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Zweites Kapitel.
Das Meer

Nach Asjas Tod vermochte ich mein Leben auf der Landstraße nicht zu ertragen, mir war, als schleppte ich auf Schritt und Tritt eine Last mit mir herum, die zu schwer drückte. Dabei empfand ich weder Trauer noch Schmerz, sondern nur Verlassenheit, und die Tage flossen mir in einem Gleichmut herum, der mich ängstigte. Ich kann nicht wahrhaft traurig werden, dachte ich. Dann wieder fürchtete ich, der Verlust dieses Menschen habe etwas für alle Zeit in mir zerstört, meine Ruhelosigkeit war furchtbar und verfolgte mich bis in den Schlaf, der nicht mehr tief und dunkel war wie einst, sondern voll nebelhaften Lichts und ohne Versunkenheit. In ihm erlitt ich zuweilen eine gegenstandslose Traurigkeit von solcher Inbrunst, daß ich durch mein Schluchzen geweckt wurde und zornig im Erwachen eine Gestalt zu erhaschen trachtete, die ich nicht gesehen hatte. Ich besann mich mühsam und war bekümmert, diese Traurigkeit verloren zu haben, die mir in meiner Traumerinnerung wie ein unirdischer Reichtum vorkam.

Den Vögeln, den Blumen, den Bäumen sagte ich oft: Ich kenne euch alle längst. Menschen mied ich; gesellte sich mir hier und da auf der Wanderschaft einer zu, so vertrieb ich ihn durch meine Schweigsamkeit, denn da ich nicht alles zu sagen vermochte, sagte ich nichts. Nur eines Mädchens entsinne ich mich aus dieser Zeit noch, zwar habe ich auch mit ihr nur ein paar Worte gewechselt, aber ich kann sie nicht vergessen, und immer, wenn ich ihrer gedenke, ist mir zumute, als hätte ich an jenem Tage mir selbst und ihr wichtige Eingeständnisse gemacht, die mich beruhigten. Bilder und Gestalten dieses Erlebnisses haben sich mir eingeprägt wie ein Abschied; wenn ich an sie zurückdenke, so ermesse ich daran den Zustand meiner Seele, die beziehungslos aufnahm, was sich ihr bot, wohl aber deutlich, sinnbildhaft, ein fremder Spiegel.

Es war ein heißer Tag des Frühlings, der schon in den Sommer überging, und mein Weg hatte mich durch eine verlassene Moorlandschaft geführt, in der ich den Vormittag hindurch niemandem begegnet war. Als ich das von Weiden- und Erlengebüsch bewachsene Ufer eines Flusses erreicht hatte, warf ich mich ins Gras nieder, das in der feuchten Erde so hoch stand, daß es mich wie eine grüne Flut aufnahm. Es war so still, daß man die Flügel der Libellen in der Luft des warmen Mittags hörte und die geheimnisvollen Stimmen des träge dahinziehenden Wassers. Die Rohrspatzen schrieen im Schilf in einer nahen Sumpfniederung, in der das tote Wasser zwischen den hohen Halmen in der Sonne glitzerte. Ich dachte an das heiße Leidensband der Straße wie an eine überstandene schmerzhafte Krankheit, trocknete meine Stirn und atmete tief.

Der sanfte Wind bewegte über meinen Augen die Halme, sie schaukelten im Himmel. Eine Biene zog daher, summte bekümmert und ließ sich am Rand des Kelches einer Blume nieder, die sich mit ihr neigte. Das kleine Tier zog in die farbige Helligkeit der Blüte ein, in den strahlenden Sonnentempel, in dessen reiner Halle das Leben einander suchte und sich begegnete. Langsam wanderte eine Wolke hoch am Himmel dahin, leuchtete, ward kleiner und zerging im Blau. Wenn die Wipfel der Erlen von einem Windhauch berührt wurden, begann für eine Weile ein geschäftiger Eifer in den Blättern, ein silberner Strom umfloß sie, der die Augen lockte und in glückhafte Gefangenschaft nahm. Die Düfte, die vom durchwärmten Wasser und aus dem feuchten Grund der Ufer strömten, schläferten ein und führten merkwürdige Erinnerungen aus den Tagen der Kindheit mit sich, die zugleich gegenwärtig und vergessen waren wie ein von Träumen befangener Blick.

Ich ließ die Stunden verstreichen, als habe ich mein ganzes Leben lang auf sie gewartet. Als die Gnadenbahn der Sonne ihren Höhepunkt überschritten hatte, vernahm ich ein gedämpftes hölzernes Poltern und ein Plätschern des Wassers, das nicht von der Strömung kommen konnte. Ich richtete meinen Kopf empor und sah auf der Silberleiste des Flusses einen Kahn dahintreiben, in dem ein Mädchen stand, das mit einem groben Ruder steuerte und auf das Ufer zuhielt, an dem ich lag. Ich betrachtete ihre von Licht umflossene Gestalt, die jungen Glieder, die das dürftige Sommerkleid kaum verhüllte, und das feuchte Haar, das in einem nachlässigen Knoten in den gebräunten Nacken hing. Es war von einem seltsamen, farblosen Blond, als hätten Sonne und Regen ihm seinen Glanz genommen, und doch lag ein matter Schein darauf. Dicht an meinem Ruheplatz sah ich nun einen Holzsteg im Sumpf, der ein wenig in den Fluß hineinragte, zwischen dem Schilf.

Als das Mädchen den Kahn an die Bretter treiben ließ und ihn befestigen wollte, erblickte sie mich und sah mich mit großen, überhellen Augen erschrocken an. Die Helligkeit dieses Blaus hatte etwas Einschüchterndes, es flackerte über dem matten Braun der Wangen wie ein Lebenswahrzeichen von sagenhafter Unberührbarkeit. Die Strömung drehte langsam den Kahn, das Mädchen hielt einen der Pfähle, etwas geneigt, mit der Hand fest, beugte sich vor und staunte, bis der Ausdruck meines Gesichts ein ratloses Lächeln in ihren Zügen hervorbrachte.

»Was liegst du dort? Woher kommst du?« fragte sie langsam mit einer tiefen Altstimme.

Sie zögerte, den Kahn zu befestigen und den Steg zu betreten, vielleicht, weil ich nicht sogleich antwortete. Endlich erhob ich mich halb unter der Last des schweren goldenen Sonnenmantels, der lange auf meinen Gliedern und Gedanken gelegen hatte, und sagte:

»Ich ruhe und schaue das Licht, die Pflanzen, den Himmel an – und nun auch dich.«

Mit leichter Verwirrung sah sie auf mich nieder, sie schien zu empfinden, daß sich mit mir nicht auf die Art reden ließ, wie sie es mit den Leuten ihrer Gegend und Heimat konnte. Aber in einem bescheidenen Stolz verbarg sie ihre Scheu vor dem Fremden, es war, als wünschte sie zu bestehen, und ihre heimliche Sorge, ohne Angst, war rührend und voll kindlicher Gefaßtheit.

»Du bist müde oder vielleicht hungrig, auch lange unterwegs ...«

Ihre Augen musterten mich aufmerksam, aber ihr Forschen verletzte nicht. Diese Sinne suchten nach anderen Merkmalen und Zeichen, als die Menschen es tun, die die Städte in toter Gemeinschaft bewohnen. Vorsichtig, klug und heiter umwanderten mich die hellen Lichter der Augen, voll freundlicher Neugier und bereit zu verstehen.

Die Würde ihrer Armut rührte mich tief. Mir schien, als entstammte ihre Gestalt dieser Landschaft so unmittelbar wie eine Pflanze dem Wiesengrund. Die Sonnenglut verwob mir alles zu einem einzigen Teppich des Lebens, in dem das eine soviel wie das andere galt, Pflanzen und Wind, Mädchen und Hecken. Ich tat mir Gewalt an, erhob mich und machte einen Schritt auf den Steg zu.

»Komm herüber zu mir«, sagte ich, »ich werde dir helfen.«

Sie antwortete nicht, sah mich voll und ruhig an und löste die Hand vom Pfahl, ohne sich zu rühren, so daß der Fluß den Kahn langsam vom Steg abtrieb. Ich sah ihre Gestalt gegen den Himmel, unbeweglich und doch auf stiller Wanderschaft wie zuvor die Wolke im Blau. So entfernte sie sich mehr und mehr von mir, aber sie lächelte mich an, als käme sie mir entgegen.

»Komm doch wieder«, sagte ich und trat vom Steg zurück. Da sie sah, wie ich mich an meinen alten Platz ins Gras sinken ließ und daß kein Anzeichen von Groll in meinem Gesicht zu finden war, tauchte sie das Ruder ein und stieß den Kahn wieder gegen die Flut, bis ihre Hand den Pfahl im Wasser erreichte, der sich ein wenig neigte, als sie sich und den Kahn aufs neue daran festhielt. Er war schwarz und schien so alt wie die Welt, wie lange mochte er an dieser Stelle im morastigen Grund stecken? Das Schilf rührte sich unter einem kaum spürbaren Luftzug, der sich vom Wasser erhob und wieder auf die ziehende Silberbahn sank.

»Was wolltest du hier tun?« fragte ich.

»In der Bachmündung liegt die Fischreuse. Die Fischreuse ...«, wiederholte sie erschrocken. Es mochte ihr in den Sinn gekommen sein, daß sie mir mit dieser Aussage das Versteck ihres Gerätes verraten hatte. Aber da ich weder danach suchte noch ihr antwortete, sah sie mit Befangenheit in meine Augen, als habe sie mir mit ihrer Besorgnis unrecht getan.

Ja, antwortete ich ihrem Blick, ohne zu sprechen, es gibt eine fröhliche Traurigkeit. Du hast mir kein Unrecht getan, weshalb wächst deine Unsicherheit? Ich will nicht mehr mit dir reden, denn ich weiß alles. Was ich aber nicht erlebt habe, ist dennoch mein Eigentum, es ist wie die Zukunft, süß wie die Keime der Pflanzen, wie die Liebe des Bluts und wie die Nacht.

Da löste das Mädchen, wie geängstigt durch mein Schweigen, in einer kaum sichtbaren Regung die Hand vom Pfahl, sie wagte nicht zu sprechen und schlug die Augen nieder, damit die sonderbare Frage meiner Blicke sie nicht erreichen konnte. Die willkommene Strömung faßte wieder den Kahn, drehte ihn langsam und nahm ihn lautlos mit sich fort. Erst als schon die Schilfwände sie zur Hälfte meinen Blicken verdeckten, hob sie die Hand und winkte schüchtern ins Grüne, Weite hinein.

Erst vereinzelt, dann in Gemeinschaft erklangen nun wieder die Stimmen der Rohrspatzen, und eine Libelle mit dunkelblauen Flügeln ließ sich auf einem Schilfhalm dicht vor mir nieder. Als die Sonne mehr und mehr sank, wehte es kühler vom Wasser her. Der Sonnenschein umher bekam auf allen Blättern, auf dem Wiesengrund und in der Weite am Saum des Waldes jenen Goldglanz ohne Frische, wie er die Nachmittage so klar und sonderbar macht in ihrer Stille. Die Fische begannen zu springen, ein dichter Schwärm kleiner, weißgeflügelter Insekten spielte über dem toten Wasserarm in der reinen Luft und sah sich tausendfach im Spiegel seiner Lebenswelt: ein blanker dunkler Abgrund mit dem Bild des Himmels, Wiege und Grab ...

So taucht in meiner Erinnerung zuweilen diese Stunde empor, die in den Stunden dieser Tage und Nächte merkwürdig geschieden und in gesonderter Deutlichkeit in mir zurückgeblieben ist. Sie ist zu Abschied und Verheißung für mich geworden und steht zwischen Trennung und Erneuerung, ein wahrsagendes Lebensbild.

Erst unsere Gedanken machen die Seele zum Geist, aber zuweilen scheint es, als dächte es in uns, doch ohne uns, wir werden zu Zuschauern unserer selbst, schreiten neben uns dahin und lassen neben uns geschehen und über uns dahingehen, was wir nicht teilen und doch sind. Es ist dann, als ob ein uraltes Vermächtnis in uns zu einer milden Ungeduld erwachte, wir empfinden später, daß wir Erben sind, die ihr Teil, obgleich sie es nicht erkennen, doch verwalten.

Mochte es sein, weil ich am Tage geruht hatte, ich verspürte mit der herabsinkenden Dämmerung keine Müdigkeit und schritt durch ein Dorf, in dem ich niemanden sprach, in die hereinbrechende Nacht hinaus. Es bildeten sich Wolken, die, ein rotbrauner, feiner Rauch aus dem Herd des Sonnenuntergangs, aufzogen und die aufbrechenden Sterne verschleierten. Sie und die schmale Mondsichel schienen hinter diesem ziehenden Flor dahinzueilen, fern und hastig, aber still, wie alles, das nicht dem Boden der Erde entstammt. Ich stand und sah die Sterne wandern. Sie stehen still und scheinen doch zu ziehen, dachte ich, aber hinter dieser Gewißheit gibt es eine andere, die, daß sie wandern, hoch im Weltall, obgleich es uns so erscheint, als stünden sie still. Was wir mit unseren Sinnen allein wahrnehmen, ist immer nur richtig oder unrichtig, aber Wahrheit ist nicht durch die Welt der Sinne zu erkennen, erst die Geist gewordene Seele lebt in Regionen, in denen es Wahrheit gibt. Das ist das Ziel. Ob ich aber gehe oder ruhe, verweile oder dahintreibe, wer von euch weiß es, ich weiß es nicht. Ruhe sanft, schlaf wohl, Asja, du ewig Geliebte, in der seligen Ruhelosigkeit deines lebendigen Lebens tief in mir und aller Liebe.

Es wurde so dunkel, daß ich kaum noch den Weg erkannte, obgleich die Augen sich leicht an Finsternis gewöhnen, wenn sie sich langsam mit ihrem Hereinbrechen, wie von innen her, öffnen. Ein dichter Buchenwald begann, dessen Stämme, glatt wie Säulen, ihr schwarzes, mächtiges Blätterdach wie ein Domgewölbe trugen. In einer Lichtung hörte ich Eulenstimmen, und die Nacht wurde mir plötzlich lieb und voller Geheimnisse. Ein sonderbarer Geruch, der mich zugleich beunruhigte und mir die Brust weitete, machte sich wie ein Zustand bemerkbar, ich kannte diesen Hauch, aber er entsank immer wieder meinen Gedanken, so daß ich mich nicht sammelte, um ihn zu prüfen. Aber meine Unruhe wuchs, ich ging langsamer, der Wald lichtete sich, und der Weg führte sanft bergan, sandig und über kahles Gelände. Als ich die Anhöhe erreicht hatte, sah ich wieder Sterne, es ging ein kühler, gleichmäßiger Windzug, und ich hörte ein sonderbares gedämpftes Rauschen, als ob der Wind durch Tannenwipfel zöge. Vor mir lag ein matter großer Lichtschimmer wie durchscheinender Nebel, und mir war, als sei ich vor eine Schranke geraten, als wanderten aber zugleich die Blicke von mir fort, so daß ich die Gewalt über sie verlor, und ein leiser Schwindel befiel mich. Da erkannte ich jählings, was vor mir lag, und erschrak sehr, taumelte gegen ein Bäumchen der Straße und schrie laut auf – das Meer!

Da lag es vor mir, über sich den mächtigen Dom der Nacht. Ein Schauer voller Freiheit und Erhobenheit faßte mich wie Wind, mein Glück war so groß, daß ich bebte, aber zugleich ergriffen mich mit Ungestüm eine grüblerische Sehnsucht und ein unnennbares Ungenügen. Nie war ich kleiner und ärmer, nie so wenig dem Glück gewachsen, das sich in mir und vor mir weitete, als sei das Meer das Unfaßbarste und zugleich das Ersehnteste des Lebens. So lehnte ich an dem Straßenbaum in der Dunkelheit und sah das graue Meer leben und matt leuchten. Ich schloß die Augen, als trüge nun der Strom der Seele mich über die Weite. Tief hinter der düsteren Meerwölbung, in Weltenfernen, mußten Küsten flammen, überhell in der zornigen Sonne des Orients, heiß und wunderbar ...

Die dunkle feuchte Luft nahm mich wieder auf, als ich die Augen öffnete, mir war, als sähe ich sie. Das hellere Band des nahen Strands zog sich zur Linken in einem weiten freien Bogen dahin, an dessen fernem Ende der Wald sich bis an die Flut drängte, und dort schimmerte in seiner schwarzen Mauer ein winziges Licht, rot wie ein Farbfleck, in der silbrigen Dämmerwelt der Küstennacht.

Wenn man wochenlang das Meer befahren hat und sieht am Horizont endlich die starre, graufarbige Leiste der Küste, so ist man nicht weniger ergriffen, als wenn sich unerwartet die lebendigen Wassermassen des Meeres vor uns auftun. Oft ist schon sein Schimmer in der Ferne, das auch ein Himmelsstreif, ein Strom oder eine Wolkenbank sein könnte, je nach der Beschaffenheit der Luft, ein Anblick voll erregender Kräfte, es vollzieht sich ein Wechsel in uns, der unbeschreibbar ist und keinem anderen Gefühl zu vergleichen, wir verlieren heimlich eine alte, törichte Erdensicherheit, die unsere Seele in Fesseln gelegt hatte. In gnädiger Einfalt zeigt sich uns nun die Erde, unser Stern, für eine kurze Weile in der ungeheuren Dreieinigkeit von Himmel, Erde und Meer. Wie eine Last, wie ein häßliches, bestaubtes Reisekleid sinkt das Bewußtsein von tausend kleinen Tages- und Lebenssorgen an uns nieder, unser Leib erhebt sich, umweht vom kaum berührten Boden, und wir wissen, wie feierlich es ist, ein Mensch zu sein.

