Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war damals die Zeit, in der ich zum erstenmal über Bücher geriet und wahrhaft zu lesen begann, obgleich ich die Zwanzig schon überschritten hatte. Im leichten Gepäck, das ich mit mir führte, nahmen die Bücher nach und nach immer mehr Platz ein. Ich las Tag und Nacht und wahllos alles, was mir erreichbar war, kein übriger Groschen, der nicht für Bücher angelegt wurde. Dieser Hang erfüllte mich mit zügelloser Ausschließlichkeit. Es liegt im Wesen aller echten Leidenschaft, daß sie ihren Träger am wenigsten schont.
Ich wusch mein Hemd in Bächen und schlief im Freien, oft am Tage, da ich die Kälte wachend besser ertrug als schlafend, und um nächtlicherweile lesen zu können, führte ich stets Kerzen bei mir, die in der Waldtiefe oder auf Dachböden über meinem aufgeschlagenen Buch brannten. War es warm und trocken, so zog ich es vor, im Freien zu bleiben, ich baute Laubhütten und suchte Höhlen zum Unterschlupf, und das Licht meiner Kerze lockte die Tiere der Nacht an. Immer erschien der Dichter, den ich gerade las, mir als der größte aller, die je gelebt hatten, wie es Gemütern ergeht, deren Erfahrung sich noch nicht um einen gesicherten Mittelpunkt des eigenen Erlebens dreht.
Von glühendem Selbstbewußtsein bis zur tiefsten Erniedrigung meiner selbst durchkostete ich alle Seligkeit und alle Leiden der Empfindenden, ich verlor meine unbefangene Sicherheit der Geisteswelt gegenüber völlig und begriff zum erstenmal in der atemraubenden Beklemmung einer dunklen Ahnung, welch ein Weg meinem Geiste bevorstand, bis er die Ruhe seiner Natur wiederfand, aus deren Bescheidenheit ich ihn aufscheuchte. Dieser Leidensweg über die Gedanken steht allen bevor, die, gleichsam von Natur zu Natur, die Bahn ihrer Beschaffenheit im Leben mit Bewußtsein gehen, diesen vorgezeichneten Weg, der doch von ihnen selbst gebaut sein muß. Die meisten Menschen haben nicht den Mut zu ihrer eigenen Weisheit noch zu ihrem eigenen Recht, noch zu ihrer eigenen Schuld.
Diese Mutlosigkeit der Menschen zu ihrem eigensten Wert und Wesen hat seinen Ursprung nicht im Mangel an Verstand oder Gedankenfülle, sondern in ihrem Mangel an Liebe. Nur das Bewußtsein der eigenen Liebeskraft gibt den Menschen wahrhaft Mut, ein freies Gewissen, den Glauben an ihr Recht und die Kraft zur Erkenntnis ihrer Schuld. In diesen Dingen liegt das menschliche Glück beschlossen und jene Heimkehr, die die Weisen der Welt das Opfer oder die Vollendung und die Kirche die Auferstehung nennt.
Wie aber kann es den Menschen in ihrer Jugend ergehen! Ich will meine Erlebnisse mit Teja niederschreiben, mir ist, als läge in ihnen eine Antwort auf eine Frage, die mich oft beunruhigt hat.
Diese Geschichte ist nicht neu, denn viele haben sie schon erlebt, und wieder viele werden sie noch erleben, ein jeder auf seine Art. Ich traf dieses seltsame Mädchen, als schon der Sommer zur Neige ging, in einer frühen Morgenstunde im Wald. Es hatte sich über dem mit Birken und Kiefern bestandenen Talgrund, der vor meinen Blicken lag, ein lichter Morgennebel gebildet, aber am Rand des Hochwalds schien die rote Morgensonne in den Baumkronen. Hier und da hatte das Laub sich schon spätsommerlich gefärbt, es fielen Tropfen, und die Brombeeren an den Hängen der Lichtungen reiften.
Den Gedanken, mir für die kommende Zeit einen gesicherten Ort für den Winteraufenthalt zu suchen, ließ ich immer wieder fallen, wenn schöne Tage kamen, nur die Nächte begannen mich besorgt zu machen, es ging mir schlechter als je, und ich war die letzten Wochen fast immer auf das Übernachten im Freien angewiesen gewesen. Ich weiß nicht, wie lange ich in Gedanken versunken in der Morgensonne gestanden hatte, deren schwache Wärme mein Blut langsam belebte, als ich gewahr wurde, daß ich nicht allein war. Auf einem gefällten Baumstamm, nicht weit von mir entfernt, saß am Waldrand unter einer Jagdhütte eine junge Dame im Jägerkleid, die Büchse über den Knien und die Blicke über den Talgrund gerichtet. Ich erblickte sie von der Seite und betrachtete sie lange und aufmerksam, ohne mir darüber klarzuwerden, was mich an dieser Erscheinung so mächtig anzog. Ich wußte noch nicht einmal, daß sie mich überhaupt anzog, ich sah nur in einer gedankenlosen Gefangenschaft meiner Sinne zu ihr hinüber. Dann ging ich zu ihr hin, verbeugte mich und grüßte tief. Ich besaß damals einen Hut, der sich seiner Krempe wegen vortrefflich zum Grüßen eignete, und ich genoß deshalb diese ungewohnte Darbietung mit besonderem Vergnügen. Die junge Dame sah sich nach mir um, aber sie erwiderte meinen Gruß nicht, sondern prüfte mich nur mit ruhigen Augen. Ich begriff, daß ich sie vielleicht erschreckt hatte und daß mein Anblick, besonders zu ungewohnter Stunde in der Waldeinsamkeit, nicht unbedingt Vertrauen einflößen konnte. Aber hierin irrte ich mich, es war kein Schatten von Besorgnis in dem klugen Gesicht zu finden, das mir aufmerksam zugewandt blieb.
»Bedenken Sie, Fräulein«, sagte ich, »man achtet Staub, ein wenig übergoldet, meist mehr als Gold, ein wenig überstäubt. Ich bitte um eine freundliche Ansprache.«
Hinter der feinen Stirn schien mein Zitat überdacht zu werden, dann wanderten ein paar helle Augen an mir auf und nieder, auffällig und sicher, sie übersahen nichts und schonten nichts, das merkte man rasch. Ich dachte, jetzt bildet sie sich ein Urteil über mich, da muß ich eingreifen. Aber die junge Dame kam mir zuvor, sie lächelte, scheinbar befriedigt durch den Sinn des großen Worts, das mir aus der Lektüre der verstrichenen Nacht im Sinn lag, und meinte:
»Ich will das Gold einmal unter Vorbehalt zugeben, aber vom Staub an Ihrem Rock zu sagen, daß es ein wenig sei, das ist parteiisch. Woher stammt denn das schöne Wort?«
Während ich einen Versuch machte, mir den Rock mit der Hand abzuschlagen, stellte sie schon die zweite Frage:
»Wohin geht denn die Reise? Sie sind früh aufgebrochen.«
»Ins Ungewisse, Fräulein. Ich habe im Wald geschlafen.« Ich ließ mich am Ende des Stammes nieder und fragte:
»Was haben Sie da in Ihrer Jagdtasche?«
»Mein Frühstück.«
»Donnerwetter!«
Sie reichte mir die Tasche ohne ein Wort herüber.
»Ich möchte Sie nicht berauben, aber schließlich könnte man teilen«, schlug ich vor.
»Ja, das könnte man schließlich ...«, wiederholte sie langsam und betrachtete mich unausgesetzt aufmerksam.
»Ich werde doch warten, bis Sie mit dem Jagen fertig sind, auch ist es mir lieber, Sie teilen.«
»Gut, aber von der Jagd verstehen Sie nicht viel.«
»Als Knabe war ich bisweilen mit meinem Vater auf der Jagd, aber seitdem ...«
»Nur noch so ...«, ergänzte sie rasch meine Worte, ließ die Büchse sinken und fuhr sich mit beiden Händen in das reiche Haar. Die Gebärde war von so überzeugender Echtheit, und ihr Gesicht verzog sich darüber zu einer so verlausten Gassenbubengrimasse, daß ich laut lachen mußte. Sie lachte nicht mit.
»Was ist denn?« fragte sie kindlich, »hat man nicht recht?«
»So was hab' ich noch nie gesehen«, sagte ich ehrlich, »Sie verwandeln sich in einem Augenblick von einer großen Dame in einen Gassenjungen.«
»Ihnen selbst liegt solche Wandlung doch nicht so fern.«
»Als ich herzutrat, fürchtete ich, Sie in Angst zu versetzen«, sagte ich, »jetzt sehe ich, wie töricht diese Annahme war, denn Sie haben starke Waffen.«
»Nur diese Büchse«, antwortete sie leichthin, aber ihr Blick ruhte voll in meinen Augen, ich wurde gewahr, daß sie mir in ihrer Antwort auswich, daß sie aber meine Worte so verstanden hatte, wie ich sie meinte. In ihren Blicken lagen Teilnahme und zugleich der Zweifel, ob sie mein rasches Verständnis nicht durch ein Eingehen darauf zu vorzeitig bedankte. »Essen Sie doch«, sagte sie einfach und freundlich.
