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Eines Nachmittags durchschritt ich einen Wald in der Nähe einer Stadt. Ich hatte einen schmalen Fußsteig eingeschlagen, der zwischen hohen alten Buchen dahinführte, in der Hoffnung, damit ein Stück der Landstraße abzuschneiden, und dachte darüber nach, aus welchem Grunde in diesem Augenblick mir und in so vielen anderen Augenblicken den meisten Menschen daran gelegen sei, ohne daß uns Eile trieb, doch unseren Weg zu verkürzen. Das Ziel lockt, dachte ich, auch ohne daß es etwas verspricht oder auch nur bekannt ist, es ruft und zieht uns an, auch wenn wir wissen, es wartet unser kein Mensch und kein Tun, nichts als das, was wir auch nach einer Stunde noch vorfinden werden. Woran mag es liegen, dachte ich und schritt langsamer. Es hat seinen Grund darin, daß wir alle noch nicht gelernt haben, in der Gegenwart zu leben, sagten mir meine Gedanken, es ist viel leichter, die Zukunft in unsern Betrachtungen wachzurufen als die Gegenwart. Immer wandert unsere bestimmte oder unbestimmte Hoffnung uns voraus und zieht uns hinter sich her, wie ein Nachtschmetterling vom Licht angelockt wird, und wir übersehen darüber die Schönheiten, den Wohlstand und die Fülle unserer Straße. Es ist die Seele, die auf der Heimfahrt den Körper verführt, aber täuscht sie ihn nicht dann ungewollt, wenn wir ihr Verlangen mißverstehen oder nicht kennen? Liegt nicht die tiefste Gewißheit ihrer Beheimatung gerade in der Schönheit, dem Wohlstand und der Fülle unseres Wegs, und würden diese Güter, wenn wir bei ihnen zu verweilen gelernt hätten, uns nicht tiefer beglücken als die rastlose Eile nach einem immer neuen Ziel, das sich uns verschiebt wie jenem wandernden Kind der Ort am fernen Horizont, wo der Himmel die Erde berührt? Da blieb ich unter den Bäumen stehn und dachte: das Alter! Die alten Menschen haben es gelernt, nicht durch ihre reicheren Erfahrungen, denn das Alter bereichert nur die Reichen, nur die Guten werden mit ihm besser und nur die Klugen klüger, sondern einfach deshalb, weil sich ihnen die Hoffnung langsam gegen die Erinnerung eintauscht. Am Ort dieser inneren Wandlung liegt ein erneutes Bewußtsein für den Wert der Gegenwart, mit den Tagen ergeht es den Menschen ähnlich wie mit dem Geld, erst wenn sie gezählt sind, wissen sie ihren Wert.
Der Waldpfad führte einen sanften Hügel empor, und die Stämme begannen sich zu lichten, und als ich die Augen gegen die Helligkeit hob, die über den Feldern lag, erblickte ich auf der Höhe eine menschliche Gestalt, die mit merkwürdig tief geneigtem Haupt und seltsam starr aufgerichtet zu Boden sah, als beobachtete sie in übertriebener Ängstlichkeit zu ihren Füßen einen Ameisenhaufen oder irgendein sonderbares Getier, das ihr zugleich Neugier und Abscheu einflößte. Je weiter ich nun den Hügel erklomm, um so mehr schien die Gestalt sich zu heben, ohne eine Bewegung, so still, als schwebte sie. Da erkannte ich, daß dieser Mensch nicht stand, sondern an einem Ast hing.
Es war später Frühling, aber die Rotkehlchen sangen noch, sonst war der Wald ruhig und menschenleer, kein Windzug bewegte die Blätter, und die Sonne schien. Es überkam mich eine jähe Traurigkeit, die mich so mächtig in ihren Bann nahm, daß ich alles Grauen überwand, jeden kleinen Gedanken und sogar mein Mitleid mit der armen Person des Toten, der kalt und unbeweglich in der lauen Frühlingsluft hing, die aus der abendlichen Weltweite strömte. Sein Angesicht war ohne entstellende Verzerrung und hob sich, vorgereckt und wie aus Wachs gegossen, weit aus den hängenden Schultern, die Augen waren geschlossen, die unbeteiligten Hände berührten die Schenkel über den Knien. Im Moos, das die Füße des Toten fast erreichten, lagen ein kleines Buch, eine Geldbörse, ein Strauß Feldblumen und eine Uhr, daneben, mit einem Stein beschwert, ein Zettel, auf dem die Worte geschrieben standen: Für Regina. Die Feldblumen waren welk und lagen sicherlich schon den ganzen Tag an ihrem Platz.
Ich ließ mich auf einem Baumstumpf nieder, um für eine Weile bei dem Toten zu bleiben, seiner zu gedenken oder meiner, in einem unbedachten Entschluß, der unter dem tiefen Schweigen des Abgeschiedenen in mir entstand, unter der erschütternden Wirklichkeit seiner unabänderbaren Abkehr von den Bereichen der Lebendigen. Es bannte mich nicht allein das Wunder des Todes, sondern auch die Macht des Entschlusses, die durch die Ruhe zitterte, in der der herbeigerufene Tod herrschte. Die Inbrunst dieses Willens bebte in der Stille, wie das Leid aus einem Schweigen zu uns sprechen kann oder die rauschende Bewegung des Weltalls aus der lautlosen Beruhigtheit eines Sommermittags in den Feldern.
Nach einer Weile, als es begann dunkel zu werden, hob der Tote an, mit mir zu reden, und ich verstand ihn, weil ich mich daran gewöhnt hatte, mit Blumen und Tieren zu reden, mit dem Wind, den Wolken und Steinen. Alle Dinge, die die Merkmale des Lebens tragen, haben eine Sprache, deren Laut beredt oder heimlich über den Landschaften unsrer Seele widerklingt, wenn die Andacht wie ein milder Sonnenschein über ihren blühenden Gefilden liegt und wenn wir erfahren haben, daß selbst im Kleinsten ewige Symbole sind.
