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Fünftes Kapitel.
Scholander

Oft dachte ich: Heute bin ich dieser und morgen jener, niemals mir gleich und doch immer derselbe. Ich glaube, daß ich ein Mensch ganz ohne sogenannten Charakter bin, ohne Begrenzungen und ohne Hemmungen, stark und schwach, arm und reich. In meiner Brust wohnen Helden und Verbrecher, Heilige und Kinder, Götter und Tiere, und wen ich liebe, der bin ich. Ich verströme mich in jede Glut, rette mich in jeden Himmel, und in wie viele Abgründe bin ich gesunken, um aus allem doch in jenes wesenlos Gesicherte zurückzukehren, das mein Ich bedeutet. Ich bin trauriger und glücklicher als alle Menschen, die ich kenne, und doch beneide ich sie oft um ihre Gaben, annehmen oder ablehnen zu können, was sie für den Bau ihrer kleinen Welt glauben brauchen zu können oder verwerfen zu müssen. Sie stellen dieses oder jenes dar, ich dagegen bin alles und nichts.

Wohl sagte ich mir, daß dieser Zustand der Selbstbetrachtung eine Folge meiner ruhlosen Wanderungen und meines beständigen Alleinseins sein müsse, aber es bekümmerte mich oft, daß ich nicht begriff, wozu solche Beschaffenheit mir oder anderen dienlich sein könnte. Begegneten mir in Büchern, auf Bildwerken oder im täglichen Leben meiner Erfahrung Gestalten, deren Wesen mir Achtung einflößte, so versuchte ich ihre Beschaffenheit recht zu begreifen und ahmte ihr Gehabe eifrig nach, in der Hoffnung, ihre Gestalt, ihre Sicherheit und ihren Wert damit zu erringen, aber entmutigt verstieß ich ihr Bild nach kurzer Zeit aus meiner Seele und trieb haltlos weiter, offen und, wie es mir erscheinen sollte, arm und leer. Dann war mir oft zumute, als sei der Haushalt meines Geistes voller Verwirrung, ich suchte beliebige, einfache Menschen auf, sprach mit ihnen und beobachtete meine Wirkung auf sie mißtrauisch und lauernd, und je mehr ich empfand, daß ich nicht ihrer Art war, um so bekümmerter trollte ich mich in die Schluchten und Höhenzüge meiner Verlassenheit zurück.

Ich begriff damals noch nicht, daß der Aufbau und das Wachstum der eigenen geistigen Form sich heimlich und unübersichtlich vollziehen und daß alle jene Gestalten, denen wir in suchender Achtung und Liebe eine Herberge in unserer Seele gewährt haben, von ihrer Eigenart einen Baustein des Gewinns in uns zurücklassen, wenn sie wieder davonziehen. Manche Menschen sind in ihrer Jugend offene Türen, ragende Gerüste und unübersichtliche Grundrisse, es vollzieht sich weit mehr in ihnen, als sie selbst und für gewöhnlich andere zu übersehen vermögen, und die Qual ihrer Unsicherheit ist im Grunde nur eine Gewähr für ihren Umfang, ihre Weite und dafür, daß einmal auf breiter, vielgestaltiger Grundlage ein guter Bau entsteht. Aber sie wissen es nicht, und niemand kann ihnen ihr Leid abnehmen. Gefährdeter als andere, die sich frühzeitig bescheiden, gehen sie oft ihrem Untergang entgegen, in ihrem Hang, sich um der Forderungen ihrer Umgebung willen Gewalt anzutun, oder weil die Quellen ihrer Liebe in der Wüste der Menschenfremdheit versiegen. Da sie empfindsamer als andere sind, erliegen sie leichter, da sie andächtiger sind, gehorchen sie bereitwilliger, und ihr Verlangen, den Menschen etwas zu bedeuten, läßt sich voreilig in eine armselige Dienstbereitschaft locken, noch bevor sie ihre Kräfte zu wahrem Nutzen für die Menschheit erlangt haben. Denn Empfindsamkeit und Empfänglichkeit allein, ohne ihr Gegengewicht von Kraft im gesicherten Instinkt für die Rechte des Starken, sind schutzlose Gaben gutherziger Engel, die ohne Gott an unserer Wiege gestanden haben.

In meine Lebenstage solcher Gedanken und widerspruchsvoller Gefühle kam die Person Scholanders, wunderbar zu einer Zeit gesandt, in der ich ihrer bedurfte wie einer Lebensantwort, einer Warnung und eines Halts. Weil ich ihn lieben lernte, wurde sein Einfluß auf mich von Bedeutung, ich versuchte seine Wesensart ohne Vorurteile zu erkennen und zu umfassen, so daß ich ihn im Geist als das erblickte, was er hätte sein können, und ich blieb davor bewahrt, die abstoßenden Erscheinungen seiner Erniedrigung zu überschätzen. Ich sah die Lebenssonne, die in ihm unterging, und nicht die Schlacken ihrer Glut, die sie in seinem verfallenden Leib zurückließ. Andere mögen gewähltere Erzieher in ihrer Jugend gehabt haben, denen sie im Lichte einer ganz anderen Achtung gefolgt sind und deren Einfluß sie in einem anderen Ton der Ehrerbietung gutheißen, als der Segenswunsch klingt, den ich über Scholander spreche. Selbständige Schüler des Lebens wählen sich ihre Erzieher nach dem heimlichen Anspruch ihrer eigenen Wesensbeschaffenheit selbst, und wie viele unselbständige Lehrer haben deshalb die Hände gerungen über die Verworfenheit ihrer Zöglinge. Aber das Schicksal meiner Jugend richtete meine Augen auf das Herz des Lebens und nicht auf sein Kleid, niemand warnte oder bewahrte mich vor seinen Nöten, aber auch niemand hat vermocht, meine Augen gegen die verborgene Macht und Fülle zu schließen, die sich nur dem Mutigen offenbaren, der sich, keine Gefahr achtend, einsetzt und eine Lehre verachtet, die ihn zwar vor manchem beschützt, die ihm aber auch nur weniges offenbart.

Ich hielt mich damals aus irgendeinem Grunde in der Stadt auf, obgleich es Sommer war, ich war auf meinem Durchmarsch in die Enge der alten Gassen geraten und in ihnen steckengeblieben, angezogen durch ein vages Bedürfnis nach Lärm, Unruhe und Vergessen. Ich verkaufte Ansichtskarten und Zeitungen, Bücher und Zeitschriften auf der Straße oder in Gastwirtschaften, um meinen Unterhalt zu fristen, und bewohnte eine Dachkammer mitten in der Stadt in einem uralten Haus, das an einem dunklen, winkligen Platz lag. Von meinem Fenster aus sah ich, wenn ich mich ein wenig vorbeugte, über die Dachrinne dahin, auf den Scheitel einer Bronzestatue, die einen Herrn in den besten Jahren darstellte, der im Gehrock abgebildet war und sich vor langer Zeit um das Wohlergehen der Stadt verdient gemacht hatte. Zwei halbverdurstete Linden beschatteten ihn so gut sie konnten, die Sperlinge schrien morgens in ihren Zweigen, wenn die Frühsonne sie streifte, und zuweilen regte sich ein matter Windhauch in ihren Wipfeln, der sich aus der grünen Weite, meiner lieben Welt, in das Gemäuer des Platzes verirrt hatte. Ich fühlte mich seinem Schicksal verwandt und dachte oft an ihn, wenn ich spät in der Nacht in seinem geheimnisvollen Flüstern einschlief.

Das Geschäft, in dem ich meine Karten und Blätter bezog, gehörte einem bereits ergrauten Alten von großer Regsamkeit und kleinlichem Geschick, er betrieb außer diesem Handel, der die meisten Kolporteure der Stadt speiste, auch eine Druckerei, der der Verlag einer sozialdemokratischen Zeitung und billiger Bücher angegliedert war. Diese Bücher wurden mit Hilfe von Annoncen vertrieben, die, mit Überschriften wie etwa: »Reizender Herrenartikel!« oder »Sittengemälde der Neuzeit!« überschrieben, in Tageszeitungen erschienen und einen erstaunlichen Erfolg zeitigten. Hin und wieder bereitete ein Eingriff der Polizei dem dunklen Weg eines dieser Werke ein jähes Ende, aber für gewöhnlich erst, wenn der Verleger sein Schäfchen geschoren hatte. Er hieß Benjamin Elkan. Mürrisch, schweigsam und geschäftig bewegte sich der kleine, schwere Mann im schwarzen Rock im engen Geleise seines Wirkungskreises, eigensinnig allem zugetan, was sich einmal als erfolgreich erwiesen hatte, mißtrauisch und blind gegen alle Aussichten, die sich ihm boten, sein Geschäft auf einen höheren Stand oder auf freiere Bahnen zu leiten.

Als ich das erstemal zu ihm kam, brachte er nach meinen einführenden Worten, die ihm mein Anliegen bekanntgaben, durch eine langsame, schräge Kopfneigung seine Blicke in das richtige Verhältnis zu seinen Brillengläsern und musterte mich in feindseliger Aufmerksamkeit, ohne mich zu unterbrechen. Als ich schwieg, fragte er mich, ob ich nicht lieber bei ihm arbeiten wolle, im Hause, in der Redaktion, im Bureau, beim Bedienen der kleinen Händler. Ich lehnte es ab.

»Sie werden ein Dach über sich haben, einen Tisch vor sich, einen bequemen Stuhl und saubere Arbeit ohne Geschrei und Gelaufe.« Er deutete die Form des Stuhls mit den Händen an, danach war es ein gepolsterter Sessel. Aber ich konnte nicht auf meine Freiheit verzichten und wußte, daß ich es keine Stunde lang in einem geschlossenen Geschäftsbureau aushalten würde.

»Wie Sie wollen«, sagte Herr Benjamin Elkan, als gäbe er mich verloren. Dann kam ihm ein Mittelweg in den Sinn: »Korrekturen können Sie lesen, gebildete Sachen ... Schauen Sie die Druckerei an, die Arbeitsstuben.« Er lief mir voran, zugleich stolz und unbeholfen.

In einem hohen, treibhausartigen Verschlag stand ein langer Tisch, an dem Männer und Frauen, Burschen und Mädchen gereiht saßen wie an einer Schulbank. Der Saal war Redaktion, Buchhalterei und Packraum zugleich. Das Stampfen der Schnellpresse erschütterte alles, und durch eine trübe Glaswand mit Fenstertürchen sah man in die Setzerei, so daß die Beschäftigten hier und dort einander kontrollieren konnten. Das war eine geschickte Spekulation auf die Mißgunst der schlechtbezahlten Leute, die einander ihr armes Brot neideten. Auf dem Lager waren die Wände bis an die Decke mit Zeitungen, Büchern und Broschüren angehäuft, es roch nach Leim und Pappe wie in einer Buchbinderei. Benjamin Elkans Verhältnis zu seinen Angestellten war von einer derben Kollegialität, die er vergeblich zu vermeiden trachtete, er war zugleich mürrisch und vertrauensselig. Wo er hätte bitten müssen, befahl er, und wo er hätte gebieten können, wurde seine Forderung zu einem vorsichtigen Ersuchen.

»Gut«, sagte er, »Sie wollen nicht. Vielleicht werden Sie kommen, wenn die Witterung sich verschlechtert.« Er rutschte auf seinen Bock, wie ein Schloß einschnappt, und überließ mich einem Angestellten, der mir gab, was ich brauchte. Merkwürdigerweise verlangte Herr Elkan keine Vorausbezahlung von mir, die in solchen Fällen üblich und notwendig ist, er sagte nur: »Sie werden kommen, mich zu bezahlen.«

Als ich eines Tages anlangte, um mich aufs neue mit städtischen Ansichtskarten und einigen Dutzenden eines kleinen Reiseführers durch die Stadt und ihre Umgebung zu versehen, fand ich das Privatkontor des Herrn Elkan leer, in das man unmittelbar von der Straße her gelangte wie in einen Laden, und die Tür zum Redaktionszimmer stand weit geöffnet. Die laute Stimme des Besitzers klang in großer Erregtheit, andere mischten sich rasch und frech herein, es war offenbar ein Streit ausgebrochen. Am Ausgang in die Druckerei standen die Setzer und der Maschinenmeister in seinem fleckigen blauen Kittel und hörten mit Anteilnahme zu, eifrig beteiligt und mit Mienen der Verantwortlichkeit. Bei Elkans Beschaffenheit war es nur zu erklärlich, daß das ganze Geschäftsgetriebe wie eine gemeinsame Familienangelegenheit gehandhabt und abgehandelt wurde, er wehrte sich dagegen, verspielte aber das Ansehen des Oberhauptes immer wieder dadurch, daß er sich mit seinen Angestellten zu weit einließ. So war es verständlich, daß die Ausbrüche wichtiger Meinungsverschiedenheiten nicht mehr anders als gewaltsam vor sich gingen, ich hatte schon zuweilen beobachtet, wie schwer es dem Eigentümer gemacht wurde, sich als solcher zu behaupten, und daß doch allein er selbst schuld an der Verwahrlosung der Beziehungen war.

