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Zweites Kapitel
Penina

Wenn es mir nicht gelingen wollte, mir in den Regionen niedriger menschlicher Instinkte und im Kampf um die täglichen Bedürfnisse Geltung zu verschaffen, dachte ich oft an Holler, den ich damals nur aus unserer ersten Begegnung kannte. Er besaß jene Unauffälligkeit unter Durchschnittsmenschen, die ihm Sicherheit gab, er fiel niemandem auf, er hatte es leicht, sich einzufügen. Denn auf der Gasse aufzufallen heißt immer dasselbe, wie Entfremdung und Mißtrauen erregen, in den Bereichen des zänkischen Bewerbs um Vorteil und Gewinn, die nur der Stillung des Hungers und niedriger Begierden dienen, ist ein jeder als Feind der Menge verschrien, der sie überragt, und sei es auch nur durch Bescheidenheit oder Anstand. Vielleicht ist es der qualvollste Zwang, den das Leben im Alltag einem um sein Dasein ringenden Menschen auferlegen kann, daß er sich herabwürdigen und gemein machen muß, um zu bestehen. Wieviel leichter hat ein armselig gesinntes Wesen es, verständig und gefällig zu erscheinen, als ein Empfindender, seine Ansprüche und seine Gesinnung zu verleugnen. Oft dachte ich, wenn schon ein ungesichertes und kaum zu seinem Wert und Willen erwachtes Gemüt so bitterlich leidet, wie groß muß der Schmerz der guten und im vollen Bewußtsein erkennenden Menschen sein, nur darüber, daß sie auf dieser Erde leben. Eine ferne und erste Ahnung des Märtyrertums der Heiligen der Welt ergriff mich, und ich verstand, daß ihr körperliches Erleiden nur ein armes Sinnbild für die Martern ihrer Seele gewesen ist. Ich pries im Gegensatz zu ihnen die Helden glücklich, die im Willen Unerschütterlichen, deren große Seelen blind für den Wert ihrer Taten waren und deren wertvollste Tat ihr reiner Wille gewesen ist.

Aber der natürliche Glaube einer gesunden Jugend ist nicht zu überwinden, und obgleich sie ihr Urteil noch aus der Welt der Tatsachen und Erscheinungen nimmt und durch Tatsachen zu überzeugen, zu erheben und niederzubeugen ist, bleibt ihr doch der stärkere Glaube, stärker selbst als die Gewißheit der Erfahrenen. Zu Beginn unseres Lebens glauben wir an das Gute, obgleich wir nicht wissen, später gilt es zu glauben, trotzdem wir wissen, die Vollendung aber ist die Erkenntnis, die nichts als Zuversicht ist. Ihr ewiges Wort heißt: Es ist vollbracht. Nicht irgendwo draußen, in der Welt, an deren Einrichtungen ihr mäkelt, ihr Phantasten der bereitwilligen Anklage, ihr Pathetiker der Reinheit im unreinen Gemüt, sondern in uns selbst. Es ist vollbracht, heißt, ich bin bereit, denn ich glaube. Ihr wollt wissen, woran? Wenn ihr so fragt, werdet ihr niemals eine Antwort hören, denn diese Antwort zu wissen, das heißt, erwählt zu sein. Die Berufenen fragen, und die Erwählten antworten nicht.

Ich bin in meiner Jugend von Spott und Angst gequält worden, aber sie haben mich nicht zerstört. Ich wußte bald, daß man nichts Eigenes der immer nur einmal in der Welt vorhandenen eigenen Seele, nichts Besonderes der immer einsamen Wesenheit sagen oder tun darf, ohne sich, unter anderem, auch lächerlich zu machen. Aber meine Zuversicht wachte immer wieder unter meinen Zerknirschungen und Demütigungen auf wie eine Flamme aus einem Trümmerhaufen, und oft rief ich draußen, allein unter Bäumen, auf der Flucht: »Ich, ein zerlumpter Geselle von der Straße, weiß, daß das Feuer, das mich lächerlich macht, reiner in die Welt scheint als der matte Schimmer eurer Seelen, der euch vor Spott und Angst bewahrt. Niemand wird euch verlachen und niemand segnen.«

Von den menschlichen Gestalten, die mir in jenen unruhigen Tagen des Schwankens zwischen Selbstüberhebung und Erniedrigung begegnet sind, verbinde ich kaum eine zu engerer und trostreicherer Gemeinschaft mit dem Gut meiner Erinnerung als die Peninas, obgleich ihr Gesicht auftauchte und in den Wellen des Lebens wieder versank wie ein Sternbild am trüben Nachthimmel hinter treibenden Wolken. Ich glaube, das Trostreiche dieser Begegnung lag darin, daß trotz der Schmach ihres Daseins, weit größer als die meine, sie doch unter aller Finsternis das Menschenlicht eines fühlenden Herzens so rein bewahrt hatte, daß mir mein eigenes Elend leichter wurde und daß meine Hoffnung aufs neue ihre unversehrbare Kraft gewann.