So stand ich lange und sann, bis das rote Licht am fernen Waldrand mich aufs neue in die Gefangenschaft seines Daseins nahm, und ohne es recht zu wissen, ging ich seinem stillen Ruf nach. Es galt, die Meerböschung wieder ein wenig emporzuklimmen, um festeren Boden zu gewinnen, denn das Schreiten im Sand ermüdete. Am Rand eines Kartoffelackers führte ein schmaler Fußweg entlang, auf der Höhe des Deichs, auf seinem Kamm ging ich dahin zwischen Meer und Land. Wie eine mächtige, ruhende Silbersichel zog sich der Bogen der Bucht mit seiner helleren Brandung dahin, sie leuchtete stärker als Himmel und Meer und lebendiger. Die Landschaft zu meiner Linken ruhte in geheimnisvoller Dämmerung und duftete nach sommerlicher Abendnässe. Ich kam an ein Roggenfeld, dessen Halme spärlich standen, aber im nächtlichen Licht war dieser silbrige Lebensteppich von beglückender Fülle. Ich strich mit der Hand über die Ähren, sie rauschten geheimnisvoll und füllten durch ihre Berührung mein Blut mit einem wunderbaren Dank.

Der Wald vor mir wuchs an, ich näherte mich langsam seinem Bereich, und nun schien der rote Lichtschein bald zu erlöschen, bald wieder aufzuglimmen, je nachdem die Baumzweige und Büsche ihn meinen Augen verdeckten. Ich kam an einen verfallenen Gartenzaun aus groben, genagelten Planken, deren Spalten von Buschwerk durchwachsen waren und die teilweise lose niederhingen. Es war so dunkel hinter der Buschhecke, daß ich nichts erkannte, und still wie auf einem Kirchhof. Dies mußten Haselnußsträucher sein, hier duftete Holunder, oder war es Jasmin? Die schweren, kühlen Duftwogen standen wie Wolken über den Schattengründen der Gartentiefe, und erst meine Bewegungen in der Nachtluft schienen sie zu mischen. Kein Laut erhob sich, nur der rote Lichtschein glomm immer noch geheimnisvoll in naher Ferne, höher nun als vorher, und zuweilen sah ich die Zweige eines Ahornbaums mit dem gezackten Blätterwerk gegen den viereckigen Lichthintergrund des offenen Fensters, aus dem das Licht brach.

Nahe am Haus hörten die Büsche auf, so daß unter den Bäumen ein freier Platz entstand, vielleicht ein breiter Weg oder ein Rasenrund. Ich erkannte eine schmale Holzbank, die um den Stamm eines der alten Bäume geführt war, und beschloß, dort zu ruhen und zu prüfen, ob menschliches Wesen in dem kleinen Lichtbereich herrschte, dessen Ruf ich gefolgt war und dessen viereckiges Tor wie ein rosa Vorhang in der Nacht schwebte.

Ich nahm meinen Stock fester in die Hand und schritt zögernd auf die Bank zu, jeden Augenblick konnte ein Hund hinter dem Haus hervorstürzen, das hätte mühevolle Beschäftigung gegeben, die ich kannte. Ich wußte aus Erfahrung, daß man in solchem Fall nicht flüchten darf, sondern standhalten muß und sich erst nach kurzer, ruhiger Haltung, langsam, Schritt für Schritt und rückwärts schreitend, auf den Zaun zurückziehen durfte. Einmal hatte ich auf einem Hof in der Einöde in einer pechschwarzen Regennacht mehr als eine Stunde lang einem großen Hund gegenübergestanden, der mich gestellt hatte und von dem ich nichts sah als seine Augen. Keiner von uns rührte sich, wir waren zwei Statuen in der verlorenen Weltenfinsternis, und jeder wartete auf die erste Bewegung des anderen. Das Tier und ich, wir beide wußten, es ging um unser Leben. Mit Bewegungen, die langsam waren wie die Zeiger einer Uhr, gelang es mir, mein Messer in die Hand zu bekommen und den Arm weit hinter mich zurückzustrecken, wozu ich mehr als eine Stunde gebraucht habe. Mit dem Wahnsinn, der Verzweiflung und dem Todesgrauen, die wie ein langes, atemloses Sterben gewesen waren, stieß ich jählings im Dunkeln das Messer unter die beiden glühenden Augen. Der Zustand mußte ein Ende haben, so oder so. Und meine Hand war glücklich, es röchelte, wälzte sich scharrend am Erdboden und ward still. Aber auch ich sank zur Erde und fand erst, als der Morgen dämmerte, die Kraft, mich davonzuschleppen bis an einen Wald, in dem ich lange schlief.

Aber hier, unter den Ahornbäumen, blieb es still, nur die Erinnerung jagte meinen Geist für eine Weile vor sich her, als verfolgte ihn das Gespenst jenes Erstochenen in einer gleich finstern Nacht, wie es die Nacht seines Todes gewesen war. Tröste mich in der dunklen Verlorenheit, du Licht, dachte ich, irgendein Mensch wird in deinem Bereich atmen, ein Mann, ein Weib, vielleicht ein Kind, das bei der brennenden Kerze eingeschlafen ist. Ich lauschte hinauf, da vernahm ich in kleinen Abständen voneinander jenes leise knisternde Rascheln, das durch das Wenden der Buchblätter beim Lesen entsteht. Das war mir ein gutes Zeichen. Menschen, die nachts in Büchern mit den Geistern anderer verkehren, sind dem meinen verwandt, wer in einem Buche liest, ist schon mein Bruder.

Da fragte ich laut zum Fenster empor: »Was liest du für ein Buch?«

»Himmel, Tod und Wolkenbruch«, antwortete eine Mädchenstimme, als riefe sie um Hilfe, »wer ist denn da?«

»Ein Mensch wie du, der die Welt durchwandert wie dein Geist das Buch.«

»Aber wo steckst du denn? Deine Stimme klingt, als käme sie von der Decke herab.«

»Ich bin im Garten, unter den Ahornbäumen.«

»Merkwürdig ...«

»Sprich von dem Buch, in dem du liest.«

»Warum nicht gar! Soll ich etwa den ganzen Inhalt erzählen? Er würde dich kaum erfreuen, denn du gehst auf besseren Wegen als ich, draußen durch die Sommernacht, vom Strand her ... Dies Buch dagegen ist von Tante Mimsey, da wirst du dir schon denken können.«

»Hast du keine anderen Bücher?«

»Sag erst, wer du bist.«

»Ich bin einer, der die Bücher von Tante Mimsey nicht liest.«

»Dann bist du also Vetter Eberhard.«

»Ich denke nicht daran.«

»Ach ... er wollte kommen.«

»Kommt er immer nachts?«

»Ich kenne ihn noch gar nicht, er ist Student, vielleicht kommt er nachts und erschreckt mich, wie du es getan hast. Sag jetzt, wer du bist, sonst muß ich die Unterhaltung abbrechen. Ich liege hier im Bett, habe nicht einmal ein Hemd an und spreche mit einem fremden Mann. Gottlob schläft Tante Mimsey an der anderen Seite des Hauses, wegen der Sperlinge, die hier im Efeu nisten.«

»So werde ich also zu ihr hinübergehen.«

»Da kannst du allerlei erleben. Außerdem ist sie schwerhörig, sie hat eine Ohrentrompete, die auf ihrem Nachttisch liegt.«

»So soll ich bleiben?«

»Sag erst, wer du bist.«

»Gut, ich will es sagen, aber versprich mir, wenn du mich anerkennst, nachdem ich mich dir vorgestellt habe, daß du zu mir herunterkommst.«

»Was fällt dir ein, niemals werde ich hinunterkommen.«

»Warte ab, was ich dir sage. Wenn ich gesprochen habe und du willst nicht herabkommen, so verlangt auch mich nicht mehr danach, und ich werde meines Wegs gehen.«

»Wie unhöflich du bist.«

»Unhöflich ...«

»Natürlich! Seit wann kommt eine Dame zuerst zu einem Herrn? Könntest denn nicht du heraufkommen zu mir?

Nun war es eine Weile still.

»Geht denn das?« fragte ich endlich. So armselig kann ein Mensch aus seiner Rolle fallen. Welch eine törichte Frage das doch war. Die Stimme antwortete ohne Eifer:

»Wenn ich dir sagen muß, ob es geht, so geht es sicher nicht. Aber erst wolltest du dich vorstellen. Ich verspreche dir getrost alles, was du willst, denn ich weiß, daß du schon bei der ersten Bedingung versagst, unter der ich meine Versprechen mache. Wenn du dich vorgestellt hast, so werde ich dich nicht einladen, sondern verabschieden.«

Was war doch das? Ein mühsam unterdrücktes Gähnen scholl zu mir herab. Jetzt geht noch das Licht aus und das Fenster wird geschlossen, dachte ich mutlos. Aber es geschah etwas weit Schlimmeres: Ich hörte wieder, wie eine Seite im Buch umgeblättert wurde.

Nun galt es, einen neuen Anfang zu finden. Ach, wollte Gott, ich fände einst das Ende so leicht und froh, wie ich alle Anfänge gefunden habe.

»Leg dein Buch fort!« sagte ich laut.

Es rauschte aus dem Fenster heraus jählings durch die Luft, raschelte im Gezweig und schlug klatschend neben mir am Boden auf. Das war das Buch.

»Und jetzt?« fragte es schläfrig aus dem Licht.

»Jetzt sei still. Glaubst du immer noch, daß du meine Kräfte beeinträchtigst, wenn du sie bezweifelst? Wieviel Sinn du doch dafür hast, daß einem Mann vor einem jungen Weib das Herz schüchtern wird, wenn sie ihm seinen Ernst durch ihr Spiel raubt und seinen Hang zum Spiel durch ihren unehrlichen Ernst. Wenn du wissen willst, wer ich bin, so darf ich nicht über mich, sondern ich muß über dich sprechen. Du wirst mich hören, als hörte mich niemand und alle. Spreche ich nicht aus der Nacht in ein ungewisses Licht empor und glaube immer und immer wieder, es sei der Morgen, der heraufdämmert? Von mir ist nichts zu sagen, als daß ich immer geglaubt habe, es sei der Morgen. Auch zuletzt werde ich es glauben, und dann wird er es sein.

Aber jetzt ist noch Nacht für mich, und du stehst mitten darin, so schön wie die Ahnung des Morgens und oft viel mächtiger. Wenn ich auf dich zugehe, so ist es auch, als ob ich dem Morgen entgegenginge. Auch du füllst die Seele wieder und wieder mit Hoffnung und bist in Wahrheit ein Morgenschein. In der Welt ist es wie eine Nacht in der Nacht, und es gibt zwei Morgen. Der eine bricht aus dem Blut hervor, der andere aus dem Geist, verstehe es, wer mag, Gott ist in beiden, denn in beiden sind Lust und Heimweh, auch Zuversicht der Wiederkehr, der Dauer, der Ewigkeit und Freiheit.

Wie soll das Herz entscheiden? Ist das nicht unser einziges Leid? Seit ich nun deine Stimme gehört habe, ist jeder Morgen aus meinen Sinnen und Gedanken entschwunden, der nicht der Morgen ist, dessen Schein aus deinem Liebreiz bricht. Ich weiß nicht, ob du gut oder schön bist, häßlich oder böse, aber ich weiß, wie klar und feierlich die Liebe ist, die in meiner Brust erwachen könnte. Sie zeigt mir dein Lebenswesen als einen strahlenden Weg, dessen Ende und Ziel der ewige Gott ist, das große Meer aller Lichtwogen der Freude und aller Tränenströme. Sieh, so stehe ich hier in meinem Licht, das von dem deinen angelockt worden ist in der irdischen Nacht, keine Sorge quält das Herz, das bereit ist, sich abzuwenden, denn es gibt jenen anderen Morgen, weißt du noch von ihm?

Ihr wißt nichts von ihm, nur wie im Traum hört ihr von ihm reden und seht ihn fern leuchten, regt euch sehnsüchtig, lauscht wohl auch und seid gläubig nach der Art der Mädchen und Frauen, ein wenig bestürzt, wie vom Licht benommen und rührender, als daß ein erkennendes Auge es ohne Tränen zu schauen vermöchte. Aber unsere Morgenhoffnung lebt nicht als Quelle in eurem Gemüt, und wenn wir nicht in euch wiederkehren, so war schon euer Willkommen ein Abschied. Versündige ich mich nun, oder bin ich gehorsam? Sieh, ich möchte mehr wissen als nur dies, daß du hell bist.«

So sprach ich in der Dunkelheit, bald stockend und traurig, bald von einer jubelnden Gewißheit des Glücks und des Triumphs erhoben, und stets dachte ich heimlich, als dächte es neben mir ein anderer: Du kannst jeden Augenblick still davongehen, du Narr und Held, und niemand wird wissen, wer geredet hat.

Als ich schwieg, blieb alles still. Ich hörte ein sonderbares fernes Geräusch und lauschte. Es war das Meer. Ein ungestümer Frohsinn ergriff mich jählings. Da draußen wogt und rauscht es, die mächtige Wasserebene unter der Sternenweite. Ich will hinab ans Meer, dachte ich und schritt auf das Haus zu. Ich will am Strand schlafen und mich von den Stimmen des Meers einwiegen lassen, wie wird sein Laut wohltätig sein, ohne Wissen und Urteil, ohne Einschätzung, wie schon die Toten ihn vor tausend Jahren vernommen haben und wie die Kommenden ihn vernehmen, wenn wir unter der Erde sind.

Ja, es war ein kräftiger alter Efeustock, der am Hause emporrankte und dessen Schlangenarme, fest im Mauerwerk verwachsen, wohl einen Menschen tragen konnten, ohne durch sein Gewicht niedergerissen zu werden. Darin schliefen jene Spatzen, die Tante Mimsey mied. Wahrscheinlich würden einige von ihnen aufgescheucht werden. Wenn ich im Klettern innehielt, hörte ich mein Blut und das Meer brausen und klopfen. »Wenn wir unter der Erde sind ...« Wie bald wird es sein, Mut, meine Seele! Noch bist du über der Erde und schon ein erhebliches Stückchen höher als eben noch. Wenn dieser knorrige Arm der alten, guten Efeustaude standhielt, so erreichte meine Hand das Fensterbrett. Daß die fremde Freundin dieser Nacht von ihrem Lager aus nicht widersprach! Sollte ich vor ihr bestanden haben mit meiner sonderbaren Rede? Was hatte ich denn gesagt ...

Nun erreichte ich das Fenster, schwang mich empor, saß auf dem Brett und schaute in den erhellten Schlafraum. Ich sah wenig darin, da meine Blicke zuerst allein durch das von einer Kerze beschienene Angesicht der Liegenden angezogen wurden, das wie in einem blonden Lichttal der Haare, etwas zur Seite geneigt, in tiefem Schlaf vor mir ruhte. Vielleicht verstellte sie sich, wer wollte es wissen, in dieser holden, schrecklichen Welt von Nacht, Fremde und süßem Weltzauber aus Kühnheit, Not und Glauben. Ich schwang mich lautlos auf das Fensterbrett, wartete still ein wenig, ob das Zittern meiner Glieder sich legen würde und darüber die hellen Lider vor mir im Lichtschein sich öffnen möchten, aber beides blieb, wie es war, und so ließ ich mich leise in den Raum nieder, trat auf das Bett zu und setzte mich auf den hölzernen Rand.

Ich wurde sonderbar ruhig, als ich dort nun saß. Wie mit einem tiefen Atemzug kam mir der Gedanke: Da sind wir nun beieinander, zwei Menschen in der Nacht, was sonst? Aber langsam überkam mich eine immer tiefer erregende Angst davor, das Mädchen möchte erwachen, auch beschämte es mich, sie zu betrachten und in ihren Zügen zu forschen, ohne daß sie es wußte und hindern konnte. Es mochte nach ihren Worten mein Recht gewesen sein, in diesen Raum zu dringen, dagegen in diese Seele einzudringen, deren unbewachtes Bild das junge Antlitz spiegelte, widerstand mir schmerzlich. Du sollst mir das Bild von dir geben, das du selber willst, dachte ich. So strich ich ruhig mit der Hand über die schöne, klare Stirn und das weiche Haar, das so zart war wie die Haut der Schläfe und das sich nicht von ihr unterschied, nicht in der Berührung und nicht im Licht. Die Kinderseligkeit dieses Angesichts nahm mir jede Willkür und führte mich mächtig zu mir zurück, als wäre alle Erinnerung meiner Jugend zu einer blendenden Mahnung geworden.

Da öffnete die Schlafende die Augen, setzte sich erschrocken auf und nahm mit beiden Händen meine Hand:

»Oh, verzeih!« sagte sie herzlich, »du hast so schön gesprochen, und ich bin eingeschlafen. Wie häßlich von mir. Aber glaube doch, ich habe das meiste gehört, es war wirklich sehr schön, besonders der Anfang. Bist du böse?«

»Wer bist du?«

»Sicher kein Gespenst – du schaust mich an, als sei ich eins. Bitte gib mir mein Hemd.«

Ich sah mich um.

»Dort am Waschtisch.«

Ich fand dort etwas Helles, leichter als ein Taschentuch, und reichte es ihr wie im Traum. Es flatterte auf wie ein Nebelwölkchen im Licht, senkte sich zwischen den erhobenen Armen, und das blonde Haar flimmerte wieder im Kerzenschein. Aus dem losen goldenen Rahmen sahen die Augen mich groß und sicher an, zugleich hell und dunkel, mit lächelndem Forschen, ohne Schüchternheit, aber ernst.