Es war noch ziemlich früh am Morgen, die Schnellpresse stand still, die Zeitung, die dreimal wöchentlich erschien, kam erst gegen Mittag heraus. Ich wäre fortgegangen, um zu gelegener Stunde aufs neue vorzusprechen, wenn nicht die Gestalt eines Mannes mich gefesselt hätte, der mit Elkan sprach wie mit einem Schuljungen. Unter merkwürdig traurigen Augen, die beinahe unbeteiligt erschienen, brüllte ein großes, bärtiges Maul den Juden an, eine graue Haarmähne, die von einer kahlen Stirn her in den Nacken stürzte, ein unglaubwürdig zerschlissener Rock aus braunrotem Tuch und eine karierte helle Hose, die fast bis an die Knie aufgeschlagen war, ergaben im Verein mit der Wildheit der Stimme ein so sonderbares Menschenbild, daß ich gebannt im Türrahmen stehenblieb, um den Verlauf der Dinge abzuwarten.

Es handelte sich offenbar um eine politische Arbeit, die dieser seltsame Kauz der Redaktion eingeliefert hatte und an der von irgendeiner Seite her Änderungen vorgenommen worden waren, die der Verfasser nicht dulden wollte. Ich begriff nicht, daß Elkan die geradezu brutal rohen Beschimpfungen des Mannes ertrug, ohne ihn vor die Tür setzen zu lassen, aber dies blieb mir eine kurze Weile unverständlich, dann überkam mich wie ein warmer Luftzug die noch ungesicherte, aber in ihrer Wirkung überwindende Meinung, daß man dieses laute, häßliche und bunte Wesen nicht wie andere Menschen behandeln konnte, daß es in den Herzen eine geheimnisvolle Teilnahme weckte, deren Ursprung schwer zu erkennen war, die aber eindringlicher wirkte als aller grobe Unverstand seines Gebarens. Es ist merkwürdig, daß von allem, was eines Menschen Eigentum ist, seine Gemütskräfte sich am schwersten verbergen lassen. Keine noch so böse Eigenschaft vermag sie völlig zu unterdrücken, nicht Selbstsucht noch Bosheit, ja nicht einmal Schmutz oder Niedrigkeit. Daher allein kommt es, daß wir manchen Leuten ihre ärgsten Fehler verzeihen und wieder anderen nicht einmal ihre kleinsten.

Dies war meine erste Begegnung mit Scholander. Ich nahm an meinem Beobachterstand mit dem Eifer meiner Jugend innerlich seine Partei, ohne noch recht zu wissen, um was es sich handelte, aber je länger, um so fester von der Berechtigung seines Grimms überzeugt. Es war Herrn Benjamin Elkan gelungen, den Erzürnten in sein Privatkontor zu drängen und die Tür zu schließen, ich wurde mit hineingeschoben, ohne daß mich einer der Streitenden sonderlich beachtete. Scholander hielt zwei Abzüge des Satzes in zerknitterten Papierfahnen in der Hand und warf sie zugleich mit der Faust auf das Pult wie eine Kiste.

»Wenn Sie das drucken, wie es hier zurechtgestutzt ist«, schrie er, »so ist es das letzte Wort, das ich für Ihr schartiges Winkelblatt, für diese Wochenfuhre von Annoncenschund und Spießbürgerunrat geschrieben habe.«

Elkan war etwas ruhiger geworden. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und wippte auf seinem Lederthron, als gebe ihm der gewohnte Sitz mehr Halt als seine Füße:

»Wenn wir es bringen, wie Sie es verfaßt haben, so ist es auch das letzte Wort, das Sie für mich geschrieben haben, denn man verbietet die Zeitung. Im letzten Strafverweis stand geschrieben, daß mein Blatt verboten würde, dann ist es aus für mich und aus für Sie, aus für uns beide, bin ich ein Narr?«

»Selbstverständlich«, sagte Scholander. »Was sollten Sie denn sonst sein? Wenn wir uns einschüchtern lassen, hat die Behörde so leichtes Spiel, wie sie selbst es sich am wenigsten hat träumen lassen. Je mehr wir nachgeben, um so mehr werden wir unterdrückt. Ist das neu? Wenn wir die Hälfte erreichen wollen, müssen wir das Doppelte wagen. Wodurch besteht denn Ihr Käseblatt, wenn nicht durch seinen Widerspruch? Kein anständiger Mensch nimmt es mehr in die Hand, wenn wir aufhören, unanständig zu sein. Nichts langweilt dies schwerfällige Bürgerpack mehr als seine eigene Tugend.«

Er beugte sich über die Korrektur und begann zu lesen.

»Was sollen wir denn tun, wenn ...«

»Seien Sie still!« brüllte Scholander, und Elkan, der ihn kannte, fühlte, daß er nachgeben würde, und beschied sich.

Scholander nahm eine Schachtel Streichhölzer vom Pult, an dem er stand, und zündete einen Zigarrenstummel an, den ich aber unter dem Bart erst entdeckte, als der die Lippen vorschob, so daß das Tabakrestchen zwischen ihnen hockte wie ein Kork auf einem roten Flaschenhals. Er steckte die Schachtel lesend in die Hosentasche, sie kam aber sofort unten wieder zum Vorschein und fiel zwischen die zerrissenen Stiefel.

Scholander warf mir einen raschen Blick zu, hob die Schachtel auf und sagte: »Pardon.« Ein kaum merkbares Lächeln der Verlegenheit, der Abwehr und des Spotts über sich selbst traf mich und sicherte diesem Mann meine Neigung für immer. Es war eine tiefe Rührung ohne Mitleid, die mich gefangennahm, jene zur Hälfte aus Beschämung und zur Hälfte aus Erleiden bestehende Rührung, die so oft der Anlaß einer Zuneigung in uns zu werden vermag. Wir erblicken bei einem Mitmenschen seine Haltung und sein Bescheiden in einer Armut, die wir um unsrer selbst willen nicht dulden wollen, und indem unser Verantwortlichkeitsgefühl erwacht, erinnert sich unsrer die Liebe als der einzige Ausweg aus der Bedürftigkeit und dem Elend der Welt.

Scholander hielt meinen Blick fest: »Was will denn der?« fragte er Herrn Elkan ungeniert und ohne deshalb seine Augen von mir zu wenden.

»Wer denn?« fragte Elkan und sah sich um. »Ach so, gut, sagen Sie, was Sie von mir wollen.«

Scholander hörte uns zu. Als ich mich zum Gehen anschickte, warf er die Satzabzüge auf Elkans Schreibtisch, brummte ein mürrisches Zugeständnis und verließ mit mir das Kontor. Die Sonne schien auf die Straße, es war gegen zehn Uhr morgens und ein herrlicher Tag. Am Haus, auf der niedrigen Steinbank des Fensters und an einem Eisengitter um einen Kellereingang hockten und standen ein paar alte Weiber, die auf die Zeitung warteten, um sie auszutragen.

»Mir ist das im Grunde alles gleichgültig«, sagte Scholander ruhig und als spräche er mit einem alten Bekannten, »aber das Verhängnis ist, daß man alles, was man tut, für den Augenblick doch mit seiner ganzen Person tun muß, mit einer lächerlichen Hingabe, die unsereins an und für sich hat, nicht etwa erst durch den besonderen Gegenstand gegeben. Ich beneide die Menschen, die sich, der Gelegenheit angepaßt, immer nach Bedarf und Verstand beteiligen können. Und doch treibt eine höhere Vernunft uns in unsere Dummheiten hinein, als dies Pack sie bei aller praktischen Geschicklichkeit jemals geahnt hat.«

»Je höher die Anforderungen sind, die wir an uns stellen, um so eher werden die Verhältnisse sich zu unserm Vorteil in uns verschieben«, sagte ich.

Scholander blieb stehen.

»Das stimmt«, sagte er laut und mit Nachdruck.

Er wunderte sich, jedoch offenbar ohne es zu wissen, er nahm hastig etwas als selbstverständlich an, auf das zu verzichten ihm trübe Gewohnheit geworden war. Rascher ausschreitend, lachte er schadenfroh vor sich hin, als behielte er durch meine Antwort heimlich allen denen gegenüber recht, die ihn mißbraucht hatten. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß ich ihm folgte.

»Wohin wollen Sie denn?« fragte er, als sei ich ihm lästig.

»Ich gehe mit Ihnen«, antwortete ich.

»Ah, ein freier Vogel, nichts zu tun, nichts zu verlieren, läuft einem nach. Nun, das bin ich gewohnt.«

»Ich habe Hunger«, sagte ich, da mir daran lag, daß wir irgendwo miteinander zu einer ruhigen Unterhaltung kamen.

»Ach so«, sagte er freundlich. »Gut. Ich habe noch ein paar Mark in der Tasche. Deshalb also ...«

»Hoffentlich nicht in der Hosentasche.«

Scholander lachte laut und blieb wieder stehen.

»Da sieh einer an, was er für Witze reißt! Ich habe mir gleich gedacht, daß Sie das mit der Streichholzschachtel vorhin beobachtet haben. Aber bei mir ist es mit dem Geld ganz gleichgültig, wo ich es einschiebe, es bleibt in keiner Tasche bei mir.«

»Ich habe selbst Geld«, sagte ich, um ihm die Enttäuschung zu nehmen.

»Wozu also laufen Sie mit mir?« fragte er düster.

»Nun ... nur so.«

»Wir gehen in mein Stammlokal«, brach er, plötzlich erheitert, los. »An solch schönem Tag muß man den Sonnenschein im finstersten Winkel feiern, da weiß man ihn erst recht. Dazu ein Schlückchen Wein mit Bergsonne aus den Jahren der Jugend darin, das ist eine Mischung für graue Herzen. Los also!«

Er schritt voran, als zöge er in den Krieg. Sein Rock flog nach hinten, und auf den Schultern spiegelte sich das Licht. Die weiten, dünnen Beinkleider legten sich an wie Fahnen um ihre Stangen. Er trug einen braunen und einen grauen Strumpf, es fiel aber nicht auf, da sie beide bis auf die Schäfte der Zugstiefel niedergerutscht waren. Die edel geformten, vernachlässigten Hände pendelten in weiten Abständen von den Hüften, man wich seinem breit angelegten Eroberungszug aus und sah uns nach.

Vielleicht ist er vierzig Jahre alt, dachte ich, vielleicht fünfzig. Welche Lebenswege mögen diese Füße gegangen sein? Er ist auch einer von den Vagabunden, die nicht aus der Gasse stammen, er ist im Wechsel zweier Zeiten als beider Kind herangewachsen und irrt zwischen ihnen dahin, wie ein Vogel zwischen zwei Wolkenzügen kämpft in den Luftwirbeln ihrer Bahnen. Vom Alten gebunden, vom Neuen berührt, keinem gewachsen, unsicher aus Andacht und nur im unnützen Opfer stark. Ich empfand den Schweigenden und sein Wesen neben mir, als spräche er über sich. Ich fühlte mich ihm mit heimlichem Grau'n verwandt und verband ihn doch mit meiner besten Hoffnung. Was er auch sein mag, dachte ich, er ist ein Mensch. Ich wußte schon frühzeitig, wie schwer es ist, ein Mensch zu sein.

Ach, wieviel lieber waren mir die unvollkommenen Menschen, deren Herzen wärmten, als jene anderen, an denen die Erde in vielerlei wohlbestellten Formen so reich ist, und als die ich alle aus meinem Leben verbannte, die herzlos waren. Ich dachte an Teja, und in der Trauer, die sich auf mich niedersenkte, erschien Scholander mir schön.

»Ich möchte aus der Stadt heraus«, sagte ich zu ihm, »über Sommerfelder, durch Bergtäler oder zwischen weiten Horizonten unter dem Himmel dahin, nicht zwischen Häusern.«

»Jawohl, jawohl«, sagte er und zwinkerte mir in gutmütiger Schadenfreude zu, »wenn man seinesgleichen in Gefangenschaft vorfindet, denkt man am wehmütigsten an die eigene Freiheit. Etwas Derartiges wollten Sie doch sagen? Aber uns Heutige hält die Stadt gefangen, und wer in ihr einen Gegensatz zur Natur erblickt, der ist in seinen Betrachtungen jämmerlich steckengeblieben, und das Wesen der Natur ist ihm nie anders als in Feld, Wald und Wiese begreifbar geworden. Grade diejenigen, welche glauben, mit einem Bündel Heu die Risse ihrer Seele verstopfen zu können, halten es am wenigsten in der Natur aus, als ob zum Leben in der Fühllosigkeit der ungebundenen Natur nicht grade für uns Städter dieses Jahrhunderts viel, viel mehr Kraft gehörte als zu einem Dasein in den Strömen der Menschenfülle, der ausgetretenen Bahnen, der lauen, lauten Luft, der gesicherten Meinungen.«

Das Wirtshaus, in das Scholander mich führte, lag in einer engen Quergasse, im Schatten der Marienkirche. Es war von außen schwer als eine öffentliche Wirtschaft kenntlich, die Fenster waren mit altmodischen grünen Rollgardinen mit grellbunten Bildern zur Hälfte verhangen, und die Glastür trug keinerlei einladende Inschrift noch irgendein Merkmal, das auf ein Gasthaus schließen ließ. Im Windfang lag ein kleiner schwarzer Hund, der beharrlich die Klinke der Tür anstarrte, die in die Gaststube führte. Scholander ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein und zögerte, aber das Tier wandte sich ihm nur einmal flüchtig zu, wie in Erstaunen darüber, daß jemand sich in diesem Verschlag ohne Not Zeit ließ, und sah wieder die Türklinke an.