Die junge Dame hätte mit ihrer Gabe weit mehr zögern müssen, um mich gleichmütig oder keck zu stimmen. Mir war nicht um Essen zu tun, vielleicht verstand sie, weshalb, und drängte mich deshalb nicht mehr.
»Ich bin aufgebrochen, als noch alle im Schloß schliefen«, begann sie nach einer Weile, als spräche sie zu einem alten Bekannten. »Gibt es etwas Schöneres, als in der Dämmerung zu erwachen, frei und allein, und in den unberührten Morgentau hinauszutreten? Nach tiefem Schlaf sind die Frühe und Stille von mächtigem, reinem Leben erfüllt, die Berge, die Wiesen, der Wald, die Brust. Ich fühle mich reich, gut und erhoben, erst langsam mit dem Tag fällt Staub ins Blut, Gedanken, Vergleiche ...«
Ich lauschte mit Entzücken ihren Worten, und es verlangte mich nicht danach zu antworten. Wer wahrhaft allein ist, nimmt das unerwartete Verständnis für sein verschwiegenes Glück wie ein Durstiger ein Glas mit Wasser, das er rasch und schweigend trinkt. Als sie fortfuhr zu sprechen, war mir, als würde mir solch ein Glas über den Kopf geschüttet.
»Sie müssen sich anders kleiden. In Ihrem Aufzug sind Sie ein lächerliches Gemisch von einem Pfarramtskandidaten, einem Clown und einem Straßenräuber. Entscheiden Sie sich doch für eins. Es muß peinlich sein, in seinem Elend auch noch komisch zu wirken.«
»Ich lege keinen Wert darauf, wie ich scheine.«
»Darin gefallen Sie sich, wahrscheinlich, weil Ihnen augenblicklich nichts anderes übrig bleibt, das wäre immerhin schon etwas, aber viel ist es nicht. Es ist gleichgültig, wie Sie selbst Ihren Zustand nennen, traurig ist er auf jeden Fall, und Sie werden darunter leiden, nicht nur äußerlich, nicht etwa nur an Ihrer Gesundheit, sondern allgemein. Außerdem ist der Aufzug, in dem ein Mensch daherkommt, niemals ganz ohne Beziehung zu seinem Wesen, und jeder hat das Recht, einen Fremden danach einzuschätzen, wie er ausschaut.«
»Es ist weder Zufall noch Willkür, daß ich so lebe, wie Sie es sehen. Elend fühlte ich mich dort werden, woher ich gekommen bin; seit ich aber lebe wie jetzt, ist mir wohl.«
»Ich kann mir denken, daß Sie Ratschläge aus jener Welt verachten, die Sie glauben fliehen zu müssen, weil Sie sich ihr nicht einzufügen vermögen. Mein Vorschlag hat aber mit der anmaßenden Selbstsicherheit der vom Leben kaum Berührten nichts gemein. Es mag sein, daß Sie dieser Ungebundenheit für eine Weile bedürfen, aber sie ist doch kein Ziel.«
»Vielleicht ist sie ein Schicksal, das Ihnen nur in der Form dieser äußerlichen Darbietung nicht gefällt. Die Besten unserer Zeit sind Vagabunden.«
»Wie Sie das sagen! Als stünde es in der Bibel. Wieso denn? Aber Sie brauchen mir nicht zu antworten. Mögen Sie das meinen, wie Sie wollen, es kommt wohl darauf an, wie man seine Zeit versteht und welche man die Besten in ihr nennen will.«
»Die Besten einer Zeit sind die, deren Verlangen ihr das geistige Angesicht gibt, deren Anspruch sie weiter führt und ihr zugleich einst in den Augen der Menschen Dauer verleiht.«
»Und was hat das mit Vagabunden zu tun?« Sie schien enttäuscht.
»Die Sehnsucht hat, wie die Liebe, kein Obdach.«
Die grauen Augen sahen mich mit zweiflerischer Aufmerksamkeit an, ihre Nachdenklichkeit schien ihnen für eine Weile ihre freie Sicherheit zu nehmen. Dann sagte sie ruhig und überzeugt:
»Ich hasse die Armut und die Erniedrigung, die sie den Menschen bringt. Im Elend sind die Menschen böse und fügen sich wider ihren Willen Böses und Schmerzen zu. Sie können dort gar nicht anders. Was Sie über menschliche Gefühle gesagt haben, wie Liebe und Sehnsucht, so mögen Sie recht haben, es mag mit ihnen bestellt sein, wie Sie meinen, aber deshalb dürfen Sie niemanden verpflichten, sich auf die Gasse zu begeben, um ihrer teilhaftig zu werden.«
»Wem habe ich Ratschläge erteilt? Ich habe von einer Tatsache gesprochen, wie sie mir erscheint, genauso wie Sie von Armut und Erniedrigung gesprochen haben und ihren Folgen. Haben Sehnsucht und Liebe kein Obdach, so werden diejenigen, die in Wahrheit von ihnen erfüllt sind, keine Paläste besitzen. Mehr werde ich nicht sagen. Zwei sprechen von Liebe, der eine schluchzt, und der andere lacht, zwei andere sprechen von Sehnsucht, der eine erlischt, der andere kichert.«
»Ich bitte Sie darum, mich nicht aufzufressen. Zwei andere wieder sprechen von Armut, der eine erlitt sie bis an die Grenze des Verkommens, er durchkostete ihre Schmach bis zur Entwürdigung, und Blut und Seele verdarben ihm, der andere begab sich in ihre Bereiche aus jugendlicher Abenteuerlust, aus Neugier. Der eine bin ich, und der andere sind Sie. Was schauen Sie mich denn so ungläubig an? Haben Sie nicht selbst gefordert, daß niemand nach seiner äußeren Erscheinung allein eingeschätzt werde? Sie denken an das Schloß, von dem ich sprach, ihm und meinem herrschaftlichen Kleid gilt Ihr ungläubiges Lächeln, aber doch ist wahr, was ich sage. Sie haben auf Ihren Wanderungen niemals so elend gebettet gelegen wie ich als Kind in dem Großstadtkeller, in dem ich geboren und aufgewachsen bin.«
»Es hat Ihnen in Ihrem Besten nicht geschadet.«
»Woher wissen Sie das so sicher? Wenn nur die Hälfte Ihrer Ansprüche wahr ist, die Sie eben durch Ihren Vergleich angedeutet haben, so warne ich Sie vor Enttäuschungen, falls es Ihnen der Mühe wert sein sollte, Ihre voreilige Behauptung in meinem Wesen eingehend auf seine Richtigkeit hin zu prüfen. Ich setze diese Teilnahme nicht voraus, aber ich hasse die Armut nicht aus Feigheit oder kindischem Abscheu, sondern weil ich sie und ihre verheerende Wirkung kenne.«
»Es wäre schön und würde mich glücklich machen, wenn ich zu jener Prüfung, vor der Sie mich warnen, Gelegenheit fände.«
»Ich will mich Ihnen nicht entziehen«, sagte das junge Mädchen einfach und mit einem warmen, offenen Blick. »Ich freue mich, Sie getroffen zu haben, denn jetzt, wo ich bedenke, was ich zu Ihnen gesagt habe, wird mir offenbar, daß ich seit langer Zeit nicht mehr so aufrichtig sprechen konnte.«
Sie schob den Verschluß der Jagdbüchse zur Seite, knickte die Waffe und nahm die Schrotpatronen aus den Läufen. »Mit dem Jagen wird es nicht mehr viel werden. Wollen Sie mit mir aufs Schloß gehen?«
»Sie müßten sich solchen Gastes schämen.«
»Ich bin allein«, sagte sie, »aber auch wenn ich es nicht wäre, würde ich Sie zu Gast bitten. Vielleicht überschätze ich den Wohlstand, der mein Teil geworden ist, aber nicht so weit, daß ich mir meine Freiheit durch ihn rauben lasse.«
Es kam zuvor zu einem Frühstück, das wir im Morgensonnenschein gemeinsam auf dem Baumstamm einnahmen. Die leise Ernüchterung, die sich stets im Wechsel von geistigen Beschäftigungen mit äußerlichen einstellt, erfaßte uns, und unsere Blicke begegneten einander in Befangenheit.
»Es ist doch besser für mich, ich gehe meines Wegs«, sagte ich plötzlich, fast gegen meinen Willen.
