir den Hut aus der Hand und drehte ihn vor seinen Augen.
Hätte ich vom Schulmeister und von seiner Frau nichts über Gregors Leben im Dorfe gewußt und wäre mir nicht stets ein Bild seiner Geisteswelt gegenwärtig gewesen, so würde es mir sicherlich leichter geworden sein, ihn arglos nach diesem oder jenem zu fragen. Aber so war ich befangen und sah mit vielerlei Augen auf ihn.
Als Gregor nach einiger Zeit zu mir herübersah, war sein Blick frei von dem abweisenden Mißtrauen, das ich anfänglich so schwer bei ihm verstanden hatte, denn ich wußte damals noch nicht, daß der heitere Freimut keine Eigenschaft einer leidenschaftlichen und großen Seele ist. Auf allen Mittelstraßen rühmen wir ihn gern, und mag ihn schätzen, wer sich selber schätzt und leicht mit sich zufrieden ist.
»Aber Gregor!« rief ich aufgebracht, als habe er lange Zeit und eindringlich zu mir gesprochen, »ich will doch etwas tun und vollbringen, mich locken der Kampf und die Erprobung meiner Kräfte, ich will mich mit allem einsetzen, was ich bin und habe, und gewinnen oder verlieren.«
»Ei freilich denn nun«, antwortete Gregor ohne Erstaunen über den jähen Ausbruch meiner Gefühle und in liebevoller Zustimmung seines ganzen Wesens, »ist es doch mein Kummer, daß mir ein solches jeweils im Leben mißlang.«
Ich besann mich betroffen auf den Anlaß, aus dem der jähe Entschluß zu meinem Bekenntnis emporgeschnellt war, und begriff in dunkler Ahnung Tun und Kräfte des Ungeschickten und Schwachen vor mir. Dabei mußte ich lächeln, als ich zugleich sah, wie Gregor den letzten Faden, weit ausholend, wild und andächtig zugleich, um den befestigten Knopf wickelte, so daß er nach einer Weile auf einem kleinen dicken Stiel von gewundenem Garn hockte wie ein Pilz.
Nun probierte er den Hut auf, zog ihn fest über das graue Haar, das strähnig und dünn wie Schilf unter diesem grellen farbigen Schutzdach herabfloß.
»Wenn wir einen kleinen Spaziergang unternähmen ...? Vielleicht durchs Dorf zur Mühle?« schlug er vor. Ich hatte ihn noch nicht so fröhlich bewegt gesehen. »Solch ein Hut«, meinte er und nahm ihn ab, um ihn aufs neue zu betrachten, »erfreut ... ist doch lange Zeit kein Hut mehr mein Eigentum gewesen.« Er drückte mit langem Zeigefinger auf eine Stelle der Fensterbank: »Hier lag er – unvermutet. Das rote Band aber ist von Leni, dem Töchterlein des Müllers, welchselbe die dort verkehrenden Gäste zu bedienen pflegt, ein gutes Kind und einstmals meine Schülerin.«
Wir pilgerten miteinander durch das Dorf und zur Mühle hinaus. So stark der Sonnenglanz und sein begrüntes, stilles Reich mich wie immer in seine Kreise zog, wie beglückend der Duft der Felder und Wiesen mir Herz und alle Sinne öffnete, zum ersten Mal hatte ich ein tiefes, leidendes Gefühl verlorener Nähe zu allem, und eine entfremdende Trauer befiel mich. Du liebes Immerwieder, schön und reich, dachte ich, du Heimat ohne Stete, du Fürdichselbst in lieblicher Gestalt, du Wohltat zwischen Staub und Gott, wo ist in dir mein einer letzter Weg?
Gregor ging neben mir dahin und schwieg. Er setzte beim Schreiten die Füße ein wenig nach außen, sein Kleiderwerk, vom Hut bis zu den Stiefeln, schien ihn nur widerwillig zu begleiten und durchaus nicht zu ihm zu gehören. Wenn ich zu ihm hinübersah, so mußte ich lächeln, wenn ich dagegen nur an ihn dachte, ohne daß seine Erscheinung mich störte, so hob sich in vertrauter Güte, mit drohender Mahnung, ein stilles Liebesbild vor meinen inneren Augen empor, lächelte gnädig und ließ mich doch allein.
Das dahinziehende Wasser zu unserer Rechten plätscherte leise an den Ufern, ein paar abgerissene Schilfhalme trieben in seelenruhiger Eile auf der Flut und begleiteten uns. Ich hörte drüben auf den Wiesen den Laut der Sensen hinter den Uferweiden.
Dank der wohlgesinnten Teilnahme von Frau Elisabeth nahm mein Sommeraufenthalt im Hause des Schulmeisters seinen arglosen Fortgang. Das Hündchen des Hausherrn, mit dem ich mich zeitweilig anfreundete, hatte den Charakter seines Besitzers angenommen. In den Plänen der Natur hatte ursprünglich die Heranbildung eines Neufundländers gelegen, dies war jedoch durch andere Einschläge vereitelt worden. Er bewegte sich meist schwerfällig, hatte aber die Angewohnheit, beim Bellen zu springen, und fraß nur im Sitzen. Wenn er ruhig stand, an die deutlich melancholische Seite seines Wesens hingegeben, und den Kopf senkte, so berührten die Spitzen seiner Ohren den Fußboden. Ich glaube, er sprang nur, um hören zu können.
Er hatte in der Tat manches vom Charakter seines Herrn übernommen, eine Erscheinung, die ich übrigens häufig beobachtet habe. Er war mißtrauisch gegen alles Fremde, pflichttreu und etwas derb, ein wenig verschlossen und sehr von sich eingenommen. Selbst auf die größten Dorfhunde sah er herab, und da die meisten ihn überragten und dadurch diesen Vorgang der Verachtung erschwerten, hielt er den Kopf schräg und senkte den Blick, indem er das Lid leicht über das Auge fallen ließ. Seine Abneigung gegen Gregor war so groß, daß schon dessen Erscheinung in weiter Ferne ihn maßlos erregte. Obgleich er mich gern auf Spaziergängen begleitete, machte er jedesmal halt, wenn ich meine Schritte auf das Bauernhaus zulenkte, in dem der Gemiedene wohnte, verharrte meist ein wenig schräggestellt mitten auf dem Weg und zweifelte. Hatte er sich davon überzeugt, daß ich tatsächlich zu Gregor ging, was ich nun häufig tat, so kehrte er um und trabte heim. Den Kindern gegenüber wahrte er eine leicht verstimmte Höflichkeit, die duldsam war, und Frau Elisabeth unterschätzte er. Die Art, auf die er ihre Gunstbezeigungen durch Wedeln bedankte, empörte mich, er hätte es lieber ganz lassen sollen. Über seinen Herrn hinaus gab es für ihn nichts, mit ihm begann und endete seine Welt. Zuweilen besuchte er für kurz das Pfarrhaus, am liebsten während der Schulstunden, saß eine Weile neben dem Lehnstuhl des alten Mannes, der an warmen Sommertagen unter die Hoflinde gestellt wurde, und sah nur beiläufig hier und da zur Küchentür hinüber. Erst auf dem Heimweg warf er einen flüchtigen Blick in die Küche selbst, ohne sich durch eine erkennbare Forderung zu erniedrigen, nahm aber an, was geboten wurde. Dafür bewachte er den Winkel des Pfarrgartens mit, der an das Grundstück des Schulhauses grenzte, es standen dort Obstbäume und ein verlassenes Bienenhaus, aber der Pfarrer hielt keinen Hund. Die Katze des Pfarrhauses ignorierte er, weil sie nicht wachsam war, kümmerte sich jedoch sonst nicht um das Ein und Aus des Nachbarhauses.
Mich selbst duldete er ohne Sympathiebeweise, kam zuweilen bis ans Gartenhaus, sah hinein und entfernte sich wieder. Wenn das Wetter gut war, begleitete er mich auf Spaziergängen, hatte aber Bedenken, wenn ich von gebahnten Wegen abwich, und folgte mir nur mit Widerstreben in den Wald: Nur die Äcker und Felder ließ er gelten, weil er dort Mäuse jagen konnte, worin er viel Geschicklichkeit und Eifer an den Tag legte. Die geräuschvolle Nase drang vor, und bald darauf sprühte die Ackererde wie ein Fontäne nach hinten. War die Maus ergriffen, so biß er sie tot, zeigte sie mir und wartete mit halb gesenktem Blick auf ein Wort der Anerkennung. Dann setzte er sich und fraß sie, wobei er damit rechnete, daß ich auf ihn wartete und nicht weiterging. Es verstimmte ihn sichtlich, wenn ich vor Beendigung seiner Mahlzeit meinen Weg fortsetzte. Er verzehrte bis zu dreißig Mäuse auf einem Ausflug, schlief dann aber für gewöhnlich unruhig, war am Tag darauf schweigsam und träge und sah nur zum Pfarrhaus hinüber, ohne sich neben den Stuhl des alten Herrn zu setzen.
Dem Pfarrer machte auch ich übrigens eines Tages einen Besuch, Frau Elisabeth riet es mir. Er war ein alter und körperlich hinfälliger Mann, der sein Amt nur noch in kleinen Verwaltungsdiensten versah, die Kanzel aber meist dem Pfarrer des Nachbardorfs überließ, der hier und da zu einer Predigt herüberkam. Die Gemeinde wünschte seine Amtsentlassung sowenig wie er selbst, es war sein Wille, im Amt zu sterben, und obgleich hier und da immer wieder die Rede von einer neuen Besetzung der Pfarrei war, zogen Entschluß und Entscheid sich hin, das Dorf war klein, die Zeiten still und gut, man ließ den Dingen ihren Lauf.
Jedoch geistig war der alte Herr von größter Frische und voller Anteilnahme und fröhlicher Güte. Als ich von Gregor sprach und ihm erzählte, er sei der Anlaß meines Hierseins, wurde der Ausdruck seines Gesichts ernst und forschend, und er sah mich lange mit heimlicher Sorge an, die ich nicht gleich verstand. Wie ich ihn denn kennengelernt habe, und woher ich von ihm wüßte. Er lauschte aufmerksam, als ich ihm mitteilte, wie der Name zufällig im Heidegasthaus gefallen sei und daß ich ihn hernach aufgesucht habe, dem Zug meiner Wanderneugier nach besonderen Menschen folgend und wie von einer inneren Stimme gerufen.
»Es gibt weniger Zufälle im Leben, als wir glauben, solange wir jung sind«, sagte er. »In der Jugend macht uns begierig, was geschieht, später dann aber, wie es zusammenhängen möchte.« Er schwieg plötzlich und verfiel in Sinnen, es schien ihn mancherlei zu bewegen, aber er sagte es nicht, sondern meinte nur endlich: »Er ist lange Zeit nicht mehr bei mir gewesen.«
Man hätte dies Wort so auslegen können, als sei das Gemeinte ein Versäumnis Gregors, das ihm um seinetwillen zum Vorwurf gemacht wurde, und als spreche der verantwortliche Seelsorger daraus, aber so klang es nicht. Vielmehr lag ein Verlangen nach Gregors Nähe darin. Nun, so verabschiedete ich mich bald wieder, mußte einen Gruß an Gregor mitnehmen und einen Korb mit Eiern und Gemüse, den die Köchin mir für ihn herzurichten hatte.
»Ein rechter Kauz«, sagte sie barsch und gutmütig. »Gib auch dies noch.« Und sie reichte mir ein Hemd des Pfarrers, ein Paar Strümpfe und ein wenig Geld von sich aus dem Spind an der Wand. »Gib es richtig«, sagte sie, »sonst wirft er dich hinaus. Das ist mir einmal ein Sonderling, unser Schäferenkel, möchte wissen, wo diese guten Dinge diesmal hingeraten.«
»Er wird sie schon für sich behalten«, tröstete ich sie.
Sie lachte mich aus: »Woher denn! Du könntest sie auch gleich auf die Straße werfen. Aber bring sie ihm nur, wir kennen hier schon die Unsrigen.«
»Was einem leicht wird, drückt auch die anderen nicht mehr zu schwer«, sagte ich.
Sie sah mir nach und rief mich zurück:
»Du gehst oft zu ihm?«
»Ja, zuweilen.«
»So sag ihm, daß er einmal wieder unseren Herrn besuchen soll, sag es von dir aus.«
Ich versprach es und trollte mich, des guten Tags und aller seiner Menschen froh.
Es war trüb und regnerisch geworden, nach der Abendmahlzeit wollte der Schulmeister Karten spielen, er hatte Bier holen lassen und war bei bester Laune. Mein Verkehr mit ihm hatte sich sichtlich besänftigt, wir vermieden Gespräche, die den Zündstoff der Herausforderung hätten enthalten können, und von Gregor war lange Zeit nicht mehr die Rede gewesen. Zwar gab es noch bedrohliche Hintergründe, unausgesprochene Gegensätzlichkeiten, anklägerisches Schweigen und warnende Andeutungen zwischen uns, ich wußte, daß sie eines Tages zum Ausbruch und Austrag kommen mußten, trotz Frau Elisabeths ausgleichender Fügung und Führung unserer Bewegungen.