»Willst du mich mit deinen Augen erwecken?« fragte der Tote, »willst du Tote erwecken mit deinem Glauben an das Leben? Dann darfst du deine Blicke nicht über mein Gesicht und nicht über den armseligen Körper gleiten lassen, wie er jetzt vor dir an einem Ast hängt, denn das bin nicht ich, dies erbarmungswürdige Etwas, dessen Verfall begonnen hat und das so jämmerlich gefangen ist in einer Hanfschlinge. Es gibt dir kein Bild mehr von mir und von meinem Scheiden, meine Abkehr war ein freier und glücklicher Schritt zur Ruhe. Ich weiß, daß die Menschen Grau'n und Abscheu vor einem Selbstmörder an den Tag legen und ihn immer verurteilen, auch wenn sie seine Beweggründe nicht kennen. Sie haben solche Gefühle aber nur um ihretwillen, und darum mag es so gut sein; wie könnte es mich kränken? Ich habe mich niemals viel darum gekümmert, wie andere über mich dachten, auch über mich selbst habe ich nicht viel nachgesonnen, es war meine Art, das Leben und seine Erscheinungen anzunehmen, wie sie mir dargereicht wurden, und ihr Sinn hat mir selten Qualen verursacht. Auch habe ich dem Glück nicht nachgejagt, weil meine Mutter mich bei ihrem Todesende darüber belehrte, daß nur das in Wahrheit das Glück unsres Herz«ns sein kann, was uns ohne unsere Mühe oder Absicht zufällt, auch vom Glück, sagte sie zu mir, kann uns nur unser Teil geschehen, der andere Teil kommt ohne Frieden zu uns, und wir werden seiner nur vorübergehend teilhaftig, ohne daß er uns segnet.
Eines Tags in meinem Leben lernte ich Regina kennen, oder besser, ich machte ihre persönliche Bekanntschaft, denn meine Augen und meine Gedanken begleiteten sie schon lange, und ich kannte sie besser als viele andere, die ihr näherstanden. In dem kleinen Ort, in dem wir lebten, ging es recht vertraulich untereinander zu, eigentlich fremd war man einander nicht. Regina ist die Tochter eines Uhrmachers, sie leitete das bescheidene Hauswesen ihres alten Vaters und lebte still und zurückgezogen im Wirkungskreis seiner beschränkten Tätigkeit. Sie nahm meine Annäherung mit einem etwas erstaunten Wohlwollen auf, und ich wurde Gast in ihrem Hause. Um ihr nicht lästig zu fallen und um doch in ihrer Nähe zu sein, saß ich viel in der Werkstatt ihres Vaters, des alten Mannes, die zugleich sein Laden und sein Wohnraum war. Dort tickten wohl hundert Uhren an den Wänden, deren träge oder eifrige Lebenslaute sich mir unzertrennbar mit dem Bilde Reginas verbunden haben. Stets, wenn ich mir ihre schöne Erscheinung vergegenwärtigte, hörte ich Uhren ticken, dies Geräusch ist der Laut ihrer Atmosphäre geworden, es umgab ihr Bild wie ein heimliches Kleid, wie der hastige Atem meiner Erinnerung.
Regina war ein großes, blondes und schweigsames Mädchen, ich glaube, ihre Natur umfaßte wenige jener erregenden Elemente, die oft das unscheinbarste Mädchen so reizvoll und gefährlich machen können, nur die ruhige Schönheit ihrer Gestalt, ihre Gesundheit und Fülle und ihr Gleichmaß aller Regungen verliehen ihr jenen Zauber, der, ohne geheimnisvoll zu scheinen, doch die Geheimnisse des weiblichen Wesens tiefer erstrahlen läßt als manch betörendes Rätsel. Man sagt, daß die Augen der Liebe das Herz zur Überschätzung verleiten, so mag es wohl gewesen sein, daß ich Regina höher wertete als andere, aber wie könnte ich es mir zum Fehler anrechnen, da ich ihr niemals mehr gesagt oder gezeigt habe, als der heimliche Anspruch ihres natürlichen Werts erlaubte. Auch als wir uns verlobten, wurde es nicht anders. Unser Verhältnis wuchs und entwickelte sich mit der gelassenen Sicherheit, in der Morgen und Abend, Frühling und Winter heraufziehen, und ohne Stürme, und wenn ich nicht erlebt hätte, daß andere Männer mich beneideten, so würde die Ruhe meiner Seele nicht beeinträchtigt worden sein. Ich ordnete alle natürlichen Regungen, die meine Jugend und mein Blut in mir laut werden ließen, den sittlichen Forderungen unter, die die bürgerliche Gesellschaft stellt, und vermutete, damit den Ansprüchen meiner Braut Genüge zu tun. Wir sprachen niemals über andere Dinge als über solche, die auch zwischen mir und meiner Schwester hätten verhandelt werden können, und ich hatte den zuversichtlichen Glauben, aufrichtig geliebt zu sein. Ich machte, wie ein rechtes Kind, die große Rechnung meines Lebens, ohne der Natur ihr volles Recht einzuräumen, und sie rächte sich in jenem Gleichmut an mir, nach dessen Gesetzen das Leben fortschreitet, ohne sich um unsere Irrtümer zu kümmern.
