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In der Villa Brennus war die Tafel festlich gedeckt, zwar nur für zwei Personen, aber auch dies konnte als festliches Ereignis gelten, denn jahrelang hatte der Besitzer des reizenden Anwesens allein bei Tische gesessen. Karl Brennus war aus München plötzlich angekommen und war von seinem Pflegevater freudig aufgenommen worden.

Brennus und sein Pflegesohn hatten jetzt an der Tafel Platz genommen und saßen einander gegenüber.

»Ich muß es einmal aussprechen,« sagte der Alte, »es ist Dir zu gut gegangen, mein Junge! Du hattest Dich immerhin eines schweren Vergehens schuldig gemacht – gegen Deine Familie ebenso, wie gegen das Gesetz. Wenn man jene wenige Stunden der Todesangst an jenem Abend, da ich Dich fand, abrechnet, so bist Du ohne Strafe, ohne Buße davongekommen. Aber ich hoffe, das wird sich weiter an mir und an Dir nicht rächen. Du hast jenen Fehltritt nicht gebüßt, aber ich glaube. Du hast ihn dennoch wirklich überwunden, wärest nicht fähig, jemals einen ähnlichen zu begehen. Für bessere Naturen, wie die Deine, kann ein glückliches Ausnahmsschicksal zu einer hohen Verpflichtung werden, welche sicherer läutert als Strafe und Buße.«

Mit tiefer Bewegung hatte Karl zugehört; jetzt stimmte er freudig und begeistert bei: »Ja, das sagte ich mir auch – täglich! Mir ist's zu gut gegangen! Aber ich habe mir's gelobt, ich will's nachträglich verdienen! Ich möchte mir eines Tages sagen können: zu viel des Guten war es nicht! – Du bist es wert geworden.«

»Lange zu, Karl,« sagte Brennus.

Der junge Mann aß mit jugendlichem Appetit, indes der Alte sich bedächtig die feinsten Bissen auswählte.

»Ich selbst,« fuhr der letztere fort, »habe ja wie ein romantischer Tor gehandelt. Als ich damals im Tiergarten den Schuß hörte, meinen Wagen verließ und hinzueilend Dich fand, da war ich im ersten Augenblick einer Ohnmacht nahe. Der Anblick überwältigte mich beinahe; er erinnerte mich an das furchtbarste Unglück meines Lebens. Aber schon meine nächste Eingebung war: »Du willst den jungen Mann retten um jeden Preis!« So habe ich's gemacht, und heute hoffe ich, es ist vollkommen geglückt. Du hattest aus bloßem Leichtsinn gefehlt, wie so viele Deines Alters, und in diesem Falle war es ein Glück, daß Du der vollen verdienten Strafe entrückt wurdest – sie hätte Dich vielleicht zermalmt!«

Da trat der alte Diener mit betroffener Miene ein und meldete, zwei fremde Herren wären hier und wünschten Herrn Karl Hilmar zu sprechen.

Karl erblaßte. Auch über des Alten Gesicht zog es wie eine schwere Wolke; aber sein Auge suchte doch den gesenkten Blick Karls, als wollte er den erschreckten jungen Mann ermutigen. Nur mühsam erhob sich Karl und begab sich in das Nebenzimmer, in welchem man ihn erwartete.

»Sie sind Herr Karl Hilmar,« trat ihm einer der beiden entgegen, eine militärische Erscheinung von guter Haltung. »Ich bin der Polizeileutnant des Reviers – ich wollte kein Aufsehen erregen und kam deshalb in Zivil. Nehmen Sie, bitte, von diesem Haftbefehl Kenntnis, und machen Sie sich fertig, uns zu folgen. Ich hoffe, daß Sie mir meine Pflicht nicht erschweren werden, mache Sie aber darauf aufmerksam, daß ich nicht ohne ausreichende Begleitung kam.«

Karl warf einen Blick auf das in rotem Umschlage befindliche Aktenstück; er taumelte nur eine Sekunde zurück, so daß der zweite der Herren, offenbar ein Subalternbeamter, eine Bewegung machte, als wolle er ihm zu Hilfe kommen. Nun richtete er sich fest auf, er schien mit sich im klaren zu sein.