Wie ich damals in der alten Hafenstadt, in der »Kluft«, an Penina und ihre Gefährten geraten bin, kann ich nicht mehr mit Sicherheit sagen, es war in einer jener leeren Nächte, die in Öde und Verlangen und endlosen unruhigen Gängen ohne Sinn und Ziel verstreichen können, und die jeder kennt, der an ratlosen Jugendjahren in der Fremde gelitten hat. Soll Einsamkeit unserer Jugend von Segen werden, so gehören Kraft und ein Ziel zu ihr, in planlosen Jahren der Entwicklung ist sie manchen unter den Besten zum Verhängnis geworden.

Kleine Penina, du Blume im Staub der Straße, ich werde dich nicht vergessen, heller Schmuck am Kleid meiner Seele. Willkommener Tag, an dem ich dich gefunden und verlassen habe, um dich nicht mehr zu verlieren. Du blühst im Garten meiner Erkenntnis fort, obgleich ich dich weder pflege noch auch nur deiner warte. Ja, es ist vorgekommen, daß ich dich für lange Zeit aus meinem Gedächtnis verloren habe an guten Tagen oder im gefährlichen Wohlstand, den vergängliche Dinge uns verschaffen können. Aber im kalten Wind, auf gefahrvollen und rauhen Wegen spüre ich deinen Duft wieder in meinem Gemüt, zu meiner Beruhigung, zu meinem Frieden. Es gibt Blumen der Seele, die nur gedeihen, blühen und duften, wenn der Wind und das Licht durch die Fetzen des zerrissenen Rocks dringen, sie verwelken unter Seide und Pelzen, und wenn gepflegte Hände ihrer warten, verdorren ihre Kelche.

Um solcher Blumen willen trieb es mich immer wieder in die Haltlosigkeit und in den Unfrieden der Wanderschaft hinaus. Im Ungenügen der Einsamkeit wohnt die hellste Hoffnung, dem einen klingt Gottes Stimme aus der Ruhe, dem anderen vernehmlicher aus dem Sturm, auch gibt es Menschen, die ihre innere Ruhe nur im äußeren Sturm gewinnen können. Vielen enthüllt sich der Lichtschein einer ihrer Lebenswahrheiten nach langem beschaulichem Versenken in den Sinn der Erscheinungen, aber anderen wird er jählings in Erschütterungen ihres ganzen Wesens deutlich, hier fügt sich ein Hindernis langsam einem sanften Lächeln, dort bricht ein Tränenstrom nieder und schwemmt die Trübungen vom verhüllten Grund fort, und je nach unserem Wesen lockt uns der milde Glanz oder der brennende Strom. Aber ist nicht immer Erkenntnis das letzte Ziel? Belehrt mich eines Besseren, wenn ihr es wißt. Mir erschien es, als ginge aller edle Kampf der Welt um Erkenntnis, weil in ihr die Kraft zum großen Opfer und die Gewähr der Eintracht ruhn.

Ich fand ein spätes trübes Straßenlicht und ging ihm nach, angelockt und zugleich von Unbehagen erfüllt. Ich war damals für Tagesstunden bei einem Gerber in Diensten, der mich, mehr aus Mitleid als aus einem rechten Bedürfnis, zeitweilig anstellte, um einmal etwas Ordnung in seine Bücher und Schreibereien zu bekommen. Auch mußte ich zuweilen seine Kunden besuchen, Gänge besorgen und Einkäufe machen. Ich war noch nicht zwanzig Jahre alt.

Jene Gesellschaft nun, die ich zur Nacht in der »Kluft« antraf, einer Spelunke dunkelster Art, hielt mich für lange gefangen, und ihre Interessen füllten mein Leben aus. Äußerlich mag ich mich wenig von den Gesellen unterschieden haben, unter die ich geriet, ich hatte zwar noch etwas Geld, aber mein Gewand war armselig genug. Ich wurde auf jene skrupellose Art aufgenommen, die Leuten eigentümlich ist, die genau wissen, daß nicht leicht einer noch größerer Nachsicht bedarf als sie selbst. Penina saß unter ihnen, sie trug eine brennendrote Kattunbluse, ein farbloses Kopftuch über hellem Haar, und ihre merkwürdigen Augen waren grau und standen ein wenig schräg. Ihr großer Mund, mit seinem leidenden Ausdruck von Gier und Trauer, war ohne irgendeinen Schwung der Lippen, breit und gerade, wie mit einem derben Pinselstrich gemalt, und beinahe farblos in das schmale Kinn gesetzt. Ihr Gesicht fesselte unmittelbar, wie ihr ganzes Wesen, die Sinne, und doch lag eine verwüstete Hoheit in seiner schmerzlichen Süße, irgendein ferner heller Himmel spiegelte sich darin.