Der Hausherr ließ uns jetzt häufig allein und miteinander über alles reden, was uns bewegte. Zwar gab er mir hier und da zu verstehen, daß sein Weib ihm alles berichtete und alles mit ihm teilte, denn er erwähnte oft am anderen Tage beiläufig und doch betont ein Bruchstück aus unseren Gesprächsthemen, aber ich fühlte doch den heimlichen, stillen Groll hinter seiner gewährenden Nachsicht.
Wir trennten uns gegen Mitternacht, ein wenig verstimmt, von den Karten, weil ich beim letzten Spiel einen Trumpf zurückgehalten hatte, dessen Stich die Partie zu unseren Gunsten entschieden hätte. Frau Elisabeth hatte somit gewissermaßen unnötigerweise gegen uns beide gewonnen. War schon ihr Vorteil gegen zwei erfahrene Männer an sich beklagenswert, so verschlimmerte sich der ungebührliche Fall durch meine Unachtsamkeit bis an die Grenze der Blamage, ich mußte mir das ganze Spiel im leicht verweisenden Ton erklären lassen, was ich mit Reue in den Zügen tat, unter Frau Elisabeths Lächeln, von dem schwer zu sagen war, ob es für mich oder für ihren Gatten bestimmt war.
Ich ging etwas bedrückt zur Ruhe, nicht wegen des Verweises, sondern weil mich die Verhältnisse im Hause nun doch langsam zu quälen begannen, da die kleinen Entstellungen meines täglichen Tags mich Gregor nicht näherbrachten, sondern mich von ihm entfernten, und ich begriff darüber die Leidenskraft in der Seele des Verstoßenen, zu dem für unentschlossene Herzen kein Weg führte.
Ich mochte eine Stunde geschlafen haben, als der Hund mich durch lautes Gebell weckte. Ich erhob mich und lauschte, der Regen schlug auf die Dachpappe meines Gartenasyls und rauschte in dem Blätterwerk am Fenster. Man rief und klopfte an die Scheiben des Lehrerhauses, laut, fast ungestüm. Ich entzündete die Kerze und rief in den Garten hinaus, aber da erklang auch schon der tiefe Baß des Lehrers, der beruhigend in eine überhastete, klagende Frauenstimme hineintönte.
Es wurde Licht im Hause gemacht, rote Balken senkten sich schräg durch die trübe Nachtluft auf den Rasen und Weg, und die Lichtflecke wanderten. Ich erfuhr in der allgemeinen Unruhe erst nach und nach, um was es sich handelte. Da ich aus irgendeinem Grund von Anfang an an Gregor gedacht hatte, war ich fast beruhigt, als man mir sagte, der alte Pfarrer liege im Sterben. Die Köchin aus dem Pfarrhaus war da, nun sah ich auch, durch die Stämme der Obstbäume, daß drüben Licht brannte.
Der Schulmeister, Herr Matthias, erwies sich als ein Mann, der den Dingen gewachsen zu sein wünschte und allem mit gefaßtem Verhalten zu begegnen trachtete. Er sagte etwas von ewiger Ruhe, Arznei und Arzt und zog die Magd ins Haus. Nein, daran sei nicht mehr zu denken, meinte diese, der Herr Doktor käme zu spät, aber man solle doch gleich hinübereilen, der liebe Herr läge allein, niemand stünde an seinem Bett. Sie hatte ihn stöhnen hören, und doch sei es ein Zufall, eine Gottesfügung, daß sie wach geworden wäre, denn sie habe einen gesunden Schlaf.
»Sie sind ganz naß geworden«, sagte der Schullehrer, »beruhigen Sie sich, wir werden mit Ihnen hinübergehen, das ist Nächstenpflicht.«
Oben an der Treppe stand Frau Elisabeth, einen Regenmantel über dem Nachtkleid und die Haare auf den Schultern, mit bloßen Füßen. Sie müsse sich ganz anziehen, mit Schwarz am besten, rief der Lehrer übertrieben herrschsüchtig; es bewegte ihn doch sichtlich, dieses plötzliche Ereignis und die Pflichten, die es ihm auferlegte, und seine Haltung war erzwungen.
Ich stand am Eingang des Hauses und beruhigte den Hund, der auf der Strohmatte saß und ohne Unterbrechung ständig vor sich hin bellte, ohne jemanden anzusehen, einfach in die Nacht hinein.
»Werden auch Sie uns begleiten?« fragte der Lehrer, der auf der Treppe saß und seine Zugstiefel sortierte. Ich leuchtete ihm, weil ich merkte, daß er mit dem falschen Stiefel auch jedesmal den Fuß wieder wechselte, so daß keine Ordnung in diesen Vorgang kam.
»Mitten in der Nacht«, sagte er, »es ist wirklich traurig.«
Als nun Frau Elisabeth in Kleid und Mantel die Treppe herunterkam, wechselte unten die Einstellung aller, die erste Erregung war verflogen, und man schien es nun plötzlich zu wissen, daß drüben ein Mensch im Sterben lag.
Ob nicht doch jemand zum Arzt fahren sollte, beriet sich der Lehrer, an alle gewandt, aber Frau Elisabeth antwortete ruhig, dies solle entschieden werden, wenn man im Sterbezimmer gewesen sei. Ihr ernstes Gesicht, blaß und gütig, beschwichtigte die Seelen. Ja, du bist ein Mensch, dachte ich.
Das Hausmädchen brachte eine Stallaterne und sah böse und mißtrauisch auf die Pfarrerköchin. Was war auch viel an einer Person zu achten, die nächtlicherweile um Hilfe lief und der fremden Herrschaft bedurfte. Der Lehrer wollte die Laterne nicht. »Den Weg hat man doch hundertmal gemacht. Haben Sie im Gartenhaus die Kerze ausgelöscht?« fragte er mich und blies gegen die Scheiben der Laterne. Dann drückte er den Kerzenstumpf mit dem Finger aus. Es wurde stockdunkel. »War denn das das einzige Licht?« fragte er betroffen.
Der Hund fing sofort wieder sein gleichmäßiges Bellen an, wir tappten uns im Dunkeln die Steinstufen hinab. »Der Hund bleibt hier«, rief der Lehrer, »ein Tier gehört nicht in ein Sterbezimmer. Das Mädchen bleibt bei den Kindern. Machen Sie das Licht wieder an. Nehmen Sie den Hund ins Haus.«
Nun bewegte sich unsere kleine Gruppe geschlossen durch die Gärten, die Magd öffnete uns die Holzpforten, allmählich sah man die Umrisse von Bäumen und Häusern deutlicher, sogar der Kiesweg war erkennbar.
Das Bett des alten Mannes war in sein Arbeitszimmer gebracht worden, eine brennende Petroleumlampe stand auf einem Schrank. Der Sterbende ruhte gestützt auf seinem Lager, so daß er fast saß, und seine Blicke voll leerer Unruhe berührten uns, ohne uns seine Seele mit entgegenzusenden, der weißhaarige Greisenkopf warf sich sacht und gleichmäßig hin und her. Er hatte, wie die Magd uns sagte, ein kühles nasses Tuch für seine Hände verlangt, sie ruhten unter dem feuchten Knäuel. Der Lehrer nahm es fort und blieb unsicher und hilfsbereit am Lager stehen, immer wieder einem von uns zugewandt und durch die Augen des Sterbenden arg bedrängt.
Der Lehrer wollte, daß mehr Licht gebracht würde, die Magd, die heftig schluchzte, ging hinaus, um seinen Wunsch zu erfüllen, erleichtert dadurch, daß sie etwas tun konnte.
Frau Elisabeth, die den Sterbenden von uns allen am besten gekannt hatte, setzte sich nun an sein Lager, nahm die Bibel vom Tisch, der hinter dem Bett stand, und begann, ohne zu suchen, im Neuen Testament zu lesen. Unter ihrer klaren Stimme kam das schwankende Haupt zur Ruhe und lag seitlich geneigt auf dem Kissen. Die Magd, die eine Kerze gebracht und auf den Tisch gestellt hatte, ließ sich am Bett auf die Knie nieder, als die Worte des Menschensohnes, einst in Weltenferne der Erdenzeit ausgesprochen, nun in diesem halbdunklen nächtlichen Zimmer aufklangen.
Dann sagte der Schulmeister leise:
»Laßt uns alle miteinander beten.«
Die Worte verhallten im Raum.
Da rief der Sterbende laut:
»Holt – Gregor, holt ihn, holt ...«
Frau Elisabeth brach unmittelbar nach diesem Ruf in ein helles, erschütterndes Weinen aus, aber sie atmete darüber so befreit, ja geradezu beseligt, daß ich davonstürzte, ohne noch jemanden anzusehen oder anzureden.
Draußen wurde es schon hell. Ich lief auf die Kirche zu und sprang über Zäune. Der Hof des Brosy war schnell erreicht, ich klopfte an Gregors Fenster, aber ich tat es vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken. Er antwortete mir sofort und öffnete das Fenster.
Sein Anblick erheiterte und rührte mich zugleich, daß ich lachen mußte, aber sicherlich hat diese Aufwallung auch meine Ergriffenheit kundgetan.
Ich sagte meine Botschaft. Gregor antwortete:
»So treten Sie denn ein. Bedienen Sie sich des Fensters, ist es ja niedrig. Ich werde mich derweilen ankleiden und Sie begleiten.«
»Der gute alte Pfarrer wird sicherlich sterben«, wiederholte ich, »er wird die Sonne nicht mehr aufgehen sehen.«
»Ei freilich, freilich denn nun«, meinte Gregor.
Ich dachte: Mein Gott! Was soll nur dieser Mensch am Totenbett? Ein hagerer Narr stieg vor mir ungelenk in seine Hosen. Wo war Gregor, nach dem gerufen worden war und der mich auf meinem Weg hierher begleitet hatte? Ratlos und traurig sah ich den heraufdämmernden Morgen hinaus, und fern, in einer ganz anderen Welt, erklang mir das Aufweinen der Frau am Sterbebett. Ich sah mich um, Gregor band sich mit ausholenden Gebärden das Halstuch, den Kopf weit zurückgelehnt, damit der Bart nicht verwickelt würde. Jetzt schien er fertig zu sein. »Die Stiefel«, rief ich.
»Diese nun«, sagte er flüsternd, »befinden sich in der Küche der Bäuerin.« Er hob den Finger dicht ans Ohr und lauschte.
Ich wollte sie holen, aber er winkte mir ängstlich ab.
»Schläft doch dort der Knabe«, sagte er rasch. »Auch tut Eile not, und es ist Sommerszeit. Wohlan denn!«
Er nahm den Strohhut mit dem roten Band vom Wandnagel und säuberte ihn am Rockärmel, schob ihn aber noch einmal unter den Arm, um sich mit den Händen durch den Bart und das Haupthaar zu fahren. Nun fiel es schlicht und gut und veränderte ihn wohltuend. Er sah sich im Zimmer um, sein Stock fiel ihm in die Augen, und er ergriff ihn, um dann barfuß durch das Fenster ins nasse Wiesengras zu steigen. Ich folgte ihm und lehnte die Fensterflügel sacht hinter uns an.
Gregor wartete nicht auf mich, sondern ging stumm und eilfertig vor mir her in seinem braunen, zerschlissenen Rock und der Bauernweste, in der formlosen Hose, die die nackten Füße fast bedeckte, und mit dem grellen Strohhut.
»Gregor«, rief ich und eilte ihm nach, »lassen Sie uns doch nebeneinander gehen. Es ist trostloser in der Pfarrstube, als Sie denken, alles ist mißgeschickt, auch Frau Elisabeth ist da, ich glaube, ich sagte das bereits. Haben Sie denn schon einmal einen Menschen sterben sehen?«
»Ei freilich«, sagte Gregor, »sterben sie doch häufig.«
Ich lachte wütend auf.
»Nicht doch dieses«, sagte Gregor und sah mich an.
Unter seinem Blick war ich wieder auf meinem ersten Wege zu ihm, und die Erwartung der Menschen, des Sterbenden und der Wachenden erfüllte mich aufs neue.
An der Tür des Pfarrhauses verlor Gregor plötzlich allen Eifer, und seine Bereitwilligkeit sank von ihm. Er lehnte sich armselig und erschöpft an den Pfosten und schüttelte den Kopf:
»Wie soll denn ich nun dort eintreten«, sagte er. »Möchte ich es doch ungern; vielleicht auch, daß es sich vermeiden ließe. Gehen Sie, mein lieber Freund, zuvor, es möchte doch wohl sein, daß nun niemand mehr solchen Wunsch hegt.«
Er nahm den Hut ab und legte ihn neben die Schwelle auf den Kies. Sein nasser, nackter Fuß schob ihn in den Stufenwinkel.
»Gut«, sagte ich rasch entschlossen, »ich werde gehen und die anderen fragen.«
Im Sterbezimmer brannte noch die Kerze, die Gestalten hockten und standen gebeugt im Zwielicht, ein Fenster war verhangen, und die Lampe auf dem Schrank war erloschen. Ich sah, daß der Alte die Hände emporreckte, Frau Elisabeth schaute mich erwartungsvoll und gequält an, Angst in den Blicken, da ich allein eintrat. »Gregor!« rief ich durch die Tür und ließ sie weit offen, so daß Morgenlicht in den Raum strömte. Ich trat zurück, und aller Augen waren mit den meinen auf die Tür gerichtet.