»Wollen Sie nur gestatten, daß ich Hut und Ueberrock nehme,« sagte er mit bleichen Lippen, aber doch bestimmten Tones; »wir können dann gleich aus diesem Zimmer durch den Garten gehen.«

Der Leutnant verneigte sich leicht, und Karl schritt an ihm vorüber, in das dritte in gleicher Flucht belegene Gemach – in jenes, das der Erinnerung an den Sohn des alten Brennus gewidmet war.

Der zarte Sinn des feinfühligen alten Herrn hatte sich hier in einem kleinen Zuge betätigt: von dem Bilde Karl Brennus' war der Trauerflor entfernt – Karl Hilmars Pflegevater hatte keinen Sohn mehr zu betrauern.

Gerade unter dem Bildnis befand sich, wie Karl wußte, jenes kleine Tischchen, auf dem der Pistolenkasten stand ... Entschlossen schritt er darauf zu. Noch war es Zeit, ein Ende zu machen, der Schande zu entgehen.

Brennus hatte an der halb offenen Tür des Speisezimmers alles gehört. Die Sache war allzu klar: Karl wurde wegen des begangenen Diebstahls verhaftet und zur Rechenschaft gezogen. Aber er wußte auch genau, daß Karl in jenem Nebenzimmer weder Hut noch Ueberzieher verwahrte. Eine unheimliche Ahnung bemächtigte sich seiner. Mit drei Schritten war er an den Beamten vorüber und an der Tür, die zu dem Zimmer seines verstorbenen Sohnes führte. Aber diese Tür war verschlossen.

»Karl! Karl!« rief er angstvoll. Keine Antwort erfolgte.

Der Polizeileutnant war beunruhigt herangetreten; beide Männer rüttelten an der Tür – das Schloß gab nicht nach – drinnen blieb alles still.

»Ich weiß einen Ausweg,« rief jetzt Brennus. Mit der Behendigkeit eines Jünglings war er hinaus. Er hatte richtig vermutet: Karl hatte die zweite, in den Garten führende Tür nicht verschlossen. Sie war nur eingeklinkt, und im nächsten Augenblick entriß Brennus dem jungen Mann die Pistole, die dieser eben geladen hatte, und warf sie in weitem Bogen nach dem Garten hinaus.

»Du darfst nicht,« flüsterte er mit furchtbarem, eindringlichem Blick. »Solch eine Kugel ist keine Sühne! Trage wie ein Mann die Folgen! Büße! Sühne!«

Mit entschiedener Gebärde erfaßte er Karls Arm, schloß die Verbindungstür auf und führte ihn dem Polizeileutnant entgegen.

*

In der Nacht, die diesem so heiter begonnenen Tage folgte, litt Karl in dem Untersuchungsgefängnis alle Qualen der Hölle. Zu plötzlich, zu schrecklich war das rächende Verhängnis über ihn hereingebrochen. Sein Onkel mußte ihn angezeigt haben – wer sonst?

Des gemeinen Diebstahls angeklagt, überwiesen – deshalb abgestraft – damit war sein ganzes Leben zertrümmert, seine Laufbahn unmöglich geworden. Die Mauern dieser Gefängniszelle trennten ihn von allem, was er gehofft, was er geliebt, was ihm das Leben schön und wert gemacht hatte.

Nein, das war nicht zu ertragen, das konnte er nicht überleben! Aber seine Vernehmung wollte er abwarten, er wollte erfahren, warum diejenigen, die ihn einst liebten, so unbarmherzig an ihm gehandelt hatten. –

Am folgenden Morgen wurde er vor dem Untersuchungsrichter geführt, und man wollte eben in das Verhör eintreten, als dem Richter jene Notiz des vernehmenden Kriminalbeamten in die Augen fiel, nach welcher Karl Hilmar tot sein sollte.

»Ich will doch hoffen,« sagte der Richter zu seinem Schreiber, »daß wir den Rechten haben!«

»Davon können sich der Herr Rat leicht durch eine Konfrontation überzeugen: der Bestohlene sitzt im Zeugenzimmer.«

Und man rief den alten Hilmar herein.