»Also ich heiße Kaja, von Geburt und Titel bin ich Baronesse. Das tut aber nichts zur Sache, ich lege keinen Wert darauf, und wer bist du?«

»Worauf legst du Wert?«

»Das ist einfach zu sagen: auf Sonnenschein, auf ein gutes Buch und kluge Männer.«

»Ich würde wenigstens sagen: auf gute Bücher und einen klugen Mann.«

»Weshalb? Aus dir wird man nicht klug. Steigst du in Kammerfenster zu den Mädchen ein, um Predigten über Moral zu halten?«

»Setzt du voraus, daß man unmoralisch ist, wenn man zu einem Mädchen einsteigt?«

»Du weißt zu antworten. Ich setze es nicht voraus, aber ihr, ihr alle! Wenn ich es aber bei dir vorausgesetzt habe, so hoffe ich, nicht enttäuscht zu werden.«

Ich dachte nach, begriff den kecken Sinn dieser Wendung und erschrak heiß.

»Ich weiß, daß ich dich enttäuschen werde«, sagte ich abweisend.

»Woher weißt du das? Wie siehst du überhaupt aus? Dein Gesicht und deine Stimme sind anders als dein Gewand. Aber sag, wie willst du wissen, daß du mich enttäuschen wirst?«

»Du kannst nicht lieben, Kaja.«

Sie lachte laut und fröhlich auf: »Ich – nicht – lieben!? Weißt du, ich habe mir zuweilen mancherlei Vorstellungen davon zu machen versucht, wie ich wohl auf einen Menschen wirken würde, dem ich mich durch einen gnädigen Zufall von Anfang an so zu zeigen vermöchte, wie ich wirklich bin. Aber so kühn meine Phantasie die Wirkung ermessen hat, auf deine Antwort war ich nicht gefaßt! Ich soll nicht lieben können? Weshalb nicht?«

»Die Liebe ist wie ein Gott aus einem hellen Bereich, Kaja, der diese Erde betritt: Wenn nur erst sein Fuß ihren Boden berührt, so umhüllt er sich mit einer Wolkenwoge von Traurigkeit, Angst und Zögern. So geht es der Liebe, wenn sie unser Herz befällt.«

Sie sah mich mit wunderbaren Augen an, wie ein schönes, lebensvolles Tier, das zugleich erschrickt und seine Kraft ermißt zu Flucht oder Angriff.

»Höre doch«, sagte sie herzlich und nahm meine Hand, »du bist ja verrückt oder sogar fromm, Herrgottsakrament. Da wärst du doch besser bei Tante Mimsey hineingeklettert. Jetzt machst du mich ganz befangen, fromme Leute machen mich verlegen, sie haben immer in ihrer Gesinnung recht und in ihren Ansichten unrecht, Gesinnungstüchtigkeit und Dummheit sind eine schreckliche Mischung. Dumm bist du nicht – aber gesinnungstüchtig? Wie gut, daß ich mein Hemd anhabe. Ach, nimm doch an, das Hemd sei jene Wolkenwoge, mit der der Gott sich umgibt. Es wird dich beruhigen.«

Ich wollte antworten: »Du verspottest mich«, aber ein trotziger, wilder Geist ergriff Besitz von mir und gewann Gewalt über mich. Ist es mein Lebensamt, Klage zu führen, dachte ich, wo es gilt, Herr der Stunde zu sein, die ich durchschreite? Ich will nach meinem Willen entscheiden, aber ich werde mich nicht erniedrigen und meine Flucht meine Entscheidung nennen. Es liegt alles viel weiter, in großer Ferne, dachte ich bebend, ich werde nicht umkehren. Lieber nenne ich meine Lebensbegier meine Pflicht, als daß ich meine Feigheit meine Tugend nenne.

»Du verstellst dich, Kaja.«

»Wie?« sagte sie und richtete sich in ehrlicher Neugier auf. »Ich sollte mich verstellen? Bin ich denn häßlich? Wenn eine schöne Frau sich verstellt, so hat sie immer einen schwachen oder albernen Mann vor sich.«

»Wenn aber ein kluger Mann zu einer schönen Frau sagt: ›Du verstellst dich!‹, so meint er damit, sie sei immer noch nicht frei und offen genug für ihre Schönheit.«

»Ach – so –«

»Wenn du deinen Körper mit einem Gott vergleichst, Kaja, wie du es eben getan hast, so gehört er zu denen, die ohne Wolkenwoge schöner sind.«

Sie verstand sofort:

»Siehst du, wie schlecht und böse du bist?« sagte sie bekümmert. Sie lachte leise auf, wie über sich selbst, als zwänge mein Verhalten sie, sonderbare und unnütze Dinge zu sagen, Dinge und Worte, deren sie sonst weder bedurft hatte, noch daß sie sich ihrer jemals auch nur bewußt gewesen wäre. Ein Hauch holden, unwirschen Zweifels verzog ihre Lippen, in kindlicher Herablassung, erstaunt und schüchtern.

Mich befielen zugleich Zorn und Scham, aber mit ihnen ein warmer Himmelsschein, tief her aus meiner Seele, wo sie noch schlief und dem Licht vertraute.

»Warum quälst du mich?« fragte ich und seufzte.

– Du große Frühlingsfrage!

Auf welchen Lippen hast du nicht gelegen, und welch weite Landschaften voller Blüten und Gram hast du nicht überflogen? Und immer wieder wird die Antwort die gleiche sein, das wehmütige, staunende Glänzen in den großen Märzaugen der erwachenden Seele, das süße Zögern zwischen Angst und Pflicht und das Beben der beseligten Schwäche, aus der die größte, die eine Kraft emporsteigt, ihren ersten allmächtigen Lebensschritt in die Zukunft zu tun, uns verwundet und blutend hinter sich zurücklassend.

Das kleine Licht am Bett erlosch unter einer suchenden Hand, um ein übermächtiges Licht in uns emporströmen zu lassen, das uns blendete.

Sie ist dahingegangen und im Strom der Zeit versunken, diese Nacht, und ich weiß nichts von ihr und alles. Ich lasse sie in meinem Geiste emporsteigen und rede von ihr, meine lautlose Stimme zerflattert im nächtlichen Raum, und niemand hört mich. Und ist diese vergangene Stunde nicht dennoch jetzt und immer? Beschirmt von der Nacht, die sanft zu mir hereinscheint, an tausend Orten der Welt gegenwärtig, wie ein Blütenkranz um die kreisende Erde gelegt? Die aber, die heute ihre Blumen und Dornen tragen, lächeln über mich, sie wissen nicht, wovon ich rede, sie schauen sich an und erglühen tief versunken, fremd, in heiliger Torheit. Und der Schritt der Kraft, das lebendige Leben, geht über mein Herz, seinen Boden, und über die ihren und fort und fort.

 

Wie gut ich noch weiß, daß mich die Sperlinge weckten, wahrhaftig, es war das irdische Leben, das helle, gleiche, namenlose wie zuvor. Mein erster Gedanke, der wie ein Schreck über mich herfiel, war die Gewißheit, daß ich ein Mensch auf der Erde sei, aber ich fand mich nicht in meine Lebenseinzelheiten zurück. Ich umschlang den goldumsponnenen Nacken neben mir, als stieße dies helle Fenstertor der fremden Welt draußen mich zurück, aber eine zarte Schulter stieß mich auch hier fort.

»Ach, nicht doch«, sagte sie zärtlich, »laß mich doch schlafen, geh doch nun, es wird ja schon hell, siehst du nicht? Schau doch hin!«

Sie selbst öffnete kaum die Augen und wandte sich ab, als hoffte sie darauf, einen Berg hinabzurollen. Ich sprang empor und sah den Morgen, sah den schimmernden Körper und sah wieder den Morgen und taumelte mit tiefen Atemzügen gegen das umwachsene Fensterkreuz. Es lag alles voll Tau, und die Sperlinge riefen, als meinten sie mich. Der kühle Seewind trug den Geruch des Gartens zu mir herein, er legte sich auf Stirn, Gesicht und Brust. Ich faltete die Hände und wünschte mir, beten zu können. Ich muß mit Gott reden, rief ich, wohin soll dieser Strom von Seligkeit und Liebe fluten? Ist nicht draußen alles von übergroßer Erwartung so voll, so rein vor Licht, so kühl vor Frieden, so erfüllt vom Blühen, daß meine Seele nicht Raum darin findet?

Vorsichtig stieg ich gleich darauf durchs Fenster hinaus und die Efeuwand hinab. Ein Star schwatzte im Ahornwipfel, auf dem leeren Weg lag das Buch, am Rasenrand, kläglich aus seiner würdigen Form gebracht, beleidigt ob seiner Ungestalt, wie ein Vorwurf, über den ich lachen mußte. Ein Tannenpfad führte zum Strand hinab, es ging noch eine gute Weile durch alten Park. Rosengruppen und farbige Beete von Blumen wechselten ab, alles in einer fröhlichen Verwilderung. Auf den Wegen wuchs Löwenzahn, und langsam gingen die Pfade im Gesträuch unter, das schon auf sandigem Boden stand. Nur ein schmaler Weg führte, deutlich geschieden, zum Strand nieder, und nun öffnete sich vor meinen Augen das Meer und hinter ihm der erstrahlende Morgenhimmel.

Vom flachen Deich aus sah ich die ruhigen großen Wellen nahen und sich im Morgenrot auf den Strand werfen. Es roch nach Seetang, und mir war, als schmeckte ich den Salzgeruch auf den Lippen. Zur Linken sah ich die in Deichhügel geduckten Strohdächer eines Dorfs, auf deren Giebeln bräunliches Licht lag. Es war kein Segel am Horizont zu sehen, kein Inselland, nur fern vor dem Ort am Strand machten Fischer ein großes Boot flott, um auf den Fischfang auszufahren, sie sahen klein wie Spielzeug aus und bewegten sich träge.

Ich warf meine Kleider ab und stieg langsam ins Wasser. Der kalte, nasse Sand an meinen Füßen rann mit den kommenden und weichenden Wellen unter mir fort, mir war, als schwebte ich, die Erde trug hier nicht mehr den Menschen, wo das Reich des fremden Elements begann. Ein Möwenschrei ließ mich den Kopf wenden, da sah ich die Landschaft liegen, schlafend und bräunlichrot, noch stieg kein Rauch aus den Hütten.

Die Bewegung des Meeres und die bebenden Jubelrufe meiner Seele erschütterten mich so mächtig, daß ich aufsingen mußte. Wie oft sang ich doch einst diese armen, mächtigen Lieder ohne Sinn, die die Natur und die Einsamkeit mich gelehrt hatten und die meiner schlafenden Seele entsprangen wie Quellen dem Erdgrund. Nun habe ich längst begonnen zu denken, und wie manches weiß ich nun, und meine Lust und Trauer sind nicht mehr mein Teil allein. Aber mein Gesang von einst bleibt wie ein Grundakkord in allem, und wenn ich ihn fern höre, so weiß ich wieder, daß unsere Seele niemals völlig wach sein wird, unser Leib ist ihr Reisegewand und Totenhemd, ein heiliges Kleid.

Ich schwamm weit hinaus, geblendet von der aufgehenden Sonne, die aus dem Meer emporstieg und Himmel und Wasser in goldenen Glutströmen miteinander vereinte. Sie schwebte in den durchhellten Elementen, und erst mit ihrem Aufstieg schied sie wieder Erde, Wasser und Himmel voneinander.

Als ich wieder den Strand erreichte, fand ich ein altes Boot, das umgekehrt im Sand lag, aber so, daß die Morgensonne unter sein schwarzes Dach schien. Ich kroch unter diese mächtige Höhlung wie in den Rachen eines großen Fisches und wühlte mich ein wenig in den Sand, um zu schlafen. Langsam nahmen die Musik der Wogen, das Morgensonnenlicht und der tragende Boden sich meiner an, und ich wurde ein Teil dieser Elemente und gab versinkend auf, was mich von ihnen unterschied. Aber im Traum erwachte mein Geist zu einem eigenmächtigen Leben, und ich sah große Bilder und weite Landschaften von solcher Freiheit, daß ich schluchzte. Ein breiter, ruhiger Strom trennte mich von ihnen, die Welt bestand aus zwei Hälften, auf der einen befand ich selbst mich wie im leeren Raum, der wogte und spiegelte, auf der anderen lag farbig und deutlich die Fülle der irdischen Erscheinungen in ihrer Pracht. Ich sah beblühte Wiesen, Täler und Berge, Wohnstätten und Baumgruppen, Quellen und Ströme. Und mitten darin, wie geboren und erblüht aus diesem lieblichen und mächtigen Wesen der Natur, stand das Weib, das Haar funkelte, ihr Leib schimmerte. Um ihre Lippen lagen die Stimmen der Bäume, das Flüstern der Gräser und der Vogelgesang. Schattige Gründe der Triften, Kelche und Früchte waren umher, um zu verschönen und den Sinnen nahe zu bringen, was diese Schultern und Hüften trugen, die reinen Glieder und der unnennbare Grund und Wesenssinn des ganzen Leibes, den kein Name benennt und kein Auge schaut, keine Nähe erreicht und keine Hingabe überwindet.

Als ich nach vielen Stunden eines tiefen Schlafs erwachte, mochte es, dem Stand der Sonne nach, gegen elf Uhr mittags sein. Ich kroch fröhlich und alsbald völlig wach und wunderbar belebt aus meiner dunklen Bootmuschel hervor und taumelte vor Glück und Licht in der Sonne, die über dem Meer und Strand erstrahlte. Ich schüttelte den Sand aus meinen Kleidern und brachte sie in Ordnung und Anstand, wie der schöne Festtag der Natur es erheischte und vor allem der Besuch, den ich im freiherrlichen Hause plante. Ich war mir völlig darüber klar, daß dieser Besuch stattfinden mußte, vermochte mir allerdings über die Art keine Vorstellung zu machen.

Es wird seltsam genug sein, dachte ich, wenn ich nun nach allen Vorschriften der Sitte dieser jungen Dame vorgestellt werde, die ich besser kenne als alle, die ihr Leben von Anfang an mit ihr geteilt haben. Eine heiße Liebe zum wunderartigen Dasein überkam mich. Wie sollte ich nicht Mut zum Gewöhnlichen finden, sann ich, da ich doch das Ungewöhnliche bestanden habe?

Ich warf noch einen freundlichen Bück auf mein Boot, in dem ich meine zukünftige Herberge erblickte und das ich nach meinen Gewohnheiten einzurichten beschloß, und begab mich dann auf gut Glück in den Park zurück. Es war zwischen den Büschen schon sommerlich warm, und überall strahlte die Sonne. Schmetterlinge schaukelten durch den heißen Duft, und die Reiser der Büsche blühten. Auch sangen noch Vögel in der Kühle der Baumkronen, denn es war zu Sommers Beginn, die schönste Zeit im Jahr.

Wo die Verwilderungen der Strandniederungen in den gepflegteren Garten übergingen und die Wege sogar mit Kies bestreut waren, standen alte grüne Bänke, manche waren rund um die Stämme der Buchen herumgeführt. Ich sah auf einem der Wege eine alte Dame langsam auf mich zukommen, die ein zerzaustes Huhn an einer Kette hinter sich herführte. Als sie näher kam, erkannte ich, daß es kein Huhn war, sondern ein Schoßhündchen. Der Anblick dieser alten, würdigen Dame beruhigte mich tief und machte mich fröhlich. Sie war in ein helles Seidentuch gehüllt und trug einen breitrandigen Hut aus weichem Stroh, dessen Rand zur Rechten und Linken bis auf die Schulter niedergebogen war. Von den Schläfen fielen schneeweiße Ringellöckchen auf die Schultern nieder, und zwischen ihnen lächelte ein feines, zartes Angesicht von süßer Welkheit, aller Welt fern, und voll kindlich hochgemuter Versunkenheit in den Sonnenglanz ihres späten Lebenstages.

Als wir auf dem Weg einander näher gekommen waren, blieb ich stehen, verbeugte mich tief und zog meinen Hut, so daß er einen großen Bogen machte und den Kies am Boden berührte. Die alte Dame blieb gleichfalls stehen, ein wenig mit Aufwand, und hob langsam eine große, schwarzgerandete Brille, die an einem Stiel befestigt war, vor ihre Augen. Ich trat näher herzu, um ihr die Aufgabe zu erleichtern, die sie sich stellte, und sagte mit großer Höflichkeit, daß mein Weg mich an ihrem Garten vorübergeführt habe und daß ich um Verzeihung bäte, ihn ohne Erlaubnis betreten zu haben.

Sie nickte bedächtig ein paarmal, betrachtete mich aufmerksam von oben bis unten durch ihre Brille und sagte dann leise, mit feiner, gebrechlicher Stimme:

»Guten Morgen, guten Morgen.«

Ich wiederholte meinen Gruß und nahm wieder den Hut ab, wobei ich ein wenig zurücktreten mußte, damit mein Gruß dies zweite Mal nicht weniger ehrerbietig ausfiel.

Eigentlich erstaunt war meine vornehme Gastgeberin nicht, kaum ein wenig zögernd, keinesfalls aber ablehnend. Sie hob nun mit der feinen Hand ein merkwürdiges Horn empor, das, an einer silbernen Kette befestigt, an ihrer Seite hing und das jenen Hörnern glich, die die alten Germanen nach der Sage zum Trinken verwendet haben sollen. Ihre zarte Hand, die aus einer schneeweißen Ärmelkrause von Spitzen hervorschaute, rührte mich tief, ich hätte diese Hand an meine Lippen ziehen mögen, um meine Ehrfurcht kundzutun vor diesem lieblichen, welken Lebensgebilde im warmen Dämmerlicht von vielen, vielen Daseinsjahren, von Abschied und dankbarer Demut gegen sein letztes Wirken.