»Wie mutlos Sie sein können bei all Ihrer Keckheit«, sagte die junge Dame, »aber wie Sie wollen ...«
»Mich macht nur Widerstand mutig«, antwortete ich, aber mehr mit diesem Gedanken beschäftigt als mit meiner Nachbarin. Wir wußten beide, daß wir uns nicht trennen wollten. Und wie in einem Selbstgespräch, folgte ich meiner Besinnung: »Ich frage mich, ob es immer so mit meinem Mut bestellt war, wie ich eben sagte, es ist nicht richtig und stimmt nur in ganz besonderen Verhältnissen. Es kommt auch ganz auf den eigenen Zustand an und vor allem darauf, ob die Aufgabe, die es zu überwinden gilt, hoch genug gestellt ist. Ich meine, ob sie unsere guten oder unsere schlechten Kräfte und Eigenschaften herausfordert. Ich habe Demütigungen und Niederlagen hingenommen, an die ich nicht ohne Erbeben denken kann und die mir noch in der Erinnerung Tränen des Zorns in die Augen treiben. Bis solche Wunden geheilt sind und bis ihre Narben – fast möchte ich sagen – zu Panzern des Widerstands geworden sind, bin ich oft feige gewesen bis zur Schmach. Oft denke ich, die Rache muß zuweilen geradezu eine Erlösung sein. Ich kann mich nicht rächen ...«
»Machen Sie sich immer auf diese Art die Hemmungen des Lebens zu Aufgaben der Überwindung?« fragte meine Nachbarin voll Teilnahme am Sinn dessen, was mich beschäftigte. Ich erzitterte vor Glück und sah sie an. Sie senkte den Blick, und in ihre Züge kam etwas wie eine liebe, gedankenvolle Angst. Aber dann warf sie den Kopf zurück und sagte rasch:
»Ich habe es mir leichter gemacht, uns Frauen ist die Zuflucht in die Welt der Gedanken nur selten als Trost gegeben, eine böse Lage zu ändern liegt uns näher, als sie, oder uns in ihr, zu begreifen. Vielleicht haben wir weniger Gewissen und damit geringere Verantwortung. Als ich meine Kräfte zum erstenmal erkannte und zugleich unter ihnen die, welche mir äußerlich im Leben nützlich sein würden, habe ich mich nicht mehr gefragt, ob ihre Anwendung mir zugleich Schaden auf einem anderen Gebiet bringen könnte. Zu solchen Erwägungen gehört ein erträgliches Gleichgewicht der Seele in ihrem Schicksal, das die meine damals nicht besaß.«
»Sie haben erreicht, was Sie sich zum Ziel gesetzt haben?«
»So ist es. Ich habe alles erlangt, wonach meine Sinne begehrten, nachdem ich einmal wußte, worauf es in der Welt ankommt, aber ich bin darüber nicht glücklich geworden. Jedoch – obgleich ich unbefriedigt bin, habe ich nicht die Kraft, das Errungene aufzugeben. Keine Versprechungen, und enthielten sie einen Himmel von innerer Ruhe und Genugsein, könnten mich verleiten, meinen erworbenen Lebenshalt aufzugeben, denn schon wenn nur in Erwägungen meine Hände sich lösen, sehe ich nichts als die Abgründe der Hölle, aus der ich mich gerettet habe.«
Wir machten uns langsam miteinander auf den Weg, den die junge Dame mich führte. Er ging durch herrliches Waldland, auch über gelichtete Höhen, auf denen zwischen alten Baumstümpfen, die die Sonnenglut grau gebleicht hatte, Heidekraut oder hohe Gräser wuchsen. An einem verlassenen Fuchsbau, dessen Eingänge dicht von Brombeergestrüpp überwuchert waren, ließ meine Begleiterin sich aufs neue nieder, und als habe sie in ihren Gedanken eine Einleitung an sich vorübergehen lassen, sagte sie, und es war, als führe sie fort:
»Es drang nicht viel Licht in den Keller, in dem meine Eltern lebten. Meine Mutter war krank, sie erhielt damals schon seit langem nicht mehr von meinem Vater, was sie und wir Kinder zum Leben brauchten. Wie wenig ist neu an dieser traurigen Geschichte. Mein Vater mag seine Ehe einst mit anderen Hoffnungen eingegangen sein, vielleicht auch in jener gedankenlosen Überschätzung seiner Kräfte, die sein Wesen bezeichnete, vielleicht ohne Erwägung und Gedanken, wie die meisten Ehen in unserem Stand geschlossen werden, wenn es sich um junge Menschen handelt. Die Kellerwohnung hatte nur zwei Räume, die durch keine Tür voneinander getrennt waren. Ich war acht Jahre alt, als ich die Entwürdigungen zu fassen begann, denen meine Mutter langsam erlag. Hätte ich nicht schon in diesem Alter die Sorge für meinen drei Jahre jüngeren Bruder auf mich zu nehmen gehabt, so wäre ich wahrscheinlich unter den Eindrücken und Bedrängnissen zugrunde gegangen, die uns vier Menschen in diesem dunklen Loch erstickten. Ich weiß nicht, was mein Vater in den letzten Jahren für einer Beschäftigung oblag, wahrscheinlich tat er nichts mehr, denn jede Stunde, in der meine Mutter bei Kräften war, arbeitete sie für unser Brot. Ich sah sie unter den Fäusten meines Vaters zusammenbrechen, ich erlebte mein zweites Brüderchen von seiner Entstehung und seinem Eintritt in die Welt bis zu seinem Tode gleich nach der Geburt. Die Laute, die meine Kindheit ausgefüllt haben, waren Geschrei und Jammern, ich sah Tränen, Verworfenheit, Schmutz, Finsternis und von der Welt außerhalb meines Kerkers kaum mehr als die Füße der Menschen, die durch die Gasse dahin an unsern Kellerfenstern vorübergingen, durch Regenpfützen oder Sonnenflecke. Ich kannte von den Menschen nur ihre rohe Verwendbarkeit für die Bedürfnisse des Leibes, ich lernte beim Bäcker und Krämer das Mitleid der Gierigen, die selber im bitteren Kampf mit dem Leben lagen, durch meine Armseligkeit in Nahrung umzusetzen, ich lernte es, mich erbarmungswürdig zu zeigen, um ein Glas Milch für meinen Bruder, das Kind, zu erbetteln. Dann kam mein Vater bei Löscharbeiten am Hafen im betrunkenen Zustand zwischen zwei Eisenbahnwagen, man brachte die zerstoßenen Reste seines Leibes in unsere Höhle, und bis er endlich geholt wurde, wischte ich mit meiner Mutter sein Blut von den Steinfliesen.
Viel später, als auch meine Mutter längst begraben war, erfuhr ich durch eine Tante, die mich in Verwahrung nahm, daß sie aus gutem Stand gewesen sei und daß kein anderer Zug ihres Wesens sie in jene Tiefe geführt habe als ihre Liebe zu meinem Vater. Aber man nannte diesen Hang dort nicht Liebe. Für mich kam eine Zeit, in der ich die Atemzüge meines Mundes, das Brot für meinen Hunger und das Lager der Nacht als Gnade anzunehmen hatte, als Wohltaten, für die kein Dank groß genug gewesen wäre. Es wurde mir Pfennig für Pfennig vorgerechnet. Eines Abends sprach ein junger Herr mich am Hafen an, weit draußen, wo er sein Boot nach einer Ausfahrt in einen Schuppen zog, er strich mir über das Haar und sagte ein gutes, warmes Wort zu mir, so daß ich erbebte und ihm nachlief. Er nahm mich zu sich, und ich blieb bei ihm. Damals war ich vierzehn Jahre alt.
Da erfuhr ich, daß mein Haar blond und meine Augen hell seien, ich erfuhr, daß mein Mund ungescholten lachen durfte. Ich hörte den Klang meiner Stimme, sah den Schritt meiner Füße und fühlte mein Herz pochen. Für eine Ahnung dieser Herrlichkeit hätte ich mein Leben gegeben, in welch schrankenloser Hingabe gewährte ich das, was für die ganze Fülle solchen Reichtums von mir erwartet wurde. Was würde es bedeuten, wenn ich sagte, das Leben ging mir auf? Es wäre ein nichtiges Wort gegen das Himmelreich, in dessen Licht ich eintrat.