Da kam eine Gestalt über die Schwelle, die ich nicht kannte, von der ich aber wußte, daß es Gregor war. Das hellere Licht, mit dem sie kam, umschloß sie von hinten, so daß sie undeutlich wurde, aber sichtbarer als alles andere, nur die Haltung war deutlich, die schmerzliche Neigung und der zögernde Mut.
Gregor blickte keinen von uns an, sondern schritt auf das Bett zu. Ich sah für einen Augenblick das Angesicht von Frau Elisabeth, bis Gregors Schatten es milderte, denn es war beinahe verzückt von Erwartung, die aus einer tiefen Qual emporbrannte.
Es zeigte sich keine besondere Bewegung im Angesicht des Sterbenden, nur schien er jetzt bei voller Klarheit zu sein, und eine einfache stille Erwartung befriedete seine Züge. Er hob sich unnatürlich hoch von seinem Lager auf, mit einem Aufwand von Kraft, den ihm niemand mehr zugetraut hätte, und seine Augen suchten den Blick Gregors. Ich sah nun, daß Gregor den in Schwäche Zurücksinkenden mit seinem Arm auffing, so daß das weiße Haupt an seine Schulter fiel und dort ruhen blieb. In solcher Haltung atmete der Sterbende seinen letzten Odem aus, immer den Blick in Gregors Augen, der ihn ruhig ansah, ohne Erbarmen und Mitgefühl.
Langsam sanken nun die Lider über die beruhigten Augen, und auf dem grauen Angesicht breitete sich ein Schein von Genugtuung aus, so stark, daß unser aller Herzen in der unirdischen Ruhe klopften, die von dem Verstorbenen ausging und sich im Morgenrot mit dem neuen Tag verwob.
Gregor ließ das beschlossene Haupt des toten Mannes auf das Kissen sinken und ging hinaus, nachdem er Frau Elisabeth eine Weile angesehen hatte, aber, wie mir schien, ohne sie zu erkennen und mit einem fragenden Blick.
Als ich eines Tages mit Frau Elisabeth von einem Gang durch den Wald zurückkehrte, bot sich uns ein unerwarteter Anblick, sobald sich von der Landstraße aus der Dorfplatz bei der Kirche übersehen ließ. Wir hörten Johlen und Geschrei der Dorfjugend, die sich in der Nähe eines grünen Zigeunerwagens mit fahrendem Volk versammelt hatte und dort einen tollen Reigen aufführte. Der Wagen, halb versteckt im Kirchenwinkel auf einem Rasenplatz, war uns schon am Mittag in die Augen gefallen, und ich hatte mir vorgenommen, den braunen Heiden einen Besuch abzustatten. Ein Mädchen von großer Schönheit und zwei glanzäugige Buben, straßenruhmsüchtig, bestaubt und frech, hatten es mir angetan.
Mitten in der laut und stürmisch bewegten Schar nun erblickten wir die Gestalt Gregors in höchster Bedrängnis. Er fuchtelte mit den Armen hoch in der Luft, völlig außer sich, bemüht, seine Bedränger zu beschwichtigen, ergrimmt und doch, wie man deutlich erkannte, in größter Sorge, seine Abwehr möchte Schaden anrichten, kränken oder herausfordern. Er gab Erklärungen ab, ermahnte und drohte, aber er wurde überschrien und war machtlos. Jetzt wehrte er sich, bleich und bebend, deutlich in banger Not um seinen einen so wichtigen Rock, nun sprang er zur Seite und suchte zu entkommen, aber der Weg wurde ihm blitzschnell mit Geschrei und Grölen aufs neue verstellt, man hatte offenbar herausbekommen, daß er nichts mehr fürchtete, als jemandem ein Leid anzutun.
In der Straßenbande der Kleinen erblickte ich die Kleiderfetzen und Krausköpfe der beiden Wegelagerer aus dem grünen Gespann, es war unschwer darauf zu schließen, daß sie die friedliche Dorfgenossenschaft der Schuljugend alarmiert hatten, die unternehmendsten Elemente der Dorfbuben überboten sich nach solch starker Beratung und erstrahlten geradezu vor Bosheit und Glück im Rausch dieser neuen Betrachtungsform und Verwendbarkeit des alten gewohnten Schäferenkels.
Der Anblick war unsäglich peinlich und rührend. Ein entflammtes Bürschchen schlug Gregor von hinten den Strohhut mit dem roten Band herunter, es schien, als sähen alle erst nun das grelle rote Band. Gregor wies mit zappelnder Grimasse auf das Verwerfliche solchen Tuns hin, die Angst um seinen Hut aber ließ ihn zugleich Jagd auf sein Besitztum machen, das von nackten Füßen gestoßen durch den Staub flog. Er tauchte in dem kreischenden Knäuel unter, seine ermahnende Hand mit erhobenem Finger ragte aus der Wolke von Staub und hüpfenden Leiberchen. In allem und jedem mochte er von Anfang an den schlimmsten Fehler begangen haben, den man der entfesselten Straßenjugend gegenüber begehen kann: Er beachtete den Spott und trat der Unart beleidigt entgegen.
Es war höchste Zeit. Die durch sein Verhalten gesteigerte, im Grunde wissenlose und unschuldige Bosheit und Grausamkeit der kleinen Horde hatte ihren Höhepunkt erreicht und drohte in jene sinnlose Roheit auszuarten, deren Ursprung und Bedeutung später so schwer zu begreifen und festzustellen ist und die jeder einzelne zu bereuen pflegt.
»Mein Gott!« rief Frau Elisabeth, »schnell, schnell!«
Nun, das war kein weiter Weg. Man darf dem Straßenpöbel, sei er nun grün oder verholzt, keine Rede halten, wenn er sein Gassenrecht in Schwung gebracht hat. Ich suchte mir den dreistesten der jungen Bürschchen heraus, einen der Anführer, die immer rasch zu erkennen sind, strich ihm auf knappe Art die Borsten zur Rechten und Linken ans gellende Maul und hob ihn dann mit gutem Ansatz und schlichter Geste in den Straßengraben, in dem Wasser genug war, um ihm deutlich zu machen, daß die Lage im Begriff war, sich zu ändern.
Man stob auseinander. Der Anblick der eilig herannahenden Lehrersfrau brachte die Verbleibenden zu einer zweiten Besinnung, der Platz war so rasch leer, wie er sich gefüllt haben mochte. Mit der Straßenjugend geht es wie mit den Maikäfern, plötzlich sind sie da und plötzlich verschwunden, immer bleibt Schaden zurück, und man hat doch ein Vergnügen an ihnen, denn sie gehören zum Frühling.
Nur ein paar plötzlich völlig Unbeteiligte standen trotzig und neugierig in respektvoller Entfernung, die freie Gegend hinter sich im Bewußtsein und den Blick am Graben, aus dem Gregor meinen Täufling zog.
»Dieses nun doch«, rief er und sah mich zornig an, »war ein voreiliger Entschluß, roh fast in seiner Ausführung, sozusagen! Ich gebe mich der Erwartung hin, Sie entschuldigen meine Worte. Dies ist der Klebertoni.«
Der Klebertoni trug Sorge, daß Gregor zwischen mir und ihm stand. Er wäre längst davon gewesen, wenn Gregor sich nicht mit großer, magerer Hand in seinen nassen Rockkragen verkrallt hätte, immer noch wie in Sorge, das Bürschchen möchte ihm noch nachträglich in den Fluten umkommen, dessenungeachtet, daß es sich auf dem Trockenen befand und daß die Fluten kaum einen Entenhals tief waren.
Inzwischen war Frau Elisabeth herangekommen und nahm sich Gregors an. Er ließ sogleich mit den Worten: »So enteile denn unerkannt!« seinen Bedränger und Schützling fahren, der hinter der Kirche verschwand, und griff sich an die Stirn, um den Hut zu ziehen. Als er ihn nicht fand, verbeugte er sich bekümmert mehrere Male mit herabhängenden Armen, jedoch nach verschiedenen Seiten gerichtet, zugleich Umschau nach dem verlorenen Besitz haltend. Frau Elisabeth nahm ihn mit sich fort. Ein kleines Mädchen trug ihnen stumm und schuldbewußt den Strohhut nach. Da stand ich denn allein und wandte mich dem grünen Wagen zu.
Die kleinen Anstifter des Aufruhrs hatten sich unter die Räder geflüchtet und sahen mich mit schwarzen, lebhaften Augen herausfordernd an, halb hinter einem rotjackigen schlanken Burschen versteckt, der gemächlich im Gras lag, die Pfeife im Mund und die Blicke unter den zusammengezogenen Brauen lauernd in meinen Augen. Sonst schien niemand da zu sein, der Wagen stand leblos in der Nachmittagssonne.
»Saubande!« sagte ich.
Der Bursche erhob sich sofort und warf die Pfeife ins Gras.
»Das Wasser ist zu flach für deinen Dreckschädel«, sagte ich, »aber heute abend werde ich wiederkommen.«
Da ich ihn nicht überschätzte, glaubte er mir, blieb stehen und schwieg.
Frau Elisabeth berichtete ihrem Gatten beim Abendessen den Vorfall, sie sprach ohne Erregung, ohne Vorwurf oder Anklage, aber eindringlich und deutlich voll heimlichen Leids.
»Das ist die Jugend«, meinte der Lehrer, »im Grunde ist das doch arglos. Sind mir die Jungens hier durch fremde Elemente aufgestachelt worden, so ist das Ereignis doppelt verständlich. Wie läuft denn dieser Mann auch hier im Dorf herum! Die Einheimischen mögen sich zur Not an ihn gewöhnt haben, wenn Fremde die Spottlust ankommt, so ist das wahrlich kein Wunder. Es liegt kein Grund für seine Verwahrlosung vor, ihm wird geholfen. Nun, es ist ja auch weiter kein Unglück geschehen.«
Frau Elisabeth schwieg.
»Wenn Sie den Vorfall mit angesehen hätten, so würden Sie anders denken«, sagte ich, »das ist keine arglose Spottlust, wenn die kleinen Flegel dem vor lauter Gutmütigkeit und Besorgnis hilflosen Mann den Hut vom Kopf schlagen und ihm seinen letzten Rock zerreißen.«
»Hat das einer der Unsrigen getan?« fragte der Lehrer streng.
»Freilich, einer der Ihrigen.«
»Welcher Knabe?« fragte der Lehrer und sah auch Frau Elisabeth mit Bedeutung an.
»Mag er sich selber melden«, sagte ich.
»Sie kennen ihn?«
»Ja, ich kenne ihn.«
Der Schulmeister, Herr Matthias, wurde langsam rot vor verhaltenem Grimm. Hier schien ihm ein Komplott zugunsten Gregors vorzuliegen und wiederum zugleich ein Gegenkomplott, das Gregors Bedränger schonte. Er beherrschte sich, aber ich fühlte, daß ich bei ihm verspielt hatte. Mir gefiel die belastete Stille nicht, und ich machte mich davon, Müdigkeit vorschützend. Man entließ mich bedrückt und unfroh, und ich trottete nicht eben heiter in meinen Gartenbau, weil mir Frau Elisabeth im Sinn lag. Aber dann dachte ich an ihre Worte, an ihre Liebe zu Gregor, die ihr nicht mehr zu tragen geben würde, als dies gute Herz mit Freiwilligkeit auf sich nahm.
Als die Sterne am Himmel standen, sprang ich über den Zaun, auf Gregors alter Nachtfährte, und ging über den Kirchhof zu den Zigeunern. Man muß seine Versprechungen einlösen, jedoch ich war so wenig rauflustig wie umher die ruhende Natur. Vom Kirchturm schlug es neun, die Bauern lagen schon in ihren Betten.
Der grüne Wagen hob sich wie von einem lichten roten Vorhang ab, hinter ihm, auf dem Rasenplatz im Kirchenwinkel, hatten die fahrenden Leute ein Lagerfeuer angezündet, sie hockten zu vieren um den kleinen Erdherd, das Mädchen, der Bursche und die beiden Alten. Das Weib hatte ein Flechtwerk aus Weidenzweigen über den Knien, der Alte rauchte, sein struppiger grauer Kopf gefiel mir, er sah aus wie ein bemooster Schauspieler auf der Wanderschaft, roh und gutmütig.
Als ich in den Feuerschein trat, sprang der Bursche sogleich kerzengerade empor. Ich ging an ihm vorüber und legte mich nachlässig ins Gras.
»Erlaubt schon«, sagte ich, »bei euch gefällt es mir besser als in den Bauernstuben. Hier riecht es nach Gras und Sternen.«
»Bist du nicht aus diesem Ort?« fragte der Alte.
Der Bursche ließ sich halb nieder und starrte mir stumm und böse ins Gesicht, ich lag auf dem Rücken und schwieg, dicht neben mir, ein wenig zurück, gegen die hellere Kirchenwand deutlich als dunkler Umriß erkennbar, verstohlen vom Feuerschein angeglommen, saß das Mädchen.