Es fehlte nicht an Augenblicken, in denen mir, wie in einer geheimnisvollen Mahnung, Klarheit über mein Verschulden wurde. Regina war vierundzwanzig Jahre alt und kein Kind mehr, sie hat an den unbewußten Erfahrungen ihres Blutes gelitten, deren Bewußtwerden meine törichte Jugend in der Hoffnung eindämmte, ihrem Wert damit gerecht zu werden, aber die Natur läßt sich weder im Guten noch im Bösen um ihre Rechte bringen. Zuweilen sahen ihre Augen mich mit rätselhaftem Forschen an, wie in einer Klage um die verstreichenden Frühlingstage ihres schönen und starken Lebens, und ich legte diese Empfindungen mit heißem Dank zu den Gütern meiner Liebe und hoffte, die ihre würde um so inbrünstiger und dankbarer an mir hängen, wie wir Menschen nun einmal glauben, daß die Liebe von Wohltaten zu leben imstande sei, von Dank oder Güte. Sie lebt nur von Liebe. Mein Vertrauen zu Regina war nach meiner Meinung grenzenlos, sieh, ich hänge nicht an diesem Ast, weil es von ihr getäuscht worden ist, sondern weil es nicht groß genug war, um auch das wichtigste Lebensrecht der Jugend in den Bereich seines Lichts einzubeziehen. Wenn die Welt meine Geschichte kennt, wie sie den Tatsächlichkeiten nach ihren Verlauf nahm, so wird sie wahrscheinlich meine Partei ergreifen und Regina verurteilen. Aber ich verachte diesen Rechtsspruch und spreche das Mädchen frei. Wollt ihr von Schuld reden, so gebt sie mir, es erleichtert mich, sie auf mich zu nehmen, nicht aus oberflächlichem Edelmut, sondern weil aus ihrer scheinbaren Last ein Lichtfunke rechter Erkenntnis mein Teil geworden ist, und dieser Anteil ist wertvoller als der vergängliche Rechtsspruch einer selbstgefälligen Welt.
Wenn ich an meine Jugend denke und einzelne Erlebnisse und Vorfälle in mein Gedächtnis zurückrufe, so ist mir zuweilen, als schaute ich einem Blatt zu, das der Wind spielend vor sich hertreibt. Immer wieder ruht es eine Weile, es scheint auszurasten und sich seiner gewonnenen Sicherheit zu erfreuen, aber gleich darauf wird es aufs neue in den Taumel seines Dahintreibens emporgerissen, blind und besinnungslos, unfähig, sich klar zu werden, ziellos und verloren, bis wieder ein plötzlicher Halt und eine unerwartete Stille eintreten.
So ergeht es meiner Erinnerung mit den Einzelheiten meines Erlebens. Meine Jugend war solch ein Sturm, wenngleich sie äußerlich sorglos und fröhlich verlief, aber die Stürme meiner Gemütswelt haben mich über die Landschaften des Lebens getragen wie der Wind jenes Blatt, und die wenigen Einzelheiten, die in meinem Gedächtnis haftengeblieben sind, erscheinen mir wie Inseln jener Rast, wie eigenartige Behausungen der Besinnung. Zwischen ihnen rauscht der dahingetragene Wind, und wie in trüben Staubwolken warf es mich wie erblindet zur nächsten Klarheit. Und wie die Orte zufällig und willkürlich gewählt erscheinen, an denen der Wind sein leichtes Opfer losläßt, so sind meine Erinnerungen ohne Beziehung zueinander und ohne erkennbaren Zusammenhang mit meiner Entwicklung. Bald drehen sie sich um eine lächerliche Nichtigkeit, bald um geringfügige Sonderbarkeiten, von denen ich nicht sagen könnte, weshalb grade sie mir im Gedächtnis haftengeblieben sind. Selten war es ein Erlebnis, dessen entscheidende Bedeutung mir wie ein Wandel in meinem Dasein haftengeblieben ist oder das einen Wendepunkt in meinem Leben darstellt. So entsinne ich mich, daß ich einmal als kleiner Knabe meinen Vater bat, mir einen Knoten aus einer Schnur zu entfernen, er stand auf einer Trittleiter, um eine rote Ampel mit goldenen Ketten an der Decke aufzuhängen, und beugte sich nieder, um mir zu helfen. Damals muß ich vier Jahre alt gewesen sein, dies ist meine älteste Erinnerung. Viel später sah ich ein Bild, auf dem weißgekleidete Frauen auf Stühlen am Rand eines Flusses saßen, am Hang einer Wiese, dann nahm mich wieder der trübe Sturm des Vergessens bis an die Tage, in denen ich in die Schule kam. Von den Eindrücken dieser ersten Tage des Zwangs und der Pflicht weiß ich am deutlichsten, daß der Knabe, der auf der Schulbank mein Nachbar war, eines Tages zwei Griffel mitbrachte, die etwa bis zur Hälfte ihrer Länge mit einem rot- und goldgemusterten, brokatartigen Papier umklebt waren. Auf diesen Griffeln ließ der trübe Sturm das arme Blatt meiner Seele rasten. Lächelst du und wunderst dich, weshalb ich dir diese Dinge mitteile? Sie haben Zusammenhang mit dem, was ich zuvor gesprochen habe, und mit dem, was ich dir noch erzählen will. Es ist niemals anders mit mir geworden, als es dem Kinde geschehen ist, und vielleicht irre ich mich nicht, wenn ich annehme, daß es den meisten Menschen zeit ihres langen Lebens nicht anders ergeht. Du schüttelst den Kopf, nun, so nenne mir doch die Beziehungen deiner Erinnerungen des letzten Jahres zur Entfaltung deines Geistes. Schon zauderst du, und wie bald wird ein krauses Bild verschlungener Wege und unverstandener Orte der Rast entstehen! Wer hat gelernt, im Geist zu leben? Ach, nur dort führt die Straße, deren Sinn und Ziel Erkenntnis ist, Erkenntnis aber hebt den trüben Sturm auf wie einst Christi Wort den Wind über den Wogen, und aus der gewonnenen Ruhe glänzt das Spiegelbild des Unvergänglichen und schließt den Kreis im reinen Herzen.