Aber bevor das sonderbare Horn in seine Bestimmung eingesetzt werden konnte, ereignete sich ein Vorfall, der Beachtung forderte, er ging von dem Begleiter der Dame aus, von dem bereits erwähnten Schoßhündchen, das sich offenbar erst nun seiner Aufgaben und Verpflichtungen entsann. Das Tier ging, offenbar durch meinen Gruß irre gemacht, zum Angriff gegen mich vor. Mit einem heftigen, sehr hohen Gebell, das durch ein Schnarren unterbrochen wurde, kam es zur Hälfte unter dem schwarzen Seidenrock seiner Herrin hervor, verschwand aber sofort wieder, als seine Gebieterin es durch einen entrüsteten Zuruf aufklärte. Sie lächelte versöhnlich und sah mich an.

»Er ist nicht bissig«, teilte sie mit.

Ich sagte rasch ein paar Worte über seine Anhänglichkeit, die offenkundig sei, und über seinen Gehorsam. Inzwischen war das Horn erhoben worden, und seine Spitze hatte die weißen Löckchen zur Seite geschoben und den Eingang zur Ohrmuschel gefunden. Da erkannte ich Tante Mimsey, von der Kaja gesprochen hatte, und nahm erneut Haltung an.

Tante Mimsey begann von vorn und wiederholte ihr freundliches: »Guten Morgen«; diesmal fügte sie hinzu: »Was führt Sie zu uns?«

Unmittelbar darauf wurde die breite Öffnung des Horns auf mich gerichtet, man erwartete eine Aufklärung.

»Ich bin ein wenig schwerhörig«, sagte die alte Dame freundlich und zog mit dem Augenglas eine waagrechte Linie durch die Luft, die diesen Umstand ausglich.

Ich wiederholte mit großem Aufwand meine erklärenden Worte über meinen Eintritt in diesen Garten, aber ich kam nicht weit, denn Tante Mimsey ließ ihr Horn sinken und trat einen Schritt zurück.

»So laut brauchen Sie nicht zu sprechen! Sie brüllen ja!«

Ich entschuldigte mich rasch:

»Ich werde künftig leiser sprechen«, sagte ich.

Tante Mimsey schüttelte nachsichtig den Kopf:

»Wenn Sie leise sprechen, kann ich Sie nicht verstehen, ich bin etwas schwerhörig.«

Nun schien alles zu Ende, und ich war ratlos.

Aber es war doch nicht so, denn die alte Dame nahm das Gespräch bereitwillig wieder auf und schien in keiner Weise durch mein Ungeschick enttäuscht zu sein. Sie mußte von meinen Worten so viel verstanden haben, daß sie sich als Besitzerin dieses Gartens anerkannt sah und daß meine Absichten keine Anforderungen an sie stellten, die über eine kleine Morgenunterhaltung hinausgingen.

»Was sind Sie, und was führt Sie denn zu uns hier ans Meer? Hier verkehren nicht viele Menschen, wir wohnen hier einsam.«

Das Horn kam, und ich versuchte, ihm gerecht zu werden.

»Ich bin ein Studierender der Naturwissenschaften«, sagte ich rasch und schnell gefaßt, denn ich sah ein, daß ich der Vorstellungswelt meiner prüfenden Gastgeberin ein wenig entgegenkommen mußte. »Ja, ich bin ein Student, ein armer, ein ärmerer ... Ich bin auf einer Forschungsreise, es sind zugleich die Sommerferien.«

Sie ließ es sich noch einmal sagen und schien leicht zu zweifeln. Ich nahm wahr, daß ich doch sehr laut sprechen mußte, wenn ich verstanden werden wollte.

»Was erforschen Sie?« fragte sie. Wir gingen nun langsam nebeneinander die Gartenwege entlang.

»Seetiere!« schrie ich in das Rohr.

»So, so ...«, sagte sie nachdenklich. »Seetiere. Wohl auch Algen?«

Sie schien stolz auf diese Unterscheidung zu sein und musterte mich glücklich mit den lieben, stillen Augen, voll heiterer Bescheidung.

»Auch Algen!« rief ich.

»Wie?« fragte sie bestürzt.

»Algen auch«, wiederholte ich deutlicher.

»Nun ja«, meinte sie verwundert, »das sagte ich ja schon.«

Wir ließen uns auf eine Bank nieder, die ganz von Flieder und Jasmin überschattet war. Die Büsche hatten hier unter den hohen Bäumen lange, hagere Triebe geschossen und blühten nur spärlich, ihr blattloses Gestänge um uns her wirkte wie ein Gitterwerk.

Das Hündchen mußte vorsichtig unter der Bank untergebracht werden, damit die Kette sich nicht verwickelte. Das kleine Tier trug schwer an dieser Fessel und schien verstimmt. Soweit seine Stirnzotteln, die wie Fransen einer Reisedecke über seine Augen und die Schnauze fielen, es zuließen, warf es hier und da einen melancholischen Blick auf seine Herrin und einen äußerst mißtrauischen auf mich.

»Nieder, Niko!« rief die alte Dame entschlossen. »Nieder mit dir!«

Niko verkroch sich.

»Wollen Sie hier verweilen?« fragte mich das alte Fräulein. Sie sah mich liebevoll und aufmunternd an, ich hatte deutlich den Eindruck, nicht abstoßend auf sie zu wirken.

»Vielleicht finde ich im Dorf Unterkunft«, antwortete ich.

»Das wird schwer halten, aber was gelingt nicht einem mutigen, jungen Menschen, der vorlieb nimmt und nicht auf Äußerlichkeiten sieht. Der Jugend ist kein Lager hart.«

»Sie wohnen hier sehr schön«, sagte ich und maß Haus und Park mit einer Armbewegung.

»Ja«, sagte sie dankbar, »ein schöner Tag.«

Zuweilen rückte sie plötzlich ein wenig mit der Schulter beiseite, als erwartete sie einen jähen Überfall der Rede, der ihr entgehen möchte oder der zu laut sein könnte. Sie ist nur noch Grobheiten gewohnt, dachte ich, denn wie kann man Zartheiten brüllen? Aber ich beschloß, doch den Versuch zu machen, feine und schmiegsame Worte mit großem Aufwand von Lungenkraft auszustoßen und ihnen im Rahmen ihres Schallumfangs Milde und Anstand zu verleihen. Man muß die Verhältnisse berechnen und alles auf einer anderen Grundlage wieder ausgleichen ... ich begann zu grübeln.

»Wir wohnen hier im Sommer auf diesem kleinen Landsitz«, erzählte mir Tante Mimsey, »ich und meine Nichte Kaja, ein Kind noch, ein rechtes Kind. Ich ertrage die Großstadt nicht, die Menschen beängstigen mich, und ich liebe den Verkehr und die Gesellschaften nicht mehr. Einmal sah ich eine edle Taube – mein Bruder hielt Tauben –,die in einen Fabrikssaal geraten war, in dem die Maschinen rasselten und die Arbeiter bohrten und feilten. Sie flatterte zwischen den Treibriemen hin und her und war außer sich! So fühle ich mich in der Großstadt. Meine Brüder bewohnen den Erbsitz, auch hierzulande, so habe ich mich auf diese kleine Besitzung zurückgezogen, ich nenne sie meinen Taubenschlag.« Sie lächelte nachsichtig.

Ich verstand alles durch eine zustimmende Neigung des Kopfes, die ich jedesmal wiederholte, wenn ich angesehen wurde. Da ich nicht zu antworten brauchte, konnte ich überdenken, auf welche Art es mir am besten gelingen möchte, die Teilnahme und das Wohlwollen des alten Fräuleins zu gewinnen und zu festigen, denn mein Entschluß war gefaßt, unsere Beziehungen fortzuspinnen und ihnen auf irgendeine Art die natürliche Dauer eines gesellschaftlichen Verkehrs zu geben. So wählte ich unbewußt durch das Schweigen, in das mein Grübeln mich senkte, den besten Weg, denn ich gab meiner Nachbarin Gelegenheit, sich ungestört mitzuteilen. Wie ich sie später kennenlernte, hätte ich kein geeigneteres Mittel ersinnen können, ihre Freundschaft zu gewinnen. Es schien ziemlich gleichgültig, ob ich zuhörte, denn oft, mitten in mein Schweigen hinein, stieß sie mit einem erschrockenen »Wie?« gegen mich vor, während sie meine zustimmenden Bemerkungen überhörte. Einmal schien es mir jedoch notwendig, deutlich und freundlich beizupflichten, aber sie schrie nur:

»Nieder, Niko!«

Ich erfuhr in jener frohen Morgenstunde vielerlei und verlor nicht einen Augenblick die Geduld, denn ich wußte, worauf ich wartete. Immer begann die sanfte Klage an meiner Seite mit einer Schwingung der verzagten und unverstandenen Seele und verirrte sich langsam in die Unzuträglichkeiten einer kleinen Alltagssorge. Wie bei manchen gealterten Gemütern, deren Herkommen mit der unantastbaren Autorität ihres Standes verknüpft ist, bewegte auch Tante Mimseys Vorstellungswelt sich noch um die Achse einer anerkannten Richterlichkeit und eines oft gefragten Urteils. Sie hatte den Zusammenhang mit den Lebensrechten und der Interessengemeinschaft der neuen Generation verloren, hielt aber diese Generation für verloren, da diese die alten Anschauungen nicht teilte. Nur ihre Nichte Kaja war für sie der Inbegriff einer im erwiesenen Geist gesicherter Lebensform heranreifenden Persönlichkeit, sie erklärte den Charakter und Lebensanstand ihrer Schutzbefohlenen für das Resultat ihrer Einwirkung und war stolz auf diesen Triumph ihrer Anschauungen. Bewegend war die innige und selbstlose Liebe, die aus allen Einwänden sprach, die sie selber schüchtern wagte, mehr um für die hellen Tugenden einen Hintergrund zu haben, als etwa um sich zu beklagen oder den Wert des jungen Mädchens in Frage zu stellen.

»Nur eines bereitet mir Sorge«, sagte sie nachdenklich und sah mich streng an, »daß das Kind sich nicht entschließen will, beim Baden in der See den üblichen Badeanzug anzulegen. Sie tut es nicht, ich weiß es, obgleich ich es nicht deutlich unterscheiden kann, ich bin etwas kurzsichtig. Aber der Badeanzug, den sie mitnehmen muß, ist nachher gewöhnlich trocken. Sie erklärt mir, die Sonne habe ihn getrocknet, aber nein, nein ... da soll sie ihre alte Tante doch nicht zum Narren haben. – Kaja, ich spreche von meiner Nichte Kaja. Sie wird gleich kommen, dann will ich sie Ihnen vorstellen, sie geht zum Baden und muß hier vorüberkommen. Vorher ... vorher stelle ich sie Ihnen vor.«

Sie richtete ihr Horn auf mich.

»Ich werde mich sehr freuen«, rief ich.

»Leider ist Kaja nicht dazu zu bewegen, jemals beim Bade eine angemessene Bekleidung anzulegen. Ich leide darunter und hege die Befürchtung, ein unberufenes Auge möchte Zeuge dieser kindlichen Vorurteile sein. So pflege ich denn während ihres Bades hier im Park und auch am Strand, wenn es nicht zu sonnig ist, zu wachen und Passanten abzulenken. Gottlob gibt es hier keine. Es wäre ja auch schrecklich!«

Sie erhob sich, nach einem ängstlichen Blick zur Seeseite, zerrte Niko, der eingeschlafen war, unter der Bank hervor und drängte auf das Haus zu.

»Sie nehmen vielleicht gern einen Imbiß?« fragte sie herzlich, aber deutlich in jener befangenen Besorgnis, die entsteht, wenn eine gute Absicht noch nicht die Form ihrer Durchführung gefunden hat. Sie zerrte an Nikos Kette, die sich anscheinend etwas verwickelt hatte, weil er erst unterwegs erwacht war. Die Kette kam seitlich unter ihm hervor, so daß er dadurch genötigt war, mit schrägem Kurs unsere Richtung einzuhalten, aber deutlich war es nicht zu unterscheiden.

»Helfen Sie!« rief Tante Mimsey, aber Niko schnarrte und drohte vor Grimm zu ersticken, als ich mich ihm näherte. Obgleich Tiere mir lieb sind, habe ich für diesen Hund niemals Zuneigung aufzubringen vermocht, er war mir nicht angenehm. Wir kamen an einer Grotte vorüber, in der ich später oft mit Kaja gesessen habe. Man sieht von dort auf das Meer, ohne den Strand zu erblicken, durch die Stämme der Buchen hindurch und unter ihrem Dach dahin. Es ist ein goldgrüner Rahmen, in dem niemals etwas anderes erschienen ist als Himmel oder Meer, Wogen oder Sterne, Licht oder Nacht. Ich sehe seine Form noch heute, ein unruhig gerändertes Tor, durch das die Lichtbahnen der Augen nur unveränderbaren Dingen begegnet sind. Nur einmal stand auch Kaja mitten darin, der Mond schien, und sie fröstelte leicht im Mantel ihres Haars ...

»Wenn Sie meine Nichte Kaja erblicken sollten, so machen Sie mich bitte darauf aufmerksam«, sagte Tante Mimsey. »Hier können wir warten, später werden wir dann etwas zu uns nehmen.« Bald darauf sah ich es dicht am Haus lebendig schimmern, und mein Herz schlug übermächtig. Hell, rasch glitt es hinter dem Vorhang der Büsche dahin, und das Haar, eine schwere goldene Kappe, lag um die Schläfen und tief im Nacken. Wie groß sie war!

»Vielleicht ist sie das ...«, stammelte ich und fühlte deutlich, daß es verächtlich klang.

»Ja, ja, ja!« rief Tante Mimsey, die nur meine Bewegung verstanden hatte, und dann laut: »Kaja, Kaja!«

Das Mädchen sah mich groß und heiter an, als sie nun auf uns zutrat. Ohne Überraschung musterte sie mich, näher tretend, aufmerksam und abweisend, und sah dann ernst und warnend in Tante Mimseys Augen.

»Um Gottes willen, wen hast du dir da aufgeladen?« fragte ihr Blick die Tante.

Ich rückte meinen Hut zurecht und brachte mein eines Bein in eine gefällige und vornehme Haltung.

Tante Mimsey verschanzte sich hinter dem Morgenkuß, aber er ging zu Ende, und nun mußte sie sich rechtfertigen.

»Ein unerwarteter Gast«, sagte sie, »zwar unerwartet, aber ein junger Student auf der Reise. Er ist Naturforscher und hier fremd.«

Kaja machte einen strengen Knicks.

»Geh zu deinem Bad, mein Kind«, fuhr die Tante fort, »wir unterhalten uns hier noch ein Weilchen.«

»Jetzt wirst du zum Christentum bekehrt«, sagte Kaja zu mir. »nachher komm schwimmen. Du siehst schrecklich aus im Tageslicht man schämt sich ja. Also auf Wiedersehen.«

Es war mir ein Rätsel, wie ein Mensch diese Worte aussprechen konnte und dazu ein Gesicht machen, als sagte er, betroffen und verlegen: »Guten Morgen, mein Herr, ich danke Ihnen für die Ehre Ihres Besuchs und hoffe, daß Sie sich in diesem Hause wohlbefinden werden.«

Tante Mimsey schien zufrieden, sie nickte gewissermaßen in sich hinein, und man sah den Bewegungen ihrer Hände an, daß ihr ein Hindernis als überwunden galt.

»Eine reizende junge Dame«, sagte ich zurückhaltend.

»Ja, ja, ja ...«, sagte Tante Mimsey leise, als sei es die Schlußzeile eines Gedichts; sie dachte an etwas anderes.

Ich bat um die Erlaubnis, mir jetzt im Dorf eine Unterkunft suchen zu dürfen, und half ihr damit aus ihrer kleinen Verlegenheit. Während sie sich zu Niko niederbeugte, schnitt ich mit dem Taschenmesser ihre gestielte Brille von der Seidenschnur, an der sie befestigt war, und steckte sie ein, denn ich wollte mit Kaja baden. Auch hatte ich damit für alle Fälle einen Anlaß, später wiederzukommen, um als glücklicher und ehrlicher Finder empfangen zu werden.

Kaja saß auf einer schmalen Sandbank im harten Gras des Strandes und zog sich aus. Sie hatte einen Platz gewählt, der vom Land aus nicht zu sehen war, da die Buchen dort bis dicht ans Wasser wuchsen auf einem unterspülten Hang.

»Ich bewundere dich«, sagte sie. »Daß du mit mir fertig geworden bist, ist keine Heldentat, denn ich habe es dir leichtgemacht, aber mit Tante Mimsey ... das will etwas heißen. Es war deutlich, daß sie dir wohlgesinnt ist.«

»Ich hatte erwartet, sie würde sich vor mir fürchten. Bist du noch einmal eingeschlafen?«

»Wie hast du es nur angefangen? Deine Reden versteht sie nicht.«

Ich überwand mit Gewalt meine törichte Unsicherheit, die sich in meiner lächerlichen Frage kundgetan hatte, und begriff, daß um Kaja der Seewind strich. Als sie ihr Hemd fortwarf, kehrte sie mir den Rücken zu und sagte nachsichtig:

»Man muß dich ja schonen, du Armer. Wir müssen vorsichtig sein«, sagte sie und versuchte durch die Buchen zu spähen.