Karl sprang auf, wie vom Blitz getroffen. Einen einzigen kurzen Augenblick lang hatte er sein Vergehen vergessen; die alte Liebe siegte – er machte eine Bewegung, als wolle er dem Alten um den Hals fallen.

»Nun,« meinte der Richter befriedigt, »die beiden scheinen sich zu kennen!«

Plötzlich aber kam es dem jungen Manne ins Bewußtsein, daß sein Onkel ihn denunziert haben mußte. Bleich und regungslos blieb er stehen.

Dem alten Manne stürzten die Tränen aus den Augen. Den Totgeglaubten so plötzlich vor sich zu sehen, schon das hätte genügt, ihn zu erschüttern. Und nun gar an dieser Stelle! Der arme Junge hatte wohl leichtsinnigerweise irgend etwas angestellt, oder war doch wohl das Opfer einer Verkettung unglücklicher Umstände geworden. Denn sein Karl, der Karl, den er herangebildet hatte, der konnte nicht ernstlich von dem Pfade der Ehre abweichen.

»Armer Junge,« rief er, an allen Gliedern zitternd, »was haben sie gegen Dich angezettelt? Sie haben Dich doch nicht etwa abermals im Verdacht ...

Der Untersuchungsrichter unterbrach ihn.

»Sie sollen hier der Wahrheit gemäß bekunden, ob dieser Mann identisch ist mit jenem, der Sie bestohlen hat!«

»Aber ich bin ja gar nicht bestohlen worden,« rief der alte Herr entrüstet, »und am wenigsten von meinem Pflegesohn Karl Hilmar! Ich habe diese Erklärung schon einmal abgegeben; nur glaubte ich damals, meinen Pflegesohn nicht lebend wiederzusehen.«

Kopfschüttelnd sah der Richter bald den einen, bald den andern, bald wieder seine Akten an.

»Ist denn nicht bei Ihnen gestohlen worden?« fragte er Herrn Hilmar.

»Nein,« wiederholte Hilmar, und einen Augenblick zögernd, setzte er hinzu: »Mir hat allerdings einmal eine nicht unbedeutende Summe gefehlt: aber fast in demselben Augenblick, da ich sie vermißte, wurde sie mir vollkommen unberührt wieder erstattet.«

»Nun, das ist doch wohl durch diesen Karl Hilmar geschehen!« forschte der Beamte, dem eine Ahnung von der Sachlage zu kommen schien.

»Gott bewahre!« beteuerte Herr Hilmar. »Meinen Sohn mußte ich damals für tot halten! Er steht in gar keiner Beziehung zu der Angelegenheit.«

»So wollen Sie also niemand anders beschuldigen?«

»Ich denke nicht daran! Ich beschuldige niemand! Ich habe ja auch gar keine Anzeige erstattet, weil ich tatsächlich keinerlei Grund dazu habe, jener Person, die mich einen Augenblick beunruhigte, ernstliche Unannehmlichkeiten zu bereiten. Vor allem aber steht mein Pflegesohn hier gänzlich außer Frage!«

»Aber diese Denunziation bezeichnet ihn doch ganz deutlich. Sehen Sie selbst!«

Und der Richter zeigte dem alten Herrn ein Schriftstück, das von der Hand seines Kommis Waldenburg herrührte; der kleine rachsüchtige Nebenbuhler Karls und Armins hatte offenbar von dem Inhalte jener Depesche Kenntnis erhalten und durch eine erneute Anzeige die Verhaftung Karls herbeigeführt.

Mit starrem Erstaunen las Herr Hilmar die anonyme Anzeige; er konnte sich die Sache nicht zusammenreimen. Nur soviel war ihm klar, daß hier eine schändliche Niederträchtigkeit begangen worden war ...

Wenige Minuten später verließen die beiden Hilmar gemeinsam das Verhörzimmer: Karl war auf der Stelle freigelassen worden.

Nur mühsam beherrschte sich der junge Mann, bis man das Moabiter Kriminalgericht verlassen hatte. Dann aber fiel er dem alten Herrn in tiefster Bewegung um den Hals.