Alles, was ich tat, tat ich für diesen Mann, immer noch wagte ich nicht, an eigene Rechte meines Lebens zu glauben. Ich lernte um seinetwillen, was er mir zur Aufgabe machte, ich kleidete mich für ihn, nach seinem Gefallen, ich erlauschte seine Wünsche in der Befürchtung, seiner Freundlichkeit etwas schuldig zu bleiben. Er sah das Ungeschick meines Herzens mit Rührung, aber als er einmal meinen Liebeseifer zu beschwichtigen trachtete, übermannte es ihn, und auf meine Hände, die er hielt, tropften seine Tränen. Da war mir mein Leben geschenkt ...«
Die Erzählerin hielt in ihren Worten inne und sah sich in der beschienenen Welt unseres Aufenthaltes um wie jemand, der im Wald tief aus Gedanken aufschaut und gewahr wird, daß er sich verirrt hat. Aber als sie mich ansah, beruhigte sich ihr betroffenes Gesicht, und sie gab mir die Hand. Sie mußte meine Teilnahme aus meinen Zügen gelesen haben, denn sie sagte wie eine Antwort:
»Nein, es soll mich niemals gereuen, daß ich offen zu Ihnen gesprochen habe, und weil es ohne Vorsatz geschah, glaube ich um so zuversichtlicher, daß Sie Vertrauen verdienen. Jedoch eines bekümmert mich, daß ich Ihnen dies Bild von mir nicht lassen darf. Es kam anders mit mir und so, wie es kommen mußte, denn ich hatte das Blut meines Vaters in mir, jenes Blut, das ich von den ausgetretenen Steinen des Fußbodens gewischt hatte. Wer im Leben wirklich erwacht, erwacht immer zu sich selbst; solange ein Mensch noch im Bann eines fremden Willens oder fremder Gedanken und Anschauungen dahinlebt, schläft er wie die meisten. Es ist aber besser, in einer Wüste wach zu sein, als in einem Paradies zu schlafen. Mit dieser Wahrheit tröstete ich mich, wer kommt in einer Zeit an ihr vorüber, in der es zu kämpfen gilt? – Ich blieb nicht bei meinem Freund, als ich mich von ihm trennte, war ich achtzehn Jahre alt. Es ist auch möglich, daß er sich von mir getrennt hat, wer vermag bei solchen Ereignissen die Gefühle klar zu scheiden, die die Ursachen unserer Handlungen sind? Mir war, als sei ich ihm gleichgültiger geworden, und seine Wohltaten verloren für mich an Wert, je mehr ich seine Liebe zu verlieren glaubte. Wir lebten damals auf großem Fuße, wie man es zu nennen pflegt, Tage und Nächte gingen in sanften, hellen Räuschen der Lebensfreude und sowohl geistiger als vergänglicher Genüsse ineinander über. Ich fühlte, als meine Augen sich einem anderen Mann zuwandten, zum erstenmal die Schrankenlosigkeit meiner Möglichkeiten, und indem ich darin meinen Unwert zu erkennen glaubte, verlor ich an Halt. So ging ich bald, ich glaube, ihr nennt es: von Hand zu Hand, aber richtiger hieße es, daß ich selber nahm und entließ nach meinem Gefallen. Ich rühme mich dessen nicht, aber ich verschweige es auch nicht. Im Grund meiner Seele ahnte ich, daß meine Natur in meiner ersten Hingabe etwas wie eine Gewalt erlitten hatte, die ihr zum Verhängnis geworden war, als ich mein schlummerndes Blut zum Pfand für meine dankbare Seele hatte geben müssen. Aber Dinge der Liebe sind nur mit den Augen der Liebe zu erkennen, später nur noch ungewiß, und sogar in unserer eigenen Erinnerung bleibt die Liebe selbst nur als ein Glanz zurück, aber nicht als Gestalt. So vermag ich heute die Rätsel nicht mehr zu lösen, sicher aber ist, daß eines mir hat bleiben sollen, daß ich der Stimme des Blutes in mir lauschen kann wie ein Wanderer der Quelle im Wald, nicht aber wie ein Baum seinem Rauschen.«
Ich sah, den Kopf in beide Hände gestützt, auf einem Baumstumpf sitzend, zu dem Mädchen hinüber, das diese Worte zu mir sprach. Die klare Selbstverständlichkeit, die von allem ausging, was von ihr zu mir kam, wurde mir durch eine qualvolle Regung der Bewunderung getrübt, in die sich die tiefe Unruhe eines fremdartigen Verlangens voll Widerspruch mischte, über das ich mir keine Rechenschaft zu geben vermochte. Ich empfand eine kampfbereite Gier nach einer jähen entscheidenden Handlung und zugleich einen Hang nach demütiger Hingabe. Ein brennender Wunsch, mich rasch und auf einmal zu erweisen, machte mich fast zornig, trotzig und stumm. Meinem Leben war die Kraft neu, die mir in dieser Frauennatur begegnete, und sie wirkte weit stärker auf mich als die Erzählung selbst, sosehr mich diese bewegte. Spricht sie nicht über sich, als sei sie eine Dritte unter uns? dachte ich. Es wehte mir kühl entgegen, aber dieser Hauch machte mich glühen.
Das Mädchen schwieg und schaute ins Land hinaus, aber weder betrübt noch versonnen, sondern mit Augen voll Festigkeit. Ich sah ihr Gesicht in Wahrheit erst nun und begriff, daß seine Schönheit in seinem Leben lag, nicht aber in der Regelmäßigkeit der Züge. Ihr Alter war sehr schwer zu bestimmen, ich schloß auf etwa dreißig Jahre, aber es gab Augenblicke, in denen der Ausdruck dieses Gesichts dem eines Kindes glich. Er wechselte ununterbrochen, aber in den beständigen Grenzen eines bewußten Halts. Ich glaubte in dem lebensvollen Spiel dieses Bildes keinen Zug zu vermissen, der einer echten Weiblichkeit entsprach, aber jede Empfindung bot sich wie in einer lebensmitleidigen Erfahrung ihrer selbst dar, als habe sich dem Begriff der Unschuld eine neue Ahnung aus den Bereichen der Erkenntnis zugesellt. Wunderschön war ihre Hand, hellbraun und ein wenig breit, fein, aber nicht zart.
»Wie heißen Sie?« fragte ich plötzlich in unser Schweigen hinein.
Sie nahm mir statt einer Antwort den Hut ab und strich mir das Haar aus der Stirn, fest und einfach, nur wie um ihren Blicken Raum zu schaffen. Sie sah mich mit prüfendem Ernst an und sagte dann langsam:
»Ich heiße Teja.«
»Ich müßte lange, lange leben«, sagte ich unmittelbar. Teja sagte nach einer Weile flüchtigen Besinnens in einem Ton, mit dem man eine zufällige Ablenkung höflich, aber nicht allzu wichtig nimmt:
»Ich würde mich niemals sonderlich um einen jungen Mann kümmern, der nicht die Überzeugung hat, lange leben zu müssen. Das Liebäugeln mit dem frühen Tod ist für schwächliche Naturen bezeichnend oder für eine Unreife, die man nicht ernstlich in Betracht ziehen kann. Solche Verfassung verrät mir nur Unausgeglichenheit der Verhältnisse, Übernommenheit oder Blindheit gegen die eigenen Rechte und Grenzen.«
»Wenn man Sie so sprechen hört, könnte man Sie für herzlos halten.«
»Bitte«, antwortete sie kühl, aber dann verwandelte sich ihr Ernst plötzlich in Heiterkeit, sie lachte mir gerade ins Gesicht und sagte:
»Die Tage, in denen ich genötigt bin, meine Lebenszeit zu absolvieren, werden bis an ihren Niedergang darauf schwören, daß Herzenswärme und Güte nicht von Blindheit, Weichmütigkeit und Selbstbescheidung zu trennen sind. Verstand ist für sie nicht ohne Kälte denkbar, Scharfsinnigkeit nicht ohne Falschheit und Kraft nicht ohne Roheit. Wäre die Luft, in der die Evangelisten dieser Anschauung atmen, nur nicht so dumpf und verbraucht.«
»Das ist eine gelegentliche Rechtfertigung meiner Lumpen«, antwortete ich. »Aber ich lege auf diese Beurteilung kein Gewicht. Ich glaube, daß es immer so war und immer so sein wird. Ich glaube nicht an die Wichtigkeit des sogenannten Wandels der Zeit und halte keine Epoche für alt gegen eine andere für neu. Es hat niemals eine Jugend gegeben, die nicht ihre Zeit als neu gegen die Zeit ihrer Väter als alt gehalten hat. Wer die Schuld für Mißstände im Haushalt des eigenen Wesens auf die Zeitverhältnisse schiebt, versteht weder sich noch die Zeit. Jede Zeit bietet jedem Menschen das gleiche. Es kommt nur darauf an, wer man ist. Ich glaube, daß es seit Adams Lebenstagen bis in diese Stunde unseres Zusammenseins in der Welt niemals darauf angekommen ist, ob etwas alt oder neu, sondern nur darauf, ob es echt oder unecht war. Meinen Sie, ich liefe, das Herz voll erbitterten Widerspruches, in Lumpen durch die Welt, weil mir die Menschen zu schlecht, zu armselig oder zu unwert seien, als daß ich es unter ihnen aushielte? Ich will allein sein und von niemandem behindert werden, am wenigsten durch eigene Pflichten an vergänglichem Werk, die die Gemeinschaft mit Menschen unerbittlich und mit Recht vorschreibt. Was mich aber in die Einsamkeit treibt, ist meine Erwartung, daß es nichts Hoheitsvolleres, nichts Gewaltigeres und Herrlicheres in der Welt gibt als den Menschen. Ich will in meinem Glauben an die Hoheit des Menschen nicht gestört sein, das ist alles. Welches Geschick mir die Menschen bereiten, ist mir so gleichgültig wie mein Kleid. Je mehr ich von ihrem Wert erkenne, um so reicher wird mein Leben gewesen sein.«
»Sie sind ein glücklicher Mensch«, sagte Teja ruhig, »aber ich kann nicht fühlen und denken wie Sie, denn ich habe zuviel gelitten.«
Ich antwortete nach einer Weile:
»Nun werden Sie es sein, die mich herzlos nennt, denn ich glaube Ihnen nicht, was Sie sagen. Das Leid, das uns Menschen in Wahrheit die Liebe zu den Menschen rauben kann, steht in Ihrem Gesicht nicht geschrieben. Ich glaube Ihnen, daß Sie viel zu ertragen gehabt haben, aber wen klagen Sie mit Recht an? Ihre bedauernswerten Eltern, jene Verwandte, die eng und armselig nur das Ihre suchte, den Mann, den Sie verlassen haben, oder einen späteren, von dem Sie sich vielleicht auch getrennt haben, ohne, wie Sie sagen, die Gefühle klar scheiden zu können, die die Ursache dieser Trennung gewesen sind? Selbst der Tod vermag keine Wunden zu schlagen, die nicht heilen. Die Bekenntnisse unversöhnbaren Leids dagegen erfährt die Welt nicht, denn denen, die sie machen könnten, ist der Mund versiegelt, bis die Erde sich über ihnen schließt.«
Als Teja nach einer Weile die Augen hob und unsere Blicke sich trafen, stürzten wir in einen glühenden Abgrund, ergriffen und dahingetrieben vom heißen Odem, der alle Vernunft sich untertan machte.