»Ich hab' die Brille«, antwortete ich.

Sie starrte mich an und brach in Lachen aus.

»Mit der einen Hand betest du, und mit der anderen raubst du«, stellte sie nachdenklich fest. »Aus dir wird man nicht klug. Aber vor allen Dingen mußt du jetzt etwas essen. Sieh das Päckchen dort, es ist für dich.«

»Daran hast du gedacht, Kaja?«

Sie sah mich fragend an.

Ich merkte erst nun, wie hungrig ich war, und unter diesen Augen war ich es ohne Arg. Ich werde niemals zu schildern vermögen, woher die Gefahr und Wohltat dieser Seele kamen, sie strömten auf mich über und verwandelten mich. Diese Welt ohne Pflichten, Dank und Schuld war ungreifbar, von heiliger, uranfänglicher Freiheit. Man vermochte in ihr zu sein, beglückt oder traurig, aber erreichbar war sie nicht.

Sie saß nackt im Sand, die Augen gegen das Meer gerichtet, mitten in der Sonne, und rauchte. Ihr Haar fiel hinter ihr bis auf den Boden nieder, als schiene die Sonne durch ihre Stirn und verlöre sich, selig ermüdet, in mattem goldenem Fluß, im Schatten dieser hellen Schultern. Nun hob sie es langsam, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, mit beiden Händen, und barg es unter einer roten Kappe aus dichtem Stoff, um es beim Bad vor dem Meerwasser zu schützen. Eine feine blaue Rauchsäule erhob sich lebendig über ihr und wanderte, sich leicht zerteilend, lautlos ins Buchengrün empor.

Kaja legte sich nun langsam auf den Sand zurück und öffnete sich ganz den Sonnenstrahlen wie eine blühende Pflanze. Sie breitete ihre Arme aus, und als sie die leicht erhobenen Knie ein wenig öffnete, wandte sie mir gleichzeitig ihr Gesicht zu, und ihre Blicke suchten und umfaßten mich, zugleich entschuldigend, lauernd und durstig. Aber von einer Offenheit sondergleichen und gebieterisch, ja verächtlich, so daß mir war, als saugte das Lebenslicht ihres Wesens mich in einen blassen Abgrund von ewiger Selbstverlorenheit.

Sie gab mir ihr Päckchen Zigaretten herüber, als würfe sie es fort. Keine Geste schien ihr verächtlicher zu sein als die der Darbietung. Dankbar ist sie nicht, dachte ich, als dächte ein anderer für mich. Eines guten Mannes gute Frau wird sie niemals, denn wie vermöchte heute eine brave Männerseele sich leicht das Zelt seiner Ehe anders zu denken als im Talgrund der Dankbarkeit eines durch ihn begnadeten Weibes. Ich mußte lachen, und Kaja sah sich nach mir um.

»Was ist geschehen?«

»Ich mußte lachen, weil ich mir dich als Ehegattin eines braven Mannes vorstellte.«

»Ja«, sagte sie, »ich weiß schon von heute nacht her, wie ausschweifend du in deinen Gedanken bist.«

»Erzähle mir von dir, Kaja.«

»Hast du noch nicht genug erfahren? Du möchtest mich endlich kennenlernen, nicht wahr? Wie leichtsinnig ihr doch seid, daß ihr den Mädchen erlaubt, sich zu beschreiben, wie sie gesehen sein möchten. Es geschieht, weil ihr nicht selbst sehen könnt, wie sie sind, oder weil ihr es nicht wagt. Auch in den Büchern, die ich lese ... Es ist immer dasselbe. Erst flehen sie einander um Schonung an und nennen es Verständnis, dann verstehen sie einander endlich und werfen sich Täuschung vor. Ein lächerliches Volk. Jetzt geh' ich ins Wasser.«

Sie erhob sich, und der Sand blühte. Langsam, Schritt für Schritt, maß sie den feuchten Teppich, ging in Meer und Himmel über und schien die helle Welt, das schöne Leben selbst zu sein, dessen Beglückung sie annahm. Als eine größere Welle heraneilte, deren blendender Schaumkamm ihre Brust erreicht hätte, warf sie sich ihr entgegen und verschmolz mit dem kühlen Wasser wie für immer.

Ich aß und rauchte und zitterte vor Wut, daß ich beides zu dieser Stunde vermochte, aber es ging, und ich fühlte eine schmerzende Zweiheit wunderbar in mir heilen. Zugleich aber sank es um mich her nieder, als fielen die Sterne vom Himmelszelt, als wären alle Wunder zu Dingen geworden. Habe ich einst gesündigt, oder sündige ich nun? fragte ich mein Herz, aber als Antwort hörte ich nur den fühllosen Frohsinn der großen Wellen erklingen, die sich bildeten und zerwarfen, zergingen und sich erneuerten unter der gleichen Sonne, in deren Himmelsflut meine Brust sich hob und senkte. Im gleichen Sonnenschein, Asja, liegt weit in der Ferne, bei der großen Stadt, dein Grabhügel.

In einem frohen Taumel von Glück und Müdigkeit stampfte ich bald darauf durch die Mittagssonne am Strand dahin auf das kleine Dorf zu. Ich war nicht ratlos noch auch nur besorgt, wie es sich einrichten möchte, daß ich bei Unterkunft und unter gutem Vorwand im Lande blieb. Ist so Wichtiges, so Lebendiges, so viel glückliches Tun mir gelungen, so wird sich das Beiwerk dieser Tage ihrem Sinn fügen, dachte ich und war nach Art der Seelen frei und unbekümmert, die ein Ziel haben, einen Mittelpunkt, um den ihr Tun kreist.

Aber, sonderbar genug, mein Vertrauen wollte immer wieder von mir hören, wie groß es sei. Ich hatte es nie zuvor gekannt, daß man Zuversicht gewinnen kann im glückseligen Aberglauben und wie im Selbstbetrug einer beinahe heiligen Oberflächlichkeit. Wenn ich mir sagte, daß ich Kaja liebte mit der ganze Inbrunst und aus tiefster Seele, so erschien es mir in der eroberten Gewißheit und im Wohlstand meines hohen Rechts doch, als zöge ich diese Liebe herbei, um mich freizusprechen. Sonderbar und mütterlich lächelte der Weltgeist mich an, gnädig und zögernd, als sei ihm ein Irrtum gefällig.

Es ist die Mittagsstunde im Sand am Meer, dachte ich, diese gewalttätige Verlassenheit, die die begrünte Erde vergessen macht. Ich blieb stehen und hörte den Wellen zu, ihre magischen Stimmen bemächtigten sich meiner, und ich empfand die Wohltaten, die mit ihrem Ausgleich in uns mächtig werden. Hart am Strand lag ein verwittertes Wrack, das schwarze Rippen in den fahlen Sonnenglanz emporreckte.

Ich schrieb mit dem Stock ein Wort in den weichen, nassen Sand, den die Flut bespülte, und beobachtete, wie die Wogen es auslöschten. Ich grub die Buchstaben tiefer ein und sah abwartend und begierig auf die sanft heraneilenden, durchsichtigen Wasserhügel, die sich dicht über den Schriftzügen hoben, als wollten sie ihr Opfer bedrohen, niederbrachen wie mit Gelächter und sich breit und gelassen verebbend ausbreiteten und zerteilten. Sie löschten aus, was ich geschrieben hatte, und rannten zu sich selbst zurück. Sie kamen und gingen immer auf die gleiche Art, ob ich ihnen eine Beute zur Vernichtung bot oder ob ich stumm ihr geglättetes Sandbett betrachtete.

Ich begriff ihre gefährliche Weisheit und beschloß, mein Herz zu hüten, aber ihre Macht war eindringlich und der Gehorsam gegen ihr Gesetz eine süße Wollust. Und plötzlich mußte ich über alles lächeln, was ich auf der bewohnten Erde zu beginnen im Sinn hatte, über den Knabenernst meiner Absichten, über das Lebensgewicht der kommenden Jahre, voll Streben, Erfolg und Wirken, über Ziele, Zukunft und Ende. Ihr Wellen werdet euch im Sonnenlicht oder im ruhigen Mond, bei Regengüssen oder im Wind erheben, neigen und auf den Sand niederbrechen, zurückfluten und aufs neue in vergänglichem Gebilde erstehen, um wiederum zu zerfließen.

Ich trat hinzu und schrieb Kajas Namen in den Sand. Die erste Woge verwischte ihn, als sei er tiefer eingeschnitten und verblaßt, die zweite Woge nahm ihn spurlos dahin, die dritte fand den tausendjährigen Strand in seiner alten Wesenheit. Da schrieb ich mit zitternder Hand, ein leidender Mörder, Asjas Namen in den Sand. Die erste Woge verwischte ihn, als sei er tiefer eingesunken und verblaßt, die zweite Woge nahm ihn spurlos dahin, die dritte fand den tausendjährigen Strand in seiner alten Wesenheit.

Aber kaum hatte sich auf meinen Lippen ein ungewisses Lächeln gebildet, als mir sonderbar deutlich Asjas Worte über den Wandel der Natur zum Bewußtsein kamen, und zum erstenmal verstand ich den Sinn: »Der Wandel der Natur hat keine Kraft über seine Kreise emporzuheben, allein der Geist.«

Das erste Fischerhaus, das ich erreichte, war eine kleine, mit Stroh gedeckte Kate, die zwischen Kartoffeläckern, hinter den Deich geduckt, mit ihren Fenstern wie mit Augen eben noch auf die Meerweite hinaussah. Ein Vorgärtchen, dicht gedrängt voller Buschnelken, Phlox und Malven, ein Holzstall und weiter abseits im Land ein Ziehbrunnen machten den sichtbaren Bestand des kleinen bäuerlichen Anwesens aus. In langen durchsichtigen Bahnen, braun wie Erde, hingen die Netze dicht am Strand zwischen alten geteerten Pfählen ausgespannt, und zwei Boote lagen im Sand. Ein Geruch von Seetang und verdunstendem Meerwasser hauchte mir warm entgegen, und meine frohen Kindertage kamen zu mir und ermutigten mich.

Es schien niemand anwesend zu sein. Am Hauseingang war eine Ziege angebunden, die still vor sich hin sah und auf das Meerrauschen zu achten schien. Als ich mich ihr näherte, sah sie mich an und begann eifrig zu wedeln. Da ich nicht gewußt hatte, daß Ziegen diese Gewohnheit an den Tag legen, blieb ich stehen und beschäftigte mich eine Weile mit ihr. Es schien mir jedoch bald, als ob dieses eigenartige Wedeln keinesfalls in einer Beziehung zu ihrem Seelenleben stand, denn es unterblieb und erneuerte sich ruckweise und willkürlich und ging auch dann vor sich, wenn mein Verhalten und meine Einwirkung auf das Tier unterblieben oder jedenfalls derart waren, daß sie keine Zustimmung herausforderten.

Dagegen ließen sich deutlich Wahrzeichen von Wachsamkeit feststellen, denn als ich den Nacken der Ziege zu streicheln versuchte, senkte sie mit einer sonderbar störrischen Gelassenheit den Kopf und ging mit ihren Hörnern gegen mich vor. Das Seil verhinderte die Ausführung ihres Vorhabens, jedoch beschloß ich, vorsichtiger zu sein und den Abstand zu wahren, auf den sie Gewicht zu legen schien.

Nach einer Weile trat ein alter Mann unter der niedrigen Tür hervor und musterte mich mit listigen Augen, wobei sein Gesicht einen Ausdruck zeigte, als lache er mich heimlich aus. Sein Gesicht war von einem Bart eingerahmt, der wie ein gelblichweißer, gleichmäßiger Halbkreis von Ohr zu Ohr um das Kinn herumlief, er trug zwei Transtiefel, groß wie Gießkannen, und die kurze Pfeife in seinem Mundwinkel machte in ihrem Verhältnis zu seinem Mund den Eindruck auf mich, als nährte er sich von ihr. Da sie nicht zu brennen schien, bot ich ihm Feuer an, mußte aber zurücktreten, als er mir gemächlich eine Rauchwolke ins Gesicht blies. Er fragte mich auf niederdeutsch, was mein Begehr sei, und da ich seine Sprache nicht nur verstand, sondern mich ihrer auch zu bedienen wußte, glaubte ich daran, daß ich mit ihm übereinkommen und ein Obdach in seinem Hause finden würde. Aber merkwürdigerweise verstand er mich nicht. Ob ich ein Franzose sei.

»Ein Franzose? Nein«, sagte ich auf hochdeutsch.

»Na, sieh an, es geht ja«, meinte er ermutigend in seinem Kauderwelsch, »warum sprichst du nicht gleich vernünftig?«

»Ich habe plattdeutsch gesprochen.«

Seine winzigen Augen wurden so groß wie Taler.

»Also das adelige alte Fräulein vom Wasserschloß schickt Sie zu mir?« fragte er.

»Ja, die Baronin, meine Freundin ...«

»Sieh an«, meinte er und blinzelte, aber es schien ihm keinen besonderen Eindruck zu machen. »Ich würde mich an die Junge halten, wenn ich in deiner Haut steckte.«

»Dazu ist die Haut nicht mehr heil genug«, antwortete ich und wies auf meinen Rock.

Der Alte spie aus. Es pfiff, ganz bestimmt traf er irgendein Ziel draußen auf dem Deich.

»Die Weiber, um die es sich lohnt, haben noch keinen Mann nach seinem Rock gewählt, das bilden sich nur die Laffen ein, die nichts als ihren Frack besitzen. Aber was man Grünschnäbeln sagt, ist in den Wind geredet. Eine Kammer habe ich, was gibst du mir?«

Wir einigten uns, da ich keinen Grund hatte, eine Summe zu hoch zu finden, die ich doch nicht bezahlen konnte.

»Melden sich Herrschaften als Badegäste bei mir an«, sagte der Alte, »so kannst du Unterkunft bei deiner Baronin suchen.«

Damit war ich einverstanden. Die kleine Kammer zu ebener Erde enthielt nicht viel mehr als ein Bett, aber der Boden war mit weißem Sand bestreut, und das Fenster führte auf das Meer hinaus. Ich legte mein Bündel gewichtig auf den Holztisch, als sei es schwer von irdischen Gütern, aber der Alte hob es gelassen auf, wog es, um das Gewicht nachzuprüfen, und ließ es wieder nieder. Er sagte: »Nun ja ... wirst auch nur eine Mutter gehabt haben.«

Das verstand ich nicht ganz, aber es berührte mich wohlwollend, denn es stellte eine Art Gemeinschaft zwischen ihm und mir her, als habe er nach etwas gesucht, das wir sicherlich beide einmal aufzuweisen gehabt hatten.

»Ich habe eine Nichte, die das Haus versieht«, teilte er mir auf meine Frage mit, ob er allein lebe, »aber halt dich an deine Schloßmuhme«, fügte er hinzu, »sonst hat's gespukt.« Er nahm die Kissen vom Bett, um sie fortzutragen, und ließ nur ein Tuch aus grobem Leinen über dem Rapsstroh liegen, mit dem die Lade angefüllt war wie eine Krippe.

Dann gingen wir miteinander durch die zwei andern Stuben des Hauses und durch den Garten, der Alte zeigte mir alles. Der Brunnen befand sich weiter draußen im Feld, die Kartoffelbüschel waren schon groß wie kleine Sträuße, bald würden sie blühen. Ja, der sandige Boden sei für die Kartoffel gerade das rechte. Aber seine Netze und die Boote waren ihm doch das wichtigste. Ich bot ihm meine Hilfe beim Fischen an, aber er spie nur aus, und wir sahen miteinander dem Vogel seiner schmalen Lippen nach, wie er das Weite suchte.

Ich verschlief den Mittag nahe am Strand im Halbschatten eines struppigen Busches. Da ich am Nachmittag mit dem Alten im Kartoffelacker arbeitete, dessen Pflanzen gehäufelt werden mußten, verstand es sich von selbst, daß ich auch sein Brot und seine geräucherten Fische mit ihm teilte. Gegen fünf Uhr kam seine Nichte aus dem Dorf zurück, ein siebzehnjähriges Mädchen mit blondem Haar, so hell wie Flachs. Ihre blauen Augen sahen ernst und mit Zurückhaltung auf mich, aber ohne andere Einschätzung als die einer natürlichen Neugier. Ich wechselte nur ein paar Worte mit ihr, als wäre es Geld, denn sie war von unwahrscheinlicher Schüchternheit und nicht gewohnt, andere Menschen als die Dorfbewohner zu sehen. Auch wollte ich mich aufmachen, um im Wasserschlößchen meinen geplanten Besuch zu machen. Gottlob war ein schöner Tag, denn ich fürchtete mich davor, in den Rahmen eines wohlbestellten Zimmers treten zu müssen, der Garten war mir lieber. Ich ließ das Fenster meiner Kammer leicht angelehnt offenstehen und verabschiedete mich ohne Erklärungen.

»Nimm den Butt mit«, sagte der Alte und gab mir einen großen Fisch.

Die gestielte Brille Tante Mimseys und dieser platte Fisch waren mir Gewähr, eine gute Aufnahme zu finden. Die Sonne stand nun hinter dem Land, und das Meer hatte sein Wesen geändert. Mir war, als sähe man viel weiter hinaus über seine silberblaue Ebene, und die Möwen waren blendend weiß und schwebten klar geschieden und ruhig im farbigen Himmel. Alles war wirtschaftlicher und verständlicher, die Lichtmysterien des Sonnenaufgangs und die blendenden Bewegungen der Elemente, die brausenden Wogen aus Glanz und Flut waren gestillt und schienen sich voneinander getrennt zu haben.