Ich befinde mich ein wenig höher als du, messe nach, eine Handbreit. Von diesem Standpunkt sage ich mein einfaches Wort, aber zu jener Zeit, in der ich das Leben litt, war ich, wie viele, nur ein Blatt im trüben Weltwind. So weiß ich auch aus jenen Glückstagen meiner jungen Liebe wenig zu sagen, so wenig, daß du über meine Armut lächeln würdest. In der Unruhe der Liebe erwacht die erste Mahnung, aber mein Geist hat sie nicht begriffen, mit dem Tode erhebt sich die letzte Mahnung, glaube mir, der Tod tritt niemanden an, ohne ihm Zeit zu lassen, immer hält eine Lichtgestalt der Geisteswelt für einen Augenblick die grause Hippe auf, und die hellen Augen fragen dich nach dir.«
»Warte«, rief ich, »warte, laß mich fragen! Sprichst du, im Kleid des Todes, rückwärts gewandt, aus helleren Bereichen der Zukunft zu mir, so sage mir eins, eins vor allem, eins am deutlichsten, sage mir, was Wahrheit ist.«
Der Tote lächelte im Sternenlicht.
»O du lebendiger Mensch«, sagte er gütig. »Wie du nicht fragst! Wahrheit ist eher noch, was dich treibt zu fragen, als das, was dir jemals als Antwort werden wird. Wer Wahrheit geschmeckt hat, fragt niemanden mehr, weil er weiß, daß sie ein Sakrament des Heils ist, zu dem er berufen wurde. Wahrheit ist eine Stimme ohne Beheimatung im Vergänglichen, eine Blume ohne Wurzel und Erdboden. Sie blüht in den reinen Tiefen des Gemüts, duftet und strahlt. Wer ihren Geruch, ihren Glanz gespürt hat, forscht nicht mehr nach dem Sinn ihres Wesens, man kann Wahrheit nicht erklären, aber man kann sie fühlen und kann in ihr sein.«
»Wenn ich auf meine glücklichen Tage mit Regina zurückblicke«, nahm nach einer kleinen Weile des Schweigens der Tote seine Erzählung von neuem auf, »so glaube ich, daß ich sowohl in Freude wie im Erleiden an den Folgen meiner Kindheit zu tragen hatte. In ihrem äußerlichen Verlauf waren meine Kindertage sicherlich das, was man gemeiniglich glücklich zu nennen pflegt, sie flossen heiter und ohne Widerstände dahin, aber ich glaube, daß dieser Wohlstand mein Verhängnis geworden ist. Die Widerstände im Dasein eines Kindes, alle Härten des Lebens, die es frühzeitig zu kosten bekommt, wirken keinesfalls so schädigend, als für gewöhnlich angenommen wird. Es mag sein, daß sie dieses oder jenes zarte Reis der Seele in seinem Wachstum beeinträchtigen oder gar knicken, aber zugleich entwickeln sie die Widerstandskraft der Seele, und dies letzte ist für die irdische Reise wertvoller als das erste schädlich ist. Diese Tatsache habe ich auf meine Art erfahren, und sie beruht auf der Wahrheit, daß ein echtes Gemüt im Grunde nicht zu beeinträchtigen, eine schwache Widerstandskraft, die es für Großes bewahrt, aber sehr wohl zu kräftigen ist. So haben Geist und Seele meiner Person in den Jahren ihres Heranwachsens in lauer Luft schwächliche und haltlose Triebe geschossen, zwar habe ich niemanden bedrängt, als ich begann, ein Mann zu werden, aber ich war auch nicht gegen Bedrängnisse gewappnet. Ich fing an zu ahnen, daß ich den Menschen nur deshalb angenehm war, weil ich meine Lebensrechte einschränkte, und indem ich sah, daß ich in jener menschlichen Gemeinschaft, in die ich gestellt war, ein dienendes Glied wurde, nützlich, geduldet und geachtet, begriff ich zugleich, daß ich über den kleinen Liebesgaben an eine flache Geselligkeit die größere Liebe zu einer starken und rücksichtslosen Eigenart in mir verschüttet hatte.
Derlei Erwägungen und ihre Ergebnisse erwachten damals unsicher in meinem Bewußtsein, je mehr meine Liebe die Beschaffenheit meines Charakters und meiner Person gegen das Sinnbild der reinen Natur hielt, das Reginas Wesen darbot. Aber sie bedrängten mich nicht allzu hart, denn ich war zu unerfahren, als daß ich die beschwichtigenden Wohltaten der Liebe nicht weit über ihren erbarmungslosen Willen zur höchsten Gerechtigkeit gestellt hätte. Ich gehörte zu jenen Glücklichen, die Liebe blind macht, blind vor allem gegen den Wert oder Unwert der eigenen Ansprüche. Ich preise diesen Zustand mit Recht als ein irdisches Glück, denn wehe der Seele, die in der Glut ihrer Liebe sehend bleibt, ihr Geschick ist schmerzvoller als die Leidensbahn der Märtyrer.