Ich erwachte durch eine Stimme neben mir, die hohen Gräser wiegten sich, und langsam kamen die Dinge der Welt zu mir zurück in heiterer Erdensicherheit, für deren Wesen kein Name erschaffen ist, da nannte ich sie Teja.
Das Kinn in beide Hände gestützt, die Ellenbogen im Gras, sagte ein tiefer Alt zu mir:
»Ich kenne nicht einmal deinen Namen.«
Als wir vom Hochwald her über die Landstraße in die Einfahrt zum Schloß einbogen, lagen schon die ersten Schatten der Abenddämmerung in den Mauerwinkeln des hohen Tors, das, alt und grau, von Buchen beschattet, in den Hof führte. Mitten darin erhob sich das Kreisrund eines Brunnens, und die Steintreppe zum Herrenhaus lag im Abglanz der roten Abendwolken. Der Verwalter, ein breiter Mann mit einem großen braunen Vollbart, dicht und farbig wie aus Honigkuchen, kam Teja entgegen, und als sie ihm Anweisungen gab, wie ich unterzubringen sei, nickte er ohne Erstaunen, bereitwillig und freundlich. Da ich Tejas Wunsch, mich in andere Kleidung zu schicken, abgelehnt hatte, blieb ihr nichts übrig, als mich wie einen Angeworbenen einzuführen, dem ihre flüchtige Gunst Arbeit zugesagt hatte. Sie sagte:
»Dem Mann ist Beschäftigung im Garten zu geben, bis sich etwas anderes findet, ich spreche später noch mit Ihnen. Überlassen Sie ihm ein Zimmer im Südbau, in dem er allein ist, und geben Sie ihm alles, was er braucht, auch Kleidung.«
Die Selbstverständlichkeit ihrer freundlichen Fürsprache war so herzlich und unbefangen, so ohne Demütigung für mich oder sie, daß ich leichten Sinns und heiterer als auf unserem Wege dem Mann folgte, als Teja uns nach diesen Worten ohne Gruß oder weitere Erklärung allein ließ und ins Haus schritt. Ich hatte es so und nicht anders haben wollen, denn als Teja mir unterwegs den Vorschlag und das Anerbieten machte, als ihr Gast und mit den äußeren Merkmalen meines Standes im Schloß zu verweilen, hatte mich eine tiefe, bohrende Angst befallen, und für einen Augenblick erschien es mir, als schritte ein Versucher neben mir, der es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, mich aus der Freiheit meines Lebens in die genußreichen Wohltaten einer Welt zu locken, die ich fürchtete. Tejas Spott war argloser Art, aber er verletzte mich, und mein Eigensinn wuchs. Ich sah mich ihrem Wunsch gegenüber, mich zu erklären, machtlos.
»Glaubst du denn, ich lebte mein Leben, wie es dir erscheint, aus Armut oder Laune? Es schmerzt mich, daß ich dir etwas abschlagen muß, was ist der Liebe schwerer als eine Absage, aber glaube mir, ich bleibe, was ich bin. Meine Freiheit ist mir mehr, als anderen Nahrung, Licht oder Wohlstand bedeutet, ich gehöre nicht in diese Welt, und selbst wenn ich als Gast in sie eintrete, verdirbt sie mich. Ich bin bei deinem Wesen zu Gast, bei deinem Lächeln, deiner Schönheit, deinem Herzen, aber nicht in den Stuben des Mannes ...«
Nun verstand sie mich besser.
»Das will ich gelten lassen«, sagte sie, »du kannst ja auf dem Gut arbeiten, dann schaffst du selbst dir dein Gastrecht, aber ganz stimmt das nicht, was du sagst.«
Wir schwiegen beide, und jeder mag auf seine Art den Gedanken gefolgt sein, die durch Stolz, Hoffnung und Leid in die Zukunft einer Liebe führten, die nicht unter Erwägungen, Prüfungen und Vorbedacht erwacht war.
Ganz ließ sich nun freilich nicht vermeiden, daß ich meine Kleidung vertauschte und ergänzte, daß aus Vernachlässigung ein gewisser Wohlstand wurde, eine Ordnung, die sich dem Stil der Stellung anpaßte, die ich als ein Mitglied der Arbeitsgemeinschaft des Gutes einnehmen wollte. Ich fügte mich soweit, als es die Würde derer forderte, die meine Gefährten sein würden, jedoch nicht anders, als ich es getan haben würde und immer getan hatte, wenn ich irgendeine Beschäftigung übernahm, um Geld zu verdienen oder Ruhe zu finden, die ich oft gesucht, aber niemals ertragen hatte.
Als ich auf die Kammer geführt worden war, die ich bewohnen sollte, warf ich mich aufs Bett, als kaum die Tür sich hinter meinem Führer geschlossen hatte, und sah die Dämmerung im Raum wachsen und hörte mein Herz seine Lebensschritte tun. Es drangen nur vereinzelte Geräusche durch das geöffnete Fenster zu mir herein, das kleine Schloß lag im Waldgelände wie ein Fels in grünen Meerwogen, einsam und von keiner Hast der Welt berührt. Einmal zog eine singende Stimme vorüber, sie schien aus dem Wald aufzutauchen, unter freiem Himmel ihre Schwingen zu heben und wieder im Wald zu versinken. Ich sah am Abendhimmel einen Stern aufblinken, hell wie Messing, und ganz allein funkelte er im blassen Silberblau über einer rötlichen Hochebene von Wolkenzügen, die still wie ein Gebirge im Westen standen.
Eine Altstimme von fast schmerzhafter Innigkeit und unwirklicher Süße sprach in mein gestaltloses Denken hinein, es war die Stimme, die am Morgen dieses Tages erwacht war und die eine belebte Welt gegen die meine ausbreitete. Es war alles neu geworden, und ich war ungewappnet und dachte: Ich bin wie einer, der plötzlich erwacht und einen Feind in voller Rüstung vor sich aufgerichtet erblickt, und noch indem er sich zum Kampf anschickt, fühlt er, daß sein Herz ihn an diesen Feind ausliefern wird. Teja hatte auf dem Weg zum Schloß noch viel über sich und ihre Schicksale gesprochen, beruhigt und sicher, voll lieblicher Entschlossenheit. Wo bei uns die durchschienene Dämmerwelt der Wunder beginnt, da fängt bei euch Frauen die Eintracht mit den Dingen an, dachte ich, gegen den traumbefangenen Widerstreit setzt ihr die klare Wirklichkeit des Erreichbaren, ihr begreift das Geschehene wie eure Pflicht, aber ich fasse das Geschehene nur, indem ich aufs neue dich ergreife, und indem ich dich halte, beginnt das Wunder aufs neue sein Glühn.
Dann hörte ich Teja sprechen und lauschte ihr zum zweitenmal, indem ich ihre Worte in meiner Erinnerung erklingen ließ. Aber seltsam, weder ihre Gebärde noch der Tonfall ihrer Stimme ließen sich heraufbeschwören, sobald der Sinn der Sätze sich um andere Dinge als um Liebe drehte. Ich hatte erfahren, daß sie nach Jahren des Steigens und Sinkens zu guter Stunde dem Manne begegnet war, unter dessen Dach ich nun weilte, und daß er ihr Leben an das seine zu fesseln gewußt hatte mit einer fast väterlichen Liebe, denn er war viel älter als sie, mit dem kühlen Ernst seines leidenschaftslosen Willens, mit seiner Klugheit, seinem Reichtum. Teja sprach mit großer Achtung von ihm, mit Wärme, aber ohne Glut, gemessen und vorsichtig, wie man von einem Gut spricht, dessen man nicht durch Bande des eigenen Herzens gewiß ist. Sie erwähnte die Liebe dieses Mannes zu ihr nicht, aber sie klang durch alles, was sie von ihrer Neigung zu ihm sagte. Ich erlebte sein Bild in der Gestalt eines, der sein Verständnis für dieses seltsame Mädchen mit der wehmütigen Lebensgeschicklichkeit des klugen Alternden seiner Liebe zu allen Genüssen verband, die sein Reichtum ihm erschloß. Meine Liebe erzitterte, wenn ich hier Tejas Wesen nachsann, und ich schloß die Augen.