Ich sah in der Landschaft, hinter Kartoffel- und Buchweizenfeldern, eine Mühle am Horizont, deren Flügel sich bewegten wie Sonntagsspaziergänger. Es verband sich mit dieser Gestilltheit eine leichte Enttäuschung, wie sie der erste Tag in einer neuen Lebenswelt in seinem Verlauf mit sich zu bringen pflegt. Auch sollte ich nun bleiben und mich einrichten, das war mir fremd.

Kajas Bild gaukelte in blauen Nachtschleiern und in den Stürzen der Flut vor meinen Augen, verwoben in die Elemente der Natur, zugleich Plan und Entzückung, unerreichbar, um mich her und tief in mir. Wie ruhelos machst du mich durch die Trennung, Kaja, und welche Trennung von mir selbst ist die Beruhigung deiner Nähe.

Als ich beim Garten angelangt war, sah ich Tante Mimsey an einem gedeckten Kaffeetisch sitzen. Ich blickte durch die Büsche, die die Gartenpforte übergrünten, und erkannte Niko auf ihrem Schoß, der schlief. Etwas abseits stand Kaja vor einer Staffelei und malte. Es war ein friedliches Bild von ländlichem Ruhn und Tun, und ich fand in der Gewohnheit dieser Stunde die innere Haltung, mich ihr einzufügen.

»Unser Student!« rief Tante Mimsey sichtlich erfreut und hielt mir ihre liebe alte Hand hin, als gäbe es nichts in der Welt, das je zwischen uns treten könnte. Kaja drehte sich um, knixte steif und wischte ihren Pinsel am Rasen ab, als ob sie einen Zaun anstriche. Niko sah den Fisch und flüchtete. Er verschwand lautlos unter dem Tisch, als ob er herabfiele, und kam nicht mehr zum Vorschein.

Auch Tante Mimsey verriet Entfremdung, als sie den Butt erblickte, den sie mit meinen Forschungen in Zusammenhang brachte und an dessen Tod sie erst glaubte, als sie seine Bestimmung erfuhr. Sie dankte mir zärtlich, ja, der alte Lüdersen sei ihr guter Freund, und seine Nichte Han habe sie auf den Armen getragen. Diese Erinnerung rührte sie, sie verbarg ihre Bewegung. Als sie nun den Fisch für tot hielt und ihre Brille mit frohem Dank zurückgenommen hatte, fragte sie mich, wie ich zu Gott stünde. Darauf vermochte ich nicht rasch zu antworten, am wenigsten laut, ich sagte zunächst nur: »Danke, gut« und überlegte mir die Sache. Kaja erschwerte mir den geforderten Ernst, denn sie rief, ohne sich umzudrehen, gleichmütig:

»Brüll einen Bibelspruch, sonst sind wir verloren!«

Ich faßte mich und schrie: »Der Spruch meiner Einsegnung war: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Bisher hat er sich bewährt.«

»Er wird es auch künftig tun«, sagte Tante Mimsey liebevoll und schob mir ein großes Stück Kuchen hin.

War ich nun anfänglich der Meinung, die Stellung der alten Dame zu religiösen Dingen sei von jener beziehungslosen Äußerlichkeit, wie sie so oft in welken Gemütern angetroffen wird, die eher eines undurchdachten Trostes als eines trostreichen Gedankens bedürfen, so irrte ich mich, denn das alte Fräulein lebte in den Bildern und Gestalten der Bibel wie in ihrem Haus und Garten, still, heiter und in kindlicher Anhänglichkeit. Ihr Fehler bestand in der Hauptsache nur darin, daß sie niemanden für glücklich zu halten vermochte, der ihre Welt nicht teilte. Da ihr aber das ausgesagte Zugeständnis einer aufrichtigen Teilnahme genügte, um eine Gemeinschaft für erwiesen zu halten, war es leicht, ihr Wohlwollen zu finden, ohne deshalb eine Unwahrheit zu sagen. Ich ärgerte mich oft über Kaja, die ihre Zustimmung übertrieb, um zu spotten, und in ihrer ironischen Bereitwilligkeit viel weiter ging, als nötig war, um im Guten zu befriedigen. Aber ihr Hohn war von so feiner Schärfe, er verriet eine solche Kraft der Unterscheidung und des Anspruchs, daß ich an meinem heimlichen Tadel irre wurde, denn ich empfand sie als kalt, mich aber als lau.

Sie ließ an jenem Nachmittag ihre Arbeit, kehrte ihr Bild auf der Staffelei um und setzte sich zu uns. Ihr Ausdruck von Arglosigkeit und Unschuld war so vollkommen, so ohne einen Schatten von Verstellung oder Willkür, daß ich heiß erschrak und oft in einem Gefühl so schmerzlicher Wehmut in die Reinheit dieser Züge sah, daß ich glaubte, mein Herz schmerzen zu fühlen wie in einem kalten Ring ewiger Rätsel. Ihr leicht geöffneter Mund, die holde Neigung der Stirn und das liebe Forschen ihrer Augen überredeten mich so unmittelbar zu einem Gehorsam der Hingabe. Ich suchte mit Angst nach den Merkmalen ihrer schrankenlosen Sinnenfreiheit, nach den Wahrzeichen ihrer dämonischen Lust zur Erde.

Tante Mimseys biblischer Eifer ließ nicht zu, daß ich mich mit Kaja oder meinen Gedanken beschäftigte, diesen beiden Elementen, um deren willen mir das Leben allein lebenswert erschien. Ich fühlte mich unter den Belehrungen und Darbietungen der alten Dame wie in einer gemütlichen Tortur, die mich zugleich in Erstaunen setzte und ungeduldig machte. Wenn ich von ihren Erörterungen und Erklärungen religiöser Fragen für einen Augenblick abschweifte und, durch den Gegenstand angeregt, an Asja dachte, so war mir, als sähe ich von einem einfältigen Kartenspiel, auf dessen Blättern bunte biblische Figuren prangten, über einen dunklen See zu den Bergen, deren Wipfel in der Sonne lagen.

»Wir müssen einander lieben«, sagte Tante Mimsey innig, »die Welt ist an Liebe arm, erst wenn wir diese Absicht an den Tag legen, wird es besser.«

»Es tut schon jeder, was er kann«, sagte Kaja, die mir mit gefalteten Händen gegenübersaß.

Tante Mimsey zog eine Bibel aus ihrem Täschchen, gemeinsam mit einem Päckchen von Schriften. Sie schien nach einem Gegenstand Umschau zu halten, der ihr fehlte; endlich bat sie ihre Nichte um eine Nadel, und Kaja zog eine aus ihrem Haar und reichte sie hinüber. Dann hielt Tante Mimsey die Bibel zwischen beiden Händen so auf dem Tisch fest, daß sie aufrecht emporstand, und forderte mich auf, mit der Nadel in die leicht zusammengehaltenen Blätter zu stechen.

Das war mir neu, und ich zögerte.

»Mutig«, sagte Kaja freundlich.

Ich stach, das Buch öffnete sich an der Stelle des Spalts, und Tante Mimsey nahm die Brille.

»Nun werden wir sehen«, sagte sie.

Ich hatte den alten Habakuk erwischt, von dem ich bisher nur gewußt hatte, daß er vor Zephanja kommt. Tante Mimsey vergrößerte mit einer Lupe, was von seinen Niederschriften gedruckt worden war, um das Zehnfache und begann zu lesen.

»Komm um elf Uhr heute nacht«, sagte Kaja und sah mich an.

Langsam, als buchstabierte sie, las das alte Fräulein:

»Ihre Rosse sind schneller denn die Parder und behender denn die Wölfe des Abends. Ihre Reiter ziehen in großen Haufen von ferne daher, als flögen sie, wie die Adler zum Aas ... Parder«, erklärte sie über die Brille fort, »das sind wahrscheinlich Panther, früher sagte man Parder.«

Ich nickte Kaja Antwort zu, und mir war, als verströmte ich mich in meinem Blick, meine Lippen erstarrten mir wie unter einem herben Schmerz.

Kaja senkte die Augen, deutlich befangen gemacht durch meinen Blick, und von ihren hellen Lidern strahlte mir mein unmögliches Wesen zurück wie ein Strom von Traurigkeit.

Tante Mimsey begann nun, mir den Inhalt des gelesenen Kapitels auszulegen, sie bezog die Wahrsagungen des alten Propheten auf das kommende Reich des Heilands und verglich die angeführten Übeltäter mit den Feinden der Kirche, mit den Gottlosen der argen Tage, in denen sie lebte. Sie kam dann zu meiner Überraschung darauf zu sprechen, daß daher die Wiederkunft des Herrn unmittelbar bevorstünde.

Kaja sah auf die Uhr.

»Er wird wie ein Dieb in der Nacht kommen«, teilte Tante Mimsey geheimnisvoll mit und sah warnend drein.

»Herr Habakuk macht Schule«, meinte Kaja. »Die Tante wird hellsichtig. Nimm dir heute nacht ein Beispiel am Dieb und sei pünktlich.«

Hiernach erhob sie sich artig, küßte der Tante die Hand und ging, nachdem sie ihren Hofknicks vor mir gemacht hatte, ins Haus. Nun wäre Andacht möglich gewesen, wenn es nicht Niko im Sinn gelegen hätte, Kaja zu folgen. In traumwandlerischer Sinnlosigkeit galoppierte er unter seiner befestigten Kette, ohne von der Stelle zu kommen, so daß der Kies flog. Tante Mimsey gewahrte es nicht, weil sie sich wieder in Habakuk versenkt hatte. Als ich sie endlich darauf aufmerksam machte, war Niko atemlos, und sie geriet in große Bestürzung, denn sie hielt seine stürmische Bestrebung für das Anzeichen einer Verrichtung, die nicht hinausgeschoben werden durfte. Sie ließ alles stehen und liegen, wie es war, löste die Kette von der Banklehne und ließ sich von Niko davonzerren. Beim Haus gab es eine flüchtige Störung, weil das Tier die Ecke zu rasch umeilte, so daß die alte Dame nicht ohne Bedrängnis zu folgen vermochte; aber dann entschwand auch sie meinen Blicken, und es wurde still im sommerlichen Garten.

Ich schritt unruhigen Sinns zum Meer hinab, erheitert und zugleich unbefriedigt. Der Gleichmut der Meerstimmen zog mich an, und solange ich nicht daran dachte, beruhigte er mich. Mein Ungenügen verwandelte sich langsam in Traurigkeit, und ich sah den Lichtgang der sinkenden Sonne auf dem Wasser. Ich glaubte, den weiten Schattenteppich zu erkennen, den die Parkbäume aufs Meer warfen, die Möwen flogen mit ruhigem Flügelschlag, rot beschienen, es war so still, als sei die Welt verlassen. Der Seetang duftete schwül und fremdartig.

Ich war den kunterbunten Jahrmarkt der zurückliegenden Eindrücke nicht mehr gewohnt und sah Kaja wie in einem Narrenkleid einhergehen. Die Verführungen dieser arglosen Alltäglichkeiten bedrängten mich bitterlich, obgleich ich wieder und wieder versuchte, sie als das zu nehmen, was sie waren, als Stundentand und Sinnenreiz des raschen Tags. Aber mir war, als gelte es, etwas unsagbar Wichtiges zu retten, das in diesen Einflüssen herabgesetzt wurde und verdarb. Es fiel Staub darauf, und alles wurde kleiner und ärmer, es verlor die Feierlichkeit, und umher standen hämische Verkünder der Erniedrigung.

Einst fühlte ich die Nacht kommen wie einen Menschen und vermochte in meinen Gedanken zu verweilen, wo immer ich wollte. Die Sterne und Stunden waren meine Geschwister, und ich hatte Zeit, als verteilte ich Ewigkeiten. Ich lebte allein und ging Gott entgegen, ich sah die Erde in die Gestirne eingereiht, und es war selig beliebig, welches von ihnen mich trug. Jetzt war es die Erde ... Aber je länger ich im Sande lag, die Stirn gegen den Himmel, und je weiter die Nacht in tiefer Klarheit zum Meergesang hereinbrach, um so größer wurden die Sterne und um so kleiner die Erde.

Es mochte dicht vor Mitternacht sein, als Kaja mir im Garten entgegenkam. Der Mond, eine schmale Silbersichel, schien nur spärlich durch die Baumkronen zu uns nieder. Das Mädchen war groß und frauenhaft in diesem geheimnisvollen Licht, ich erkannte ihre Gewandung nur undeutlich. Wir sprachen unwillkürlich leise, obgleich kein äußerer Grund dazu vorlag, das Haus war totenstill und dunkel und der Park im leeren Land wie eine Insel. Das Gras duftete feucht, und die Grillen feilten an ihren undeutbaren Stätten.

»Wir wollen das Siebengestirn am Himmel suchen«, sagte Kaja, »komm ans Meer. Ich weiß nicht, warum es mich vor allen anderen Gestirnen anzieht, wir haben sicher alle irgendeine Beziehung zu einem besonderen Stern. Es ist eine geheimnisvolle Undeutlichkeit um dieses Sternenbild, wenn du es genau zu erkennen trachtest; schließt du aber die Augen halb, so erstrahlt es am hellsten wie eine kleine Lichtwolke. Du weißt den siebenten Stern und siehst ihn nicht, dann wieder siehst du ihn und glaubst es nicht. Ich beschäftige mich viel mit den Sternen.« Sie sprach mit großem Ernst und wichtigen Gebärden. Ihr Fuß auf dem Boden war lautlos, es ging eine heimliche Wärme von ihr aus, ein Sommerduft und -leid. Ich taumelte und verstand nicht, auch nur ein Wort zu sprechen.

»Man sollte viel mehr an die Sterne denken, tust du es? Hast du nicht gemerkt, daß man es immer nur ganz kurze Zeit kann, es ist doch schade. Ich möchte die Sterne ›tun‹, verstehst du das? Wie man die Liebe tut, daß das Verlangen einmal still wird und die Seele freundlich atmet und glücklich ausruht. Ich glaube, die Gestirne bewegen sich, um einander näher zu kommen ... lachst du mich aus?«

Sie nahm ihren Mantel von den Schultern und gab ihn mir. Sie trug darunter nichts.

»Ist der Mantel schwer, daß du seufzest? Als ich ein kleines Mädchen war, noch fast ein Kind, gab ich den Sternen Namen. Ein jeder hieß nach den Empfindungen, die ich hatte, wenn er gerade über mir stand, wenn ich zu mancherlei Stunden im Boot oder auf dem Küstensand lag. Dieser hieß ›Trauer‹, jener ›Unverstand‹, dieser ›Frohsinn‹, und einer hieß ›Sünde der Nacht‹. Ich haßte und liebte ihn, er erinnerte mich immer wieder an das Blutheimweh der Einsamkeit, er flimmerte in allen Farben. Ich verklagte ihn und sprach: ›Du hast mir alles gesagt.‹ Einen anderen nannte ich ›Erlöser‹, zu ihm betete ich, bis ich sie alle nicht mehr brauchte. Das war auf einer Fahrt mit einem jungen Fischer in den Ferien. Ich war sechzehn Jahre alt. – Hier ist es gut, der Sand ist noch warm. Wie blaß du in diesem Licht bist, Lieber. Nun leg deine Kleider ab, wir wollen baden. Ich möchte dich ruhig betrachten, es tut so wohl, tröstet, kühlt und heiligt mich. Ich sehe dich jede Nacht so, jede Nacht im Einschlafen und Traum.«

»Du hast noch keine Nacht verträumt, seit du mich kennst, Kaja.«

»Dich? Habe ich von dir gesprochen? Nein, ich meine den Mann. Wie soll ich es dir sagen, da ich doch nicht zu reden verstehe wie ihr. Oft staune ich über eure Worte und Reden, aber ich höre euch gerne sprechen, es berührt so nah und während, oft könnte ich mich in die Worte der Männer betten wie in ein Lager von Wohlklang. Ich verstehe die Männer immer.«

 

Der Mond war untergegangen, wir hatten nur noch Sternenlicht am Ufer, und die Nacht war von majestätischer Größe. Sie erhob sich in einer blauen Sternenwand über dem bewegten Meer, das sich schwarz und mächtig vor uns ausdehnte. Die Himmelsbilder am Horizont waren in einen feinen Flor gelegt, aus wärmeren Gründen stieg es zu herrlicher Klarheit auf. Vielleicht schlief Kaja; oder lauschte sie wie ich auf die Stimmen des Wassers? Ich fröstelte leicht in dieser Kühle der Nacht und sah das edle, gesetzmäßige Raummaß des Orion über mir erstrahlen. Der lose Sand gab jeder kleinen Regung des Körpers nach und trug uns, als täte er es leicht und gern. Langsam wich alles Gefühl für Zeit aus meinem Bewußtsein, so daß ich nur mein Herz und Blut noch hörte, die Quelle über dem Sand.

Zuweilen hob ich die Stirn und schaute über Kajas entfesselten Leib hin. Sie lag da, als erflehte sie in einem tiefen Weltentraum, mit allem Sein und Sinnen, die Liebe des ganzen Alls, Sonne, Regen und Wind. Sie verschmolz mit dem dämmrig-hellen Strand und bildete gegen den Meerhimmel eine Landschaft. Diese vom Sternenlicht sanft beschienenen Höhen und Täler waren uralt, steinern, ein Weltgesicht und zugleich Form des zaghaften Gemüts meines von Andacht und Ahnung wunden Wesens, dessen arme und flüchtige Bewußtheit, haltlos vor Ergriffenheit, vor dem Geheimnis bebte.