Sie saß, fast lehnte sie, mit einer unverkennbaren Neigung der Hingabe neben einem schlanken Burschen, von dem ich kein Auge zu wenden vermochte, obgleich seine höhnische Geringschätzung mich abwies und er mir schon nach ganz kurzer Zeit unverhohlen seine Verachtung zeigte. Aber sein Gesicht war so voll bösen, harten Lebens, so düster, schön und keck zugleich, daß er mir bald wie ein Verbrecher, bald wie ein junger Herrscher vorkam, der hier seine Würde in Verfall und Erniedrigung preisgab. Er hieß Kubasch.

Viel Genaues ließ sich für mich nicht erkennen, mit wem ich eigentlich in diesem Kreis zu tun hatte, aber eines war mir rasch klargeworden, diese machten sich das Leben leicht. Es ging unter ihnen, obgleich ich nur durchwegs junge Leute sah, in der trotzigen Überlegenheit früher Erfahrung zu, sie wahrten Haltung mit frecher Sicherheit, ihre Verschwiegenheit war schlau und bewußt, ihr Laster gleichmütig, ihre Verwegenheit voll Verachtung gegen die Rechte der bürgerlichen Gesellschaft, die sie haßten. Denn die Gasse stählt und reift frühzeitig, ihre Erziehung verwöhnt keinen, und in ihren trüben Wellen gibt es geübtere Schwimmer als im lauen Strom der gesicherten Lebensverhältnisse. Manch einer dieser verlotterten Gesellen hat sich in seiner Jugend tatkräftiger, kühner und lebensvoller gezeigt als viele, die über der Armut ihrer nützlichen Vorsichten niemals zu Männern geworden sind, die zwar nicht zugrunde gehen, aber auch nicht aus eigener Kraft bestehen.

Nach ein paar Tagen kam Kubasch zu mir, als ich abseits saß.

»Was willst du hier bei uns?« fragte er.

»Ich weiß es nicht.«

»So siehst du aus. Du willst Penina.«

Ich erschrak furchtbar, aber Kubasch war von einer unerschütterlichen Gelassenheit. Er lächelte geringschätzig und sah mich neugierig an.

»Ich will sie nicht«, sagte ich.

»Du willst sie doch. Du kannst sie haben, aber biete ihr kein Geld, sie ist empfindlich. Du kannst es mir geben.«

Ich vermochte meine Empfindungen nicht zu ordnen, sie bestürmten mich wie Jagdhunde ein Wild. Diese kalten Augen durchschauten meine geheimsten Regungen, die ich mir selbst nicht einzugestehen gewagt hatte, ihr schnöder Mißbrauch spiegelte sich in ihnen und ihre schmutzige Entweihung. Zugleich drohten diese Augen, von nichts beseelt als von dem Wunsch, meine Zustimmung zu hören. Diese Forderung war die mächtigste im Augenblick, ich fühlte mich von ihr angefallen und erwehrte mich ihrer, als ich sagte:

»Penina liebt dich.« Und jählings überwältigt von allem, was meine Augen in den letzten Tagen mit heißer Bewunderung, mit Erbarmen und Zorn gesehen hatten, fuhr ich fort: »Sie ist dir ergeben von ganzem Herzen, ach, aus tiefster Seele! Wenn du sprichst, zittert sie vor Aufmerksamkeit, wenn du fortgehst, erstirbt sie, wenn du kommst, atmet sie auf, und das Leben kommt zu ihr zurück. Sie ist dein Schatten, ihre Liebe hüllt dich ein, kein Gebet ist inbrünstiger. Einmal schlugst du sie, sie erbebte vor Ergriffenheit, weil sie in deiner Rauheit nichts sah als deine Beachtung – und jetzt – du sagst zu mir – «