Den eigentümlichen Reiz dieses Lokals, das mich zuerst öde, verlassen und unfreundlich anmutete, lernte ich erst nach und nach kennen, je mehr ich begriff, wie gut es in seiner unauffälligen Schlichtheit den Bedürfnissen der Gesellschaft angepaßt war, die es spärlich bevölkerte. Nur zu beiden Seiten des großen Kachelofens waren zwei Erker, die einluden; im übrigen standen die Holztische vor den Wandbänken rund im Raum umher, mit abgenutzten Holzstühlen und schmutzigen Decken. Ein paar Glasgeschirre, von denen man nicht festzustellen vermochte, ob es Trinkgefäße oder Fliegenfallen waren, blinkten schläfrig im Dämmerlicht, kein Sonnenstrahl fand zwischen diese Wände, und ein leicht betäubender, süßlicher Duft von Rum und Gas füllte die laue Luft. Am Abend saß für gewöhnlich der Wirt selbst, der Kalauer hieß oder genannt wurde, hinter dem Schanktisch, fett und schläfrig, aber doch voll heimlicher Aufmerksamkeit für seine Gäste, die allerdings mehr seinem eigenen Wohlergehen zu gelten schien als dem seiner Schutzbefohlenen. Er verschenkte Wein und Schnäpse selbst, blies beim Verzapfen in jedes gefüllte Bierglas, um unter dem Schaum zu prüfen, ob das vorgeschriebene Maß schon erreicht oder noch nicht überschritten war, kaute Tabak und spuckte im Sitzen von seinem Hocker aus einen Halbkreis auf den Fußboden, der als ein dunkler Fleckenring, je nach Ablauf der Tageszeit, mehr oder weniger deutlich erschien wie der Ring des Saturn. Ich erfuhr später, daß hinter dem Schanktisch eine Tür in ein zweites Zimmer führte, das aber nur den Stammgästen – und auch diesen nur bei besonderen Gelegenheiten zur Verfügung stand, es hieß das Brautgemach.

Jedoch der erste, flüchtige Eindruck, den diese Gaststube machte, war durchaus der einer harmlosen, etwas vernachlässigten Wirtschaft, die sich mühsam durch ein paar anspruchslose Stammgäste der näheren Umgebung erhielt und von der ein Fremder sich nichts versprach als Langeweile und schlechten Wein.

Wie stets an einem vorläufigen Ziel, nach besonderen Erwartungen, bemächtigte sich unserer eine leise Ernüchterung, als wir nun an einem der Ofentische Platz genommen hatten. Es galt gewissermaßen einen neuen Anfang zu finden nach einem zu hoch gestimmten Beginn. Scholanders joviale Herablassung war erzwungen, er rief laut nach dem Wirt und schien durch sein Gehabe die Gäste zu verstimmen. Es waren noch drei oder vier Leute anwesend, ein einfach, aber ordentlich gekleideter Mann, der an einem Fensterplatz vor einem Glas Rotwein saß und eifrig schrieb oder rechnete, ein junger, blasser Mensch, der stumm und mißmutig neben einem Mädchen hockte und ein spätes Frühstück aus Papierhüllen verzehrte. Er würzte Brot und Wurst mit Schnaps, das Glas vor dem Mädchen, das traurig in das Licht der Fenster starrte, stand unberührt zwischen den Zeitungsfetzen, er reichte ihr ab und zu auf der Gabelspitze einen Bissen.

Der Wirt begrüßte Scholander gleichmütig und brachte uns Wein. Er musterte mich mit einem trägen Blick und lächelte geringschätzig. Scholander wich einer Unterhaltung mit ihm aus, und der Wirt zog sich hinter seinen Flaschentisch zurück, ohne uns weiter zu beachten. Ob wir essen wollten, fragte er noch. Natürlich, was da sei. Er rief etwas durch eine halboffene Tür, aus der die Geräusche der Küche drangen, Mägdestimmen und das Klappern von Geschirr.

Scholander seufzte tief auf und trank rasch hintereinander zwei Gläser, als suche er Halt im Geist des Weins, Ansporn und Freiheit. So begann ich zu sprechen und erzählte ihm, wie ich lebte, auch sagte ich ihm offen, was mich an seiner Person gefesselt habe und daß ich erfreut sein würde, ihn näher kennenzulernen. Er hörte mir aufmerksam, aber mit einer heimlichen Gereiztheit zu, unterbrach mich jedoch nicht, sondern ermutigte mich vielmehr fortzufahren, wenn auch nur durch eine spöttische Teilnahme. Es schien ihn zu verstimmen, daß ich auf diese Art eine ihm unwillkommene Vorhand des Umgangs gewann; er fühlte, daß ich bei aller Zurückhaltung eine gewisse Nachsicht übte und Unbefangenheit herzustellen trachtete. Da ich selbst wußte, daß ich dies tat und daß es seiner Art, besonders in seiner scheinbar so benachteiligten Lebenslage, zuwider sein mußte, auch nur für einen Augenblick als einer Nachsicht bedürftig zu erscheinen, verstand ich ihn, als er schroff sagte:

»Sie werden das rechte Bild von mir haben! Tun sich gar etwas darauf zugute, mehr an mir gesehen zu haben, als jeder zweite sieht, und endlich langweilen Sie sich, deshalb hocken Sie hier. Niemand hält Sie, verstehen Sie?«

Ich hätte kein Elend kennen müssen, um die Sprache dessen nicht zu verstehen, der grade bei einem Schein von Verständnis für seinen Gram nicht trotzigen Stolz an Stelle eines beschämenden Eingeständnisses setzt. So wurde ich an meiner Einschätzung Scholanders nicht einen Augenblick irre, ich wußte, daß ich ihn enttäuscht und beleidigt haben würde, wenn ich mich nachgiebig unter seine Worte gestellt hätte. Es kam mir nicht darauf an, ihm für eine flüchtige und eitle Stunde zu Gefallen zu sein, oder daß er es mir war, sondern ich wollte Eingang in sein Wesen gewinnen, dessen tiefen Schlag ich in vertrauter Ferne vernahm, und wußte, daß dies niemals gelingt, wenn wir nicht ohne Rückhalt das eigene Herz ins Treffen führen.

»Sie lügen«, sagte ich kalt, »ich suche niemanden als mich selbst, grade wie Sie.«

»Sie haben Angst vor Ihrem Geschick, mein Lieber, und wollen in mir ein wenig hinter die Kulissen Ihrer Zukunft schauen.«

»Ich werde mir nicht antun, Ihnen dadurch gefällig zu sein, daß ich Ihrer Eitelkeit die Brocken hinwerfe, die Sie vielleicht verschlingen, um mich verachten zu können.«

Scholander sah mich an wie ein Wolf.

»Schau einer! Kommt wie ein Schaf daher und hat Zähne im Hirn. Einverstanden! Prost, Bruder.«

Ich stieß mit ihm an, ohne zu lächeln. Angst, zu verlieren, was ich gewonnen hatte, ließ mich erzittern, mir war ernst zu Sinn, und ich verstand die drängende Sorge nicht, in der ich um diesen Mann warb wie um den ersten Freund meines Lebens. Alle Menschen nennen sich einsam, und vielleicht sind sie es auch, jeder nach dem Maß seines Anspruchs, seiner Beschaffenheit und seines Wertes, aber wahrhaft Einsamkeit empfinden doch nur diejenigen, die niemals einen Augenblick aufgehört haben, an die Verbrüderung aller Menschen zu glauben.

»So trifft man sich«, sagte Scholander mit einem Seufzer, »und morgen geht es wieder in die Weite. Aber heute soll ein schöner Tag sein. Du hast dich nirgends aufgehalten und bist nirgends hängengeblieben, gut ist das, aber gefährlich. Wer die Gefahr liebt, ohne sie zu übersehen, tut sich leicht, aber sie zu sehen und mutig zu bleiben, das ist eine Sache. Ich, wie du mich hier siehst – es ist ja nur ein Zufall, daß mir äußerlich letzthin nicht alles nach Wunsch geraten ist –, habe es mit dem Leben aufgenommen. Da lädt es zuerst allen Schutt auf uns ab, wer aber durchkommt, hat es überwunden. Überrumpeln wird es mich nicht mehr, wie es die Mondsüchtigen umher eines Tages überrascht. Wandeln nicht die meisten wie im Schlaf? Unter ihnen sind die Dummköpfe noch die Erträglichsten, sie haben vom himmlischen Vater ihren Paß. Aber die Gescheiten, die sich selber ihre Scheuklappen anlegen, das ist der Feind. Prost!«

»So rasch komm' ich nicht mit.«

»Ich sollte mich auch zurückhalten, aber wenn ich mäßig bin, tauge ich nichts. Glaube es mir, Enthaltsamkeit, wo immer ich sie übe, verdirbt mich. Ich bin gemein, wenn ich nicht sinke, das Steigen bekommt mir nicht. Besitz, sei es nun im Blut, im Kopf oder in der Tasche, macht mich ungeduldig, lüstern, gierig und haltlos im Seelengrund. Staut sich bei mir etwas, so verrotte ich, dagegen wenn alles fließt, finde ich Halt und habe Trost in warmen, guten Gedanken.«

Er ließ den großen, wilden Kopf ein wenig hängen und sah mit der ungewollten Traurigkeit, die den ruhenden Ausdruck seines Gesichts auszeichnete, in den matten Schimmer des Weinglases. Dann nahm er eine kurze Pfeife aus der Rocktasche, stopfte sie nachlässig mit plumpen Fingern, wie man Saatbohnen in die Frühlingserde drückt, und schob den Stiel zwischen die Lippen, durch den Bart hindurch wie durch ein Gebüsch.

»Wie ich meine Freiheit liebe«, sagte er, »da sitzt man nun, wie man will, der Tag geht herum. Man lebt, was sonst noch? Ich bin in das Leben verliebt, daher kommen meine Launen und Unarten, meine Unbeständigkeit, der Wechsel von Gram und Seligkeit. Andere stehen mit dem Leben in einem reellen Ehebund, aber die bleibenden Geisteskinder setzt doch unsereiner in die Welt, in Taten oder Gedanken.«

Er sprach sich innerlich warm und blühte auf in dieser eigenen Glut. Bald hochfahrend, bald zerknirscht, nun in wegwerferischer Gleichgültigkeit gegen sich selbst, jetzt im heroischen Überschwang einer edlen Verstiegenheit, so wälzte er in rastlosem Eifer die bunten Bilder seines Lebens und seiner Gedanken vor mich hin. Er sprach fließend und wunderschön, zugleich herb und eitel; in farbigen Quellen und dunklen Morastbächen brach es aus seiner Seele, wahrsagerisch verzückt, schwermütig von tiefer Menschentraurigkeit, frivol oder voll seligen Hoffens.

Unser Essen war längst verzehrt, der Wein war mächtig in uns geworden, draußen fiel die Nachmittagssonne schräg in die Scheiben der gegenüberliegenden Häuserwand, und die Wirtsstube hatte Gäste beherbergt, entlassen und wieder neue aufgenommen. Scholander schlug vor, in ein anderes Lokal überzusiedeln, in einen Schoppenkeller am Rathausmarkt, zuvor jedoch einen Kaffee zu sich zu nehmen. Er winkte dem Wirt abwehrend zum Abschied zu, der Alte verstand und nickte. Die Frische der lebendigen Luft nahm uns auf und der wohltuende Lärm der Straßen. Scholander ergriff meinen Arm, und zu stummem Entzücken überflutete uns das Leben der anderen, ihre geschäftige Hast, ihre ernste Bereitschaft, der Atem von tausend Pflichten und die schweigsame Last der Menschenmenge umher. Ich fühlte mich frei und glücklich wie auf einer hellen Insel der Erwartung, im Weltgeist befangen, selig losgelöst und zugleich allen zugetan.

Zwei Stunden vor Mitternacht war Scholander besinnungslos betrunken; hätte man in der Kneipe, in die wir zuletzt geraten waren, seine Wohnung nicht gewußt, so wäre ich ratlos gewesen. So gelang es mir, ihn mit vieler Mühe in sein Quartier zu schaffen, irgend jemand half mir, und ich entsinne mich einiger mitleidiger Worte voller Teilnahme und Bedauern, aber ich lehnte diese Gemeinschaft mit meinen Gefühlen für Scholander ab und verabschiedete den Fremden, sobald ich seiner nicht mehr bedurfte.

Als ich an Scholanders Haustür die Klingel in Bewegung setzte, sah ich, daß im alten Haus neben der Tür ein Fensterlicht erlosch, und hörte leise Schritte nahen. Im Schein der Straßenbeleuchtung erkannte ich eine Frau von dem Benehmen und der Gelassenheit einer Dame guten Standes in einfachen Verhältnissen. Ein verhärmtes Gesicht, unschön und voll Sorge, beugte sich über den hilflosen Mann, kaum daß ich durch einen flüchtigen Gruß Beachtung fand. Aber das Wesen dieser stillen Gestalt verriet weder Unwillen noch Abscheu, kaum Erregtheit oder Ungeduld. Alles schien in grausamer Gewohnheit vor sich zu gehen. Ich erkannte im Schein einer Kerze ein fast leeres Zimmer mit einem Bett, einem Schreibtisch mit einer Wildnis von Büchern und Papieren, einem Schrank und einer Waschkommode. Außer dem überladenen Schreibtisch war alles in fast nüchterner Ordnung verwahrt und besorgt, nur die merkwürdigen Bildwerke an den Wänden schienen in einem Bereich zu hausen, den die ordnenden Hände, die hier walteten, nicht berührten.