Da überwältigte mich tief von innen her eine große Erschütterung, die ich nicht benennen kann, die, ein Geschehnis ohne Klarheit, doch eine mächtige Wahrheit in meinem Leben ist. Es zwang mein Gesicht in die Hände, und ich kämpfte wie gegen ein Ungeheuer gegen das furchtbare, wilde Schluchzen an, das mich ergriff. Es schüttelte mich, als wollte es mich aus einem langen Schlaf der Seele erwecken, der aufhören mußte, um nicht überzugehen in Erstarrung und Tod, und als es sich löste, verströmend wie für immer, lag ich fest, fest in Kajas Armen und weinte zum erstenmal darüber, daß Asja gestorben war.

Ich hörte Kajas tiefe, süße Stimme, sie sprach, ihren Mund dicht über meinen Augen; ihr Haar fiel wie eine Wand aus dunklem Nachtgold nah an meiner Wange nieder. Ihr Körper deckte mich zur Hälfte, kühl und doch wärmend wie auch ihr Atem, der, von holder Nähe überströmend, ihre Worte auf mich niederhauchte, daß Geist und Sinne sie bei meiner tiefen Schwäche gleicherweise tranken.

»Sag doch, o sag, was ich für dich tun kann, Lieber!«

Ich schloß die Augen, die ganze Erde blühte.

Sie bettete meine Wange in ihre Hand, in diese Hand, die die Lust so lieblich regierte und die der Schmerz hilflos machte. Sie berührte mich so ängstlich wie ein Kind:

»Du bist ja ein Knabe«, sagte sie, »ein Kind. So sprich doch, ach, ich bitte dich, sprich!«

»Kaja, liebe Kaja, ich will einen weiten, stolzen Weg des Lebens machen, anders als alle. Ich will einen guten Gürtel haben, rasche Füße, frohe Augen. Wie offen liegt die Welt der Tage und Nächte, alles ist frei und nichts getan.«

»Du träumst ja schon«, sagte eine Stimme dicht über mir.

Zwei Hände zogen liebevoll einen Mantel über mich wie eine Decke.

Als ich erwachte, stand der Morgenstern über dem Meer. Er leuchtete so hell am Horizont, daß mir war, als füllte sein ferner Glanz mich an, als sei mein Leib durchscheinendes Glas. Das Meer war schon farbig, ein leichter Wind strich über das Wasser. Kaja war fort, es war alles umher still und leer wie am ersten Tag. Eine Fröhlichkeit ohnegleichen stieg in meiner Seele empor, meine Augen empfingen das Bild von Meer und Erde im Morgenlicht, das zu immer größerer Macht anwuchs.

 

Ein paar Tage darauf begleitete ich Han, Lüdersens Nichte, im Wind über den Deich. Es war ein trüber, stürmischer Tag, und das Meer tobte. Han sah es selten an, es hatte schon in ihre Wiege geklungen, sie hatte es schon als Kind im Boot ihres Vaters befahren, aber sie hörte mir gerne zu, wenn ich über das Meer sprach.

»Eigentlich sollte ich es dir erzählen«, sagte sie und lächelte schüchtern.

»Nein, Han, du gehörst dazu.«

»Ja«, sagte sie, »so ist es.«

»Kennst du die Leute vom Wasserschloß? Die alte Baronin, Proker, den Diener, die Köchin mit der Haube und Niko? Aber wie solltest du sie nicht kennen ... das ist ja natürlich.«

»Ja, ich kenne sie alle«, sagte Han, »auch das junge Fräulein.«

»Kaja, ach ja.«

Han wandte den Kopf mit den braunen, festen Wangen; sie schlug die Augen nieder und sagte:

»Also, dann sprich von ihr ...«

Ich erschrak.

»Was ist von ihr zu sagen, sie ist sehr schön. Wenn man neben ihr dahingeht oder mit ihr redet, so verwandelt sich alles und bekommt seinen Wert durch sie ...« Ich stockte und schwieg.

Der Wind pfiff schneidend, wir gingen vom Deich hinab, um uns zu schützen, und tappten weiter durch den losen Sand. An geschützteren Stellen wuchsen Heidekraut und Ginster, da schritt es sich leichter.

»Hier hat das Meer einmal den Deich durchbrochen«, erzählte Han. »Es war eine Sturmflut, alles lag unter Wasser, und der Leuchtturm und die Station standen auf einer Insel.«

Sie erzählte mir dann von ihrem Onkel Lüdersen, der weite Reisen gemacht hatte; ihre Eltern lebten in der Stadt. Alles kam herb und mühsam über ihre Lippen, es war, als täte das Sprechen ihr weh; die Arbeit, die mit dem ganzen Körper getan werden konnte, ging ihr gefälliger vonstatten, Schreiten und Rudern und das Schaffen an den Netzen oder im Garten. Sie sagte:

»Sie kam vor vier Jahren das erstemal zu uns, ich habe die Hände falten müssen, als ich sie sah. Ich brachte die Koffer auf der Schubkarre.«

»Wer? Wer kam?«

»Das Fräulein doch ...«

»Ach so, kam sie vor vier Jahren?«

»Ja, für den Sommer. Das erstemal nur kurz, weil Veit Geesten ertrank.«

»Wer war das?«

»Ein Fischer.«

»Was hat das mit ihrem Kommen und Gehen zu tun?«

»Das war so.«

»Sag mir doch, was du weißt, Han.«

»Ich weiß nichts«, sagte sie böse, »ich hab' auch nichts gesagt.« Wir waren uns plötzlich fremd und schwiegen beide. So ließ ich sie denn allein ihren Weg machen und legte mich in den Sand, bis der Abend und der Regen mich heimtrieben.

Ich riß die Augen auf. Lüdersen hatte schon Licht, aber ich ging noch ein paar Schritte über sein Haus hinaus, um nach dem Wasserschloß auszuspähen. Ein dunkler Waldfleck in der grauen Strandöde war alles, was ich sah. Der nasse Sturm trieb mich ins Haus.

Aber die feuchten Schleier über der Welt wichen wieder dem Sommerwind, und als eines Morgens die Sonne strahlend über dem Meer aufging, glitzerte ihr Licht in der Feuchtigkeit der Buchenwälder.

Ich traf Kaja im Wald, dicht am Strand. Sie schritt hell und rasch durch die goldenen Lichtwege der Sonne und sang.

»Da bist du!« rief sie fröhlich, »wo warst du so lange? Tante Mimsey hat täglich nach dir gefragt, du hast wirklich ihr Herz gewonnen, brich es nicht und geh zu ihr.«

Sie sah mich neugierig an.

»Ach, die Tante ...«, sagte ich.

»Unterschätz das nicht«, meinte Kaja, »mit den alten Weibern hast du die halbe Welt, das wissen die wenigsten. Was kann dir an den Männern liegen, du bist ja selber einer.«

»Hast du Freundinnen, Kaja?«

»Das brauchtest du nach meiner letzten Weisheit nicht mehr zu fragen.«

»Ich frag' auch nur, weil ich bestätigt haben möchte, daß du keine hast.«

»Ich hatte eine, damals vor ...«

»... vor Veit Geesten.«

»Ja. Wenn du sie gesehen hättest, so würdest du mich verlassen haben, wie man ein Schiff verläßt, das am Ziel angelangt ist.«

»Ist sie auch tot?«

»Aber wieso denn?! Sie hat geheiratet. Als wir uns wiedersahen, wandte sie sich ab. Sie ist also glücklich. – Du nimmst alles so ernst.«

Ich dachte, sie weiß nicht, daß ich die Nächte unter ihrem Fenster gestanden habe, daß ich ruhelos durch die Wälder geirrt bin und am Meer dahin. Han hatte heimlich heißen Wein in meine Stube gebracht. Oder weiß Kaja dies alles doch, fragte ich mich, und hat es durchlebt, wie ich es durchlebt habe? Hat sie gehofft, ihr Fenster möge von den Steinchen erklingen, die ich im Dunkeln im Kies ausgewählt und doch nicht emporgeworfen habe?

»Pflück die Blume dort, Kaja!«

Sie bückte sich nieder, tat es und gab sie mir.

»Wozu? Was willst du damit?«

Da sah sie in meine Augen.

»Wir gehen baden, komm«, sagte sie rasch, und ihre Neigung des Kopfs und ihre Hand in meiner taten einen Himmel von wilder Freiheit auf.

Ihre Kleider wehten von den Hüften, sie lagen bald hier und dort im Sand umher, bei meinen groben Stiefeln, die einst der Schuster Stevenhagen geflickt hatte.

Wie gut macht Nacktheit, sie heilt und reinigt. Die salzige Flut trug uns weit hinaus, die leise Beklemmung, die das Meer mit sich bringt, sein herber Duft verwandelten uns zu neuen Geschöpfen.

Der heiße Sand empfing unsere durchkühlten Körper.

»Ich mag oft nicht haben, wenn du schweigst«, sagte Kaja plötzlich, »dann ist mir, als sammelte sich in dir dunkles Feuer, und ich fürchte mich. Oft möchte ich deine Schwester sein, aber es ist ja Torheit, ich bin keines Menschen Schwester. – Wie nennst du mich? Klug, sagst du, sei ich? Ja, vielleicht bin ich klug, da ich nichts sein möchte als das, was ich bin. Du bist jung, viel jünger, als du weißt, viel jünger als ich, obgleich du mich ein Kind nennst. Ich höre dies und alles, als hätte ich es schon tausend Jahre lang gehört!«

 

Ich mußte Tante Mimsey besuchen, das sah ich ein. Da ich Kaja die letzten zwei Tage nicht gefunden hatte, war mir der geplante Gang in zweifachem Sinn wichtig, und ich machte mich zur gewohnten Nachmittagsstunde auf.

Zu meinem Erstaunen saß zwischen den beiden Damen am Teetisch ein junger Herr. Was war natürlicher und was hätte mich mehr in Bestürzung werfen können, aber ich konnte nicht mehr umkehren und nahm alle Unbefangenheit zusammen, beschleunigte meinen Schritt und tat, als wollte ich wieder gehen, noch ehe ich recht angekommen war.

Die beiden jungen Leute erhoben sich zur Begrüßung, Tante Mimseys zarte Hand und ihr liebes Lächeln ermutigten mich.

Die Hand des jungen Herrn ruhte kurz und fest in meiner; sichere, lebendige Augen prüften mich unbefangen. Seine Züge, alles andere als knabenhaft, waren eindringliche Lebensrunen, die von Erlebnissen sprachen, aber das Alter schwer erraten ließen. Er überließ mich nach der Begrüßung ganz Tante Mimsey, es schien, als sei er gewohnt, daß Menschen und Dinge an ihn herantraten, seine Zurückhaltung war selbstbewußt. »Eberhard« verstand ich; wo war doch der Name schon gefallen?

Tante Mimsey glaubte mir schuldig zu sein, mich nach den Resultaten meiner Forschungen zu fragen.

»Sie studieren Naturwissenschaften?« fragte mich Vetter Eberhard.

Kaja sah mich an.

Im Blick des jungen Mannes lag jetzt ein offenkundiger, wenn auch durchaus liebenswürdiger Hohn. Er sah an meiner Kleidung so augenfällig vorbei, daß sie mir auf dem Körper brannte. Es gab nur eine Rettung:

»Ja«, antwortete ich, »wenn Sie es so nennen wollen. In der Hauptsache beschäftigt mich jedoch der Mensch, und an ihm vornehmlich sein sonderbarer Hang, Fragen zu stellen, deren Antworten er nicht zu glauben wünscht.«

Vetter Eberhard beugte sich vor, als sei seine Teilnahme erst nun erwacht.

»Ach«, sagte er langsam, »da haben Sie ja bei meiner alten Tante eine gediegene Grundlage, um Ihre Bildung zu vervollkommnen. Sie hört nur leider etwas schwer.«

»Gut, daß sich solche Eigenschaften in der Verwandtschaft nicht immer vererben«, antwortete ich. »Die Gefahr liegt natürlich nahe. Es soll dann gewöhnlich damit anfangen, daß man zwar noch die Worte, aber selten ihren Sinn versteht.«

Jetzt lachte Kaja, und ich wurde rot vor Zorn. Glaubte sie, mir helfen zu müssen? Ich lehnte ihre Zustimmung ab:

»Warum lachen Sie?« fragte ich.

»Wollen Sie sich nicht daran halten, die Fragen der Menschen zu erforschen und nicht auch noch ihr Lachen?« antwortete sie kühl.

Gut, dachte ich, so sind es zwei Feinde.

Plötzlich hätte ich lachen mögen und beiden die Hände reichen. Vetter Eberhard sah aus, als würde er sie nehmen. Mit heiterer Unbekümmertheit betrachtete er mich, es war deutlich, daß der Aufwand meines Verhaltens ihn leicht befremdete; auch nicht ein Schatten vom Ehrgeiz zu bestehen, von der Sorge zu unterliegen trübte das kluge Gesicht. Er fragte mich nicht mehr, da ich doch ungern zu antworten schien, auch so waren die Welt und ihre Dinge prächtig und Kaja schön darin. Er sprach mit ihr, als wäre ich nicht da. Seine große Hand lag auf dem Tisch. Ich maß die Entfernung zwischen ihr und Kaja. Was meiner Liebe horizontenweit erschien, war für diese Hand in der Regung eines Augenblicks erreichbar.

Vetter Eberhard hielt mir sein Zigarrentäschchen hin.

»Rauchen Sie?« fragte er freundlich.

Ich lehnte ab, ohne zu danken.

»Aber nehmen Sie doch bitte«, bat er herzlich. »Sie rauchen ja, Kaja erzählte mir, daß Sie am Strand ihre ganzen Tabakbestände vernichtet haben. Oder ist das zuviel gesagt?«

Ich sah ihn an und antwortete:

»Nein, Sie haben genau so viel gesagt, als Sie mich wissen lassen wollten.«

»Wieso? – Also Sie rauchen jetzt nicht ...«

Nun sah Kaja mich an und sagte:

»Ich möchte dich morgen treffen, wenn du es willst, vielleicht am Strand wie sonst?«

»Wenn ich Sie nun doch um eine Zigarre bitten darf«, sagte ich leichthin zu meinem Nachbarn, »ich wäre Ihnen sehr dankbar. Für den Heimweg nehme ich sie gern.«

»Bitte«, sagte er freundlich, »aber sie ist nicht so leicht, wie Sie vielleicht glauben.«

 

Meine Nacht war qualvoll. Endlich hörte ich Han im Hause wirtschaften, die Eimer klapperten, sie ging zum Brunnen. Als ich aus dem Hause trat, sah man den Mond noch.

Ich mußte mich wohl dicht an jenem Ort zum Schlafen niedergelegt haben, den Kaja mir genannt hatte, denn ich schrak von ihrer Stimme empor.

»Hast du hier geschlafen?« fragte sie mich.

»Laß mich ins Wasser, ich schlafe ja noch.«

»Doch nicht hier, die ganze Nacht?«

»Nein, nein, Kaja, ich habe prächtig in meinem Bett geschlafen.«

»Bleib, wir wollen jetzt nicht baden.«

Sie sah sich um.

»Kaja, ich habe viel von dir geträumt, sonderbare Dinge, wieviel erfuhr ich doch da über dich, wie naiv du bist und zugleich wie listig, klug und töricht, unvorsichtig und schlau, aufrichtig und versteckt.« Ich sprach rasch und beiläufig, als wollte ich erst auf das kommen, was mich wesentlich bewegte.

Kaja sah mich groß mit wachsamen Augen an:

»So füge doch noch hinzu keusch und eine Dirne. Für mich wird sich alles zu einem Ganzen vereinen, was dir im Traum, wie du sagst, so willkürlich zusammengesetzt erschien, denn ich bin glücklich. Sieh, ich meine oft«, fuhr sie einlenkend fort, »die Menschen haben verlernt zu leben, sie glauben, sie dürften das Leben erst ›tun‹, nachdem sie es geordnet haben. Darüber lassen sie die Jugend in grauer Mühe verstreichen. Sie sind schwach, nichts als das.« Sie lachte leise vor sich hin. »Im Grunde bauen sie ihre Schranken doch nur aus Angst vor der Wahrheit des Lebens. Ich gebe zu, sie brauchen sie, aber mich laß in Ruh'.«

»Wäre die Sitte nur das«, antwortete ich, »so wäre sie längst zerfallen. Sie hat eine tiefe Beziehung zum Wert des Menschen.«

»Warum sprichst du heute von diesen Dingen? Geh hin und sage das den Männern. Ich bin ein Weib. Ich fühle mich eurer Gemeinschaft nicht zugehörig, und solange ich keine Anforderungen an euch stelle, versündige ich mich nicht, wenn ich gelassen nach meinem Sinn lebe. Steinigt mich doch! Ich erlaube euch, mich umzubringen, weitere Zugeständnisse gedenke ich jedoch nicht zu machen.«

Sie hatte Kornblumen gepflückt und zerrte an den Stielen, um sie kürzer zu machen.

»Warum sagst du das so hart und häßlich, Kaja? Das alles ist es ja nicht, wenn du mich doch einmal anhören wolltest. Weißt du, was du tust, wenn du dich außerhalb der Sitte stellst ... verzeih, habe ich dich gekränkt?«

»Was ich tue, sagst du? Ich tue, was ich bin.« Sie zog die Hand über ihr Haar und runzelte forschend die Brauen.