Träge kam ein Gespräch in Gang, ich ließ die anderen reden und fragen, ein Platz am Lagerfeuer an der Straße ist kein Salon, man merkt schon, wen man bei sich hat. Vielleicht war man zu Anfang ein wenig erstaunt, gut, sollte man.
»Euer Alter hat Verstand«, erklärte ich nach einer Bemerkung von ihm nachlässig den beiden Jungen, »der putzt sich den Rüssel nicht umsonst am Rinnstein.«
Der ruppige Kopf war ganz von vorn zu sehen:
»Du drückst dich schon sonderbar aus ...«
»Ich meine dein Näschen, soll ich Näschen sagen?«
Nun lachte er gutmütig: »Du hast deine Prügel schon bekommen! Vor Zeiten hatte ich einen Zirkus unter meiner Führung. Prima Attraktionen, Seil, Trapez und eine Dame mit rassereiner Boa Konstriktor, einen Kunstreiter, der bei mir den Clown machte, weil ich zur Zeit kein Pferd hatte, das sich reiten ließ. Ich besaß nur die beiden Wagenpferde und einen Esel zur Belustigung der Jugend. Dann Isabella, die später in der Großstadt an ersten Bühnen als Tänzerin Furore machte, sag Alte, hat man Ähnliches gesehen? Du wirst wahrscheinlich von ihr gehört haben«, wandte er sich wieder an mich, »der sie auf die Beine gestellt hat, bin ich. Und auf was für Beine! Aber was ich sagen wollte: Das wäre eine Zeit gewesen, in der ich dich nicht ausgelassen hätte, du fängst die Spatzen nicht mit Salz. Jetzt geht es lahm mit uns zu Ende, Kessel und Trödelkram von Haus zu Haus durch die Dörfer, das ist keine Kunst mehr. Aber mit Dominika werde ich vielleicht noch etwas wagen.«
Dominika sah in ihren Schoß. Der Bursche grinste.
»Bist du hierzulande heimisch?« fragte der Alte wieder, und da ich schwieg: »Wo bist du geboren?«
»Unter den Sternen«, sagte ich.
»In eurem Dorf gibt es mehr als einen Narren.«
Jetzt mischte sich das Mädchen, das bisher schweigsam gewesen war, plötzlich lebhaft ins Gespräch:
»Es kommt darauf an, unter welchem Stern, darauf kommt es an.«
»Kannst du wahrsagen?« fragte ich.
»Ich kann die Zukunft aus der Hand lesen, wenn du es wissen willst.«
Ich lag gut im Gras, sah am Schiff der Kirche hoch den schwarzen Kuppelbogen einer alten Linde in den Himmel gelegt und darüber weithin und überall die stillen Funken der Sterne, klar und ewiglich.
»Was du nicht können wirst, du Hühnchen, sei froh, wenn du die Fibel verstehst.«
»Was ich kann, steht nicht in der Fibel! Du bist frech wie ein Schaukelbursche und tust, als ob du die Welt zu verteilen hast.«
»Du bekommst nichts. – Wahrsagen ...!«
»Gib die Hand, du wirst sehen.«
»Du bekommst nichts. Ich brauche meine Groschen für bessere Dinge.«
»Geld? Wer hat denn von Geld gesprochen? Wie schlecht er ist! Filin hast du beschimpft.«
»Höre«, sagte ich, »habt ihr keine Geige? Ihr seid doch Künstler. Ich mag nur unter solchen Leuten leben, wie ihr seid.«
»Dafür könntest du anständiger sein«, sagte Filin.
»Wer ist unanständig? Ihr laßt einen schwachen, guten Mann von Bauernbuben mißhandeln und ergötzt euch daran, und abends wollt ihr selber gutes Behagen in euch fühlen, wenn ihr eine Geige spielt oder hört. Geht mir doch ...«
»Er hat recht«, sagte der Alte, »als ob man nicht wüßte, was ein guter oder ein schlechter Mensch ist; in der Musik liegt die Besserung, das Gewissen, er hat ganz recht. Halt das Maul, Filin, hol lieber die Geige.«
Der Bursche erhob sich und schritt hinter den Wagen. Es wehte kühler aus den Büschen und der ungewissen Ferne. Nachtfalter kamen in den Feuerschein, bald sahen sie rot beschienen aus, wie Funken, bald waren sie schwarz, von stiller, inbrünstiger Wildheit; manch einer schwirrte ins Feuer und verlohte.
»Gib deine Hand«, sagte Dominika, »was liegt daran. Du wirst sehen. Gib nur.«
Ich hob im Liegen den Arm hinüber wie im Schlaf, er fiel ihr schwer aufs Knie. Ihre kleinen, kalten, harten Pranken griffen zu und drehten die Handfläche gegen das Feuer.
»Habt ihr keinen Wein?« fragte ich.
Der Alte sah herüber:
»Willst du ihn bezahlen?«
»Ich will ihn bezahlen.«
»Zeig das Geld.«
Das verstand ich und gab, was ich hatte. Am Himmel funkelte das Siebengestirn, bald zog die Nachtluft kühler, bald wärmer auf meine Stirn. »Dominika, man sollte die Sterne viel länger betrachten können. Hast du nicht bemerkt, daß man es immer nur ganz kurze Zeit kann, es ist doch schade ...« Ihr lieben fernen Worte über das Meer hinaus, bleiche Nacht am Strande ...
»Es kommt nur auf einen Stern an«, antwortete Dominika, »jeder hat seinen Stern.«
Sie begann rasch und töricht in meine Hand hineinzuplappern von zukünftigem Glück, Liebe und Reichtum.
»Sei still«, sagte ich, »das ist alles Unsinn.«
»Wieso? Dies ist die Lebenslinie ... das weiß doch ein jeder.«
»Du bist ja so dumm, kleine Dominika, so schrecklich dumm, wie alt magst du sein? Hör zu, ich werde dir beibringen, wie man aus der Hand liest. Zuerst mußt du die Hand lange betrachten, verstehst du, und nicht reden, bevor du recht hineingeschaut hast. Da ist etwa ein Bauernweib zu dir gekommen, gut, nun wirfst du ihr die Hand zur Seite und rufst: ›Nein, nein, aber das ist ja schrecklich, Bäuerin, warum sind Sie denn damals auch in die Stadt gegangen ... nach.‹ – ›Meinen Sie Hohenburg?‹ wird die Bäuerin erschrocken fragen. Du antwortest nicht darauf, sondern tust, als ob du es nicht gehört hast. Meinst du, es gäbe leicht eine Bäuerin, die nicht in der Stadt gewesen ist? ›Das war nicht vorsichtig, Bäuerin, wie Sie da gehandelt haben, waren Sie denn noch so jung, daß Sie das nicht wußten?‹
›Ei‹, wird sie dir etwa entgegnen, ›fünfundzwanzig Jahre sind doch schon ein Alter.‹ Du antwortest: ›Natürlich, wenn man jemand gern hat, so überlegt man nicht lange!‹ Meinst du, es gäbe leicht eine Bäuerin, die nicht mit fünfundzwanzig Jahren jemanden gern gehabt hat? Sie wird groß aufschauen und dich fragen, wie du denn wissen könntest, daß sie den Arthur wirklich gern gehabt habe, und du mußt ihr dann erklären, den Kopf ein wenig schief und verständnisvoll lächelnd: einen Mann wie ihn vergäße man nicht so leicht. Das darfst du schon getrost behaupten, denn sie hat dir ja kundgetan, daß sie sich seiner erinnert. Inzwischen hast du ihre Hand wieder genommen. Erschrick sie ein zweites Mal, mach ihr bange, tu, als sähest du bedrohliche Schicksale, öffne ihr weiter den Weg, denn nun, da du nach ihrer Meinung schon von Arthur und der Stadt gewußt hast, glaubt sie dir, und so gut sie noch vieles von dir wissen möchte, sosehr liegt ihr jetzt daran, dir nun selbst manches zu sagen. Die Schwatzlust eines alten Weibes ist nicht geringer als seine Neugier. Was du behauptest, sprich aus wie eine Frage, und deine Fragen stell so, als ob es Behauptungen wären. Wieg ihr die Hand bedeutungsvoll zwischen diesen beiden Bezirken, zieh eine Fratze, als littest du am Gewicht der Welt, und schon hast du sie recht zwischen einst und künftig gerückt. Ist dir auf solche Art langsam ihre Vergangenheit offenbar geworden, als habest du sie aus ihren Linien gelesen, sie sieht doch immerzu, wie du in ihre Hand schaust, so wird sie dir nun auch alles glauben, was du über ihre Zukunft prophezeist. Aber bevor du hiermit beginnst, laß dir dein Geld geben. Dann sag ihr unter anderem voraus, daß ein schönes, schwarzhaariges Mädchen in ihr Leben kommen würde, jung und blühend wie Heckenrosen, die Macht über sie gewänne, die ihr Handwerk verstünde und die sie mit Geschick und Anmut betrügen würde, so, wie sie es selber wolle und immer gewollt habe. Damit sprichst du zum Schluß ein wahres Wort aus, triffst auch die Gegenwart noch richtig und ziehst dich mit reinem Gewissen und einem Lob aus den Drangsalen des magischen Berufs.«
Die Alte meckerte in ihr Flechtwerk, Dominika schwieg vor Erstaunen.
»Ihn hätte ich nicht ausgelassen, das habe ich schon gesagt«, grunzte der Alte vergnügt, »aber die besten Artisten bringt kein Teufel auf die Schaubühne, es ist überall dasselbe. Kannst du mit Karten umgehen? Mit dir würde ich noch einmal das Zelt aufschlagen, auch Domi läßt sich noch biegen.«
Filin kam mit dem Wein, und ich nahm die Flasche.
»Den hast du niedriger bezahlt als ich«, sagte ich dem Alten.
Er grinste sieghaft: »Such, ob du im Wagen die Flaschen findest, die spürt mir die Schnauze keines Gendarmen aus, nur ein Dummkopf versteckt den Beutel im Häcksel.« Er zog den Korken heraus und hielt mir die Flasche unter die Nase.
»Schnauf auf! Ist das was?«
Er zog sie zurück, trank tief und lange und gab sie mir mit inbrünstigem Krächzen herüber. Ich trank.
»Die Sterne solltest du jetzt kennen«, meinte Filin verdrossen. Ich setzte die Flasche ab, gab sie aber Dominika.
»Ich will nicht«, sagte sie traurig.
Der Alte sah scharf hinüber, während Filin trank. »Hepp!« rief er, als die Flasche kaum senkrecht stand. Nun hatte er sie wieder, und als sie dann an mich kam, war sie leer.
»So was saufst du nicht alle Tage«, grunzte er, Zustimmung heischend.
»Dir, Väterchen, kriech' ich nicht unter das Zelt.« Ich schleuderte die leere Flasche in die Büsche. Dominika schrak zusammen.
»Was redest du?« fragte der Alte gedehnt. »Geh, Filin, hol eine zweite Flasche. Von diesem Windbeutel laß ich mich nicht lumpen.«
Jetzt erhob die Stammutter Protest.
»Verkuppel deine Späne«, wies er sie zur Ruhe und spie aus.
Diesmal ging Dominika, weil Filin seine Geige stimmte. Er hatte sich etwas abseits an die Linde gesetzt, und man erkannte seine Gestalt, halb vom Feuer beschienen, nur undeutlich am Stamm. Als das Mädchen zurückkam, blieb sie neben mir im feuchten Gras stehen, und während sie sich vorbeugte, um dem Vater die Flasche schräg über das Feuer hinzureichen, berührte sie mich mit dem Knie an der Schulter. Deutlich, wie ein liebes Wort, durchklang der Druck meinen Körper. Der kurze Rock streifte mir die Wange. Ich ließ mich wieder ins Gras sinken, groß und herrlich über mir leuchtete die Harmonie der Sternenwelt auf, die Musik meines Herzens rauschte ihr heiß und wild entgegen.
Was war das dünne Geigenstimmchen unter dem Baum dort noch für eine Wohltat? Ich hörte es kaum. Laß dein Gefiedel, oder treib es weiter, wie du magst und kannst. Das Mädchen hinter mir im Nachtgeheimnis, über das feuchte Sommergras hin, hat wieder meine Hand in der ihren, und was sie mir jetzt weissagt, ihr lieben Irdischen, das glaub' ich ihr.
Als ich um Mitternacht davonging, die Alte war längst in den Wagen gekrochen, und mein Gönner schnarchte neben der Flasche am erloschenen Feuer, schlich Dominika mir nach, ich brauchte an der Kirchhofsmauer nicht lange zu warten. Der schmale, abnehmende Mond war aufgegangen, die Schatten beim Buschwerk ließen die kleine Gestalt in das schwache Nachtlicht hinaus, sie sah mich nicht und stand zögernd auf dem Weg, unwirklich, hold und überwahr.
»Wir steigen hier über die Mauer, komm«, sagte ich und trat hervor.