Recht klar über diese Einzelheiten bin ich mir jedoch erst in den Tagen geworden, als Reginas Interesse sich einem andern Mann zuneigte. Es war im Vorfrühling dieses Jahres, als ich den Fremden zum erstenmal sah. Es ergriff ein Schreck mein warmes, mattes Herz wie mit kalten Händen, ohne daß ich mir zu erklären wußte, welchen Ursprungs diese Erschütterung war. Ich saß damals an einem Sonntagnachmittag mit Regina vor einem kleinen Waldgasthaus am Fluß. Am Ufer vergnügten sich Kinder mit einem alten Kahn, und das Frühlingslicht glitzerte auf dem Wasser. Da es spät am Tage war, hatten die meisten Gäste schon den Heimweg zur Stadt zurück angetreten. Der Garten mutete zugleich vernachlässigt und heimisch an, die Abendsonne schien durch das erste Grün der Buchenzweige über die verlassenen Tische und Stühle dahin, und am Boden lagen Papierfetzen. Der Fremde kam mit einem Begleiter aus dem Wald und rief nach dem Wirt, mit dem er aus irgendeinem Grunde Streit bekam. Sei es, daß ihm verweigert wurde, was er verlangte, sei es, daß ihm daran gelegen war, Reginas Aufmerksamkeit zu erregen, ich könnte darüber nicht mit Sicherheit entscheiden, denn ich betrachtete diesen Menschen vom ersten Augenblick an mit der Voreingenommenheit, die aus Neid und Bewunderung entsteht. Es gibt Männer, um deren Erscheinung die Atmosphäre ihrer Kräfte und Möglichkeiten wie ein unsichtbarer Strom fließt, ja, es scheint, als trügen sie ihr Schicksal, ihr Verhängnis oder ihr Glück wie einen durchsichtigen Mantel um ihre Schultern, man sieht sie schreiten, gehen, lachen oder sprechen und fühlt sich zugleich niedergedrückt und angezogen. Sie saugen die Interessenwelt anderer, den lauen Schein um sie her, in die heißeren Zonen ihrer Lebensmacht, sie erwecken unmittelbar Wohlwollen oder Abneigung, jedenfalls aber immer Teilnahme. Männer, die diese Wirkung ihrer Persönlichkeit nicht allein kennen, sondern auch beherrschen, sind sich oft nicht mehr in jedem Einzelfall dessen bewußt, wie weit sie sie gelegentlich, zufällig oder absichtlich zur Geltung bringen.
Ich fing einen Blick auf, den der Fremde auf Regina warf, einen langen, empörend ruhigen Blick, bei einer halben Wendung seines Kopfes. Und seltsam, so schamlos dies Verharren in der Betrachtung mir scheinen wollte, so selbstbewußt und beinahe notwendig wurde es durch ein so liebenswertes Erstaunen in seinen Zügen, durch eine so frohherzige und offene Bewunderung darin, daß ich nicht recht wußte, ob ich stolz oder zornig darüber werden sollte. Mit einer ähnlichen Gelassenheit führte er eine Bekanntschaft herbei, es war ihm gelungen, meine Entrüstung über sein zur Schau getragenes Interesse so weit zu steigern, daß ich später aus Stolz alles andere eher vermochte, als seine Einladung abzulehnen, uns einer Kahnfahrt anzuschließen. Er trat an unseren Tisch; wie beim Vorüberschreiten, schien er uns jetzt erst zu erblicken, er hielt inne wie unter einem plötzlichen Einfall, zog seinen Hut und redete uns an. Sein spöttisches Lächeln, mit dem er meinem Zögern begegnete, gab mir Gewißheit darüber, daß er sich dessen bewußt war, mich längst herausgefordert zu haben, und daß er sich meinen Widerstand zunutze zu machen trachtete, indem er mein Selbstbewußtsein aufstachelte. Seine Blicke wanderten dann ruhig, in einer beinahe traurigen Aufmunterung, von mir zu dem Mädchen und dann gewissermaßen zu sich selbst, und mir war, als sagten seine Augen zu mir: Du wirst es nicht wagen, die Gefühle dieses Mädchens für dich auszusetzen oder zu erproben.
So verstand es sich von selbst, daß ich einwilligte, obgleich ich mir dessen bewußt war, daß ich gegen meine Vernunft handelte, um nicht unmoralisch zu erscheinen. Der Fremde enttäuschte meine Erwartungen auf eine Erleichterung durch Entrüstung oder Zorn, sein Verhalten war liebenswert und taktvoll, er schenkte Regina nicht mehr Aufmerksamkeit als mir, und zum wenigsten befriedigte mich die Erfahrung, daß, wenn schon selbstsüchtige Berechnung in seinem Vorgehen war, er meine Verlobte hoch einschätzte. Wir machten den Rückweg durch den nächtlichen Frühlingswald gemeinsam und trennten uns vor den Toren des Städtchens, nicht ohne uns gegenseitig die Hoffnung auf eine erneute Zusammenkunft ausgesprochen zu haben. Regina war das letzte Stückchen unseres Wegs, das wir bis zum Hause ihres Vaters allein durchmaßen, angeregt und heiter, sie sprach offen und ohne Rückhalt darüber, daß ihr der Fremde wohl gefallen habe und daß sein Freund offenbar zu jener Art von Begleitern gehöre, die niemals aus dieser Eigenschaft, nur dabeizusein und sonst nichts, herausträten. Sie spottete offenkundig ein wenig über ihn und verletzte mich durch das leichtfertige Urteil, das sie über ihn aussprach, in Einzelheiten, die ich auch auf mein Wesen hätte beziehen können. Wahrscheinlich eröffnete nur meine Verstimmung mir diese Möglichkeit der Betrachtung, und Reginas Sprechweise hätte mich niemals aufgestört, wenn ich nicht schon empfindlich und mißtrauisch gegen das Bild gewesen wäre, das ich selbst, neben dem Fremden, an diesem Abend dargeboten hatte.