Durch Spätsommertage voll Glück und Unruhe sah ich dem kommenden Herbst entgegen. In meiner Kammer standen ein Tisch, ein Lehnstuhl aus Rohrgeflecht, ein Holzbett mit weißen Kissenbezügen und ein uralter geschnitzter Bauernschrank, der wunderlich bemalt war und in dem der Wurm tickte. Von meinem Fenster aus sah ich über eine Wiese hin den nahen Wald, hinter dem die Abendsonne glühte, deren Schein gelblich durch die gelichteten Baumkronen in meine Kammer fiel. Der kleine Raum lag dann in der überwachen Helligkeit warmer, windiger Herbsttage, er schien gelichtet wie die Natur umher, seine helle Öde war freundlich und machte doch unruhig.
Da ich meine Arbeit einteilen konnte, wie ich wollte, und viel Zeit hatte, füllte sich mein Tisch mit Büchern, die Teja, die ich täglich sah, mir gab. Ich nahm sie aus dem Bibliothekzimmer des Schloßherrn mit, und mein Nachtlicht erlosch oft erst mit der Morgendämmerung. Aber ich fand keine Sammlung und durchkostete das Glück dieser Tage mit bösem Gewissen. Ich begriff die Wohltaten eines solchen Lebens, aber mir war, als genösse ich sie zu Unrecht, ich traute ihrem Bestand nicht, und nach jeder Hingabe an ihren Wohlstand befiel mich eine ratlose Traurigkeit. Mir erschien es, als sei ich durch eine voreilige Gemeinschaft mit diesen Gütern zu einer Untreue gegen mein Los verfuhrt, wie im Aufbruch durchirrte ich oft die Stille, wie ein gelittener Gast, und es gab Stunden, in denen ich mich als unwillkommener Eindringling empfand, zugleich als stolz und als undankbar. Aber ich konnte um Tejas willen nicht von dannen finden, obgleich alle Stunden, die ich mit ihr verlebte, mich in gleichem Maße marterten, wie sie mich beseligten. Auch sie war zuweilen ratlos, aber ich sah es nicht, weil sie es nicht aus gleichen Ursachen wie ich war. So gewann sie bald jene Überlegenheit zurück, die ich seit unserer ersten Stunde an ihr haßte, weil sie nicht aus der Weite ihres Wesens stammte, sondern aus seiner Kälte. Was mich aber immer wieder versöhnte, war ihre Ehrlichkeit, niemals versuchte sie anders zu erscheinen, als sie war, und ihre kleinen Eitelkeiten und Lügen verachtete sie selbst am meisten und konnte über sie spotten, noch ehe sie den Vorteil ihrer Wirkung wahrgenommen hatte. Was aber ihr Wesen am gefährlichsten machte, war das Wunder, daß ihr an Schamlosigkeit grenzender Hang zur Aufrichtigkeit niemals den Zauber ihrer weiblichen Reize durchbrach, immer fand ihre Preisgabe zugleich den Schleier, der sie verhüllte. Aber ihre Seele blieb bei aller Offenheit undurchsichtig, oft fror mich, und ich litt an meinen Hoffnungen, in denen ich von selbstvergessener Hingabe und törichter Zärtlichkeit träumte. Mir war zuweilen, als sei ich aus einer warmen Welt verstoßen, deren Menschen ich glaubte gering achten zu müssen, denn ich brauchte meine Kraft. Aber es trafen mich heimlich Augen, deren Blicke wärmten, ich dachte an die Hilflosen, die wehrlos Fühlenden, die Durchsichtigen in ihrer Ohnmacht, sich gegen die eigene Übermacht der reichen Seele zu schützen. Wohl empfand ich sie als schwach, aber ich segnete sie doch. Mir war, als ob durch solche Durchsichtigkeit das Himmelslicht in die Welt bräche, das uns heilt.
Tejas Achtung vor meiner Person wechselte oft mit spöttischem Widerspruch, der voller Geringschätzung war, aber ihre Ehrfurcht vor meiner Liebe war ohne Makel. Ich erlebte in ihrem Wesen zum erstenmal das Wunder, daß das Weib Gefühle und Zustände in Wahrheit zu durchleben vermag, die es im Grunde nicht hat, eine Eigenschaft, die dem Manne versagt ist, sooft er auch glaubt, sie zu besitzen. Je mehr ich aber lernte, mich zu verschließen, um so schmerzvoller brannte und pochte die Glut meiner Liebe in den verdunkelten Kammern der Brust.
Einmal, nach einem Gespräch voll Ernst, in dem wir beide einander verschwiegen, daß der Gedanke an die nahe Zukunft uns quälte, schien es mir, als ob Tejas Erinnerung an unsern ersten Tag einen Stachel heimlicher Scham in ihr zurückgelassen hätte. Sie sagte zögernd:
»Es ist seltsam, wie rasch vor dir alle Schranken fallen.«
»Ich habe mir Sittlichkeit niemals zur Aufgabe gesetzt, Teja«, entgegnete ich, einem Gedanken folgend, den sie in mir anregte. Sie verstand nicht, wie ich zu dieser Antwort kam, und sagte zweifelnd:
»Das klingt sehr hochmütig.«
»Es kann Anmaßung sein, aber auch Andacht, die mich sagen läßt, was ich erst unter deinen Worten in mir erlebe.«
Einen Augenblick verstand sie und lächelte mir zu, und immer, wenn ich ihrer gedenke, überströmt mich der Glanz, der aus ihren Augen brach.
Den Hausgenossen begegnete ich wie im Traum und entsinne mich ihrer nur noch, als habe ich sie auf Bildern gesehen. Alle, die mir gleichgestellt waren, wichen mir aus, der Gärtner und der Verwalter behandelten mich mit einer abwartenden Höflichkeit. Man schien in gleichem Maße an die Launen Tejas gewöhnt zu sein, wie man mit irgendeiner herannahenden Kraft rechnete, die ihnen nachsichtig, aber allmächtig Schranken zu setzen vermochte. Aber niemand trat mir zu nahe. Nur eines greisen Hausdieners entsinne ich mich noch deutlich, der wie ein Gespenst durch Hof und Stuben geisterte und für alles und nichts da zu sein schien. Die erstorbenen Formen seines hochmütigen Umgangs mit jedermann reizten mich, ich empfand in ihm meinen unversöhnlichen Gegner. Er kam mir wie ein zurückgelassener Wächter vor, voll zwischenträgerischer Bosheit und als Tejas Feind. Aber sie lachte mich aus, als ich einmal darüber zu ihr sprach.
»Hier ist mir alles feindlich gesinnt, alles, nur der Herr selber nicht, aber in seiner Neigung zu mir stellt er sich in Gegensatz zum Herkommen seiner häuslichen Heimat, vom Wetterhahn bis zu den Gräbern seiner Väter. Er sieht es nicht oder will es nicht sehen, aber ich weiß es und täusche mich nicht. Mein Geist wandert hier durch die Reihen von hundert feindlichen Geistern, aber ich nehme den Kampf auf und wiege mich nicht in falscher Sicherheit. Wer sich gehenläßt, weil er sich für beliebt hält, hat schon halb verspielt.«
»Wie voll Unfrieden muß dein Leben sein, Teja.«
»Ja, es muß so sein. Vielleicht habe ich darauf verzichtet, mir innerlich Ruhe zu schaffen, ich bringe kein Opfer mehr.«
Wir gingen den herbstlichen Waldweg hinunter, der zu den Fischweihern führte. Teja trug ein langes schweres Kleid aus rauchfarbener Seide und einen glanzlosen Goldreif im Haar. Ihr schöner Hals war entblößt und ihr Schuh aus rotem Leder, feiner als dünnes Tuch.