Sie schrie leise auf:
»Du bist noch da! Ich dachte, du wärest längst davon, und wollte nur ...«
»Steig auf meinen Rücken, so kommst du leicht hinauf.«
»Drüben sind Kreuze ...«
»Bist du oben? So halt dich doch fest! Ist das die erste Mauer, über die du kletterst?«
Ich schwang mich ihr nach. Wir standen in dichtem Gekräut, ganz in Büschen, die feucht waren. Es duftete stark und betäubend von einem nahen Gezweig zu uns herab. Ein schräg gesunkenes Holzkreuz versperrte den dunklen Weg, den wir uns suchten, ich hob das Mädchen hinüber, zwischen zwei alten Hügeln wucherte der Efeu, ein kühler blanker Teppich aus Erdgebüsch. »Zwischen zwei Hügeln ein Lager. Dominika, weshalb zitterst du so?«
»Ich fürchte mich«, flüsterte sie, »sieh doch die Glühwürmchen.«
»Ja, Dominika, die Glühwürmchen ...«
Das Morgenlicht hob mir die Lider, das Bild der Welt ging meinen Augen übermächtig auf, brach über mich herein wie Sagen und Märchen. Ich ließ den Tau auf meiner Stirn und rührte mich nicht, der Morgenhimmel leuchtete; in solcher Ruhe bis du noch niemals froh gewesen, mein Herz.
Kein Laut erklang, nur die zarte Lebensmelodie der schnellen, lieben Atemzüge dicht an meiner Wange gaben mir Sinn für die Wirklichkeit der Stunde. Noch eine kurze Weile so, du Fremder mir, du unbewachtes Ich am Erdboden im Sommer, du Narr vor Glück im Morgentau über den Toten. Sie liegen wie du ...
Über dem nackten Knie des schlafenden Mädchens sah ich ein Holzkreuz mit einer Inschrift, einen wild wuchernden Rosenstrauch, der verblüht war, und in weiter Ferne darüber im Rahmen des Gezweiges kleine, zarte, rosige Wolken, die still im grünlich-blauen Morgenhimmel standen wie Inseln im Meer. Dominikas braun umschattete Augen waren tief geschlossen, der Schlaf verlieh ihrem Angesicht eine wehe Unschuld, der Mund war ein wenig geöffnet, ein letzter Seufzer, nicht Glück, nicht Schmerz, hatte ihn sacht und süß gewellt.
Ich wandte den Blick und suchte die Inschrift auf dem Grabmal zu entziffern, sie war verblichen und zum Teil überwachsen, ich las die Worte:
»Ihr sollt nicht meinen, daß ich euch vor dem Vater verklagen werde ...«
Nun erhob sich ein gelinder Wind und schüttelte sacht die Zweige, so daß sie ihre Tropfen abwarfen. Ich hörte Schritte auf dem Fußweg, der dicht an unserem Lager vorbeiführte, und erschrak, richtete mich halb auf, jedoch so, daß ich noch verborgen blieb, und lauschte zweifelnd. Dominika erwachte.
»Still«, sagte ich rasch und leise, »es kommt jemand, horch.«
Sie starrte schlaftrunkenen Blicks ins Licht, schloß wieder die geblendeten Augen und preßte sich wild und traurig an mich.
»Du gehst fort ...«
»Sei still, es kommt jemand, so hör doch.«
Tief benommen und ihrer selbst nicht bewußt, richtete sie sich, gleich mir, zur Hälfte auf, sie schien noch kaum recht zu wissen, wo sie sich befand. Ich fühlte ihren zitternden Körper, dicht an mich gepreßt, sie zog ihr Kleid über die Knie, und der Kopf fiel ihr auf die Schulter.
»Wer soll kommen?« flüsterte sie, »ich muß doch zum Vater zurück, horch, man spricht ...«
Sie riß die Augen weit auf und lauschte angstvoll, wieder lief ein leises Frösteln durch ihren Körper, dann wandte sie langsam den Kopf und sah mich mit großen, viel zu tiefen Augen fremd und prüfend an.
Auf dem Weg ertönte eine feierliche, ein wenig singende Stimme, die Schritte schlürften heran, nun erkannte ich Gregor. Er stand dicht vor unserem Versteck und redete halblaut auf einen Hügel nieder, als spreche er mit dem Toten. Seine eine Hand war erhoben, leicht gespreizt hielt er sie in der Höhe seiner Stirn. Feierlich ergriffen, einfach und arm sah nun sein rauhes, unschönes Menschengesicht auf ins hereinbrechende Tageslicht, er hob auch die andere Hand und wiegte den Kopf ergriffen und hingegeben an Morgenstille, Luft und Sommerland. Er nahm einen Zweig zwischen die Hände, zog sie sacht und zärtlich darüber hin, lächelte wehmütig und selig vor unaussprechlichem Dank und legte dann die Hand aufs Herz, als müsse er es schützen. Wunschlos und verlassen, ein wenig über den Toten, stand er so da in der Gnade der Morgenhelligkeit.
Ängstlich, fast zornig blickte ich zu Dominika hinüber, aber ich erschrak so heftig vor dem Ausdruck ihres Gesichts, daß mir das verweisende Wort, das mein Herz von ihrem Unverstand hatte trennen sollen, auf den Lippen erstarb.
»Kleine«, flüsterte ich, »wie denn ...?«
Sie hatte die Hände zusammengepreßt und den Kopf vorgereckt. Ihr freches Gesichtchen, von fremdartiger Begierde entstellt, mit bang geöffnetem Mund, starrte weit offenen Blicks zu Gregor hinüber.
»Lieber Mann«, flüsterte sie machtlos, »heiliger, guter ...«
»Das ist Gregor, der alte Lehrer, gleich wird er gehen. Was ist dir, Dominika?«
Sie hörte mich nicht, sondern erhob sich langsam und willenlos, wie in einem wehen, weiträumigen Traum. Die Hände erhoben, schritt sie durch die Büsche, und ich hielt sie nicht.
Als Gregor die Zweige hörte und gleich darauf das fremde Mädchen vor sich auf dem Weg erblickte, wandte er sich ihr zu, ohne Erstaunen, voll Herzensgastlichkeit und gütig. Das Gewöhnliche und Alltägliche mochte ihn schrecken, das Wunderbare schreckte ihn nicht, denn er sah nur das ihm zugewandte Gesicht, den Blick und die Schlafgebärde von Verlangen, die mich so rührte und erschütterte, daß ich meine Hände auf den Mund preßte und am ganzen Körper erbebte.
Gregor sprach nicht, sondern gab sich ganz dem schmerzvollen Ernst, den der stumme Ruf vor ihm von ihm forderte, mit wachen, großen Zügen hob er die Arme dem Mädchen entgegen, und ich war vor Erstaunen wie erstarrt, als er zuließ, daß sie sich vor ihm auf die Knie niederließ, ohne daß er an diese Gebärde einer ekstatischen Demut auch nur den schüchternen Zweifel legte, der der Bescheidenheit seiner Natur hätte entstammen können. Träumte ich denn? Gregor legte seine Hände auf ihr Haar und um die Schläfen, zog sie geneigten Körpers langsam um die Wangen nieder und sagte:
»So sei denn nun fröhlich, recht fröhlich!«
Dominika erhob sich rasch, küßte seine Hand und schien nun plötzlich zu erwachen. Mit einem schüchternen Lächeln trat sie zurück, sah sich um und erschrak. Wie ein kleines scheues und schlaues Tier, das Witterung nimmt, suchte sie sich in der Gegend zu orientieren, erblickte den Kirchturm und verschwand im Gebüsch.
Am Nachmittag des kommenden Tages ging ich zu Gregor. Ich fand ihn schlafend auf seinem Bett, aber angekleidet, er erwachte bei meinem Eintritt und begrüßte mich herzlich, ein wenig besorgt, der Zustand, in dem ich ihn angetroffen hatte, möchte eine Kränkung für den Gast gewesen sein. Jedoch er war arglos, ohne Mißtrauen und Düsterkeit und wies mit Lächeln auf die Lichtflecke hin, die still und rötlich an der Wand lagen und den schönen Tag in seinen Wohnraum brachten. Ich weiß, daß ich ihn nicht fragte, aber unser Gespräch mag doch in kaum bewußter Forschung meiner Teilnahme auf seine Vergangenheit gebracht worden sein. Geheimnisvoll und glücklich sah er mich an, als er mit gar zu gewichtiger Würde andeutete, welche Lebensreichtümer sein vergangenes Dasein aufzuweisen habe. Er holte aus seiner Kommode eine ruppige Mappe hervor, die wie ein zerschlissenes Sofakissen aussah und mit allerhand Papieren vollgestopft war. Da ich seinen einzigen Stuhl innehatte, auf dem ich rittlings am Fenster saß, ließ er sich auf seinem Bett nieder und begann in der wirren Fülle zu blättern und zu suchen. Endlich fand er ein Bild, rückte die Brille zurecht und betrachtete es mit Abstand. Er hielt es mir hin, zog es sofort wieder zurück und verfiel in Sinnen. Ich sah die bewegte Seele in seinen unbewachten Zügen wandern.
»Dieses war Hermine«, begann er, »zuvor jedoch, denn nun werde ich Ihnen erzählen, denn ich habe Sie liebgewonnen, sind Sie doch, wenn ich mich so ausdrücken darf, zwar nicht tätig und rechtlich, kaum wohl sehr standhaft, aber sicherlich doch weiten, guten Herzens, denn man verweilt gern in Ihrer Nähe. Oft traurig, gewißlich, fast geängstigt verweilt man, aber Ihrer Kräfte dennoch froh. Die Schluchten des Leids, die schrecklichen Abgründe, Verwirrung und kranke Pein der Seele sind noch nicht Ihr Lebensteil, seltsam, jedoch ... künftig, lieber Jüngling, schütze Gott Ihr Herz! Nun, so entschuldigen Sie auch dieses denn, und gedenken Sie meiner stets nachsichtig, damit es mir gegeben sein möchte, Ihnen von meinem Glück heute einen kleinen Teil zu vermitteln, auf daß Sie sich daran, gleich mir, erfreuen und erinnern können, denn die Mitfreude ist recht erhebend, weil sie der Gemeinschaft entstammt, darin dürfen Sie mir Glauben schenken, wenn Sie es nicht schon selbst erfahren haben sollten, was immerhin im Bereich der Möglichkeit zu liegen vermöchte.
Hermine begegnete ich in der ihrer Mutter gehörigen Krämerei, in welcher ich mich damals als junger Hilfslehrer mit Brot und sonstigen Nahrungsmitteln versah, die ich in meinem Zimmer, für mich allein wohnend, verzehrte. Ich will vorausschicken, daß mich damals zum erstenmal in der Stadt das Glück erfreute, mein Amt ausüben zu können, und alles gelang mir vortrefflich und zu meiner Befriedigung, obgleich diese Anschauung merkwürdigerweise nicht von meinen Vorgesetzten geteilt wurde. Sie sahen alle zu sehr auf die rasch erkennbaren Erfolge und den geschwinden praktischen Nutzen, und mein Ungeschick, mich recht vor ihnen erklären zu können, wird der Grund zu den Mißverständnissen gewesen sein, mit denen ich sie leider betrübte. Ich vermied es mit Aufwand von Kraft, vorlaut oder gar heftig zu werden, denn in der argen Selbstsucht meiner Jugend lag mir daran, das Glück auszukosten, das mir von den Kindern kam. Will man Ruhe haben für sein Wohlbefinden in sich selbst und zugleich auch für seinen Wandel unter Menschen, so muß man, wenn ich mich so ausdrücken darf, gleichsam zwei Angesichter haben, mir hingegen ist nur eines verliehen worden, und so kam es, daß ich zum Schuldner der Menschen geworden, denen ich in meiner Einfalt nicht habe angenehm und nützlich sein können. Ihnen, mein junger Freund, ist es vom Himmel verliehen, in vielerlei Gestalt einherzugehen, ohne Ihr Herz zu verderben, aber das meine ist schwach und bedarf der Liebe auf andere Art. Oh, ich weiß dies gut, und wenn ich das Geringfügige, dessen ich mächtig bin, auch keinesfalls mißachte, so weiß ich doch stündlich und immer das Weh des Liebenden.
Als ich noch jung war, habe ich viel über den Sinn des Wegs nachgedacht und mancherlei ersonnen, sogar auch hin und wieder verzeichnet, aber nun habe ich es vergessen. Nur eines ist mir noch erinnerlich, glaubte ich doch lange Zeit, daß es der Satan sei, der die vielerlei Wege erdacht und gewichtig bezeichnet hätte, um den Weg, den einen, vergessen und unauffindbar zu machen. Satans Werk und Spuren, sagte ich mir, das sind die vielen Wege und die Straßen, je enger und zahlreicher sie werden, um so näher bist du Satans Reich. Das war sicherlich töricht, und ich habe auch späterhin nur noch selten daran gedacht, aber damals haßte ich die Städte, denn ich glaubte, in ihren zahlreichen Straßen nicht mehr zu erkennen als Wegspuren des Bösen, umstellt von Blendwerk, Verschleierung und Betörung, so daß den Menschen nichts leichter gemacht war als das Vergessen. Mir erschien es aber, als sei das Vergessen das beginnende Reich des Todes, aus dem Schatten des Vergessens klingt ganz leise dem Lauschenden der ferne Schritt des langsam herannahenden Todes und schwillt einst mächtig an, denn seine Wege sind gebahnt. Ich weiß heute, daß es auf solche Art notwendig ist, und betrübe mich nicht am Gang der Welt, nur mein Gang betrübt mich, der unsicher ist.