Für unser Verhältnis kam nun eine Zeit, die mich hilflos machte und um so mehr verwirrte, je entschlossener ich nach irgendeinem bestimmten Vorsatz handelte. Bald erschien es mir angebracht, kühler und selbstbewußter aufzutreten, dann wähnte ich Unrecht getan zu haben, indem ich mich hinter Härte verschloß. Aber bald darauf glaubte ich zu empfinden, daß auch Nachgiebigkeit, verbunden mit ein wenig geringschätziger Herbeilassung, unklug sei, und zeigte mich melancholisch und wie in Grübeleien versunken. Und immer sah ich im Geist jenen Fremden zwischen uns, der mir alle Sicherheit nahm. Wir haben niemals wieder über ihn gesprochen, er war wie vergessen und aus unserem Leben geschieden, aber täglich vermeinte ich seinem Einfluß zu begegnen. Ich rief mir einige seiner nachdenklichen oder heiteren Bemerkungen ins Gedächtnis zurück und widersprach ihnen vor Regina heimlich in herbeigeführten Zusammenhängen, die sie weder verstand noch duldete, da sie die Willkür darin empfand. Zu gesegneter Stunde, nach einsamem Kummer, rettete mich in tiefer Ermüdung ein einfacher Entschluß, ich nahm mir vor, mich künftig nicht mehr anders zu zeigen und zu geben, als ich war. Mit Verachtung sah ich auf die lächerliche Mühe zurück, in die mich eine voreilige Eifersucht getrieben hatte. Ich begriff meine Torheit nicht und schämte mich bis zu Tränen, daß ich hatte erhoffen können, mein leidendes Gefühl mit Schein und Trug zu trösten und zu heilen. Wie ein Einbrecher in eigenes Gut kam ich mir vor und litt daran, daß ich das Glück meines Lebens hatte befestigen oder erringen wollen, ohne daß ich mich selbst, mit allem und wie ich war in die Schanze schlug.
Jedoch nun, da ich begann, mit Bedacht und heiligem Eifer zu Regina zu sprechen, und mich bemühte, nur das Echteste meiner Empfindung mit sorgfältig geprüften Worten darzutun, erlebte ich, daß ihre Aufmerksamkeit darüber abnahm, daß sie mich wie abwartend, in einer etwas spöttischen Neugier, betrachtete, ja, fast geringschätzig, daß sie aber jedenfalls mißtrauisch war und mir nur selten noch für Augenblicke ernstlich Beachtung schenkte. Da glaubte ich zu erkennen, daß die Teilnahme des Weibes am aufrichtigen Gemüt des Mannes im Grund gering ist, ihr Verlangen ist nur auf diejenigen Bewegungen eingestellt, die allein sie betreffen, und sie zieht oft eine persönlich an sie gerichtete Lüge einer Wahrheit vor, die über ihre Interessenwelt des Augenblicks hinausgeht. Dabei gewahrte ich, im Wechsel mit solcher Ablehnung meiner wohlgemeinten Hingabe, nun zuweilen eine an Schwäche grenzende Gereiztheit bei ihr, die sie mir weinerlich, eigensinnig und launisch zeigte, aber nicht unliebenswert oder verstockt, sondern voller Wehmut und wie unter verhaltenen Tränen einer unschuldigen Ungeduld.
In dieser quälenden Bedrängnis verpaßte ich Törichter abermals den einzigen Weg, der den heimlichen Riß unserer Gemeinschaft überbrückt hätte. Unser Verlangen, uns der Seele eines geliebten Weibes zu offenbaren, verliert in dem Maße sein leise erbitterndes Ungenügen, als ihr Leib uns empfangen hat, denn im Kinde liegt auch für den einfachen Mann etwas wie eine Beruhigung des Drangs nach Hingabe und Offenbarung seiner innerlichen Kräfte sowie seines Verlangens, sich zu erweisen. Ich bin nicht mehr als ein einfacher Mann gewesen, und meine Beschaffenheit, ohne Verantwortlichkeitsgefühl und ohne tieferen Ehrgeiz, ist der Grund, wenigstens für den Vorteil, gewesen, daß ich niemals die Gefühlswelt einer Frau frivolen Sinns mißbraucht habe, wie es denen naheliegt, deren Pflichtgefühl sich nicht auf ihr Verhältnis zu Weib und Kind zu beschränken vermag.
Eines Tages fragte mich einer meiner Bekannten, ob mir denn jeder Sinn dafür fehle, daß das Benehmen meiner erklärten Braut und künftigen Gattin mich, wenn auch nicht eben bloßstelle, so doch ein wenig lächerlich mache. Er führte seine Worte umständlich ins Feld und trat mir im Mantel besorgter Nächstenliebe entgegen, ein Kleid, das die Menschen häufig wählen, um ihre Schadenfreude zu verhüllen. Er war sehr ernst und väterlich, aber ich sah ihn erheitert und bübisch, jedoch statt ihm ins Gesicht zu schlagen, nahm ich seine Worte hin, wie es uns Armen in unsrer Not gebührt, ich zeigte mich sorglos und dankbar, lächelte ihm sein arglistiges Lächeln, etwas betreten, nach und versprach ihm Beachtung der Lage. Dabei fühlte ich, wie mein Blut mir aus den Kammern des Herzens strömte und mich zu ersticken drohte, meine Angst war so groß, daß ich, auch lange schon allein gelassen, nichts zu denken noch zu beschließen vermochte. Ich fühlte zum erstenmal deutlich, daß es keine Mittel gibt, keine der Kraft, der List oder der Demut, die solchen Gewalten, wenn sie in unser Leben niederbrechen, Einhalt zu tun vermögen. Ich hatte alle Worte jenes wohlwollenden Verräters schon bei ihrem Klang scheinbar leichthin in den Wind geschlagen, aber die Geste machte sich nun bestraft, als ich mir seine Äußerungen ins Gedächtnis zurückzurufen und ihren Sinn und ihr Gewicht einzuschätzen trachtete. Abends gingen sie miteinander in den Stadtwald, und welche Bank dort am verborgensten stünde, das wisse in der Stadt wohl ein jeder, der nicht so leichtsinnig und ortsunkundig sei wie jener Fremde, aber über Regina müsse man sich doch wundern. Damit solle nichts Ehrenrühriges gegen sie gesagt sein, natürlich nicht, nur ein wenig unvorsichtig wäre es. So ähnlich hatten diese spitzen Worte voll hämischen Mitleids gelautet, ich sah nicht die Schmach, nicht mein mißbrauchtes Vertrauen, ich sah nur Regina, das große blonde Mädchen, mein liebes Lebenseigentum, unter den Händen und Augen und im Willensbann eines anderen Mannes.