Als ich Scholander in Obhut sah, ging ich davon, ruhlos aufgewiegelt, müde und zugleich erhoben und enttäuscht. Ich sah erst nun, daß ich mich auf einem schmalen alten Platz befand, der rechteckig war und mit gleichmäßigen Häusern, so still und dunkel wie ein Hof. Über der Baumreihe, dem Hause gegenüber, stand der weiße Vollmond und legte die Schatten der Bäume wie Teppiche auf die Straße. Ich sah eine Bank im Mondschatten, ging hinüber und sank erschöpft darauf nieder. Eine Uhr klang, mir war, als sei ich in eine ganz fremde Stadt verschlagen worden, bei Tage war ich niemals in diese Gegend gekommen.

Langsam beruhigten sich meine Sinne und Gedanken, aber ich wurde nicht froh. Mich ängstigte dieser verwüstete Schauplatz des grausamen Lebens. Wohl spiegelt sich der Himmel in trüben Fluten, aber er klärt sie deshalb nicht. Aber gaben sie sein Licht nicht in reinen Strahlen wieder? Meine Ungewißheit quälte mich, ich verstand noch nicht, die Welt der Tatsachen und die Welt der Ideen zu meiner Beruhigung zu scheiden, sowenig wie Scholander es jemals verstanden hatte. Aber ich ahnte, daß hier sein Verhängnis lag, und mit Beengung und Zorn begriff ich, daß das wahre Leben im Geist erst nach einer Willensscheidung beginnt. Aber je mehr ich mich zu retten trachtete, um so verarmter kam ich mir vor.

Da erlosch das Licht in Scholanders Zimmer. Gleich darauf öffnete sich die Haustür vorsichtig, und ich sah die Frauengestalt, die mir bei ihm begegnet war, achtsam und lautlos das Haus verlassen. Klanglos glitt ihr Fuß über die Steine, als huschte sie wie ein Schatten dahin, und bei einer Querstraße verschwand sie um die Ecke. Etwas wie ein schwesterlicher Gruß blieb in der Nachtstille zurück, die Ahnung und die Wehmut einer Menschenliebe ohne Ruf und Namen, eines schmucklosen Werts, den nur die Augen der Engel sehen.

 

Ich vermochte lange nicht einzuschlafen, meine kleine Kammer war voll nächtlichen Lichts, und ab und zu klang ein Schritt über den Platz, und sein Echo lief in den Häuserwinkeln mit. Schwerfällige Wagen bewegten sich in der Ferne, langsam gewann durch die Dämmerung der Sommernacht der neue Tag Gestalt. Mein Fenster zeigte die Weite des Himmels offen und hell wie mein Leben. Als ich endlich einschlief, träumte mir, die Welt sei erfüllt mit der Forderung, daß etwas geschehen müsse, wie mit einem heißen Wind. Die Menschen irrten ratlos in ihm umher und riefen einander zu: Es muß etwas geschehen! Jeder schien zu wissen, um was es sich handelte, jeder für sich, aber keiner vermochte es zu nennen.

Als ich erwachte, blendete mich das Tageslicht, das in einem breiten Sonnenstrom in die Kammer fiel, und auf einem Stuhl vor meinem Bett saß Scholander. Er hatte einen Hut auf dem Kopf, so groß wie ein Schirm, und zwischen seinen Knien ragte die Krücke eines mächtigen Stockes empor.

»Schönsten guten Tag«, sagte er heiter, »man macht es sich bequem. Ich war bei Elkan, und als ich über den Platz ging, kam mir in den Sinn, daß diese Scheune dich in ihrem Giebel beherbergt.«

»Habe ich es erzählt?«

»Das muß wohl so sein, vielleicht auch Elkan. Wache getrost ganz auf. Erwachst du zumeist fröhlich am Morgen? Wie sollte es anders sein, auch ich erwachte glücklich, als ich jung war. Aber nun ist mein Erwachen zuweilen ein heftiger, böser Schreck, dann rufe ich: Es ist aus mit mir, aus ... und taumele vor Traurigkeit, wenn ich den Sonnenschein am Fenster sehe. Aber heute war mir wohl. Wollen wir vor die Stadt gehen?«

Ich war mit vielen Freuden bereit. Alles Bedrängende der verflossenen Stunden schien mir für immer ausgelöscht, wie selbstverständlich nahm dieser sonderbare Mann alles, was ihn betraf, sein Ungemach, das goldene Wirrwarr seiner Gedanken, unsere Freundschaft. Er sah sich im Zimmer um.

»Du bist arm?«

»Ich besitze nichts.«

»Tut nichts, Bruder. Es ist der Jugend gut, arm zu sein. Sieh dir die jungen Leute an, die über uneigenen Besitz verfügen, er hält sie gefangen, verdirbt ihre Kraft, ihren Wagemut und die schöne Freiheit, die das Bewußtsein gibt, nichts zu verlieren zu haben. Ihrer Sorge, etwas einzubüßen, opfern sie die Bildung ihrer Fähigkeit, etwas zu gewinnen. Nur im Kampf läßt sich gewinnen, auch wenn er verlorengeht.«

Er zog seine Pfeife hervor, sah aber dann auf meinem Tisch Zigarren liegen, nahm eine davon und bot mir die andere an.

»Hier, rauche, rauche im Bett. Oder willst du schon aufstehen?«

Ich sprang empor und dachte: Er gehört zu den Menschen, die sich nicht deshalb überlegen fühlen, weil sie früher aufgestanden sind als andere. Das ist selten.

Scholander spuckte die abgebissene Spitze der Zigarre aus dem Fenster und begann zu rauchen wie ein Ofen ohne Rohr. Ein mörderischer Hustenanfall zerriß ihm den Satz, als er zu sprechen begann. Er winkte mir mit der Hand ab, als wollte er sagen: Nur Geduld, du bekommst schon noch alles zu hören. »Hast du heute etwas zu tun?« fragte er endlich.

»Ich habe nur etwas zu tun, wenn ich will.«

»Gut, wir werden uns verstehen. Ich will nur etwas tun, wenn ich nichts habe, das ist deinem Grundsatz sehr ähnlich. Nimm zum Beispiel diesen Elkan mit seiner polemischen Schmierfahne, glaubst du, ich schriebe zu meinem Vergnügen für sein Blatt? Aber es ist jetzt der einzige Ort, an dem ich zu Worte komme. Tut nichts, das wird schon einmal anders.«

Er prüfte mich, als bäte er um ein Zeichen des Glaubens an ihn. Da ich schwieg, seufzte er und holte den eigenen Glauben hervor:

»Die Zeit, in der ich sagen kann, was ich im Leben zu sagen habe, muß für mich kommen, es hat mir nur immer an Ruhe, an Sammlung gefehlt. Früher war es anders, aber da verachtete ich die Mittel, die mich hätten fördern können. Kann man seine Zeit verpassen? Glaubst du das?«

»Für den, der in Wahrheit etwas zu sagen hat, ist es immer Zeit.«

»Nicht wahr? Sieh, du denkst vernünftig, machst einem Mut. Ich habe wohl Lust an meiner Fülle, aber zu meiner ganzen Fülle doch nicht die rechte Lust. Das ist mein Verhängnis. Dies versteht nur einer, der sich in seinem geistigen Haushalt zu schaffen macht.«

Betroffen sah er vor sich hin und schwieg. Oft schien es, als überraschten ihn seine eigenen Aussprüche und als überdächte er sie erst, nachdem sie aus ihm hervorgebrochen waren. Diese rauhe, derbe Hülle in ihrer Sinnenwelt schien bisweilen nichts von den Quellen zu ahnen, die in dem Geistesgrund unter ihr entsprangen. Sein Bewußtsein war urteilslos und sich seiner selbst nicht bewußt, er dachte, wie andere sehen oder fühlen, und die Welt der Erscheinungen spiegelte sich in ihm, ohne daß seine Gedanken sie anders als zufällig zu ordnen oder auf ihren Ursprung zurückzuführen wußten. Aber diese Zufälle waren oft von einem wunderbaren Glanz.

Irgendwie ahnte ich in ihm den tragischen Geistestypus meiner Zeit, aber was ihn weit über die bunten und im Geist gewissenlosen Fanatiker der raschen Wirkung und des unlauteren Pathos hob, war seine hellseherische Ergriffenheit dem menschlichen Gemüt gegenüber. Ihm fehlte, wie ich viel später erkannte, jene entscheidende Gabe des Geistes, die als schöpferische Phantasie die Einheit schafft, aber er war viel reicher als manche, die im kleinen über diese Gabe gebieten.

Scholanders Art zu denken und zu sprechen war für einen Menschen bezeichnend, der gewohnt ist, gläubige Zuhörer zu haben, die ihn nicht kontrollieren, sondern sich mit guter Meinung, mit Bewunderung und neidlos unterordnen. Nur wer viel allein ist, lernt gut denken, weil niemand schwerer zu überzeugen ist als die Stimme der eigenen Zweifel oder des eigenen Widerspruchs. In der Einsamkeit sterben die Eitelkeit und die Genügsamkeit bei allen Aufrichtigen, und eine edle Bescheidenheit ordnet die Werte nach dem natürlichen Gesetz des eigenen Vermögens und der eigenen Rechte. Wie viele im Grunde ehrliche Naturen haben sich dadurch zu Unwahrhaftigkeiten und zur Übertreibung verleiten lassen, daß sie die Erwartungen eines andächtigen Dummkopfs oder eines kritiklosen Publikums nicht haben enttäuschen wollen.

Auf unserem gemeinsamen Weg durch die Stadt erfuhr ich nun Scholanders Leben, das er merkwürdig gleichmütig und ohne einen Hang zu Entschuldigungen oder Erklärungen mitteilte. Er klagte weder sich noch andere an und stellte kein Geschehnis in ein Licht, das ihm günstig war, sondern er berichtete mit der beharrlichen, fast nüchternen Sachlichkeit eines, der seinem Zuhörer den Schluß aus den Ereignissen selbst überläßt. Einmal, nach einer Pause der Besinnung, sagte er herzlich: »Nur lügen zu müssen erbittert, wenn man Vertrauen genug hat, um die Wahrheit wagen zu dürfen, ist man schon halb versöhnt. Lügen kann man nur mit Witz, der Humor aber gesellt sich immer der Wahrheit zu.«

Er war als Sohn eines Geistlichen auf dem Lande geboren und im frühen Alter in der Fremde erzogen worden, da sich seinem Vater keine Aussichten erschlossen hatten, seine dörfliche Pfarre gegen ein städtisches Amt einzutauschen. Seine Jugend überging Scholander fast ganz, ich erfuhr nur, daß seine Mutter ihren Gatten verlassen hatte und nach wunderlichen Geschicken verschollen war. »Ich weiß aus diesen Tagen bis zu meinem fünfundzwanzigsten Jahr so gut wie nichts von mir zu sagen«, erzählte er, »was ich erlebte, blieb äußerlich und ist deshalb gleichgültig. Ich lebte unbewußt und glaube, daß es den meisten Menschen bis zu dieser Zeit so geht, erst später legen sie Sinn in ihre Erinnerungen, mit vollem Bewußtsein und ganzer Kraft leben wir alle nur ein paar Jahre.«

Dann waren Mädchen und Frauen in sein Leben gekommen und hatten es bis an die Neige seiner Jahre ausgeschöpft. Er sprach nicht über Einzelheiten, aber aus seinen zurückhaltenden Hinweisen ging hervor, daß diese blasse Flut ihn ganz getragen und endlich vom Ziel seines Lebens verschlagen hatte. Er sprach zuweilen traurig und immer ohne Prahlerei, der Tonfall und die bekümmerte Vorsicht seiner Andeutungen gaben allem einen Widerschein von fast schauriger Wahrhaftigkeit. Er erzählte Dinge, die niemand erfinden kann, aber sein natürlicher Takt, der ihn stets stützte, wenn er ernst war, hinderte ihn daran, melancholisch zu werden oder seine Niederlage unwürdig einzugestehen. So kam es, daß zuweilen ein grausamer Spott über sich selbst ihm die Worte fügte, wohl vermied er es, verächtlich von den Frauen zu sprechen, aber es gibt nun einmal Dinge auf diesem Gebiet, die man in der Erinnerung, selbst bei guten Vorsätzen, nicht feierlich behandeln kann, wenn man unbeteiligt an sie gebunden war und ebenso an sie zurückdenkt.