So denke ich heute und halte solche Erwägung für zutreffender, weil mein Gemüt darüber ruhiger ist und freier. Das wird Ihnen gewißlich bedenklich erscheinen und manchen Einwands wert, jedoch rede ich ja nur von mir und will niemandes Mahner oder gar Richter sein. Sind nicht die Kinder nur deshalb glücklich, weil sie ohne Absicht und voll Freiheit sind, wie ein offenes Haus im Frühling voll Wind und Sonne, weil sie keine Verantwortlichkeit kennen, sondern gläubig sind. Sie möchten, daß es in ihnen und um sie her hell sei, und glauben das Licht in den anderen, und wer sie deshalb selbstsüchtig nennt, der erschaut nicht, wie sie strahlen und die ganze Welt verschönen. Hast du die Augen der Menschen geprüft, die mit Seufzen sagen: Ach, ich habe die Verantwortung für diesen Menschen! Immer steht es zugleich in ihren Blicken: Ich glaube nicht an ihn. Steht aber in den Augen geschrieben: Seht, ich glaube an diesen Menschen, so wirst du zugleich darin das herzliche Verlangen spüren: Möge er mich segnen. Oft meine ich, abgewendeten Sinns und nur für mich, der Segen der Kinder ist für uns viel wertvoller als unser Segen den Kindern, denn im Grunde sind wir Alten den Jungen nicht wichtig, wie wichtig sind aber die Jungen uns, da doch alle guten Augen in die Zukunft gerichtet sind.
Wie gern wäre ich der Vater eines eigenen Kindes geworden, dies hat sich nicht begeben sollen, denn ich bin, wenn ich mich so ausdrücken darf, keines Weibes teilhaftig geworden. Das heilige Land und seine Knospe ist für meine Vorstellung eine ferne Insel, wenn ich aber daran denke, eines Menschen Mund hätte Vater zu mir sagen können, so erbebe ich kräftig, kränke mich vor Verlassenheit und bin doch geblendet in meiner Ahnung und Phantasie. Es gibt kein höheres Wort für eines Menschen Stimme, kein höheres für eines Menschen Ohr – die vielen wissen es nicht, denn sie haben, sagen und hören es, und so ist es gut. Aber die Blinden sehen fabelhafter als die Sehenden, die Tauben hören die Musik der Welt in verstärkter Wahrnehmungskraft, und die Lahmen sind es, die die ganze Welt umwandern. Aber nun rede ich als der Tor, der ich bin, und wollte Ihnen doch nur von Hermine erzählen, die ich so sehr liebe.
Aber da diese Liebe mich das wenige hat erkennen lassen, das mich beschäftigt, so vermag ich sie nicht von den erschauten Gütern zu trennen, die mich erfreuen, immer irre ich in ihre Helligkeit ab, die die vernehmbaren Laute und sichtbaren Gestalten enthebt, und doch macht nur sie deutlich. Wer seine Augen nach innen richtet, der sieht des Menschen Gesicht und wird ihm gnädig sein.
Das vermochte ich nun wohl von Hermine keinesfalls mit Unrecht zu fordern, aber ich Begieriger suchte trotzdem bei ihr danach, statt ihr zu dienen. So machte ich sie damals denn unsicher und ängstlich, so daß die Befürchtung in ihr wachgerufen wurde, ich möchte sie mit meinem sonderbaren Gehabe peinigen und Einstellungen von ihr fordern, deren sie nicht fähig war, denn sie war gut und natürlich, aber ich war verwirrt, beladen mit vielerlei närrischem Gedankengut, unbeständig, voll Widersinn und ein rechter Hitzkopf, wenn ich es auch nicht zeigte, sondern still für mich blieb. Aber da ich viel schwieg, entwand sich mir zuweilen ein gequälter Ausruf, auch wohl ein unbedachter Jubel, von denen beiden für andere schwer erkennbar gewesen sein mag, welchen Ursprungs sie waren und was sie eigentlich bedeuteten. Aber ich will von vorne an erzählen und Ihnen Hermine auch beschreiben, damit Sie sie besser sehen können und alles Ihnen verständlich wird.
Es begann damit, daß Hermine im Laden gewahr wurde, daß ich mich hin und wieder genötigt sah, das zu Erstehende auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken, weil meine Einkünfte gering waren und trotz meiner Vorsicht leicht für wichtigere Dinge Verwendung fanden, als es Nahrungsmittel sind. Ich erkannte nach einer Weile, daß die betreffende Ware, mag es nun Käse, ein Fischlein oder auch Brot gewesen sein, sich über meiner geringeren Aufwendung an Geld keinesfalls verkleinerte, ja, im Gegenteil an äußerlichem Umfang erkennbar zunahm. Ich wurde in erster Linie durch ihr Lächeln aufmerksam, das von einer sonnigen Freundlichkeit war, auch reichte sie mir häufig meinen Bedarf schon über den Ladentisch, bevor ich eine zahlenmäßige Bestimmung über seinen Umfang getroffen hatte. Dies begann mich zu beschämen, aber ich schwieg, keinesfalls allein meines recht ansehnlichen Hungers wegen, sondern um nicht durch ein voreiliges Wort ihr Lächeln einzubüßen, denn ich bemerkte bald, daß ich weit mehr von diesem Lächeln lebte als vom Inhalt der Päckchen, die ich unbesehen annahm. Endlich aber bedrückte ihre Güte mich, und ich beschloß, ihr ein Wort des Dankes zukommen zu lassen, denn weil in der Regel der kleine Laden von Menschen überfüllt war, hatte sich mir bisher keinerlei Gelegenheit geboten. So entschloß ich mich, einen Vers herzustellen, wozu es mich häufig und auch bei anderer Gelegenheit drängte. Diesen Dankesvers, der, wie ich offen zugestehe, mit einem ihre Persönlichkeit betreffenden Lob keinesfalls geizte, schrieb ich auf ein sauberes Zettelchen, in das ich die gewohnte Geldsumme wickelte, die ich zuvor, um alles wahrscheinlich zu machen, in kleine Münze umgewechselt hatte. Den ersten Vers habe ich sogar noch im Gedächtnis, ist es doch das einzige Gedicht gewesen, das von fremden Augen gelesen wurde. Er lautete folgendermaßen:
Warum gibst Du mir reichlich, freundlich und mild,
Hab' ich doch wenig, Dir Deine Gunst zu vergelten.
Aber ich bitte Dich, nicht solche Leere zu schelten,
Die sich nur angefüllt mit Deinem gewinnenden Bild.
Obgleich es damals im Laden schon dämmrig war, glaubte ich doch zu erkennen, daß sie errötete, als sie die ungewohnte Art wahrnahm, in der ich das Geld verwahrt hatte. Aber der Zufall wollte es, daß ihre Mutter, die gleichfalls hinter dem Ladentisch die Kunden bediente, mir näher stand und mein mit dem Versblatt umwickeltes Geld ergriff, als ich es über den Tisch reichte. Keinesfalls etwa aus Mißtrauen oder verwerflicher Neugier, sondern lediglich, um den Vorgang der Zahlung aus Zeitmangel zu beschleunigen. Auch bückte Hermine sich just in diesem Augenblick nieder, um einem Tönnchen einen Hering zu entnehmen, der für ein Arbeiterkind bestimmt war, aber ich sah doch noch ihr glückliches Lachen, offenbar ahnte sie, daß ich nun endlich Erkenntlichkeit zeigte, vielleicht auch, daß mein unsicheres Verhalten mich verraten hatte, denn ich zitterte heftig vor innerer Erregung.
Die Folgen dieser Verwechslung waren für mich unabsehbar, und meine Besorgnisse steigerten sich auf dem Heimweg aufs höchste, den ich, obgleich er kurz war, in großer Eile zurücklegte, so daß ich das Päckchen in meiner Hand zerdrückte. Darüber, daß es zu triefen begann, kam ich zu mir, öffnete es unterwegs, aber ohne eigentlich recht zu wissen, was ich tat, völlig in Gedanken versunken. Es waren zwei Eier gewesen, eine Gurke und ein Stück Brot, alles war jedoch noch im Zustande der Genießbarkeit. Aber selbst im schlimmsten Fall der Zerstörung hätte es mich an diesem Abend nicht schmerzlich betroffen, da ich ohnehin nicht in der Lage gewesen wäre, irgendwelche Nahrung aufzunehmen.
Ich fand tags darauf und in der Zeitfolge nicht mehr den Mut, den gewohnten Laden aufzusuchen, und hielt betrübten Sinns nach einem anderen Geschäft Umschau. Dort nahm man mich unfreundlich auf, und ich empfand nun zum ersten Mal, daß mir Herminens Lächeln fehlte. Darüber erlebte ich, wie deutlich sie meiner Seele war, wie ihr Wesen mich beschäftigt hatte und daß die Freude meines Tags mein Weg zu ihr gewesen war. Ich sage es Ihnen: Dies ist der Wendepunkt meines Daseins gewesen, die Stunde, in der mein Leben, dieses herrliche Leben, anbrach, in der ich aufgenommen worden bin, denn ich erkannte, daß ich sie liebte. Da wollte ich es auch mit meinem ganzen Willen und Wesen, tief erbebend vor Not, um meiner Schwäche willen, zitternd vor Angst, es möchte von diesem warmen Licht in mir auch nur ein Fünklein verderben, ich möchte ein unwürdiger Herd sein, zu leicht befunden für dies heilige Gottesmaß und edle Gewicht. Ich grämte mich in meinem Glück, litt Leiden, die ich nicht benennen kann, und war doch ganz in Erleuchtung gestellt, und was ich sah und berührte, glänzte. Ich schlief ein, als löste mich ein lieblicher Taumel zu einer immerwährenden Beseligung auf, und erwachte so froh, als riefe mich der Morgenschein bei Namen. Von allem in der Welt war ich gemeint, und alles hätte ich allen opfern mögen. Ich war so leicht und haltlos wie ein Klang, der vorüberfährt, dessen Beginn und Ende niemand erforscht, und war doch gefestigt in Gott, dem Herrn.
Im Schlaf erblickte ich häufig die Reihe von größeren Gläsern, die mit billigen Süßigkeiten gefüllt waren, wie sie in der Hauptsache von Kindern begehrt und eingekauft werden, und in die ich Herminens Hand bisweilen hatte greifen sehen, um einem Kleinen vollzählig die erstandenen Leckereien darzureichen. Manche klirrten lose im Glas und rollten ihr durch die Finger, andere dagegen mußten mit einem stoßenden Messer gelöst werden. Immer aber begleitete Hermine das Dargereichte mit freundlichem Blick, durch den ihre Teilnahme am Empfinden der Kinder offenkundig wurde, und bis heute bin ich nicht in der Lage, anders als mit herzergreifender Zärtlichkeit auf solche Süßigkeiten zu sehen, wenn irgend mir welche zu Gesichte kommen. Ich reiche sie zuweilen Kindern, denn mir ist dabei, als zauberte ich damit das Lächeln dieses schönen Mädchens wieder in die an Freude karge Welt.
Und dieses Lächeln hat einst auch mir gegolten! Mögen Sie es mir glauben, guter Freund, oder nicht, aber weshalb sollten Sie mir nicht Glauben schenken, da ich doch bemüht bin, wahrhaftig zu sein und getreulich zu berichten. Auch liegt es mir fern, mich mit Liebesgunst zu schmücken nach jener Art jener Armen, die nur von dem zu leben vermögen, was andere über sie denken.
Zuweilen des Abends, dicht vor dem Zeitpunkt, an welchem für gewöhnlich der Laden geschlossen wurde, schlich ich mich an die Glastür und versuchte, zwischen den Schildern und Tafeln hindurch Hermine zu erspähen, aber ich wagte mich nicht mehr in den Laden hinein, da ich keine Möglichkeit auszudenken vermochte, wie ich vor ihr hätte bestehen können. Das Herz wurde ratlos, Angst und fremdartiges, jedoch schmerzhaftes Verlangen bedrückten mich heftig, und ich verzagte, obgleich ich gesegnet war. Da, an einem Sonntagmorgen, öffnete ich unversehens und in einer gewissen fröhlichen Heftigkeit die Tür meiner Kammer, als ich noch nicht völlig bekleidet das Morgengetränk auf dem Fensterbrett bereitete. Am Fensterkreuz hing ein kleiner Spiegel, in dem erblickte ich zuerst etwas Helles, rosa Gefärbtes, als ob ein großer blühender Apfelzweig hinter mir in die Kammer getragen würde. Ich wandte mich um und erkannte Hermine.