»Lächelst du über meinen Aufzug hier in der Einöde?« fragte sie. »Wenn es kraus und trüb in meinem Innern aussieht, so hilft mir oft ein prächtiges Kleid. Dir helfen heute noch Lumpen, aber du bist auch zu Opfern bereit. Komm, widersprich mir nicht, heute könntest du mich nur verletzen. Auch ich war einmal zu Opfern bereit. Bis die Sonne fort ist, laß uns hier niedersitzen, und du erzähle mir. Sprich von dem, was du hast erleiden müssen, und verzeih mir, wenn es mich tröstet.«
»Das kann ich nicht.«
»Ich weiß. Bisweilen, wenn man dich sprechen hört, möchte man meinen, dein Leben habe dich durch ein einziges Paradies von schönen und heiteren Erlebnissen geführt, immer nur zu besonderen Menschen und stets durch Erfahrungen, die dir Mut und Kraft gemacht oder dich erhoben haben. Ich weiß aber, daß dies nicht wahr sein kann: Du hast auch Genüsse durchkostet, die anderer Art sind als diejenigen, von denen du bisweilen berichtest, und du hast an Schmach, Entbehrungen und bitterer Zurückgesetztheit manches erlitten. Es müßte nicht das gleiche Leben sein ...«
»Ich würde niemandem raten, meine Wege zu gehen, Teja, es möchte ihm das Wichtigste fehlen, aber ich kann weder von meinen Genüssen noch von meinen Leiden sprechen, am wenigsten auf die Art, wie du es heimlich forderst. Mir ist, als müßten die Tatsachen meines Erlebens in ihrer alltäglichen Form Mißgunst oder Mitleid heraufbeschwören, aber nicht die Teilnahme, bei welcher der Betroffene auf eine Art zurücktritt, die anderen ermöglicht, sich an den Ereignissen zu beteiligen.«
»Liegt dir denn daran? Weshalb?« Ihre hellen Augen sahen voll suchenden Erstaunens und fast feindselig in die meinen. »Weißt du, daß du so auch vor mir zurücktrittst und daß, indem alles, was du sagst, vielleicht meinen Geist beschäftigt, es zugleich mich selbst allein läßt?«
Ich erschrak aufs tiefste, vielleicht über die Wahrheit, die in dieser Anklage lag, vielleicht auch deshalb, weil ich ahnte, daß Teja mir das zum Vorwurf machte, was ich, um ihrer Schuld willen, vor ihr nicht sein noch haben konnte.
»Du wirkst oft so lieblos und fern auf mich«, fuhr Teja fort, »in allem, worin ich dir aus ganzer Seele folgen möchte, fühle ich zugleich deinen Willen zur Fremdheit. Deine Hand entgleitet, noch ehe man sie recht hält. Heute glaube ich oft besser als früher zu verstehen, daß du wirklich ein Landstreicher bist. Ich habe dir mein ganzes Leben erzählt, so offen, wie ich niemals geglaubt habe, gegen einen Menschen sein zu können, wenn ich aber an alles denke, was du mir gesagt hast, so sehe ich immer nur andere und dich nur, wie du erscheinen willst, aber nicht, wie du bist. Wie soll ich deiner Liebe ohne diese Hingabe glauben? Mehr als dich und mich liebst du irgendein Fremdes, aber was ist denn dieses Unbekannte, und was willst du eigentlich?«
Sie lächelte ungewiß, als habe sie sich in haltlosen Gedanken verirrt, aber ich verstand mit Widerstreben den Sinn ihrer Worte mit der Hellhörigkeit meiner Liebe. Meine Zweifel erwachten und flüsterten mir zu: Vernimmst du nicht, was verschwiegen wird? Glaubst du, daß schon einmal ein Weib in der Welt zuerst, klar und einfach, die Worte ausgesprochen hat: Ich liebe dich nicht mehr?
»Warum sagst du mir dies, Teja, warum bist du es, die es tut?«
Sie schwieg. Ich empfand die ferne Wahrheit ihrer Worte, ohne ihre Beziehungen zu meinem Schicksal zu erkennen, zugleich aber, daß Teja sie nicht wegen dieser Wahrheit aussprach, sondern um einer anderen willen, die sich dahinter verbarg. So saßen wir nun stumm im Walde, im Abendwind, bis die Dunkelheit niedersank, traurig unter dem Druck des Unaussprechbaren schweigend, das uns quälte und von dem es nur Befreiung in einer schmerzhaften Abkehr zu geben schien. Als der Mond aufging und die Welt langsam in ein neues und anderes Licht geriet, erhob sich Teja und sagte:
»Morgen kommt er.«
Da verstand ich, und ich sah, als sänken Vorhänge vor mir nieder, dunkle Wälder, endlose Wege, das Heideland und totenstille Nächte voller Sternbilder und hoher Weite. In noch entlegenerer Ferne, über den Landschaften, glomm ein Lichtschein voll herber Freude, von bitterer Kraft und Liebe.
So vermochte ich, überwältigt von den Gebilden und Bewegungen meines Inneren, kein Wort zu sagen. Ich dachte: Werde schuldig an dir und mir, es wird schon gehen mit mir, ich finde etwas, und dann ...
Da sagte Teja leise neben mir in der Dunkelheit:
»Dann bin ich alt.«
Ihre Gedanken, die wie die meinen in die Zukunft geirrt sein mögen, werden auf einem anderen Wege zu diesem Ausspruch gekommen sein, den ich nun als Antwort auf meine heimlichen Worte nehmen mußte, aber er versöhnte mich und führte mich zu einer Nacht voll ruhiger Entschlüsse und gestaltloser Gedanken, die ich denken mußte, ohne sie zu verstehen.
Aber Tejas letzte Worte über mich bewegten sich in wehmütiger Inbrunst Stunde für Stunde in mir. Ich verstand sie bald als Anklage, bald als Klage, und erst viel später begriff ich, daß sie sie hatte sagen müssen, um sich selbst vor mir und sich zu rechtfertigen. Aber daß sie ihr zum Mittel geworden waren, hat ihnen ihre Wahrheit nicht genommen, eine Wahrheit, die langsam in mir zu einer schmerzlichen und stolzen Gewißheit emporgewachsen ist. Erst mit dem ersten Blick in unsere eigenen Augen beginnt die innere Freiheit für unsern Weg, auf ihm aber tut es wohl, offen gegen sich selbst zu sein.
Der neue Tag kam wie alle Tage, aber mit seinem hereinbrechenden Licht ernüchterte sich meine Entschlossenheit, meines Wegs zu gehen, und aus Trauer wurde Verdruß und ein Trotz, der mich erbitterte. Eine ganz neue Kraft anderer Art wurde in mir lebendig, und ich war unzufrieden mit mir und voll Spott und Geringschätzung gegen mich selbst. Im Widerstreit meiner Gefühle blieb ich im Schloß, statt davonzugehen. Von heißer Selbstanklage bis zu den härtesten Vorwürfen gegen Teja zermarterte ich mich mit der Frage nach der Ursache dieser trennenden Absage, die unausgesprochen Wahrheit zwischen uns geworden war.
Ich sah die Ereignisse des Tages wie ein beleidigter Zuschauer, bald auch, als erlebte ich sie im Traum, die eifrige, festliche Freude, die Ausfahrt der Wagen, die Ankunft des Herrn, die hellen Fenster des Schlosses und ihr Ausblinken nach Mitternacht. Wie dieser Tag verstrichen war, so vergingen die nächsten, und ich kannte mich nicht mehr. Alles erschien mir denkbar, nur nicht, daß ich nun so lautlos und abseits davonschlich, ohne Abschied, ohne noch ein Zeichen der Gnade oder Ungnade empfangen zu haben. Ich wußte nicht, was ich erwartete, und manch klare Einsicht, voll geduldiger Erkenntnis, wechselte mit einer ohnmächtigen Wut der Machtlosigkeit von Leib und Seele, so daß mir war, als ginge ich in tiefster Dunkelheit, zugleich gehorsam und närrisch. Ich verrichtete darüber mechanisch die Arbeiten, die sich mir boten, und kämpfte oft um ein paar unbefangene Worte mit dem Gärtner oder Verwalter wie um mein Seelenheil. Sahen nicht alle unsere Schmach? Dabei wartete ich ohne Unterlaß auf irgendeine Entscheidung, obgleich ich wußte, daß sie gefallen war. In einer bestimmten Region meines gequälten Daseins verachtete ich mich bis zur Selbsterniedrigung, aber in einer anderen lag eine heitere Ruhe der Erwartung über mir, ein tiefer Glaube. Aber je länger ich verweilte, um so fester band ich mein Herz an diese Stätte der Marter und Seligkeit, durch die ich aus weiter Ferne unverändert dieselbe Teja schreiten sah, die in meinen Armen gelegen hatte. So verharrte ich zwischen der Furcht vor einer unsagbaren Lächerlichkeit und dem Grauen vor einem Verbrechen.
Zu einer Morgenstunde, als die aufgehende Sonne mit dem Nebel kämpfte und es aus den Bäumen ins Laub und auf die welken Beete niedertropfte, war ich beschäftigt, hochstämmige Rosen im Garten für den Winter einzubetten. Ich befreite in müßiger Hantierung die Wildlinge von ihren roten Früchten, bevor ich sie beschnitt und die Kronen der edlen Stämme mit Stroh umhüllte, und der Rauch meiner Pfeife vermischte sich mit dem Morgennebel. Da sah ich den Schloßherrn den Weg herabkommen, grade auf mich zu, und ich glaubte mein Herz erstarren zu fühlen. Er ging gemächlich, wie beschäftigt mit seinen Gedanken, und es erweckte den Anschein, als bliebe er nur beiläufig und einer kleinen, willkommenen Unterbrechung zugeneigt bei mir stehen. Ich ließ die Arbeit sinken und sah ihn an.