»Die Frauen wechselten in meinem Leben wie an einem Postschalter, es war schrecklich. Zu Anfang glaubte ich, noch in jedem Fall mit ganzer Liebe beteiligt zu sein, und wunderte mich nur etwas über meine Unbeständigkeit. Welche Rolle meine Eitelkeit dabei gespielt hat, kann ich nicht sagen, wer will die Wechselwirkungen, in denen die Leidenschaft sich nährt, genau auf ihre Maße prüfen? Sicher ist, daß ich die Frauen im Grunde immer zu ernst genommen habe, sowenig es den Anschein gehabt haben mag, zu ernst in einem ganz bestimmten Sinn und sicherlich in einem falschen. Ich glaubte von allem etwas ganz Bestimmtes, auf mein Seelenleben Bezügliches, was sie mir sein sollten, und übersah, was sie sind. Wie leicht sie es mir gemacht haben, mit Anstand schwach zu sein, mit Würde treulos und mit Selbstachtung schlecht! Sie lehrten mich, den Genuß, der durch sie kam, für mein erstes Recht zu halten, und bekränzten mich wie einen Sieger, wenn sie mich überwunden hatten. Bald war ich zu tief im Bann dieser Lebensform, als daß ich mich noch zu retten vermochte, aus seinem Unglück befreit man sich weit leichter als aus seinem verhängnisvollen Glück. So verlor ich meinen Weg in die Welt. Ich war damals Student und blieb es, als mein Vater starb und seine Zuschüsse aufhörten. Fast unvermerkt begann ich dann von Frauen zu nehmen, was ich zum Leben brauchte. Mit wieviel mehr Anmut, Takt und Selbstverständlichkeit weiß eine liebende Frau ihren Mann zu ernähren als umgekehrt. Eine Frau, die sich selbst gibt, gibt auch alles andere, ein Mann glaubt in der Regel, mit seiner Person habe er schon zuviel gegeben. So blieben meine Studien und meine Arbeit liegen. Zwar habe ich immer den Kopf voller Pläne gehabt, aber sorglosen Frauen, die ihrem Genuß leben, sind Pläne beim Manne viel bequemer als Taten, denn Pläne entziehen ihn ihnen nicht. Mein Selbstvertrauen wurde so bereitwillig genährt und befriedigt, daß Handlungen sich eigentlich erübrigten. Ich proklamierte in großen Worten, was ich zu tun gedächte, und mein Zimmer war voller Weihrauch, der der Vollendung meiner Leistung galt, noch ehe ich begonnen hatte. Ich sah die schöne, harte, helle Welt der Taten vom Bett aus, und du glaubst nicht, wie rasch sie sich von dort aus in einen Wattebausch verwandelt. Und doch, zuweilen gelang mir Gutes, ich glaubte ein Künstler zu sein. Ich erlebte herbe Stunden der Heimkehr zu mir selbst, aber ich war zu verzärtelt, um nicht von der Kunst zu erwarten, was die Frauen mir boten. Aber sie verwöhnt niemanden, sie ist ein Weib, das Treue fordert, ein eisernes Herz, ein kühles Haupt ...«

Er stockte und schwieg lange. Endlich sagte er einfach: »Wo sind sie alle geblieben? Nur eine hat bei mir ausgehalten, du hast sie gestern gesehen. Nicht mein armer Wert hält sie bei mir, sondern der ihre. Ich habe die Gemüter und das Blut der Frauen zu entzünden gewußt, aber für lange zu fesseln vermochte ich keine. Weiß der liebe Gott, was sie alle zu mir hingetrieben hat, ich war weder schön noch reich. Oft glaubte ich, daß mein Ruf und meine Erlebnisse sie abschrecken müßten. Aber es war gerade umgekehrt. Solle man nicht glauben, nichts sei einer Frau ärger, als sich mit anderen in einen Mann teilen zu müssen oder viele Vorgängerinnen gehabt zu haben? Es ist grade umgekehrt. Es ergeht dieser Art Frauen wie den Bienen bei einer Schale Honig, eine entdeckt sie, und nach kurzer Zeit sind alle da. In der Regel verachtet die Frau den Mann ein wenig, dessen einzige Liebe sie ist, sie denkt nicht hoch genug von sich selbst. Auch ist ein Gemisch von Neugierde, Neid und Eitelkeit im Wesen des Weibes, vor dem kein Charakter völlig schützt. Vielleicht ruht dieser Hang begründet in ihrer einfachen Natur, vielleicht ist er eine Folge der Nüchternheit, Leblosigkeit und Einseitigkeit der Männer unseres heutigen Berufslebens. Wer will es entscheiden? Die Natur treibt ein fühlloses, oft grausames Spiel mit allen, die nicht die Kraft haben, ihr frühzeitig mit dem Willen zur Erkenntnis entgegenzutreten, oder die nicht durch die Gnade der Liebe in ihre mütterlichen Arme genommen werden. Mir wurde erst klar, wie sehr ich mich hatte mißbrauchen lassen, als ich an dem Mißbrauch kein sonderliches Vergnügen mehr empfand; ich lernte meine Kräfte kennen, als ich sie nicht mehr besaß.«

Wir hatten uns am Wiesenhang eines Flusses niedergelassen, der auf die ferne Stadt zueilte, die er durchfloß. Sie lag im feinen Dunst des warmen Sommertags, und ihre Türme, die Wahrzeichen vieler Jahrhunderte, boten ein blaues Traumbild dar, geweiht durch Ferne und Alter. Scholander zog seine Pfeife hervor und begann schweigend zu rauchen, er lächelte mit einem Ausdruck von Trotz und Ratlosigkeit und sah das dahinziehende Wasser an. Weidenbüsche boten uns Schatten, am anderen Ufer stand ein Hirt unter einer Schar weidender Schafe, und sein Hund witterte zu uns herüber. Je länger ich Scholanders Gesicht betrachtete, um so deutlicher begriff ich, daß einst dieses verwilderte Herz voll Leben und unbedenklicher, zielloser Kraft die Seelen der Frauen und Mädchen mit leidender Hoffnung, mütterlichem Erbarmen und blinder Gier erfüllt haben mochte, dieser nie ruhende Geist, dieses unendlich reizbare Gemüt, dieser laute Frohsinn in starker Bewegung aller Sinne und dies tyrannische Knabentum voll Hochmut und Treuherzigkeit. Ich begriff die Gefahr, die für Frauengemüter im Widerschein einer ungreifbaren und doch nicht zu widerlegenden geistigen Lebenskraft erstehen kann, die die ungefestigten Naturen aller Leichten unter ihnen in jenes Schwanken von Liebe und Hilfsbereitschaft reißt, dem sie ihren Leib zum Pfand geben.

Aber wie grausam hatten sie sich für ihre Enttäuschungen gerächt! Ich fühlte mit Zorn und Erbarmen, daß dieser Geist keine Auferstehung mehr erleben würde, daß seine Schwingen gebrochen, sein Glanz getrübt und seine Bahn unter Trümmern verschüttet lag. Scholander sah sich plötzlich nach mir um, als weckten meine Gedanken seine Hoffnungslosigkeit.

»Wir wollen gehen, Bruder«, sagte er tief aufatmend und weich, »und mutig eins trinken. Ich weiß eine Waldkneipe in der Nähe, bei deren Anblick du Weib und Kind vergißt. Zum Teufel, es muß ein doppelter Kater ertränkt werden, der von gestern und der, welcher sich langsam aus meinem Geschwätz von heute morgen aufrichtet. Wollen wir wetten, daß ich beide umbringe?« Er wartete auf meine Antwort, indem wir dahinschritten. Da ich schwieg, fuhr er fort: »Du machst mit, ich muß es schon zugeben, aber immer als Gast. Was hindert dich, dich hinzugeben? Ich weiß nicht, ob ich dich beneiden soll, manchmal denke ich, ich könnte dich hassen. Erschrickst du? Tu es nicht, du sollst nur Treues von mir erfahren, auch begreife ich, daß du vielleicht wartest, bis es dich einmal ganz überwindet, du kannst nicht anders ... nun, Gott mit dir, zürne mir nicht.«

Ich drückte ihm die Hand und kämpfte mit Macht gegen meine Bewegung. Teja stand im Geist vor mir und sagte zu mir: »Deine Hand entgleitet, noch ehe man sie recht hält.« War es nicht die gleiche Frage und Anklage in Scholanders und ihren Worten, jenes dunkle Drängen auf die Wohltaten hin, das die Preisgabe der einen, der heiligen Forderung mit sich bringt? Es hat meine ganze Jugend bedroht und umlauert die Jugend aller Reichen wie ein Versucher im Priestergewand. Die Worte aber, die Scholander seinem Vorwurf hinzufügte, die Teja nicht fand, waren der erste wahrhaftige Trost meines Lebens, ein helles Licht.

Die Waldkneipe, in die Scholander mich führte, stand nicht hinter den Erwartungen zurück, die er in mir erweckt hatte. Das alte Haus lag unter Buchen in einem verwilderten Garten voller grüner Winkel und Lauben, die Anlagen gingen auf verwachsenen Wegen langsam in den Wald über. Überall leuchtete das stille goldene Licht der Sonne im Grün, Hühner bewegten sich zwischen den Tischen, und am Dachfirst gewahrte ich einen fröhlich bevölkerten Taubenschlag. Die Wirtin empfing Scholander in einer derben Vertrautheit, die ihm peinlich zu sein schien, obgleich er sich ihrer sichtlich freute. Wir wählten eine dicht umgrünte Laube am Waldrand und ließen uns dort nieder im kühlen Sommerduft, um nicht mehr aufzustehen, bis die Nacht hereinbrach.

Wieder erwachte im Wein Scholanders gärender Geist wie zu einem zweiten und anderen Leben, er entwand mir alle Fesseln, und ich erschrak darüber, daß dieser Mann, den ich glaubte bedauern zu dürfen und den ich bald fürchtete, bald bewunderte, mich zu Geständnissen öffnete, die ich mir selbst zum erstenmal machte. Aber es gibt nichts Mitreißenderes als eine edle Verschwendungssucht, und Scholander stimmte meine Seele auf eine ganz neue, ungestüme Kühnheit und auf eine beseligende Gleichgültigkeit gegen alles, was nicht im Bereich dieses heißen Genusses der Selbstschätzung und der Hoffnung lag.

Du kurzer, schöner Tag meiner Jugend! Ich trank aus Scholanders Becher den Vorgeschmack einer Erfüllung, die ich nicht kannte, das Lebensleid meiner zukünftigen Kämpfe ohne Namen und die Ahnung des Todes, die der Jugend lieblicher schmeckt als der feurigste Wein, wenn sie sie in Gemeinschaft mit der Fülle des Lebens empfindet. In einer erregenden Wechselwirkung von Widerspruch und Vertrauen folgte ich Scholanders Wahn und seiner Erkenntnis, seinem Schmerz und seinem Glauben.

Es war schon der Mond, der uns leuchtete, als er mit schwerem Mut und trauriger Mühe sagte:

»Einmal entstand mir mein Bestes, als ich jung war, in irgendeinem Schubfach magst du es finden oder auch längst nicht mehr. Niemand hat es gewollt. Nenne mich deshalb nicht schwach, weil ich aufgegeben habe, nur noch darin zu leben. Das Leben lockte mich, die Brüder und Schwestern, die Teilnahme vieler, die rasche Liebe, die tägliche Wärme, und so wurde ich, wie es die Nächsten wollten. Sage nur nicht, das sei nichts als Schwäche. Es liegt eine furchtbare Gewalt in den Forderungen, die unsere Zeit an uns stellt, wie viele sind nicht das Opfer ihrer Zeit, und das Opfer der Erde sind im Grunde auch die Besten. Die größten Geister aller Zeiten haben doch nur ihr Geringstes geben können, so erhaben es uns auch erscheint, ihr Bestes dagegen nahmen sie mit sich, da niemand es forderte. Das Entstehen eines vollkommenen Werkes setzt eine vollkommene Welt des Anspruchs voraus, eine Ermutigung aus dem Himmel, darum erschufen die Besten keine Werke, sie entbehrten und glaubten ... aber du verstehst mich nicht mehr, scher dich zum Teufel!«

Er schüttelte sich und trank.

»Einsam sind wir wie Tiere.«

»Und sind doch die Wohnung der Liebe.«

»Wahr, wahr«, antwortete Scholander ruhiger und faßte wieder Mut zu seinen Gedanken, aber er fand sie nicht mehr. »Brauchst du das mir zu sagen? Wann hast du es von mir gehört? Aber das Zugeständnis verdirbt uns. Wenn wir keine Zugeständnisse machen, so können wir wohl zugrunde gehen, aber niemals verderben. Das Kompromiß verdirbt uns die laue Mitte, sie ist die schleichende Seuche der Menschheit, die trübe Dämmerung der Seelen, nicht Tag und nicht Nacht. ›Weil du aber lau bist, habe ich dich ausgespien aus meinem Munde‹, wo steht doch das große Wort? Bei Johannes, natürlich, er ahnte am tiefsten, was los war, am klarsten, als er versank. Wir werden alle ausgespien.«

»Ich mache keine Zugeständnisse«, sagte ich.

»Rede nicht. Natürlich machst du keine, denn du machst überhaupt nichts. Warte, bis dich der Ehrgeiz packt, dies Feuer, das entsteht, wenn Gott und der Teufel sich in uns balgen. Warte und schau. Vielleicht ergreift es dich eines Tages, dann denke an Scholander. Ich habe Zugeständnisse gemacht, aber ich habe einen Trost, ich weiß, daß ich es getan habe. So lange, meine ich oft, ist noch nicht alles verloren. Ich selbst, ich bin natürlich verloren, aber noch nicht alles, verstehst du das? Ich möchte sagen, ich glaube noch ...«

»Ich verstehe dich und glaube, daß es viel ist, was du von dir sagst.«

»Vielleicht ist es alles. Ich weiß es nicht. Aber oft, wenn mir zumute ist, als würde ich vor Traurigkeit bewußtlos, dämmert es in mir empor wie eine fremdartige Lichtflut, und ich ahne, daß es allein auf den Glauben ankommt. Mir ist dann, als sei der Glaube der mystische Sinn, die ewige Seele dessen, was Erlösung bedeutet. Der Glaube in uns ist etwas wie Gottes Tat für unsere Tat. Man sollte den Glauben achten, wie man die Liebe achtet, an sich und als eine Kraft, aber nicht gemessen am Wert oder an der Wahrheit seines Gegenstandes. Ein Gott, wie ich ihn mir in meinem Elend oft ersinne, wird niemanden fragen: ›Glaubst du an mich?‹ Er wird fragen: ›Glaubst du?‹ Welch innige Heiterkeit, welch wahrhaftige Seligkeit muß ein Gemüt verklären, das einfach und ohne Zweifel darauf antworten könnte: ›Ja, ich glaube.‹ Als ob Glauben eine Angelegenheit einer bestimmten Überzeugung wäre! Glauben ist das Herz der echten Frömmigkeit, der Gesundheitszustand starker Seelen, Glauben ist das ewige Ja.«

Es schüttelte ihn plötzlich wild von innen her. Er griff nach dem Glas wie nach einem Halt, stieß es jedoch um und ließ die Hand fallen. Der schwere Kopf sank ihm nach vorn, und sein Mund verzog sich wie bei einem Kind, das mit den Tränen kämpft.