Es ist freilich nicht ganz richtig, daß ich sie gleich erkannte, wie wohl vorausgesetzt werden darf, daß einstmals Moses im brennenden Busch Gottes nicht ansichtig wurde, sondern nur der allgegenwärtigen Gewalt des Lebendigen in einer geradezu blendenden Bewegung. Auch war sie sonderbar verändert, denn sie war sonntäglich gekleidet und aufs vornehmste geschmückt, wie eine Dame der großen Gesellschaft, deren zweispänniger Wagen auf der Straße wartet. Dies verwirrte mich völlig, da das einfache liebe Bild des Alltags mir vertraut war und sich nicht verdrängen lassen wollte aus meinem Sinn. Sie trug zierlich, ein wenig erhoben, einen hellen Sonnenschirm in der Hand, und ich erblickte weiße Strümpfe und ungemein artige Schuhe, so klein wie Spielzeug, in denen sie dastand, als ob sie schwebte.
Wie sollte ich alles auf einmal zu fassen suchen und mich und die Lage beherrschen? Es gelang mir keinesfalls, klang doch drohend und allgewaltig, tief aus verhangenen Lebensgründen in mir, wie Glockenläuten, immer nur das eine: Sie ist gekommen, sie ist gekommen! Hätte ich dies nur zu einer glaubbaren Gewißheit zu bewältigen gewußt, so würde ich mich auch gewißlich in das Gegenwärtige zu finden vermocht haben, aber so war ich verloren und über die Maßen bedrängt und erfreut. Ich suchte nach meinem Rock, der einerseits meines schadhaften Hemdes wegen, andrerseits natürlich auch überhaupt erforderlich war, stieß dabei etwas um, hob es rasch auf und kam erst durch ihr fröhliches Lachen wieder ein wenig zu mir. Ich sah ein, daß ich meinen Plan mit dem Rock aufgeben mußte, denn er hing, wie mir nun einfiel, an der Tür, und ich hätte an Hermine vorüber müssen, um seiner habhaft zu werden, dies aber war unangänglich, weil das Zimmer zu schmal war. Ihr gutes Herz aber nun, das gab ihr das rechte Wort ein, mir zu helfen, sie sagte:
›Ich habe mir erlauben wollen, einmal nach Ihnen zu schauen, Herr Gregor, wenn Sie gestatten, nehme ich ein Weilchen Platz.‹
Sie prüfte zuerst den Stuhl, ob er sauber wäre, wischte rasch mit ihrem Tuch darüber und setzte sich dann. So ließ auch ich mich am Bettrand nieder und sah sie freundlich an, so ruhig, als ich vermochte.
›Warum sind Sie nicht mehr zu uns gekommen?‹ fragte sie. ›Wir haben Sie recht vermißt, auch Mama ist entfremdet.‹
Mir war, als müßte ich in ihrer Hand nach dem Päckchen suchen, das sonst ihre Gabe gewesen war, aber ihre Hand trug einen weißen Handschuh und erschien mir wie eine Totenhand.
Da sah ich ein, daß bei mir die Schuld lag, und raffte mich mächtig auf, alles klar und gut zu sagen.
›Entschuldigen Sie ...‹, begann ich mit großem Mut, aber er versagte in mir, und ich schwieg nach diesen Worten.
›Gewiß, Herr Gregor‹, sagte sie, ›wenn Sie nur einmal wieder kommen möchten, kommen Sie getrost. Wenn Sie glauben, Ihr schönes Gedicht hätte Ihnen geschadet, so sind Sie im Irrtum, niemand hat es Ihnen verdacht. Man weiß doch, wie so was gemeint ist.‹
Sie sah sich ungewiß um, als suchte sie einen Dritten im Zimmer, ihr Lächeln tat mir weh.
›Jeder nach seiner Art‹, fuhr sie fort, ›wer auf den studierten Mann hin arbeitet, drückt sich anders aus als ein Handwerker oder Kaufmann, und trotz allem bemerkt man die Bildung doch bei Ihnen, wenigstens ich.‹
›Kennen andere Leute das Gedicht?‹ fragte ich.
›Alle finden es sehr schön‹, sagte sie, lächelte und wurde dann schnell ernst.
Ich erkannte nun, wie sie zusehends mehr und mehr ihr Herz verschüttete, und rief, recht schmerzlich bewegt:
›Hermine, liebe Hermine!‹
Einen Augenblick lag in ihrem Gesicht der Widerschein einer Freude, still und feierlich, aber dann gewann sie Gewalt über sich und sagte mit gesenktem Blick:
›Aber gewiß, Herr Gregor, natürlich ...‹
Ich weiß nicht, wie ich es verstand, aber meine gewohnte Kraft verließ mich völlig, und eine andere wurde in mir mächtig. Ich wollte kein Pfand von ihr, auch nicht, daß sie sich etwas vergab, etwas gestand. Ich kniete hin und hätte gern meinen Kopf auf ihre Knie gelegt oder meine Arme um sie geschlungen, aber ich fürchtete mich vor der Helligkeit in meiner Brust und glaubte, sie würde verlöschen, wenn ich Hermine anrührte. So kniete ich denn gebeugt, kniete vor meiner großen Liebe und dachte nur: So geschehe denn, was geschehen muß.
Da legte Hermine ihre Hände auf mein Haar und sagte mit einer ganz anderen Stimme:
›Ich bin ja gar kein guter Mensch, Herr Gregor.‹
Darüber war nun doch durch den Druck ihrer Hände meine Stirn auf ihre Knie geraten, sie lag dort hart und warm unter ihrem wohltätigen Wort. Ob wohl ein Mensch einmal so glücklich gewesen ist wie ich in dieser großen Stunde? Wie sollte ich mich vermessen, nach Worten zu suchen, um Ihnen mein Glück darzutun!
›Stehen Sie doch bitte auf‹, sagte Hermine dann, und ihre Stimme hatte wieder den gewohnten Klang, wenn auch deutlich ein wenig befangen, und sie lachte auch unsicher vor sich hin, ihr Ausdruck war voll Lieblichkeit, und selbst der kleine Zorn, der irgendwo wie eine Ungehaltenheit erkennbar war, verletzte mich nicht, denn ich verstand ihn.
›Also Sie kommen wieder zu uns?‹ fragte sie plötzlich, und ich sah, daß sie aufbrach und ihrem Besuch jetzt ein Ende bereiten wollte, denn sie strich an ihrem Kleid herunter und ergriff den Sonnenschirm. Ich sagte ihr mein Kommen mit einem Kopfnicken zu, weil ich nicht in der Lage war zu sprechen. Sicherlich hätte sie gern ein Wort über ihr Kleid oder über ihre Schuhe gehört, wie es denn Mädchenart ist, über solch kleinen Freundlichkeiten auf gutes Wohlwollen zu schließen, aber ich vergaß das alles, und sicherlich wußte sie weshalb und verzieh mir mein Versäumnis. Liebte ich sie doch weit mehr als sie mich, wie sollte mir da nicht vergeben werden, was ich über meiner Liebe an kleinerer Gunstbezeigung und Geschicklichkeit versäumte. Vielleicht wußte sie das nicht, aber sie fühlte es, und so war es gut. Wie töricht sind doch die Männer, die fordern, ein Weib möge, was sie fühlt, auch wissen, wie gering muß ihre Kraft sein und wie groß ihre Eitelkeit.
Nein, Hermine hat ihre Liebe nie recht gewußt, aber ihre Liebe zeigte sich mir, und ich dankte Gott. Als ich am Tage darauf wieder in den Laden trat, reichte sie mir gleich die Hand, und ihre Mutter lächelte mir zu. Wir verabredeten einen Abendspaziergang auf die Felder hinaus, von denen wir am Ende der Stadt nicht weit waren, und machten ihn, als es fast schon dunkel war, aber nur kurze Zeit. Da sprachen wir denn über dies und das und erzählten einander unsere Verhältnisse, aber von unserer Liebe sprachen wir nicht und gingen nebeneinander dahin wie Geschwister. Sie wollte auch nicht, daß ich sie bis an ihre Haustür brachte, sondern verabschiedete sich schon vorher, und ich ging kleinmütig und traurig heim und grämte mich, denn ich hatte ein Gefühl von großer Unzulänglichkeit.
Als ich sie dann nach einigen Tagen wieder für kurze Zeit in meiner Gesellschaft hatte, ganz unter uns, glaubte ich ihr mein Verhalten erklären zu müssen, aber ich tat es übereilt und äußerst ungeschickt, so daß ich sie und mich verwirrte. Sie sah entfremdet auf mich, mit scheuen Seitenblicken und kämpfte sichtlich mit ihrer Bewegung, die sich übrigens bei ihr auf verschiedene Art zeigte. Allmählich wurde sie aber doch etwas kühner und fragte mich sogar dies und das, aber nicht eben vertrauensvoll; ich sah, daß sie meine Antworten sorgfältig und in unfreier Nachdenklichkeit nach mancherlei Seiten hin erwog.
Daß mein Herz nicht mehr durch diese Hüllen zu brechen vermochte, wie arm und angstvoll sind doch wir Menschen. Aber vielleicht war es auch etwas ganz anderes bei mir; soll Gott entscheiden! Am nächsten Sonntag fand Hermine sich unerwartet abermals bei mir ein, aber diesmal kam sie zu meiner Überraschung mit einer Freundin, die Berthe hieß. Dies war ein rotwangiges und derbes Mädchen mit raschen, sicheren Bewegungen und lebhaften braunen Augen. Sie musterte alles auffällig rasch, aber fast noch schneller wußte sie, was sie davon zu halten hatte. Ihr Lächeln war unsicher, aber stetig vorhanden, und sie behandelte mich mit Vorsicht und Mitleid. Ich sah Hermine an, da sagte sie zu ihr:
›Laß uns doch vielleicht eine Weile allein, Berthe.‹
Aber ihre Freundin ging nicht darauf ein, sondern antwortete heiter:
›Aber wozu denn jetzt auf einmal, vor mir braucht ihr euch nicht zu genieren.‹
Ich war höflich und zuvorkommend, riet auch eifrig von einem voreiligen Aufbruch der Freundin ab, denn eine Freundin war es, Hermine hatte es bei ihrem Eintritt gesagt. Aber während meiner Worte geschah mir das arge und bedrängte Mißgeschick, daß mir das Wasser in die Augen trat, so heftig ich diesen Vorgang auch mit aller Macht bekämpfte.
Die beiden Mädchen kamen in Verlegenheit, was Wunder! Ich wandte mich zum Fenster und hörte, wie sie flüsterten, auch vernahm ich unterdrücktes Kichern, aber Hermine war es nicht, die lachte. Ich werde ihr nie vergessen, daß sie kein Wort des Mitleids oder des Trostes sagte, sie gab mich nicht preis, obgleich sie mich sicherlich nicht verstand und die Ursache meines Kummers nicht wußte, erkannte doch ich selbst sie nur in einer verworrenen Ahnung.
›Aber Herr Gregor‹, sagte sie, ›Sie haben sicher eine schlechte Nachricht erhalten oder wieder Verdruß in der Schule gehabt. Da wollen wir lieber am Nachmittag kommen.‹ Dabei trat sie dicht an mich heran und sagte leise über meine Schulter: ›Ich komme allein.‹
Darauf gingen die beiden Mädchen mit viel Geräusch und Worten untereinander hinaus. Ich glaube, daß ich nach ihrer letzten Anrede ihre Hand ergriffen und heftig gedrückt habe, daß sie mir aber die ihre rasch und ungehalten entzog. Es kann aber auch sein, daß ich es nur gewollt habe und daß beides nicht geschehen, sondern nur in meiner Phantasie entstanden ist und fortlebt, dem Verlangen entsprechend, das ich im Herzen barg, und dem Verhalten entsprechend, zu dem ich das arg beschämte Mädchen zwang.
Als die Tür sich geschlossen hatte, hörte ich nur noch ihr letztes Wort.
Sie kam am Nachmittag nicht und nie mehr. Ich verbrachte den Sonntag wartend in meinem Zimmer, sah den Abend sinken, wie sich der Himmel färbte und die Schwalben über die Dächer dahinflogen. Langsam wurde es draußen stiller, und die Dämmerung sank, es war im Sommer. Ich schlief am Fenster ein, und im Traum lichtete sich mein Gemüt auf, obgleich ich nichts träumte, das schön oder trostreich war. Ich sah wie auf einem Bild eine Landschaft von großer Weite, eine unabsehbare Ebene, durch die sich ein Weg dahinzog, der nach vielerlei Schlingungen weit entfernt verlief. Noch heute vermag ich nicht zu bekunden, weshalb dieser Anblick auf mich wohltätig wirkte, auch drängt es mich nicht, es zu erforschen. Als ich in der Nacht von der Kühle erwachte, war ich gefaßt, nichts schreckte und ängstigte mich. Ich ordnete noch die Schulhefte für den kommenden Montag, aß Brot und schlief ruhig ein.«
Mit diesen Worten schloß Gregor die Geschichte seiner Liebe und schwieg lange. Ich merkte ihm an, wie es ihn Mühe kostete, sich aus dieser Welt der Erinnerung und ihrer inneren Gestaltenfülle wieder in die Stunde des gegenwärtigen Tages zu finden, er war befangen, erweckte den Anschein, als habe er sich schuldig gemacht, und ergrimmte erkennbar, wie es wahrhaftig guten Menschen ergeht, wenn sie die tiefe Quelle ihre Gemüts im Staub der wiedereinbrechenden Alltäglichkeit versickern sehen. Ich merkte es besonders am anderen Tag, daß Gregor an der zurückliegenden Offenheit litt wie auch an seiner Sorge, er möchte mir ein ungerechtes Bild entworfen haben. Er kam aber auf dem gemeinsamen Weg, den wir in nun schon gewohnter Weise zur Wassermühle machten, nicht mehr auf seine Erzählung zurück. Als ich ihn nach einer Weile offen fragte, ob es in meiner Macht stünde, ihn zu erfreuen, und ob ein Leid ihn bedrückte, stand er auf dem Weg still, seufzte tief auf, hob die herabhängenden Hände beide mit einer schöpfenden und bergenden Gebärde an die Brust, an die er sie preßte, und schaute in die Weite, vergessend, daß ein Mensch ihn hörte und sah.