»Oh, Kaja, daß du immer noch glaubst, ich wollte dich ändern, dich bessern. Ich liebe dich!«

»Wie schrecklich!« Halb scherzhaft, halb befangen verfolgte sie die Wirkung ihres kaum gewollten Worts, bereit, es zu mildern.

»Ja, Kaja, es ist schrecklich. Was weiß dein Herz davon. Du sollst mich anhören, weil ich nicht schweigen kann und reden muß, aber ich spreche nicht in der Hoffnung, dich zu bestimmen. Ich weiß, wer du bist, aber ich weiß auch, wer ich bin.« Und ich fügte in meinen Gedanken hinzu: Töricht bin ich, töricht.

»Sag es doch gleich, was ich bin«, antwortete Kaja, »füge doch hinzu, daß du glücklich wärst, wenn du mich verachten könntest.«

»Du bist klug wie Feuer.«

»Ist das Feuer klug?«

»Auf seine Art. Wer das Feuer anbetet, weiß nichts von der Liebe.«

»Leuchtet es nicht?«

»Ja, indem es wahllos verzehrt, was es zu seinem unruhigen Dasein braucht. Es ›versteht‹ gleich dir alles, was es braucht, und alles, was es hindert.«

»Was du dir doch für sonderbare Gedanken machst«, sagte sie, einen Augenblick kindlich betroffen. »Du bist ein gefährlicher Mensch, du raubst der Natur ihre Ruhe.«

»Ja, Kaja, ja, auch der meinen, bis ich ihren Sinn begreife. Ich bin ein Mensch, sonst nichts. Glaubst du denn, ich klagte dich an, um mich zu verteidigen oder um zu meinem Recht zu kommen? Nein, nein, es ist umgekehrt und wird bis zu meinem letzten Atemzug so sein, daß ich mich gering mache, um zu rechtfertigen. Es soll nichts von mir gelten, als daß ich hier keine Ruhe fand und daß ich mich nie beschied. In solcher Auflehnung gegen die betrügerische Standhaftigkeit des Vergänglichen beginnt das Menschenbewußtsein, erhebt Gott, die Liebe, in uns ihr Wirken. Ich habe einen neidlosen Blick ewigen Abschieds auf die Lebensbereiche derer geworfen, die sich kampflos und genügsam bescheiden. Wenn ich im Leben einen Todfeind haben werde, so ist es ihr Frieden, wenn ich etwas zerstören werde, werde ich ihre Ruhe zerstören, wenn meiner ein Kampf wartet, so ist es der Kampf gegen ihren Gott, der ihre Häuser schirmt und ihren Geist tötet. Eine furchtbare Macht wird auf meiner Seite sein, das ist die Jugend ...«

Ich schwieg erschrocken. Kaja sah mich mit einem Blick an, der tief sank, ich kann ihn nicht schildern. Mein Herz blutete darunter, denn ich fühlte eine Zustimmung voll heiliger Fremdheit und einen Abschied ohne Gemeinschaft. Aber sie wußte es nicht, sie sagte:

»Du sprichst wie zu einem Feind. Wir sind doch allein.«

»Weshalb sagst du das?«

»Nur so ... ich habe dir ja auch zugehört. Aber ist Gott oder die Liebe, wie du sagst, nicht Ruhe? Wie willst du zu ihm kommen?«

»Er wird zu mir kommen, Kaja, er wird, er wird!«

Ein Schleier von Traurigkeit sank auf ihre Stirn, er schmerzte mich, als sei meine Hoffnung unsühnbar und eine ewige Schuld.

»Ich wäre glücklich auf deine Weise, Kaja, wenn ich dich mißachten könnte, wenn ich dich nehmen und genießen könnte, wie du genommen und genossen sein willst. Ich kann es nicht. Erst wenn ich mich gebe, glaube ich. Sieh, mich selbst könnte ich vielleicht sogar fortwerfen in Taumel und Rausch, aber meine Liebe nicht. Sie steht mit lauter Klage vor deinem Wesen auf, sie sucht die Augen ihrer selbst, ihren einzigen Blick, und macht mich ungewiß und ruhelos bis zur Marter. Ach, wie arm du bist, wenn du glaubst, ich vermißte bei dir äußeren Anstand oder Einschränkung, ich suche bei dir das eine, das nie Aussprechbare. Es ist nicht Zuversicht, nicht Ruhe, nicht Heimat, alles das ist zuwenig, es gibt kein Wort. Das Wesen schweigt und weiß ... ich muß wieder fort, Kaja.«

»Aber wenn es so ist«, sagte Kaja sinnend, indem sie meine letzten Worte überging, »so müßte doch dein Hinnehmen nicht abhängig sein von meiner Tugend oder Untugend.«

»Wie wahr du sprichst, nicht mein Hinnehmen, aber meine Hingabe ist davon abhängig! Nicht jenes Glück, von dem du sprichst und das du reich und beseligend austeilst, nicht jenes Glück, das du bist, sondern ein anderes, das ich zugleich bin und suche, es heißt Glaube. Du füllst mich mit Trauer und Unruhe, mit einem leidenden, heißen Heimweh nach ewigem Bestand.«

Sie sah mich unruhig und böse an:

»Nun mache mir noch einen Heiratsantrag«, rief sie ungeduldig.

»Du hast recht«, sagte ich und erstarrte. In diesem Augenblick begriff ich, daß ein Mensch einen anderen zu töten vermag. Aber gleichzeitig fühlte ich meine Liebe zu diesem Mädchen so übermächtig, daß ich die fernen blauen Berge wie Tand und Plunder hätte dahingeben können und Gott kreuzigen für eine einzige Berührung dieses lieblichen, süßen Scheins, der auf ihrer nackten Schulter lag und im Fall ihres hellen Haars. Aber weder die Berge noch der holde Schein weichen im Frühling auf unser Geheiß von uns.

Da fühlte ich mit Zittern und tiefer Furcht, daß ich dieser Welt niemals anders Herr zu werden vermöchte, als indem ich sie ganz erlitt.

Ich verließ Kaja und schritt in der leicht verschleierten Sonne auf das Dorf zu. Die Möwen flogen über den Wellen, und der Horizont über dem Wasser verschmolz in zartem Nebelblau mit dem Himmel, in der Ferne waren Meer und Himmel eins, nicht wie in der Nacht die Dinge verschmelzen und ineinander übergehen, sondern im Licht, in einem Glanz, der nicht blendete. Ich bin wie jenes törichte Kind, dachte ich, das ruhelos wanderte, um den Ort zu finden, wo die Kuppel des Himmels die Erde berührt.

Ich wußte nicht mehr, daß in der Scheidung von Himmel und Erde der Trost liegt und nicht in der Mischung, wie fern war doch Asja mir gerückt, wie ein Traum. Ich versuchte, an sie zu denken, aber sie entglitt mir, ernst, ohne Lächeln.

Heute weiß ich, daß der Frühling des Bluts und der Seele in jener holden Ungewißheit verstreichen soll, die uns mit Ungeduld und unstillbarem Verlangen erfüllt, und daß seine Qualen und Seligkeit die Ahnung des Scheidewegs sind, an den wir alle kommen.

Was uns die Mutter versprochen hat, kann sich nicht nach unserem Kindersinn erfüllen; Maria weint ohne Hoffnung unter dem Kreuz und kennt den auferstandenen Sohn nicht wieder. Aber die Forderung des Sohnes ist groß in uns geworden, sie trägt kein Verlangen mehr danach, sich im Vergänglichen zu bewähren, dessen Schönheit nur ein Gleichnis der Wahrheit ist. Aber je weniger die hohe Forderung sich im Vergänglichen bewähren kann – ach sänke doch diese Wahrheit in alle Herzen! –, um so mächtiger blüht ihr Glanz über der Welt auf. Weil es auf der Erde nicht hat sein können, wie ich gefordert habe, deshalb fordere ich dreifach und hundertfach! Und wunderbar! Indem ich nicht ruhe und mein heiliger Eifer überhand nimmt, strahlt mir die schöne Welt der vergänglichen Erscheinungen entgegen, als spräche sie: Bin ich nicht doch erfüllt, nur deshalb, weil du, aus mir stammend und mir zugetan, nicht aufgabst zu fordern?

 

Als ich nach einigen Tagen, die ich mit Lüdersen und Han verbrachte, nachts in den Garten des Wasserschlößchens schlich, hörte ich die zärtliche, werbende Stimme eines Mannes. Es kam mich ein unterweltliches, sonderbares Lachen an, ein Lachen von grauser Unbeteiligtheit, urteilsreich, gerecht und mitleidig. Arme kleine Kaja, lachte ich vor mich hin, hat es dich in den Krallen und schüttelt es dich, arme Verlorene du, in der bunten Süßigkeit deines Irrtums? Und über diesem Geschehen in mir erwachte jählings etwas wie eine gutmütige Hilfsbereitschaft: du Menschenschwester da oben, du lieber Irgendwer.

Dann hob mich der stille, grause Geist des Geschehens in eine andere Sphäre der Betrachtung: Sie hat einen Kerl bei sich, einen Mann im Bett, heimlich bei Nacht, wie ein Dienstbote, wie – einst mich. War ich nicht auch ein solcher Bote im Dienst ihrer Vergnügungen gewesen? Und nun hockte mir ein Gespenst in der Brust und versuchte, mir die Trostbrocken einer jämmerlichen Richterlichkeit zuzuwerfen. Aber wohin sollte ich mich wenden? Ich empfand, daß ich allein auf der Erde war, aber ich mochte mich in die Leere dieser Gewißheit nicht flüchten, sondern begann leise ein Lied zu pfeifen, das wir in der Schule hatten singen müssen.

Es wurde sonderbar still über mir, dann kamen von einem Menschen, der sich im Zimmer bückte, zwei Hände zum Vorschein und zogen langsam und leise die beiden Fensterflügel zu. Eine gläserne Wand war zwischen mir und Kaja entstanden – für immer.

 

Am anderen Tage traf ich Kaja allein am Strand, sie sah, daß ich mein Bündel und meinen Stock bei mir hatte. Ich war stundenlang um das Haus geirrt, um sie zu finden.

»Du gehst?« fragte sie.

»Ja, Kaja, ich gehe.«

»Also weißt du. Sieh, ich möchte nicht ...«

Sie sah mich an. Ihren Blick werde ich nie vergessen, solange ich lebe.

Wir ließen uns auf einem Sandhügel nieder, ich begann damit, denn ich vermochte mich nicht mehr aufrecht zu halten.

»Wohin du wohl überall kommen magst, Lieber, dir steht die Welt offen, nichts ist dir verschlossen, und vielleicht bringst du es zu etwas. Wer weiß ...«

»Ich werde wohl noch lange wandern, Kaja, vielleicht immer. Es ist mir nicht gegeben, in Bescheidung zu verweilen, und welche Gaben meiner Natur erlaubten mir auch, ein Freund meiner Gefährten zu werden? Wir haben viel miteinander gesprochen, und ich habe dir manches über mich gesagt, heute verlangt mich nicht danach zu reden, auch ist es wohl so, daß man über sich einem Menschen nicht viel mehr zu sagen vermag, als er selber spürt.«

»Ja, das ist wahr«, meinte Kaja.

Es war ein trüber Tag geworden, doch regnete es nicht, aber das Meer ging bewegt, und sein Rauschen fiel in unsere Stimmen. Kaja schien leicht zu frösteln, denn sie war sommerlich bekleidet, und ihre Arme waren unbedeckt wie auch ihr Hals und Nacken, die das blonde Haar trugen, das heute kühl und farbiger wirkte und so schwer wie ein lebendiges Gut.

»Ein Ziel hast du wohl nicht, ein bestimmtes ... oder?«

Ihre Augen senkten sich und schienen ohne Eifer zu warten.

»Tante Mimsey möchte dir Lebewohl sagen, sie bat mich, es dir zu bestellen. Willst du ihr nicht noch die Hand drücken? Sie hat dich sehr ins Herz geschlossen.«

»Weiß sie denn, daß ich fort will?«

»Ach so. Ja. Ich habe es ihr gesagt ...«

»Du hast es ihr gesagt ...«

»Wenn man den Weg über unser Dorf nimmt und sich nach Westen hält, so kommt man in eine schöne Gegend, die bewaldet ist und Seen hat. Ich war mit einem ... mit einer Freundin einmal dort, und wir verlebten schöne Sommertage. Freilich, das Meer ist es nicht ...«

»Ich kenne solche Gegenden wohl, Kaja, wer so viel unterwegs ist wie ich, der sieht mancherlei. Solche Orte haben Beschaulichkeit und Besinnung für sich, und man verweilt an ihnen, wie um sich zu sammeln oder zu rüsten, nicht eben ungeduldig, aber voll ungestillter Erwartung. Solche Wohltaten befriedigen mich nicht, obgleich ich sie zuweilen aufsuche und über mich ergehen lasse. Die lauen, stillen Wasser erfrischen nicht, und zuweilen ist mir unter diesen Bäumen, als müßte ich mich auf ihre Wipfel stemmen, um hoch über sie fort in die Runde zu schauen. Nein, das Meer ist es nicht.«

»Mich drängt es jetzt oft in die großen Städte«, meinte Kaja nach einer Weile. »Mit meiner Mündigkeit werde ich unabhängig sein.«

Ein weißer Schmetterling flatterte heran, ließ sich eine Weile vor uns auf einen Halm des zähen Deichgrases nieder und gaukelte dann auf das Meer hinaus. Er entschwand bald unsern Blicken, die ihm folgten. Kaja ließ den trockenen Sand durch die Finger gleiten.

»Dir wird es an nichts fehlen«, nahm sie nach einer Weile die Unterhaltung aufs neue auf. Wieder begleitete ein haltloses Lächeln ihre Worte, und diesmal war mir, als verscheuche sie in ihm etwas wie eine flüchtige Regung des Kummers. Es mußte wohl so sein, denn sie fuhr langsam fort: »Vielleicht haben manche Stärke, aber du hast etwas anderes. Ich möchte dir gern etwas darüber sagen, aber wie soll ich es tun? Ich unterlasse es nicht, weil ich es für unnütz halte, sondern weil ich es nicht kann. Möchtest du doch scheiden und glauben, ich sei glücklich; wenn du das könntest, wie schön wäre das. Ich weiß, daß du keine Ruhe hast, bevor du nicht gut von andern denken kannst, das ist deine große Unruhe. Aber nun muß ich fort. Gute Reise, Lieber.«

Wir gaben uns nicht mehr die Hände, sondern wandten uns ab, und ich schritt davon, ohne mich umzusehen.

Ja, das war nun einmal ein Gehen, immer Fuß vor Fuß, als träte ich eine sinnlose Maschine. Ich muß wohl zu Boden geschaut haben, denn ich sehe noch heute den Sand des Strandes und dann die graue Bahn der Straße unter mir fließen. Staublinien und Furchen, kleine Steinchen, Lichtflecke und auch schon herabgesunkene Blätter, da der Sommer vorgeschritten war. Ich häufe und mehre etwas zwischen ihr und mir, dachte ich, es wird langsam, mit jedem neuen Schritt größer. Ich blieb stehen, ohne den gefesselten Blick zu wenden, und lauschte auf etwas. Es waren die Stimmen der Natur, jene Laute, die wir längst gewohnt sind zu überhören, die Wanderstimmen der Luft und das Flüstern von Pflanzen, Insektensummen und das leise Regen des Wassers in der Sommerstille. Auch erklang hier und da ein Vogellaut. Auf der Erde bin ich, dachte ich, ach, könnte ich sie, die Unerreichbare, Unübersehbare, zwischen dich und mich legen. Aber du sollst nicht sinnen, mein Haupt, nicht pochen, Herz, ihr tragt Ungewitter von Bitternis und Zorn, Schmach und Wut, und ich darf nicht vergessen, ich darf nicht vergessen!

Ich kann nicht umkehren und kann nicht vergessen. Der eine Fuß am Boden rief mit dumpfem Aufschlag: Vergessen! Der andere rief: Umkehren! Und mir war, als müßte ich diese Rufe wie Steine, Wort für Wort, auflesen, sie häuften sich als ein Berg in meiner Brust, und ich mußte die Last schleppen. Wie licht hat es mir doch durch manche Träne des Abschieds einst geschimmert, aber nun wird es umher dunkler und dunkler.

Das Licht versank, es wehte kühl aus dem Wald, der mich aufnahm. Ich schritt tief gebeugt, und meine Hände hingen herab, mein Schritt klang nicht mehr, denn ich hatte nun Moos und Walderde unter den Füßen, die ziehende Bahn der Straße hatte ich nicht mehr ertragen können, mir war zuletzt gewesen, als müßte ich die Eilende unter mir, die sich zwischen mich und mein Leben legte, mit meinen Händen halten, die Kaja gehalten hatten.

Der Geruch der dunklen Erde, mütterlich, umfing mich in der Waldtiefe so mächtig, daß ich an einem Baumstamm niedersank. Die Berührung meines ganzen Körpers mit dem Boden tat mir wohl. Noch trug sie mich, mir war, als sänke die gesammelte Last des Wegs neben mich in die Pflanzen, und das Moos kühlte die Stirn; die Knie, die Arme, alles wurde getragen, und die Augen schlossen sich.

Ich schlief vor Schwäche ein, und langsam hellte die Luft um mich her sich wunderartig auf, so daß die Umrisse der Bäume und Büsche im Licht vergingen, das immer klarer wurde. Da trat Asja aus dem hellen Glanz, als käme meine Liebe zu mir. Sie sah auf mich nieder, und als ihre Augen den meinen begegneten, erstrahlte mein Wesen durch und durch. Sie hob ihre Hand und rief laut: »Stehe auf! Stehe auf!«


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