Mehr und mehr gewann ein einziges Verlangen in mir an Macht, das, Gewißheit zu haben, Gewißheit zuerst und vor allem. Genugtuung, Strafe, Vergebung und vielleicht ein erneutes schmerzliches Glück, alles hing für mich von jener Gewißheit ab, die mir vorschwebte, die ich suchte und die mich getötet hat. So verbarg ich mich Abend für Abend im Walde unter Tannen, nahe jener Bank, die mir bezeichnet worden war, nachdem ich mich zuvor, arglos und unbefangen erscheinend, zur gewohnten Abendstunde von Regina verabschiedet hatte. Schon in der vierten Nacht sah ich die beiden miteinander den dämmrigen Weg dahergeschritten kommen. Regina ging zögernd, ein wenig im Arm des Mannes hängend, neben ihm dahin, heller als er, den Strohhut in der kraftlosen Hand. Als sie sich auf der Bank niederließen, hinter der ich unter den Tannenzweigen lag, hörte ich Regina tief aufseufzen und weinen, und der Fremde sprach auf sie ein. Ich konnte seine Worte nicht verstehen, obgleich ich seine Stimme deutlich vernahm, die weich und etwas singend erklang, aber die Worte entglitten mir in einem Sausen meines Hasses, der mich erfüllte wie die Stimme des Meers eine große Muschel. Wohl aber begriff ich, daß der Geist, der die Worte beseelte, lau und viel gelassener und gleichgültiger war, als der Anschein erweckt wurde. Ich vernahm einen nachlässigen, beinahe ungehaltenen Unterton von Herbeilassung, wie sie jemand zu verbergen bemüht ist, der seines Siegs schon gewiß ist und den Unterhegenden noch schont, um ihm bei dem erwarteten Zugeständnis nicht unbedacht zuvorzukommen. Ich empfand, daß die Stunden seines Ringens um Regina hinter ihm lagen und daß dieser Gang in die Waldnacht das Ergebnis seiner Kraft war.
Die Ergriffenheit macht die Sinne scharfsichtig und lähmt sie zugleich, sie setzt Offenbarungen an Stelle des gewohnten Wissens und verschiebt alle Verhältnisse der Erfahrungen wie in einem veränderten Spiegel der Empfängnis.
An diesem Ast hier, vom Tod in meine arme Gestalt gebracht, hänge ich gewissermaßen nur als Gleichnis meines Sterbens, denn den Tod selbst habe ich in jener Nacht unter den Tannenzweigen erlitten. Ich habe ihn wie einen Becher mit Galle, langsam, Zug um Zug, in das helle Gewebe meines Lebens hinabgetrunken, daß seine ätzende Finsternis mich langsam verzehrte. Mein starker Körper und meine Seele waren gesund, das Bewußtsein meiner ungebrochenen menschlichen Beschaffenheit durchflutete mich als warmes, empfindliches Blut. So fühlte ich mein Ich in mir zergehen wie der Zuschauer bei einem grauenhaften Autodafé, ich beobachtete seine Todeswindungen, sein Verdorren wie das Hinsiechen einer Blüte in einer trockenen Schale, die ein erbarmungsloses Feuer langsam erhitzt.
Oben, hoch über mir, wie an den lichtgefleckten Blätterhimmel gezeichnet, verschmolzen die beiden Gestalten in einem langen Kuß, vom matten Mondschein umflossen, aber jählings löste Regina sich, als sei ihr eine schmerzende Schande angetan worden. Aber ich fühlte, als schrie ein Dämon es mir zu, die heimliche Lockung ihrer Entrüstung und erstarrte. Der Fremde aber lachte fein und nachsichtig vor sich hin in einer merkwürdigen Art von Beglücktheit, die mir einen Haß ins Blut jagte, daß ich meine Hände zerbiß, um nicht zu schreien. Ich sah, daß Regina über dies Lachen erschrak, sie stieß ihren Bedränger aufs neue an den Schultern von sich fort, um im Mondlicht in sein Gesicht sehen zu können. Aber er lächelte fort, unbekümmerter noch, begehrlich und voll eines so unschuldigen Siegesbewußtseins, daß mir graute. Da schrie das Mädchen leise und klagend auf und ließ seine Arme in einer Bewegung sinken, die von einer rührenden Lasterhaftigkeit war. Ich hatte furchtbare Erscheinungen unter ihrem kläglichen Wimmern, ich sah einen Sterbenden mit Kichern an einem Glase perlenden Weins schlürfen, und ein loses Mädchen, nackt und frech, führte einen schamlosen Tanz auf einem Totenfeld aus. Die Angesichter der Verschiedenen strahlten kalt und still, die Körper lagen beieinander wie Schollen eines aufgepflügten Ackers, der große helle Blumen trug, und das Mädchen tanzte über den erloschenen Augen der Toten. Schade, schade, daß ich kein Recht mehr hatte, aufzuspringen, um den Beglückten in seinem frechen Rausch zu erwürgen, ich durfte nicht, ich mußte die Tannennadeln der ruhigen Zweige vor mir betrachten, weil auf jeder von ihnen eine winzige silberne Straße vom Mondlicht dahinlief, die wie Schnee glitzerte, auch hoben sich zwischen dem braunen Nadelwerk am Boden, dicht vor meinem Kinn, zwei kleine Pilze, einer ein wenig größer als der andere, aber beide noch rechte Zwerge unter ihresgleichen. Zart und hell standen sie in einem matten Mondfleck mit runden Köpfchen, wie große braune Perlen. Plötzlich sah ich mich unter diesen beiden Pilzen einherschreiten, wie ich am Sonntag auszugehen pflegte, und sie boten mir Schutz in der merkwürdigen Welt ihres Schattens.