Ein paar Tage darauf, als ich Gregor in seinem Zimmer nicht antraf, legte ich die Blätter hin und her, aus der alten Mappe, die ich schon kannte und die seine spärlichen Aufzeichnungen, Verse und Bilder, die Beschreibung einer kleinen, in der Jugend unternommenen Reise und ein Verzeichnis seiner Büchersammlung enthielt. Er erlaubte es mir einmal bereitwillig: »Ist doch dieses alles nur«, hatte er mir gesagt, als ich ihn darum bat, »ein Abfall.«
Ich konnte mich eines Lächelns nicht erwehren, als ich, zugleich mit tiefer Ergriffenheit, die Verse las:
Es wuschen meine Tränen
das Herz mir arm und rein.
Da konnte ich die Vögel verstehen,
das Pferd, die Kuh und das Schwein.
Ich sah das Licht wie nie!
Die Bäume und die Tauben
und alles andere Vieh,
und konnte wieder glauben.
Es folgten mancherlei abgebrochene Aufzeichnungen, deren Sinn mir unverständlich blieb, kurze Bemerkungen, die mit vielen Ausrufungszeichen versehen waren, und sonderbare Zeichnungen, wie man sie bisweilen mit dem Stock in den Sand malt, ohne auf den Gang der Linien zu achten. Als ich den Namen Hermine über einem Gedicht fand, das »Traum« betitelt war, las ich:
Neben Gott stand Hermine
und sagte, sie habe gewartet.
Ihre liebe, treue Hand
kam von meiner Mutter Scheitel.
Ich war nicht mehr unzulänglich!
O Gott, mein Gott du, wie lichtvoll!
Nichts als das Herz wollte sie,
das ich längst gegeben habe.
Ich zögerte, die Blätter weiter zu wenden, meine Hand bebte, als ich das Zettelchen zur Seite legte, auf dem diese Worte standen, aber mein Verlangen nach des Menschen Leid- und Glücksgestalt war zu groß wie auch meine Hoffnung, an dem Licht teilzunehmen, das durch diese Seele strömte, dieser Seele kaum bewußt. Mir war, als befände ich mich auf dem verwachsenen und vergessenen Weg nach einem letzten Wunder der geheimnisvollen Kräfte, die in diesem Schwachen mächtig waren, aber ich entdeckte lange Zeit nur Sonderbarkeiten und absurden Gedankentand ohne Sinn. Hin und wieder stieß ich auch auf Bruchstücke aus der Geisteswelt anderer, jedesmal sorgfältig mit dem Namen ihres Verfassers unterzeichnet und nicht selten mit einem Lob versehen. Ein kleines, scheinbar aus einer Zeitung ausgeschnittenes Gedicht war mit roter Tinte korrigiert und zum Schluß getadelt. Dann kamen wieder eigene Gedichte, eines hieß »Nah dich fröhlich«, das andere war »Schlüssel verloren« betitelt, ein drittes: »Kinderschuhe«. Aber nun stockte mir der flüchtig suchende Blick, als ich las:
Alle sind undeutlich geblieben,
aber du bist mir deutlich geworden.
Wie denn die Liebe deutlich macht
und sonst nichts. Du liebe deutliche Seele!
Ich sehe mich um und erkenne,
daß ich verlassen bin, nach den Merkmalen der Erde.
Aber in aller Helligkeit regt sich das Wesen
der Liebesgestalt, die ewige Wiederkehr.
Endlich fand ich an dem Rand eines Bildchens, das schlecht dargestellt etwas sehr Nichtiges wiedergab, ich glaube, es war eine Landschaft oder die Reproduktion eines alten Stadtbildes, die Zeilen:
Verfallen Angesicht, so lieb einst mir gewesen,
nun lieber noch, da dich die Kraft verließ ...
Die Worte zogen anfänglich ohne Widerhall in mir ein, sie waren offenkundig in keinerlei Zusammenhang mit der Darbietung des vergilbten Bildblattes, denn die Zeilen liefen schräg in das Dargestellte hinein, achtlos mit Bleistift verzeichnet. Aber ich behielt sie im Gedächtnis, und sie begannen Wurzel in mir zu schlagen und langsam zu blühen. Und eines Tages, als ein wärmender Lebenssonnenstrahl auf diese Blüten sank, brachen sie auf, und ich sah die Welt in neuem Licht, wie es uns im Frühling zu ergehen vermag, wenn unsere Augen sich in den geöffneten Kelch einer Wiesenblume wagen, unter dem Lerchenlied. Dann erfaßt das froh erschrockene Herz Wandel und Wiederkehr im Glanz einer versöhnenden Erinnerung als Einheit des Seins, und mitten im Zeitrauschen werden für einen hellen Augenblick Gegenwart und Unendlichkeit eins, Wiege und Sarg. Ich erlebte diese Verse, als hätte ich sie lange schon gekannt und immer wieder zu wissen begehrt, denn ich hörte Asjas Stimme: »Vergiß nie, daß wir der Liebe am nächsten sind, je hilfloser wir sind.«
So begleiteten sie mich lange, um mich nicht mehr zu verlassen, und bekräftigten eine Gewißheit in mir, die für mein Leben bestimmend geworden ist. Ich erlebte damals zuerst das Wunder der Bildung eines menschlichen Gemüts in Empfängnis, Wachstum und Wiedergeburt und erkannte, daß wir im Grunde nichts aufzunehmen vermögen, was wir nicht zu werden bestimmt sind, und daß sich in uns eine eigene Welt heranzubilden trachtet, im Weben aller Welt. Ihrer teilhaftig zu werden im Bewußtsein erschien mir die Aufgabe und der Sinn des Lebens.
Ich beschloß damals, hierüber zu schweigen und die Erwartung als hohes Tun zu ehren und einst niemals anders über diese Dinge zu anderen zu reden als nur so, wie es mich selbst in die Landschaften einer ungetrübten Erinnerung zurückführte. Ein heißer Strom des Verlangens wie nach nie endender Einsamkeit erfaßte mich, denn ich wußte noch nicht, daß alle edle Einsamkeit nur das Menschenheimweh nach echter Gemeinschaft kundtut. Ich will allein sein, um mich für eine hohe Gemeinschaft zu rüsten, alle andere Einsamkeit ist Verlorenheit, Trauer und Niedergang.
Unter solchen Empfindungen mag der Entschluß in mir gereift sein, davonzuziehen. Aber wer vermag die Entschlüsse recht zu begründen, die sich oft in der Jugend wie eine gewalttätige Mahnung in uns aufrichten? Ich muß wohl Andeutungen dieser Art bei Frau Elisabeth gemacht haben, vielleicht auch nur, daß ich in letzter Zeit wenig gesprochen hatte. Sie erfühlte meine innere Abgewandtheit, den Blick in die Weite, und eines Nachmittags, als ich sie allein im Garten bei der Arbeit traf, sagte sie zu mir, als wollte sie mir helfen:
»Sie werden es leicht und schwer haben wie wenige und an Abgründen vorüber müssen, an deren Rand es vielleicht heller ist als im Tal. Wir dagegen hier in unserem Dorf ...« Sie brach ab und hob den Blick voll zu mir auf, dann sagte sie: »Auch du bist Gregor begegnet.«
Ihr erstes »Du« klang wie »Lebe wohl«. So mußte es wohl sein, du schönes, einfaches Herz. Du wußtest, daß es nicht gut ist, einander lange Zeit nahe zu sein ohne eine vollkommene Gemeinschaft. Die Menschen wissen es nicht, sie sind für die Nähe zu arm und für die Trennung zu schwach und verdunkeln einander aus mißkannter und ungeduldiger Sehnsucht den Glauben, der im Blick auf die Sterne wächst, aber im Blick auf die Schuhe im Staub erstickt.
»Und Gregor?« fragte ich.
»Ich verlasse diesen Ort nicht«, antwortete sie, »bis meine Hände seine Augen zugedrückt haben, ich lege das letzte Tuch um seinen Leib. Sieh«, fuhr sie fort und lächelte wie in Beschämung über den hochgestimmten Aufwand ihrer Worte, »es ist gut für uns, wenn wir solch einen Entschluß im Herzen tragen, aber alle Liebeslast erleichtert ..., ich kann es nicht erklären, aber du wirst schon verstehen.«
Sonderbar, daß sie sich nicht vom Boden erhob, sie fühlte doch, daß dies unser Abschied war, aber sie erhob sich nicht von der Erde.
»Ja«, begann sie wieder, »auch du bist Gregor begegnet, wer ihn gesehen hat, weiß, daß es einen Weg in die Freiheit gibt. Auch für diejenigen, welche diesen Weg nicht finden, ist es beglückend, es zu wissen. Geht ihn nur einer wie Gregor, so ist schon vieles gut.«
»Nein«, sagte ich, »so ist es nicht.«
Sie sah erstaunt in liebevoller Forschung der Augen auf, senkte dann aber langsam den Blick auf das Erdreich und auf ihre Hände. Erst nach einer Weile hob sie die guten Augen wieder zu mir und fragte zögernd:
»Glaubst du denn, alle müßten diesen Weg gehen?«
»Nein«, sagte ich, »aber ich.«
Ihr Blick wanderte über mich hin in die Weite.
»Ja«, antwortete sie, »nicht die anderen, sondern ich, das ist das Geheimnis.«
Ich nahm, schon abgewandt, ihre Hand, ich habe die meine hingehalten und gewartet, bis sie die ihre gab. Ein Bröcklein Erde blieb an meiner Hand zurück, und ich dachte: Dies Bröcklein Erde möchte ich nicht mehr von meiner Hand wischen.
Am anderen Morgen sagte ich zu Gregor:
»Ich will nun fort und weiter, ich folge einem Ruf, zu dem ich den Weg nicht kenne, aber ich höre den Ruf in der Ferne deutlich und will gehorsam sein.«
Seine erschrockenen Augen suchten zu fassen, was ich sagte, aber wie es so seine Art war, unterdrückte er seinen Kummer rasch und ungeschickt.
»Freilich«, rief er, »nun freilich! Dachte ich es mir doch, da du den Ranzen bei dir trägst und wohlgerüstet daherkommst und jung und munter, so daß man erfreut wird, recht erfreut. Ja, es ist ein Ding um die schöne Ferne. Ich werde dich ein Stück Wegs begleiten, bis zur Wassermühle, auch darüber hinaus, wenn du möchtest, du sollst es bestimmen.«
So schritten wir miteinander durch den Sommermorgen und schwiegen beide. Aus den Fenstern des Schulhauses, die offenstanden, klang greller Kindergesang, die Geige des Lehrers trieb die Stimmen vor sich her wie eine wimmernde, ungeduldige Herde.
»Da singen sie denn nun lieblich ...«, sagte Gregor.
Ich meine endlich unsere Bedrücktheit ein wenig zu verscheuchen für diese letzte Weile, indem ich dies und jenes erzählte, aber mein Begleiter unterbrach mich freundlich:
»So sprich denn nicht.«
Er schritt tapfer und ungelenk dahin, immer die Füße ein wenig nach außen, wie es seine Art war, und wandte den Kopf bald nach rechts, bald nach links, als sei die Gegend ihm neu oder heute besonders beachtenswert, der Mohn im Korn oder der Huflattich in den Gräben.
»Auch nicht minder ...«, begann er plötzlich, verwarf aber seine Gedanken und lächelte versagend. Als wir bei der Mühle angelangt waren, die im vollen Sonnenschein lag, so daß das Bachwasser auf dem Rad glitzerte, machte ich halt, denn ich konnte meinen Kummer nicht mehr ertragen.
»Leb wohl«, sagte ich, »sei glücklich und gedenke meiner.«
Das kam ganz stark und froh heraus.
»Wahrlich«, antwortete er und stand hochaufgerichtet mitten auf der Landstraße, »das wollen wir einander wünschen, da es nun zu scheiden gilt. Auch will mich bedünken, daß auf diesen Abschied sich kaum ein Wiedersehen wird ermöglichen lassen. Aber das Glück nun ist allhier, wenn ich mich so ausdrücken darf, immer nur ein Zwischenfall, zuletzt ist es wie anfänglich, voll schmerzlicher Erwartung. Wer wird nach unserem Herzen dann noch fragen? Da ist es dann freilich gut, man hat es zuvor dem Bruder ganz dahingegeben.«
Ich wandte mich ab und ging davon. Wohl nahm ich mir vor, ihn einst wiederzusehen, aber Menschen, Zeit und Tod kamen dazwischen, und ich habe ihn nicht mehr erreicht.