Die Wirtin bot uns gutmütig an, uns in ihrem Hause unterzubringen. Scholander torkelte durch die Mondflecken unter den Bäumen dahin wie ein unförmiges Gespenst und sang laut. Der nächtliche Wald hallte wider von diesen Tönen, die wie das traurige Gebrüll eines Tieres klangen. Ich erhielt ein Heulager an einem Herd in einem kleinen Backhaus, in das durch eine zerbrochene Scheibe der Mondschein fiel. Die Welt kreiste, und mitten in ihr sang ein Heimchen mit mütterlicher Stimme. Ich sah mit weit offenen Augen in das stille Licht, und das Bewußtsein meines Lebens erfüllte mich in einem Taumel von schwermütiger Neugier. Ich erblickte, schon halb im Traum, eine Wiege, die unter einem hellen Stern schaukelte, als schwebte sie. Sie bewegte sich langsam zur Melodie eines qualvollen und süßen Liedes, von Pol zu Pol der Welt unserer Tage. Die Pole waren hier Eros, dort die Evangelien, und ich ahnte in der unaussprechbaren Zuversicht, die eine Vision vermitteln kann, daß einst, wenn sie zur Ruhe kommen würde, ein neuer Gott ihr entsteigen sollte, mit den heiteren Zügen eines klugen und guten Menschen.

 

Die kommende Zeit brachte es mit sich, daß ich, um Scholander zu begegnen, Kalauers Wirtsstube aufsuchte und dort ein oft gesehener Gast wurde, obgleich ich Scholander dort selten antraf und zumeist in Gesellschaft, die mir wenig behagte. Dann wieder, nach Tagen der Trennung, fand ich ihn unvermutet in meiner Kammer, wenn ich abends heimkam oder morgens aufbrach. Als ich ihn einmal in seiner Wohnung suchte, begegnete mir dort an seiner Statt jenes stille weibliche Wesen, das in unserer ersten Nacht und in mancher späteren ebenso seiner gewartet hatte. Wir wechselten ein paar Worte, sie antwortete mir gleichmütig und freundlich, aber ihre Augen ließen den fremden Blick nicht zu sich ein, und ich verließ sie in dem Bewußtsein, ihr nicht nur gleichgültig zu sein, sondern daß ich überhaupt von ihren Augen nicht anders als ein Gegenstand wahrgenommen worden war. Ein anderes Mal versuchte ich, das Gespräch auf Scholander zu bringen, indem ich eine gemeinsame Sorge um sein Wohlergehen zum Vorwand machte und mit meiner Neigung für ihn nicht zurückhielt. Sie schob mir einen Stuhl hin, saß still und für sich auf der Bettkante und hörte mir aufmerksam zu; aber ihr kluges, sonst so wenig schönes Gesicht belebte sich nur, wenn ein gutes oder bewunderndes Wort über den Mann fiel, den sie liebte und dem sie diente. Mich befiel zum erstenmal eine Ahnung von der seltenen Ausschließlichkeit, in der sie nur für ihn und nur in ihm lebte, bis mir später die kurze Geschichte ihres Lebens das Bild einer unvergeßlichen Hingabe und einer Opferwilligkeit ohne Grenzen erschloß. Aber sie selbst sprach nicht über sich und über ihr Schicksal noch über ihn, der es ihr bereitet hatte. Es schien für sie kein Leben und keine Menschen auf der Welt zu geben, sondern nur Gelegenheiten, etwas für Scholander tun oder erleiden zu können. Diese Preisgabe ihrer ganzen Person und aller ihrer Rechte war lauter und innig, aber ohne Frohsinn, das Lichtlein ihres schmerzhaften Glücks flackerte unter der dunklen Wolke des herannahenden Verhängnisses, das über Scholanders Leben schwebte. Das gab der Macht ihrer Treue etwas unsagbar Trauriges, da sie ohne Hoffnung bestand und lebte. Ihr Urteil über diesen Mann war völlig erloschen, da sie es mit ihren Empfindungen und dem Pflichtbewußtsein ihrer einfachen, aber eigensinnigen Natur nicht in Einklang zu bringen vermochte und der Konflikt sie wahrscheinlich zerstört haben würde, wenn sie ihm nachgegangen wäre, denn sie hatte Verstand und Charakter. Scholanders Wesensart hatte ihr keinen anderen Weg gelassen als den der blinden Zustimmung oder den der Trennung, und da ihre Liebe später seine Unabhängigkeit von ihr erkannt haben mochte, verwandelte sie sich langsam von einer gescholtenen, mißachteten und betrogenen Geliebten in eine nachsichtige und duldende Schwester.

Es wunderte mich deshalb nicht, daß sie ihn mit den Blumen ihres verachteten Werts schmückte und ihn verherrlichte, um vor sich selbst gerechtfertigt dazustehen. Ich erkannte in ihren Zügen langsam die Wahrzeichen eines Frauenleids, das mir neu und unbegreiflich war und das das Leben mir niemals zuvor gezeigt hatte, ich begriff, daß niemand sie liebte und daß alle, die über sie sprachen, es mit einem Lächeln taten, das mich zugleich empörte und befriedigte. Bald erschien sie mir vom Glorienschein einer Heiligen umgeben, die an der Seite eines Verbrechers dahinschritt, dann wieder dachte ich, von Mitleid und Verachtung bewegt, an eine würdelose Unterwürfigkeit. Aber sie selbst ging, wie in einem schmerzlichen Traumzustand, ohne Lächeln und ohne Tränen, den Weg, der ihr bestimmt war, und hörte auf keine Warnung, auf keine Anklage und auf kein Lob.

Sie war die Tochter eines wohlhabenden Fabrikbesitzers und hatte Scholander in seinen besten Jahren der Kraft und Erwartung kennengelernt. Ein Altersunterschied von etwa zehn Jahren trennte sie. Nach und nach hatte sie ihm ihr ganzes Vermögen geopfert. Sie sah es zerrinnen, aber sie gebot ihm niemals Einhalt, weil sie ihrem Glauben an den Wert und an die Kraft des Geliebten auch nicht den Schatten eines Zweifels zuzugesellen vermochte. Sie gestand ihm Rechte gegen alle Gesetze der Menschlichkeit und Sitte zu, sah andere Frauen die Vorteile ihrer Opfer genießen, schwieg, duldete es um seinetwillen und gab endlich ihr Letztes dahin. Eine zähe Gewißheit stärkte sie, sie fühlte, zuletzt würde er ihr, nur ihr bleiben, ihre letzte Hoffnung blickte auf seine Hilflosigkeit, und sie tröstete sich mit ihrer Fähigkeit, für ihn arbeiten zu können, wenn alle ihn verlassen hätten.

Mein Verkehr mit Scholander führte es herbei, daß ich ihr später häufiger begegnete. Als ich ihre Geschichte kannte, verwandelte sich mir ihr Bild langsam, und ich bat ihr, überwunden durch das ruhige Leidenslicht in ihren Augen, manchen Zweifel an ihrer Würde und an ihrem Stolz ab. Wie wenig offenbart uns das Leben, wenn wir die herkömmlichen Maße von Wert, Tugend, Gerechtigkeit und Güte an sein mächtiges, tausendfältiges Angesicht legen! Alles zu verwerfen, alles, sollte der Lebensbeginn der gesunden Jugend sein, als ob sich reinen, starken Herzen der echte Wert nicht immer doch erschlösse! Er ruht in ihnen wie der Duft und die Farbe einer Blume in ihrer Knospe, und ihr Gemüt gesellt sich dem Guten, Wahren und Erhabenen in der Welt auf dieselbe Art zu wie das Licht der Sonne dem erschlossenen Kelch, der sich der Helligkeit zuwendet, deren er bedarf, und der sich in ihr öffnet, wie seine Schönheit ihr Werk ist. Nur der Glaube an die Gesetzmäßigkeit dieser Zusammenhänge verbürgt uns ein Selbstbewußtsein, das nicht schwankt, und eine Menschenwürde, die nicht von unserem Geschick abhängt.

Heute sehe ich, im Widerschein meiner Erinnerung, das Bild dieser Frau von allem befreit, was einst der Alltag der Gegenwart an Staub und Schutt auf sie gehäuft hat. Sie ging ihren Weg wie über einen Teppich von Dornen, der Teppich hieß Scholander, er trug sie, gab ihr Leben und verwundete sie, auf ihm wollte sie eines Tages sterben. Sie kannte keine Gefahren und keine Freuden, nur ihn, sie sah keine Menschen, keinen Gott, keinen Himmel, nur ihn. Mir war, als sagten ihre Augen, wenn sie von seinem verwüsteten Angesicht in gedankenloser Gleichmütigkeit zu den Formen und Gestalten der Umwelt zurückkehrten: So ist nun einmal dieser Mann beschaffen, dem ich durch meine Liebe angehöre. Ob ihr ihn gut oder böse, reich oder arm, bewundernswert oder verkommen nennt, höre oder weiß ich nicht, denn ich nenne ihn meine Liebe und sehe ihn, wie er ist. Warum soll ich ihm für die armen paar Tage, die wir irdisch verweilen, nicht sein Wesen so lassen, wie er nun einmal ist? Habe ich etwas für ihn getan? Meine Handlungen sind wie meine Atemzüge gewesen, sie waren mir zum Leben notwendig, und ihr solltet mich weder loben noch tadeln. Wenn ihr sagt, daß ich ein armseliges und bedauernswertes Dasein führe, so seht ihr nicht mein Herz. Ich weiß, eines Tages wird er, beruhigt über die Geister seines Haupts, auf seinem Totenbett liegen, für den irdischen Abschied in Blässe und Kälte gefestigt, in Frieden. Wie sollte ich diesen Anblick ertragen können, wenn ich meiner Liebe etwas schuldig geblieben wäre? War er an sich und der Welt schuldig? Wie glücklich bin ich, daß diese Frage nur euch und niemals mich beschäftigt, an mir war er nicht schuldig, denn er liebte mich weniger als ich ihn.

Ein unvergeßlicher Abend, den ich bald nach unserm Gang vor die Stadt mit Scholander erlebte, eröffnete mir einen erneuten Ausblick auf die Leidenswelt dieser seltsamen Frau, zugleich aber lernte ich besser als zuvor verstehen, daß der Mann, der ihr ihr herbes Schicksal bereitete, zugleich doch im Grund seines Wesens einer solchen Neigung und Hingabe wert war.

Ich kam ziemlich spät noch zu Kalauer, die Türen und Fenster standen der immer noch drückenden Tageswärme wegen weit geöffnet, ich hörte Scholanders Stimme schon dröhnen, als ich noch unter den Fenstern dahinschritt. Er saß mit zwei Burschen und einem Straßenmädchen am gewohnten Ecktisch und predigte vor dieser spöttisch entzückten Zuhörerschaft eine verworrene Litanei von praktischer Lebensweisheit und mystischem Unsinn herunter, an sich selbst leidend und doch gierig das bewundernde Staunen seiner kleinen Runde einsaugend. Ich kannte ihn in diesen Ausbrüchen von flacher Wirkungssucht und Eitelkeit und setzte mich zögernd an seinen Tisch, weil ich wußte, daß ich ihm in solchen Augenblicken unwillkommen war. Er konnte die Stufe unseres Umgangs unmöglich mit der in Einklang bringen, auf welcher er mit seinen Kumpanen Gemeinschaft suchte, und schämte sich ihrer sowohl vor mir, wie er sich auch ungern in ihrer Gegenwart zu mir bekannte. Ich für mein Teil machte niemals einen Hehl aus meinem Abscheu vor seinen Gefährten dieser Art. In einer sicherlich übertriebenen Deutlichkeit übersah ich ihre Zutunlichkeit, die sich bei solchen Menschen stets erst dann befriedigt zeigt, wenn sie ihr Opfer auf die Niedrigkeit der eigenen Lebensform herabgezerrt haben. Ich fühlte die Feindschaft besonders eines nicht mehr jungen, sehr intelligenten Lithographen, der viel um Scholander war und dessen unterwürfige und schlaue Art, den Freund auszubeuten und ihm zugleich zu schmeicheln, mich empörte. Er gehörte zu jenen Menschen, bei denen ich auf den ersten Blick die Gewißheit hatte, den Feind meines Lebens vor mir zu sehen. Es gibt Wesen, die völlig das verkörpern, was die verneinenden und zerstörenden Elemente unseres Daseins sind, und unsere Instinkte lehnen sich gegen sie auf, oft noch ehe ein Wort gewechselt ist. Es gibt keinen Weg, kein Mittel der Versöhnung, und jeder Versuch zu einem Ausgleich ist unsauber.