Kubasch betrachtete mich neugierig. Keine Befangenheit bewegte sein bleiches, böses Gesicht, kaum eine spöttische Herbeilassung. Dieser Mensch war wahrhaft und von Geburt böse, ohne Eitelkeit, ohne Reue. Er war es aus innerstem Beruf, böse, nur um des Bösen willen, nicht aus Gram oder Rache noch aus Enttäuschung oder Erbitterung, er gehorchte nur seinem eigensten Wesen, und in ihm war er einfach und stark. Ich begriff Peninas Hingabe in einem Schauer von Lebensangst, wie nur die Jugend sie kennt, der die Elemente des Daseins noch vom guten Willen einer heimlichen Gerechtigkeit abhängig zu sein scheinen. Unter diesen Augen erfaßte ich zum erstenmal das Wesen des Bösen, das uns Menschen in seinem Ursprung und Sinn für alle Ewigkeit ein Geheimnis bleiben wird, vom täglichen Tand der Erscheinungen an bis hinauf in die Mysterien der Religion.

Kubasch besann sich.

»Wenn es nicht so wäre, wie du sagst, könnte ich sie dir doch nicht anbieten, du Narr. Glaubst du übrigens, so etwas sei ihr neu? Du kannst nachträglich bezahlen. Also?«

Er war, nach dem, was ich gesagt hatte, meiner Gegenleistung sicher, denn die Bösen erkennen weit klarer die Echtheit oder Unechtheit der Empfindenden, als die Fühlenden je wagen würden, die Abgründe des Bösen in ihrer ganzen Tiefe auch nur zu ermessen.

Da ich schwieg, erhob Kubasch sich unvermittelt und ohne Wort des Abschlusses. Ich sah, als ich die Schankstube verließ, wie sein schönes, hartes Gesicht mit den scharfen Wangenfurchen sich beschäftigend im Schein des kahlen Gaslichts über ein Stück Papier beugte, auf dem er kritzelte. Penina war nicht da, ich traf sie im dunklen Torweg am Ausgang.

»Komm mit mir«, sagte ich, »nur für einen Augenblick.«

»Ist Kubasch drinnen?« fragte sie mit ihrer Altstimme.

Sie kam mir kleiner vor als sonst, ein Schein vom Straßenlicht lag auf den wehmütigen Kinderschultern, und sie schien in ihrem elenden Kleid, das die Formen ihres Körpers aufreizend deutlich machte, zu frieren. Es war auch schon Herbst geworden, und im Wind auf der Straße trieben Laub und Papierfetzen in der Dämmerung.

»Er wird auch nachher noch da sein. Ich bitte dich, komm, ich bitte dich.«

Sie ging zögernd mit, ohne Anteilnahme. Bei einer Laterne blieb sie stehen und sah fragend zu mir auf. Ich raffte mich gewaltsam zusammen:

»Penina, Penina, kleine, arme – dieser Kubasch ...«

»Schweig!«

Ihr Wort schlug und traf mich wie eine Hand aus der dunklen Luft. Ich Tor, der ich der Liebe Mitleid zu bieten wagte und ihrem Gegenstand Verachtung. Ich brachte kein Wort mehr hervor, kein armes und kein reiches, ich stand erschüttert und hilflos im Straßenwind und dachte keine Gedanken. Nur ein Bewußtsein peinigte mich bis zur Marter: Ich werde es nicht bewältigen, werde es nie bezwingen, das Leben.

Penina sah mich prüfend an, in einer fast lauernden Traurigkeit, und plötzlich, als habe sie längst Verschollenes in meinen Zügen entdeckt, wandte sie das Gesicht, warf, indem sie meine Hand von ihrer Schulter schüttelte, die Stirn gegen den eisernen Laternenpfahl und weinte. Sie schützte ihr Gesicht nicht mit den Händen, sie weinte, wie es aus dunklen Wolken auf den Erdboden niederbricht.

»So ist es nun«, sagte sie langsam, als sie sich gefaßt hatte. »Komm du nicht mehr zu uns, hörst du? Dein Weg gehe ins Helle.«

Sie lief fort und entschwand meinen Blicken im dunklen Rachen des alten Haustors, über dem eine kleine, rötlich glänzende Lampe über einem Wirtshausschild brannte. Ich habe sie nicht mehr wiedergesehen.

Aber während wir uns viel auf den äußerlichen Wohlstand unserer Rechtlichkeit zugute tun, hat vielleicht ein ewiges Weltgewissen sein Erlösungswort des Erbarmens über Penina gesprochen, deren brennende Träne um den verlorenen Himmel ihrer Reinheit alle Schuld aus dem Kleid ihrer Seele gewaschen hat.

Erst viel später in meinem Leben, als der Kampf der Gedanken um das eine, das große Wort Erlösung in mir begann, trat wieder Penina zu mir und hielt ihre Träne wie einen hellen Schein in die Finsternis meiner Zweifel.


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