»Vater,« rief er, »Vater – wie soll ich Dir danken!«

Verwundert, betreten, mit starrem Blick sah ihn der Alte an. Wofür dankte ihm Karl? Daß er, Hilmar, die Wahrheit gesagt hatte? Oder war es etwa nicht die Wahrheit ...

Er wandte kein Auge von ihm, als er jetzt anhub: »Pauline hatte mich bestohlen – in einem Augenblick der Verblendung!«

»Pauline?« schrie Karl entsetzt.

»Ja, aber sie hat das Geld nicht angerührt, sondern mir den vollen Betrag erstattet, als ich ihn eben vermißte.«

Dem jungen Manne fiel es wie Schuppen von den Augen. Das war also die Erklärung: »Pauline!« Aber die heutige Nacht war nicht ohne tiefen, läuternden Eindruck auf ihn geblieben. Nein – auf einer Schuldlosen sollte seinetwegen kein Makel haften – nimmermehr? Und er raffte sich zusammen.

»Vater,« begann er, tief Atem schöpfend, »Vater Pauline ist es nicht gewesen!«

»Pauline nicht?« fragte der Alte mit erstauntem Blick.

» Ich, Vater – ich war es!« stieß Karl hervor. »Und wenn jenes arme Mädchen freiwillig meine Schuld auf sich nahm, so – weiß ich nicht, womit ich das verdient habe!«

Herr Hilmar war ganz betroffen stehen geblieben.

»Du – wirklich Du?« keuchte er: »das ist erbärmlich!« Und er ließ seinen Pflegesohn mitten auf der Straße stehen und schritt davon.

Karl sah ihm nach mit tränenfeuchten Augen. Der alte Mann verachtete ihn, verließ ihn – er, der bis heute an ihn geglaubt hatte!

So war doch noch ein furchtbares, entsetzliches Gericht über ihn ergangen.

*

Im Hilmarschen Hause war man mit den letzten Vorbereitungen zur Hochzeit des jungen Paares beschäftigt. Trotzdem wollte die rechte Feststimmung nicht aufkommen. Allerdings, Josepha und ihre Mutter waren ahnungslos heiter und glücklich, denn sie hatten auch nicht die leiseste Vorstellung von den Sorgen und Kämpfen, welche auf dem Herrn des Hauses und auch auf Armin Bode, dem Bräutigam, lagen. Die beiden Frauen wußten nichts von Karls Diebstahl und von den anderen Vorfällen, die sich an sein Verschwinden knüpften. Josepha war die glücklichste Braut, die sich denken ließ. Vorherrschend ernst geartet, wie sie war, nahm sie auch jetzt keinen Anstoß an der ernsten Stimmung ihres Bräutigams, er gefiel ihr so wie er war. Frau Hilmar selbst war niemals eine feine Beobachterin gewesen, und wenn die Stirne ihres Mannes jetzt oft umwölkt war, wenn Armin manchmal nicht ganz so fröhlich und sorglos schien, wie es einem glücklichen Bräutigam zukam, so meinte sie einfach: »Es sind Geschäftssorgen; die Geschäfte gehen schlecht, und meinem Manne fällt durch die Verheiratung Josephas eine bedeutende Last zu.«

Armin Bode bemühte sich, so viel er konnte, die schwere Last, die auf seiner Seele ruhte, zu verbergen. Er hatte das dunkle Vorgefühl, daß ein schweres Unwetter im Anzuge war und sich entladen mußte. Karl Hilmar lebte und würde eines Tages auftauchen, das war ja außer Zweifel für ihn, wenn er alle die vorhergehenden Symptome in inneren Zusammenhang brachte.

Und eines Vormittags kam der erste Blitzschlag, der die Entladung des Gewitters ankündigte.

Ein Telegramm war eingetroffen. – Das war nichts Seltenes. Herr Hilmar war augenblicklich nicht anwesend, und Bode, der schon als Chef betrachtet wurde, hatte den Auftrag, in diesem Falle Telegramme, Eilbriefe usw. die einliefen, zu öffnen. Das Telegramm war anonym und lautete: »Karl Hilmar wird in den nächsten Tagen erscheinen. Es ist wohl besser für Sie, wenn Sie auf dieses Ereignis vorbereitet sind.«

Nun, vorbereitend hatte die Depesche freilich gewirkt, wenn auch ganz und gar nicht in dem Sinne, in welchem die Absenderin derselben, Pauline, dies gewünscht hatte. Im Gegenteil, die drohende Wolke über dem Hause Hilmar schien sich noch zu verdichten. Immerhin hatte die neuerliche Vorladung, die gestern dem alten Hilmar zugestellt wurde, ihn nicht mehr so überrascht, wie jene erste. Es konnte sich wieder nur um Karl handeln.