Weit mehr zuwider als dieser Mann war mir jedoch das Mädchen, das ich ebensooft in seiner wie in Scholanders Gesellschaft gesehen hatte. Sie wurde von allen nur Jona genannt und war alles eher als schön, aber sehr klug und von jener giftigen, aufreizenden Lebendigkeit, die oft die Schrankenlosigkeit der Verderbnis dem Wesen reich veranlagter Mädchen zu geben vermag. Ihre Schlechtigkeit war von einer traurigen und kalten Großartigkeit, keine Regung ihres erstorbenen Gemüts durchzog mehr die leidenschaftslosen Gewitter ihrer Sinnlichkeit und die schillernden Fäulnisfarben ihres Verfalls. Mit ratlosem Entsetzen sah ich, als ich ihr zum erstenmal begegnete, in die klaren Abgründe ihrer unverhüllten Schande, und ich begriff, daß das Weib, sehenden Auges und wachen Sinns, mit Lachen die Stufen der Hölle hinabzusteigen vermag bis zu einer Tiefe, in die niemals ein Mann ohne Betäubung gelangen wird.

Im Grunde gehörte sie allen und niemandem, aber im besonderen Scholander und jenem Lithographen, der sie zu fesseln schien, weil ihre Instinkte ihm vertraut und eigentümlich waren, während sie an Scholander etwas wie ein geistiger Ehrgeiz, eine Sucht zur Fülle band, die sich oft bei herzlosen Frauen dem genial veranlagten Manne gegenüber findet. Sie verachtete ihn und war zugleich auf die Beachtung stolz, die er ihr entgegenbrachte. Ich übersah das Verhängnisvolle dieser dunklen Gemeinschaft zu dreien damals nur in einer erschrockenen Ahnung, zumal da Neigung und Abneigung mir die Klarheit der Einsicht trübten, aber später verstand ich die Verachtung und den Haß, die sich in den Seelen bilden mußten, gerade bei einer Rivalität, die sich auf beiden Seiten nicht in echter Leidenschaft, sondern hier in großmütigem Aberglauben, dort in berechnender Niedrigkeit entwickelte.

Es gibt Zustände in uns, bei denen sich Triebe unserer Natur gegen jede Warnung der Vernunft erheben, ihr aus der Tiefe kommender Drang verdunkelt zuweilen jede Wachsamkeit des Geistes, und wir erkennen weder den Ursprung noch die Gefährlichkeit unserer Handlungsweise. Ich sagte plötzlich laut:

»Kalauers Wirtsstube ist ein Schweinestall.«

Scholander, der mich sofort verstand, sah betroffen auf, sein Gefährte wandte sich mir langsam und lauernd zu, und während die hellen, trüben Augen unter den rötlichen Brauen mich musterten, antwortete er kalt und herausfordernd:

»Darum zieht sie dich an.«

Jona lachte aufreizend auf, aber sie sagte ausgleichend:

»Laß doch, ihn plagt die Moral. Das tut sie uns allen, bis wir geheilt sind.«

»Oder verwest«, sagte ich und machte mich auf eine Schlägerei gefaßt.

Scholander begriff, um was es ging. Er erhob sich laut grollend wie ein Bär:

»Ihr schweigt! Keiner sagt noch ein Wort, solange ich hier stehe.«

»So setz dich«, sagte der andere trocken.

Die vereinzelten Gäste sahen sich an ihren Tischen nach uns um, Kalauer schlich plump heran, sein Kopf hing herab, und die trüben Augen schauten von unten schräg auf uns. Scholander hatte niemanden angeredet, wandte sich aber den anderen zu und deckte mich mit seinem breiten Rücken, ohne zu wissen, daß er mit dieser Stellung Partei ergriff.

Jona erhob sich nachlässig.

»Das wird langweilig, fang deine Grillen allein mit deinem Jonathan, Alterchen.« Sie zog ihren Freund mit sich fort, in der vorsichtigen Entschiedenheit einer stets Berechnenden, die genau weiß, daß ihr aus einem Skandal nur Nachteile erwachsen können. Man folgte ihr, und die Gesellschaft trollte sich, mein Gegner weit eher gleichmütig als noch erbost. Es gab für ihn nichts mehr zu gewinnen, da das Mädchen zu ihm hielt. Er rief Scholander von der Tür aus ein ausgleichendes Abschiedswort zu. Mir kam erst nun der Zorn, mir war, als hätte ich unrecht getan und fände nun keinen Weg, es gutzumachen. Ich hörte von draußen her das verächtliche Lachen der Davongehenden, es wehte mit der Nachtluft zu uns herein und verklang mit den Schritten.

»Du verkommst«, sagte ich zu Scholander, »du wirfst dich fort. Dieses Weib ist eine Kloake.«

»Du bist ein Philister«, antwortete er böse.

»Wenn du alles philiströs nennst, was nicht schmutzig ist, so bin ich ein Philister.«

Wütend fuhr er auf, mäßigte aber seine Stimme:

»Willst du mir Moral predigen? Wieviel weißt du von der Welt, wieviel erkennst du von den Beziehungen eines fremden Gemüts zu den Dingen, die dir zuwider sind? Es kommt nur auf das an, was ich empfinde, nicht darauf, wieviel der Gegenstand wert ist, vor dem ich erlebe.«

»Auch ich spreche nur von dem, was ich empfinde. Wieviel ich weiß, ist mir gleichgültig, aber ich weiß, was ich verachte und hasse und was ich bewundere und liebe.«

»Scher dich zum Teufel, du Schwätzer!«

»Gut. Ich gehe. Leb wohl.«

Scholander sprang auf und ergriff mich am Arm:

»Was läufst du denn gleich davon, du Narr, wenn ich bescheiden meine Ansicht vortrage. Dazu werde ich doch wohl noch ein Recht haben?«

»Und ich?«

»Natürlich, du auch, wie zanksüchtig du bist. Komm, setz dich, wir sprechen. Ich halte dich, weil ich reden muß, ich komme um vor Traurigkeit, wenn ich mich nicht vor mir selbst rechtfertigen kann. Das können nur Schurken zu ihrer Zufriedenheit, wenn sie allein sind, ich nicht. Gleich, wenn du mich verlassen hast, denke ich, ich habe dir unrecht getan. Also hör mir zu. Nicht, daß ich mir erst glaubte, wenn ich dich überredet habe, ich habe gar nicht den Wunsch, mir zu glauben, aber ich erfahre erst, wie es um mich steht und wie ich denke, wenn der Widerspruch die Engel und Raubtiere in mir aus Kapellen und Höhlen treibt. Du verstehst mich, denn du lächelst. Ach, glaube doch, es ist eine eigentümliche Sache um das Böse in seiner Wirkung auf mich. Willst du von mir zugestanden haben, daß dieses Frauenzimmer ein schmutziges Luder ist? Nein, das willst du nicht. Es ist wahr, sie weckt das Böse, Niedrige in mir, die Verworfenheit, die Schande, und meine Begegnungen mit ihr sind meine Niederlagen. Ihr Wesen bedeutet jenes dunkle Element in der Männerwelt, über das die Menschheit wie in einem heimlichen Einvernehmen schweigt, ich will nicht entscheiden, ob mit Recht oder Unrecht, aber sicher ist, daß dieses Schweigen unter den Menschenseelen wütet wie ein Wolf in Schafskleidern unter einer Herde. Überall siehst du die Wunden dieses Schweigens in den Gesichtern der Frauen. Aber nun höre an, wie es um mich steht und was ich erlebt habe. Immer war es nach Tagen solcher Erniedrigungen, daß in mir wie nach einer Reinigung die Stimmen der Engel erwachten. Wenn der Körper sinkt, so steigt die Seele empor, das wißt ihr alle noch nicht, obgleich ihr es in anderer Form, zum Beispiel wie nach dem Tode, täglich behauptet. Aber es ist auch schon im Leben so. Wir werden in der Angst der Selbstverwahrung die Seele nicht erheben, am wenigsten zur Tat, denn im Wohlbefinden des Leibes vergißt sie ihre Flügel. Mit dem Bestand des Vergänglichen ist nur die Geburt vergänglicher Güter gesichert, die Seele aber hat eine nahe Beziehung zum Verfall des Leibes und erhebt ihre Schwingen oft nur nach dem Sturm der zusammenbrechenden Erdensicherheit oder in der Trauer, die über den Trümmern des Vergänglichen herrscht.«

Er schwieg und sah mich an. Seine Augen leuchteten, und ich kam wie immer, wenn er in echter Ergriffenheit sprach, rettungslos in den Bann seines geistigen Lebens. Ich sah ihm mit Angst und Liebe in die hellen Augen, die in der Wahlstatt seines Gesichts wie zwei Lichter im Moder brannten.

Er schien zu sich selbst zu sprechen, als er langsam fortfuhr:

»Wie vielen ist nicht aus ihrer Krankheit, ihrem Elend, ihrer Schmach ihr Gott erstanden! Sie haben ihn, solange sie gesund und sauber waren, weder gekannt noch gesucht. Oft denke ich an Christi Wort: ›Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen.‹ Du kennst es natürlich nicht, wie die meisten, es steht in der Bergpredigt. Gewiß, im Zusammenhang seiner Worte bedeutet es, jenem Bösen, das uns geschieht. Es ist eine Mahnung zur Duldsamkeit gegen andere. Aber wie die meisten Worte Christi hat es neben seinem praktischen Sinn noch einen heimlichen Wert des Zusammenhangs mit dem Menschlichen in seiner reinen Geistesgestalt. Wäre es gut auf der Erde, so sehnte sich niemand nach seinem Vater im Himmel, verstehst du den Anteil des Bösen am Weg der Seele? Ich glaube dies nicht etwa und lasse mich deshalb zuweilen los, sondern weil ich mich zuweilen fallenlassen muß, tröste ich mich mit diesem Glauben. Nun, rede du, auch du hast deine Gedanken.«

»Du hast vielleicht recht, mich bewegt, was du sagst, und doch muß es etwas in uns geben, das nicht vom Bösen berührt werden darf, das der ewige, unvermischbare Feind des Niedrigen ist; Gott läßt sich nicht mit dem Satan ein, um zu triumphieren.«

»Mag sein«, sagte Scholander mit ruhlosen Augen, »aber wie willst du dich retten?«

»Durch einen Kampf ohne Ende und, wenn es sein muß, ohne Besinnen durch den Tod. Nur in diesem Sinn wird er zur Pforte des Lichts.«

»Wie du sprichst. Bedenke, wir sind nur Menschen.«

»Nur? Weshalb nur? Wir sind Menschen! Es gibt nichts Größeres. Wir sind es nicht zu unserer Entschuldigung, sondern zu unserem ewigen Ruhm. Welch voreiliger Idealismus, etwas zu erstreben, das höher stehen soll als der Mensch. Erstrebenswert kann zuerst immer nur sein, den Menschen hoch zu stellen.«

Scholander sah in die Leere, dann sagte er ruhig und so einfach, wie nur ein aufrichtiges Herz uns sprechen lehrt:

»Du darfst nicht vergessen, ich bin nur berufen, aber nicht erwählt.«

Als ich in sein elendes Gesicht schaute, das zur Hälfte abgewandt war, überwand mich der Ausdruck einfältiger Traurigkeit darin zu einem Schweigen voller Achtung vor seinem unabwendbaren Schicksal. Ich fühlte die Aufrichtigkeit seiner Worte bis in die Grundfesten der Gewißheit, und ihre Demut versenkte meine Gedanken in die Dämmerwelt einer tröstenden Ahnung. Mir war, als müßte sich dieser Gesinnung das Reich der unberührbaren Helligkeit zuletzt dennoch öffnen und als wären diejenigen, die das Feuer des Kampfes in Wahrheit kennen, niemals fähig, die schimmernden Tore dieses Reichs zu schließen.

 

Meine immer wachsende Teilnahme am Wesen Scholanders und meine Neigung für ihn warfen meine Gedanken, mein Urteil und meine Schlüsse ruhlos hin und her. Er füllte mich völlig aus, und ich vermochte mich der Aufgabe nicht zu entziehen, mich ganz und aufrichtig mit ihm, seiner Beschaffenheit und seiner Anschauungswelt abzufinden. Aber ich besaß damals noch nicht die Kraft dazu, sein Bild vor mir ganz zu entfalten und es gerecht einzuschätzen. Heute weiß ich, daß ihm die höchste Befriedigung versagt war, weil seine Ideale und Forderungen niemals zu einem wirklichen Bestand seines eigenen, natürlichen Lebens wurden.

Die Bedrängnis in mir wuchs, und mein Leben ging unruhig und gequält dahin, ich fühlte mich bald angezogen, bald abgestoßen und konnte keinen dieser Zustände mit Überzeugtheit erdulden. Es ergab sich von selbst, daß ich einmal offen mit ihm über die Empfindungen redete, aber seine Antwort befriedigte weder ihn noch mich, denn er sprach immer schlecht und unsicher, wenn er sich vor eine Aufgabe der Überlegung gestellt sah, dagegen überzeugend und gut, wenn irgendein leidenschaftlicher Gefühlssturm die Schleusen seiner Brust öffnete. Meine Fragen quälten ihn, er beantwortete sie mürrisch oder frivol, und ich gewann den Eindruck, als erblickte er Geringschätzung oder Zweifel in ihnen.