»Sie sind noch nicht lange in meinen Diensten?«
»Nein, Herr Graf, seit sechs Wochen.«
Er betrachtete mich freundlich, fast traurig. Seine Teilnahme schien herbeilassend, aber ohne Hochmut. Ich sah in sein feines, mageres Gesicht, das bartlos und unbewegt wie eine vornehme Maske dreinschaute. Die blauen Augen waren klar und von einer festen und kühlen Sicherheit, die Vertrauen einflößte. Ich sah, daß seine Schläfen ergraut waren, die Hände hatte er in die ziemlich hoch angebrachten Taschen des kurzen Jagdpaletots geschoben, der mit schmalem grauem Pelz verbrämt war und zugleich leicht und wärmend aussah.
»Das Obst war reichlich, wie ich hörte, und ist gut eingebracht. Sie haben sich dabei behilflich gezeigt?«
»Ja, Herr Graf.«
Mir war, als müßte ich mich abwenden und davoneilen, mein Herz brannte und bebte vor Scham, gebeugtem Stolz und dem Verlangen nach einem lauten, wilden Aufschrei. Aber diese prüfende Traurigkeit im Blick des Mannes bannte mich am Ort, sie schrieb mir diese Haltung tatlosen Abwartens vor. Ich hätte meine Beschäftigung fortsetzen können, aber ich fühlte deutlich, daß dies alles kein Zufall war, sondern daß etwas geschehen würde.
»Da nun der Winter kommt, ist für euch Gärtner wenig zu tun. Sie haben selbst genügend Einblick gewonnen, um zu begreifen, daß die Treibhäuser, die in der kommenden Zeit geringer Pflege bedürfen, von Gebhart versehen werden können. So wäre es wohl recht, man bemäße die Zahl der Gehilfen nach dem Maß der Arbeit.« Seine Stimme klang bedacht und freundlich, ohne Bewegung, als erwöge er eher seine Worte, als daß er sie wie eine Verfügung aussprach.
»Wenn es Ihnen nicht gerade um diese Zeit hart erscheint«, fuhr er fort, »so wäre es vernünftig, Sie suchten sich für den Winter eine einträglichere Beschäftigung. Ich biete Ihnen meine Hilfe nicht an, denn ich weiß, daß Sie ihrer nicht bedürfen. Wollen Sie mir eine Antwort geben?«
Unter dem Tonfall dieser Frage und durch den Blick, der sie begleitete, begriff ich, und mir war, als stünde ich in glühendem Wind. Aber mich stärkte die Ahnung eines dritten Willens, dessen Kraft ich empfand und der über uns beiden waltete. Ich antwortete:
»Ich werde meiner Wege gehen.«
Die kühlen Augen forschten ohne Groll und Liebe in meinen Zügen. Ein kurzes Schwanken, halb Bedauern, halb Entsagung, war das einzige Zugeständnis an meine Worte, etwas wie ein Eingeständnis, daß er mich durch Tejas Worte kannte und daß im Schleier eines gnädigen Lebensmitleids bleiben sollte, was für ihn, den Alternden, für mich und für Teja dahinten lag. Er nickte dann mit schräg gesenktem Blick langsam und sagte:
»Es möge Ihnen gut ergehen wie uns allen.«
Bei diesen Worten reichte er mir seine Hand, aber ich vermochte nicht, sie anzunehmen, und schaute vor mich nieder, indem ich den Anschein erweckte, als sähe ich sie nicht. So griff der Wartende leicht an seinen Hut und wandte sich langsam ab, seinen Weg fortsetzend, als habe nichts als ein gelegentliches Wort flüchtiger Teilnahme an meiner Beschäftigung ihn für diese Weile aufgehalten. Er sah ein wenig müde aus, aber keineswegs kraftlos. Eine Gruppe von Gartenbüschen schob sich zwischen ihn und mich, und seine Gestalt entschwand meinen Blicken.
Ich ließ mich auf das Stroh nieder und hörte auf die Nebeltropfen, die in der Stille des Gartens ins Laub fielen. Sie hat mit ihm gesprochen, und nun spricht sie durch ihn zu mir. Ich hatte keine Bitte und keinen Befehl, keine Anklage und keine Hoffnung vernommen, sondern nur: »Es ist besser so.« Diese lautlose Stimme vermischte sich mir mit den Geräuschen und den Atemzügen der Natur, sie duftete aus dem Bodenlaub empor und zog am Himmel mit den Nebelwolken. Sie drang wie eine Gewißheit aus dem kühlen Sonnenrot in den Baumkronen und lag als ein grauer Schimmer auf dem Weg.
Ich ging, wie im Bann meines Schicksals, in einer fröstelnden Hast auf meine Kammer und begann dort, meine Habseligkeiten in mein Bündel zu schnüren. Meine alten Kleider fand ich nicht mehr, nur meinen großen Hut sah ich im Winkel des Schranks liegen, eine Maus sprang unter ihm hervor, als ich ihn aufhob. Es zog vom offenen, unverhangenen Fenster kühl zu mir hinein, und ich hielt einen Augenblick inne und sah in die Morgenluft hinaus, auf das bunte Laub und die bräunliche Wiese. Dann ordnete ich die Bücher, die auf meinem Tisch lagen, und nahm Abschied von ihnen, mir war, als fragten diese Undurchforschten nach mir, als seien wir einander in Unschuld etwas schuldig geblieben, und ich mußte lächeln, als ich an die weiten Welten von Leid, Liebe und Lust dachte, die still in den unscheinbaren Hüllen verborgen waren. Darüber ward ich froh, wie unter dem Glanz eines Wunders, und ein Gefühl seliger Unbeschwertheit erhob mich, so daß meine Menschenarmut wie ein großes helles Segel im Weltwind vor mir stand. Ich habe nichts mehr und alles noch, dachte ich, verstehe es, wer mag, auch ihr mit eurer Sicherheit und euren Sorgen. Vor mir breitete sich das Meer der unsichtbaren Zeit aus und in meiner Brust die Kraft. Ich habe alles verloren, und ich stehe aufrecht, und in ein paar Jahren, ihr und ich, liegen wir alle unter der Erde.
Ich nahm meinen Stock und ging von dannen. Aus dem Schatten des Hofs trat ich in den Sonnenschein der Straße, voll Traurigkeit, aber im goldenen Licht. Ich nahm den Weg, wie er mich führte, und solange ich ihn kannte, bedrückte er mich. Als ich aber zur Rechten und Linken den Wald hinter mir ließ und die Landschaft sich vor meinen Blicken ausbreitete, umfing mich aufs neue die herbe Vertrautheit der Fremde, mein Lebensteil, und ich atmete leichter, wie einer, der sich der Heimat nähert. Nach einer Weile vernahm ich das Rollen eines Wagens hinter mir, den erregten Frohsinn eines scharf trabenden Zweigespanns. Es war das Jagdgefährt des Schloßherrn, blinkend, dunkel und stolz stürmte es durch das stille Bunt der Landschaft auf dem hellen Band der Straße heran, und ich trat zur Seite, um es an mir vorüberzulassen. Teja führte die Pferde, die Leine lag fest in den ein wenig gravitätisch gehobenen Händen mit den hellen Handschuhen, ihr knapper Herrenhut über der kühlen, klugen Stirn und ihre Schultern gewannen ein seltsam gefestigtes, klares Leben durch einen mattfarbigen Schleier, der von ihrem Arm her lebhaft und wie in ausgelassenem Frohsinn nach hinten flatterte. Der Schloßherr saß zu ihrer Linken, ein wenig zurückgesunken, soweit die knappe Lehne des hohen Gefährts es zuließ, so daß er kleiner als Teja erschien. Seine Blicke, die ruhig gradeaus und in die Weite gerichtet waren, schienen, wohlwollend in ihrer leisen Müdigkeit, in den Anblick des herbstlichen Landes versunken, ohne Eifer beteiligt und ohne Grübelei bedacht.
Als Teja an mir vorüberfuhr, sah sie starr gradeaus, und es rührte sich kein Zug ihres Gesichts, aber es grüßte mich durch seine bleiche Farbe zum Abschied, wie auch die Tage unseres Sommers, die Quellen ihrer Jugend im grünen Lebenstal und jenes Reich der Liebe, das keine Geltung, nicht Halt noch Ansehen auf der Erde schafft.
Die Staubwolke hatte sich längst wie ein feiner Schleier auf den Feldern ausgebreitet und gesenkt, und das Rollen des Wagens war verklungen, als ich mit einem tiefen Atemzug von diesem Gruß erwachte. So schritt ich denn dahin und sagte zu mir: Weiter, mein Herz, wir müssen nun weiter. Ist mein Weg zu dir einst nicht der Weg zu vielen gewesen, so ist der Weg der Besten doch immer der Weg zu dir.