Armins Ahnung aber wurde durch das Telegramm zu vollständiger Gewißheit. Ja, es hatte so kommen müssen. Erst das Verschwinden des Sterbenden – dann der Fremde, der nach dem Türkisenringe fragte – dann die anonyme Geldsendung – jetzt das Telegramm, und morgen würde Karl Hilmar selbst erscheinen!

Als sein Chef zurückkehrte, war Armin Bode mit sich klar geworden.

»Ich trete selbstredend zurück,« sagte er, »wenn Herr Hilmar sich durch mich geschädigt glaubt. Mein Verschulden war klein, aber ich will es büßen, wenn auch die Strafe außer Verhältnis sein dürfte zu dem Maße meiner Schuld.«

»Warten wir es ab,« sagte Hilmar.

Er verschwieg die Scene bei Gericht; dagegen schrieb er einige Worte an Pauline; sie mußte ja Karls Adresse wissen. Sie möge veranlassen, daß Karl ihn, den alten Hilmar, trotz des Vorgefallenen besuche. Er sagte sich: Frau, Tochter und der zukünftige Schwiegersohn mußten sich doch mit der Tatsache, daß Karl lebe, abfinden. Karl müßte Josepha freigeben und Armin brüderlich die Hand reichen. Die Diebstahlsgeschichte sollte mit dem Schleier der Vergessenheit bedeckt werden.

Es waren schwere, drückende Tage, die unmittelbar auf die Begegnung bei Gericht folgten.

»Vielleicht kommt er gar nicht,« sagte Hilmar zu Armin. Dieser aber zweifelte nicht, daß Karl sich einfinden würde.

Und er kam. Es war am Vormittag eines der nächsten Tage, als ein junger, bärtiger Mann, den die Bediensteten des Geschäfts nicht gleich erkannten, mit der Miene eines zum Hause Gehörigen das Geschäftslokal durchschritt und in das Comptoir eintrat.

Herr Hilmar und Armin Bode saßen dort und warteten auf ihn in fieberhafter Unruhe.

Der alte Mann erhob sich und öffnete ihm seine Arme. »Da bist Du ja!« rief er ihm entgegen.

Er hatte sich die Sache inzwischen so zurechtgelegt, daß Pauline die Hauptschuldige blieb. Sein Karl, den er selbst erzogen, konnte es doch nicht sein. Er wollte nur das arme Mädchen schonen.

»Onkel! Vater!«« stammelte Karl. »Du hassest mich nicht? Wie ist das möglich?«

Während er sich mit Schmach und Schande bedeckt glaubte, hatte ein Schutzgeist für ihn gewaltet, jeden Verdacht von ihm abgelenkt, den entstandenen Schaden gedeckt. »Hier ist das Geld aus München noch unberührt,« sagte der Alte, das Originalkuvert aus seinem Pulte hervorholend. »Hier, wenn Du der Absender bist, so steht es zu Deiner Verfügung. Der Schaden den ich erlitten habe, ist wirklich gedeckt.«

Karl stand eine Weile, suchte sich zu fassen, drückte die Hände vor die Augen, dann rief er: »Das Geld gehört Paulinen, mein Wort darauf. Ich selbst will es ihr bringen. Und Dir, Onkel, alles erklären, bis es mir selbst ganz klar wird. Das Schicksal hat wunderbar mit uns gespielt. Ich bin ein Begnadeter und muß lange leben, um das alles zu verdienen, was der Himmel mir ohne mein Verdienst zugewendet hat. Die Folgen meines frevelhaften Leichtsinns sind gut gemacht. Aber ich muß mich dennoch dessen anklagen, ich war ein Verbrecher, Onkel; ich will's nicht leugnen, aber ich will's gut machen.«

»Und Sie,« wandte er sich jetzt zu Armin, dessen Augen aufleuchteten, »auch Sie haben ein Verbrechen begangen. Sie sind Armin Bode, nicht wahr? Sie haben mich moralisch gemordet, denn Sie haben meinen Platz eingenommen; Sie haben mich für tot ausgegeben, während ich noch lebte.«

Mit mannhafter Fassung hörte Armin den schweren Vorwurf an.