»Denk gut von mir«, sagte er einmal mit versöhnlichem Lächeln, »und sei gewiß, ich werde es sein. Ich bin immer gehorsam jedem Anreiz, aber ich vermag keinem festgelegten Vorsatz nachzudenken oder -zuleben.«

Im Widerstreit unserer Gedanken entfuhr ihm einmal in Erregung ein Wort, das ich nicht vergessen habe und dessen Wahrheit Bedeutung für mich gewonnen hat. Ich mag ihm vorgeworfen haben, daß der Schluß, den er aus einer Tatsache zog, mich nicht zufriedenstellte, da antwortete er kurz und abweisend:

»Wer schaut und Gestalt sieht, dessen Gedanken sind etwas wert, mögen sie auch ohne diesen Zustand glücklicher Kraftverhältnisse wenig zu taugen scheinen. Wer aber schaut und nichts wird ihm Gestalt, dessen Gedanken sind schlecht, mögen sie auch um ihrer Schärfe willen eine Welt in Erstaunen setzen. Ich habe Gestalten gesehen, Freund, von deren Glanz und Hoheit ihr euch keine Vorstellung machen werdet, aber es war mir nicht gegeben zu bewirken, daß auch andere sie sehen. Das ist mein Verhängnis, denn ich war dazu berufen, so bin ich nun ein armer Umhergetriebener. Glaube nur nicht, ich wüßte nicht, was mir fehlt, daß ich es weiß, ist mein Stolz und zugleich die Quelle meiner Trauer, der Ursprung meiner Rastlosigkeit, meines Unfriedens und endlich meines Niedergangs. Ich verdiene, was mir geschieht, halte mich nicht für hochmütig.«

Im Verlauf des kommenden Tages bemerkte ich, daß das letzte Ereignis in Kalauers Wirtsstube einen Schatten in Scholanders Gemüt zurückgelassen hatte. Er konnte in erbittertes Grübeln sinken und kämpfte mürrisch, aber vergeblich, gegen eine Qual in seinem Herzen an, die er verachtete, aber nicht zu überwinden vermochte. Endlich brach sein Zorn los:

»Was kümmern dich die Dinge meines Lebens, daß du dich hineinmischst? Ist es etwa nun besser, daß sie mit diesem Lümmel durch jeden Morast steigt?«

»Wer?« fragte ich erstaunt, »wovon sprichst du?«

»Er fragt noch! Bin ich es gewesen, der sie davongejagt hat? Was schert mich das Urteil anderer über sie, mir bedeutet ihre Liebe etwas. Ist es etwa ihre Schuld, daß sie nicht tändeln und schmachten kann wie Gretchen und Annchen?«

»Du sprichst von ...«

»Dieser Schmutzfink schleift sie durch alle Pfützen seiner Niedrigkeit. Was liegt denn an mir! Ich kann Jona nicht verkommen sehen ...«

Ich schwieg in heißem Erschrecken. Einen Augenblick wallte es glühend in mir empor, und mein Wille schickte sich jählings zur unvernünftigen Kühnheit leidenschaftlicher Überredung an. Dann war mir, als bedürfe es nur eines Anstoßes, eines Aufblicks, um Scholander auf das Gegenteil seiner Betrachtung zu bringen, als müsse er selbst es sein, der mich und sich über seinen verderblichen Irrtum belehrte. Aber es legte sich eine unsichtbare Hand auf meine Lippen.

»Niemals«, sagte ich laut.

»Was denn, ›niemals?‹ Wer will denn etwas von dir?«

Ich kannte seinen Eigensinn, wenn ich auch damals noch nicht die rechte Vorstellung davon hatte, zu welchem Dämon er einem Weib gegenüber in den Jahren des Alterns werden kann. Die lange mißbrauchten Sinne erwachen zu Furien, und jedes Gegengewicht erstickt in der Angst, die Zeit der Genüsse möchte dahin sein, in dem Grauen vor der herannahenden Leere, in die kein Klang der Versöhnung dringt, weil die nie gefragten Geister der Brust, die retten könnten, ihre tröstende Stimme verloren haben.

»Weshalb schweigst du?« rief Scholander gereizt. »Du bist mir verhaßt in diesem Schweigen, verstehst du, widerwärtig bist du mir.«

»Ich kann dir nicht helfen.«

»Helfen? Wer bittet dich um Hilfe? Du bist ein Narr.«

»Ich habe Angst um dich, ich bin traurig, weil ich dich liebhabe.«

»Seit ich dich kenne, hat mich mein altes Glück verlassen, meine Geschicklichkeit, mein froher Mut. Du hast die Toten aus meiner Brust gezerrt, die Fackeln der Jugend, der alten Zeit, die lieben Gesichter, die längst gebettet waren, das Leben, das ich verloren habe. Helfen, sagst du? Du stößt mich in die Nacht, du, nur du!«

Ich war ratlos, aber wie hätte ich ihm verweigern können, daß er den dumpfen Zorn seiner Verzweiflung bei mir ausließ? Ich fühlte, daß er die andere Seite dieser Dinge wußte, und fürchtete, ihn nur noch ärger zu reizen, je mehr ich schwieg oder sprach, deshalb ging ich davon, aber am Abend trieb meine Unruhe mich zu Kalauer.

Ich kam mitten in das Getümmel hinein. Jona, die ich zuerst erblickte, stand in einem grellroten Kleid unter der Gasflamme mitten im Raum, hell beschienen im Dunst und Rauch des Lokals, und das senkrecht niederfallende Licht verlieh ihren Zügen eine harte graue Farbe und eine böse Schärfe, die durch den Ausdruck von Angst und Spannung noch erhöht wurde. Kalauers feuchte, heisere Stimme grölte und überschlug sich, er drängte ein paar Leute von Scholanders Tisch zurück, an dem jener dem Lithographen gegenüberstand, betrunken, sinnlos erregt und bebend wie ein gereiztes und gefesseltes Tier. Der Raum zwischen den beiden Männern war ein Abgrund. Die geduckte und abwartende Haltung seines Gegners war von unsagbarer Bosheit, sicher im Bewußtsein einer Hölle von Niedrigkeit, vorsichtig, berechnend und ohne erkennbare Erregtheit. Der Wirt sprach auf Scholander ein, mir schien, als suchte er den Streit zu schlichten, der offenbar, wie oft zuvor, zwischen den beiden ausgebrochen war, aber sein grobes Ungeschick mußte im Zorn ein Wort gewählt haben, das Scholander in Raserei brachte. Da alle durcheinanderriefen, verstand ich niemanden, aber nun plötzlich entstand für einen kurzen Augenblick eine Stille der Erstarrung; ein unbegreifliches Etwas, wie es böse Geschehnisse einzuleiten pflegt, hielt jeden Atem im Bann und entnervte alle Tatkraft. Ich sprang vor, stieß Kalauer zur Seite und schrie Scholanders Namen, aber noch im Sturz meiner Bewegung geschah es: Scholander war vorgetreten, hatte, vor Wut brüllend, den Gegner am Genick gepackt, und ich sah den schlanken grauen Menschen in einer Bewegung zur Seite sinken, als fiele er wie ein Betrunkener um eine Säule, die er umklammerte. Aber diese Wendung hatte zugleich eine widerliche Geschmeidigkeit, ich begriff den Sinn dieser Verschlingung, noch ehe ich recht erkannte, mit allen Sinnen zugleich, und wußte die Tat, als ich Scholander den Kopf heben sah und ihn, offenen Mundes, sinnlos sehnsüchtig wie ein Verdurstender, mit weit aufgerissenen leeren Augen an der Decke suchen sah.

Ein langgezogener, heller Aufschrei hinter mir zerriß den schaurigen Nebel unseres Zustandes, das war Jona. Der Lithograph stürzte gebückt an mir vorbei, einen Stuhl mit sich reißend, fallend, dann verschlang ihn der Ausgang, ohne daß er sich voll wieder aufgerichtet hatte. Scholander hatte beide Hände in den Rücken gestemmt, er drückte die Hüften vor, fiel mit Krachen auf die Knie, der Oberkörper bog sich vornüber, und dann sank er langsam zur Seite. Dadurch schob die eine Hand sich kraftlos vor, und ich sah einen roten Schleier darauf, feucht und verwischt, grauenerregend durch die Geringfügigkeit der Befleckung, das Wahrzeichen des Endes.

Als Scholander mich erkannte, rang er schon mit dem Tode, der Anfall von Wut, der seinen Körper aufgebäumt hatte, war in Flüchen und Geschrei verraucht. Das Messer seines Mörders war ihm durch den Rücken in die Lunge gedrungen und hatte das Herz verletzt, so daß seine Atemzüge und die Sekunden seines Bewußtseins gemessen waren.

»Es ist Wirklichkeit«, stammelte er mit einem lichtlosen Lächeln in mein Gesicht empor, »das bunte Märchen Leben liegt abseits, Bruder. Es ist Wirklichkeit geworden, es hat mich getroffen ... ich muß jetzt sterben. Hörst du ... nein, ihr könnt es nicht hören. Wie sonderbar wirklich ist mir zumut, so war es nie – ich muß sterben, wirklich ich – Bruder.«

Seine Augen sahen mich leer und fern an, voll grauenhaften Erstaunens. Aber dann füllten sie sich noch einmal mit der Wärme des Menschseins, mit Nähe und der holden Trübung des Lebens. Sein verscheidender Geist rang wie in wechselnden Wellen von Dasein und Tod, in der letzten Brandung, und er sagte:

»Ich habe es nicht vermocht – das eine – aber ich habe es geglaubt ... seid mir gnädig.«

Sein Beben teilte sich mir mit, und als ich seine Worte vernahm, erfüllte sich mir alles umher mit Helligkeit, meine Ergriffenheit verbannte Angst und Schmerzen, denn das letzte Wort des Sterbenden erschütterte mich wie noch kein Wort zuvor. Wie ein Lichtstrom brach die Antwort der Erlösung herein: »Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.« Ich begriff nicht, wie dies geschah, denn ich glaubte die Worte erschallen zu hören, eine heilige Ahnung berührte mich, daß die Liebe mir, über die wehenden Grenzen des Bewußtseins dahin, einen kurzen Ausblick in das Reich der Wandlung und Verklärung aufgetan hatte.

Durch Scholanders Körper ging ein furchtbares Erbeben, er warf den Kopf zur Seite, atmete viele Male mit keuchendem Stöhnen rasch hintereinander und starb.

Da es nun geschehen war, löste sich die Erstarrung meiner Brust, es waren nicht mehr die Höhen und Abgründe von Licht und Finsternis, zwischen denen ich gestaltlos mit dem Sterbenden geweilt hatte, es waren die Wirtsstube, die Stimmen und Körper der Menschen, es war ich selbst und das alte Leben. Aber aus ihm brach wie ein Raubtier die Herzenswut meines Schmerzes auf mich ein.

»Mein armer Bruder!« Ich hob seinen schweren, erblaßten Kopf, drückte ihn an meine Brust und küßte ihn auf den Mund, dessen Lippen noch eine letzte Wärme ausströmten, aber schon zu erstarren begannen; diesen irdischen Weg der wilden, traurigen Seele, der leidenschaftlichen Gedanken, der Flüche, des Heimwehs. Er war nicht verzerrt, und die einst schön geschwungenen Lippen gewannen in der bleichen Farbe des Todes ihre Unschuld zurück, Schutt und Blumen, ein verlassener Kampfplatz.

Wir hoben den Toten auf, um ihn in das anstoßende Gemach zu tragen. Die Stimmen der Menschen drangen wieder verständlich an mein Ohr. Man stritt über den Täter. »Ihm kann man nichts anhaben, ein jeder hat gesehen, daß er angegriffen worden ist.« Das Gastzimmer hatte sich mit Leuten gefüllt, man hatte zur Behörde geschickt. Ein alter Händler, den ich kannte, trat dicht herzu und sagte in der etwas lächerlichen Feierlichkeit der altmodischen Sprechweise, deren sich einfache Leute in Augenblicken der Ergriffenheit zu bedienen pflegen:

»Dieser Mann ist verschieden.«

Er schlug ein Kreuz und verbeugte sich, dann ergriff er mich an der Schulter, und als ich ihn ansah, sagte er zu mir:

»Trösten Sie sich. War dies Ihr Vater? Wir müssen zuletzt alle daran glauben, auch uns trifft es eines Tages.«

Wir legten Scholanders Körper auf eine Bank im Nebenzimmer, der Wirt verwehrte allen den Eintritt und drängte die Männer hinaus, die mit angegriffen hatten. Er selbst kam zurück und blieb, nachdem er die Tür geschlossen hatte, noch eine Weile bei mir stehen, schüttelte ratlos und angstvoll den Kopf, zuckte die Achseln und hob die Hände, indem er sie öffnete, als ließe er Vögel aus ihnen auffliegen. Nach einem scheuen Blick auf mich ging er hinaus.

Als ich eine Weile bei dem Toten gewartet und seine Augen geschlossen hatte, öffnete sich die Tür aufs neue, und ich erkannte die in ein Tuch gehüllte Gestalt von Scholanders schwesterlicher Freundin. Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, aus denen mir eine starre helle Nacht entgegenkam, und blieb stehen, als wartete sie. Da verstand ich und erhob mich sogleich, um ihr den Menschen ihres Lebens für die kurze Spanne Zeit zu überlassen, in der er ihr endlich allein gehörte.

Als ich wenige Tage nach diesen Ereignissen die Stadt verließ, war es Herbst geworden, und das weite, bunte Land öffnete sich meinen Blicken unter dem klaren Himmel. Ich lauschte wieder dem Klang meiner Schuhe auf dem beschienenen Boden der Erde, die mich noch trug, in der Scholander begraben lag. Die Vögel zogen dem Licht, dem Süden entgegen, wie in meinem Geist die Worte und Gedanken des Toten. Mir war, als führte meine Straße mich nicht von hier nach dort, nicht von einem Ort zum anderen, sondern von einem verlassenen Kampfplatz einem neuen entgegen. Unser irdisches Leben ist eine kurze Gelegenheit, Brüder, eine Morgenstunde.


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