So lag ich da und atmete in tiefen Zügen, langsam und leise, denn ich durfte nicht stören, und meine Lungen dünkten mich kalte Hohlräume in meiner Brust zu sein. Mein Herz schlug in dumpfen Hammerschlägen an die Erde, auf die meine Hände und mein Kinn gestemmt waren, sie roch nach Harz und war mir gnädig. Ich hätte vor Dank weinen mögen, ein kindisches und sinnloses Weinen, doch jenem Weinen verwandt, in dem die Hilflosigkeit der Unmündigen zur Mutter niedertropft.
Es rauschten Kleider und Blätter in der drängenden Allmacht umher, der wir alle erlagen, jeder nach seinem Geschick. Nun klangen träge, schleppende Schritte in das Klopfen meines Herzens hinein, auf der leeren Bank lag Mondschein, und unter ihrem Sitz hindurch, fern hinter dem Waldlaub, sah ich einen Stern am Himmel, der farbig flimmerte. So lag ich nun allein und sah den Stern am Himmel. Wie weit entfernt er doch war, der Stern. Ich dachte mir, ich habe doch nie recht auf die himmlischen Sterne geachtet, die ohne Erdgrund unter sich dahingeführten, wie barmherzig sind sie, weil sie sich nicht mit unserem Verlangen verbinden, sie sind hell und gut vor Ferne. Ich will nun enthoben sein und ohne Weg dahingeführt werden. Mir wurde langsam deutlich, wie durch eine Vision im Nebel, daß es der Weg war, die gedachte, die bestimmte, die vorgenommene Bahn der Pflicht und Absicht, die die Erde so schmerzlich macht.
Als ich kurz darauf heimging, um in der Nacht meinen Strick zu holen, und dann an diesen Ort zurückkehrte, an dem du mich gefunden hast, war mir leicht ums Herz, und ich habe nicht gelitten. Zwischen dem ersten schweren Schlag des Schicksals und jenen Stunden, in denen der Schmerz sich uns zu eigen macht, liegt ein leerer Raum, durch ihn schritt ich noch dahin, ein wenig beschämt. Wohl fanden meine Gedanken sich wieder zurecht, zumal als ich die gewohnten Gegenstände meiner Zimmer sah, die freundlichen Geräte und Reginas umrahmtes Bild, aber sie blieben gewissermaßen in sachlichen Bereichen meines Gehirns und schlössen mich selbst nur beiläufig in sich ein. Die letzte Genugtuung, deren ich mich entsinne, solange ich noch unter den Lebendigen war, bestand darin, Herr meines Leibes zu sein, und mein Wunsch, mich abzukehren, wurde zum Glück in einer ganz neuen Wesenheit. So schied ich nicht in Qualen aus dem Leben, sondern in einem Gefühl von Beschämung, in das sich eine fröstelnde Wehmut mischte. In ihr entschloß ich mich, als es heller geworden war, Blumen zu suchen und sie zum Abschied niederzulegen, aber es geschah nicht in Betrübnis, sondern vielmehr in einer Art Höflichkeit, wie sie Hilflosen eigentümlich ist, die ihren Zustand abbitten möchten. Auch Sterbenden ist zuweilen eine verwandte Aufwallung des Gemüts angemerkt worden, irgendwie ist es uns Dahinscheidenden peinlich, nicht mehr bei rechten Kräften zu sein. Ich will nicht in Abrede stellen, daß ich mir auch noch Gedanken gemacht habe, die auf Regina und meinen Tod Bezug hatten, aber sie waren geringfügiger Natur und ohne Belang, wie nun einmal meinem Dasein zu Lebzeiten dieser Ausweg zur Freiheit versagt gewesen ist. Sie gipfelten in der Erwägung, daß ich recht daran täte, mich zu trollen, denn wenn mein Glück mir dies eine, wichtige Mal mißlungen war, so würde es mich bei einer erneuten Begegnung nicht geschickter antreffen, und langsam zu sinken hat mir mehr Furcht gemacht als der unbekannte Tod. Es mag wohl sein, daß so der allgemeine Verstand nicht zu schließen pflegt, aber die Liebe kennt diesen Laut, denn sie rechtfertigt sich im Weltlauf bisweilen im Widerspruch mit der Vernunft, und wer hochgesinnt ist, beneidet oft die Toten.
Meine Liebe gab mir zu meiner Tat ein freies Gewissen, ach, dachte ich, welch ein gutes Gewissen schafft doch die Liebe in uns bei allen Handlungen, auch den ungeheuerlichsten, es gibt keine Rechte, die ihre Rechte bestreiten können. Was bekümmern ein Kind die Verbote der Menschen und ihre Folgen, wenn die Mutter ihm Erlaubnis erteilt hat? Ein herber, ja, ein wenig trotziger Triumph beseelte mich und ein Mut voll Trauer und Licht.
Das Erliegen meines Körpers und sein kurzer Widerstand gegen die gewalttätige Berührung des Todes an diesem Waldbaum verursachten mir ein tiefes, glühendes Entzücken, es verschmolzen Leib und Seele, etwas Verlorenes hielt beseligend Einzug bei mir, und ich wußte, was es war. Ich hörte Uhren ticken und sah das Angesicht meiner Mutter, die ich zu Lebzeiten kaum gekannt habe.
Da sitzt du nun und starrst mich an, ohne zu gewahren, daß der Morgenstern schon in einer hellen Himmelsgegend flimmert und daß hier und da die Stimmen der Vögel in der Stille erwachen, in einem zarten, metallischen Erklingen, als würde feiner Stahl geschärft oder als zerbräche dünnes Glas. Wenn du auf die Felder hinaustreten wirst, zwischen den Bäumen hervor, so wird die Landschaft vor deinen Augen in Morgendämmerung liegen, und bald steigen die Lerchen empor. Wie ich dich dort sehe, atmend und mit wohlgeschickten Sinnen, lebendig, voller Erwartung, wird meine Erinnerung langsam wieder zur Hoffnung. Wie schön ist das Leben! Und immer noch währt es, immer noch ...«