»Ich habe Sie für tot gehalten, ich glaubte, Sie sterben zu sehen. Es war ein Irrtum, aber kein Verbrechen. Aber wie ich Herrn Hilmar bereits früher erklärte, ich will weichen und entsagen, wenn Sie es von mir verlangen.«

»Regt Euch nicht auf, Kinder,« wandte sich Hilmar beschwichtigend zu den beiden. »Armin will und kann ich nicht mehr entbehren, er ist mein zweites Ich geworden; ich bin alt und möchte das Geschäft ohne seine Hilfe gar nicht mehr fortführen.«

»Und ich, lieber Onkel,« versetzte Karl, »ich könnte nicht mehr Dein Gehilfe werden. Das liegt hinter mir wie ein Traum, wie etwas längst Ueberwundenes. Verzeihe, daß ich so offen spreche, Du wirst später erfahren, wie sich mein Leben gewendet hat. Aber in das Comptoir kann ich nicht wieder zurück.«

»So will ich Tante und Josepha auf Dein Erscheinen vorbereiten,« sagte Hilmar. »Folge mir nach einer kleinen Weile.«

Er ging die Treppe hinauf.

Die beiden jungen Männer blieben allein in dem engen Raum und maßen sich mit düsteren Blicken, ohne ein Wort zu wechseln. Es war ein seltsames Geschick, welches zwischen ihnen waltete. Zum dritten Male trafen sie sich – immer nur für einen Augenblick – unter den seltsamsten Umständen, während ein zwischen Tod und Leben schwankendes Verhängnis bald für den einen, bald für den anderen zu entscheiden schien. Sie hatten einander nichts Böses getan, nie etwas Böses gegen einander geplant, sie kannten sich kaum und dennoch standen sie sich als Rivalen gegenüber.

Es dauerte nicht lange, so kam Hilmar zurück. »Meine Frau und Josepha erwarten Euch,« sagte er.

Und nun stiegen sie alle drei hinauf in die wohlbekannte, etwas altmodische und philiströse Wohnstube, die so gar nicht nach ungewöhnlichen Konflikten und seltsamen Ereignissen aussah.

Frau Hilmar und Josepha waren freudig erregt, angenehm überrascht, daß Karl so plötzlich zurückkehrte. Von einem Konflikt hatten sie kaum eine unbestimmte Ahnung. Karl war nicht tot gewesen, war gerettet worden – sie freuten sich darüber. Das war alles.

Lächelnd trat Josepha den beiden jungen Männern entgegen.

Armin nahm zuerst das Wort. Er zog den Türkisenring vom Finger und überreichte ihn Josepha.

»Es war ein Irrtum,« sagte er schwer atmend; »Ihr erster Bräutigam ist nicht tot.« Er nannte sie »Sie«, während sie sich schon seit langer Zeit duzten. »Ich stelle Ihnen Ihren Ring zurück, wenn Sie es verlangen!«

»Was fällt Dir ein?« sagte Josepha ruhig. »Hier, nimm den Ring wieder. – Lieber Karl,« sagte sie, zu diesem gewendet, »ich bin überzeugt, Du wirst mir nicht grollen. Hättest Du mich so sehr geliebt, wie ich glaubte geliebt zu sein, so würdest Du niemals einen Selbstmordversuch gemacht haben, niemals aus unserer Mitte verschwunden sein. Nicht wahr, ich habe recht?«

Das junge Mädchen hatte in dieser Stunde einen seltsamen Mut gefunden, der ihr sonst gar nicht eigen war.

»Solltest Du Dich noch,« fuhr sie fort, »an mich gebunden erachten, so bitte ich Dich herzlichst: gib mir ohne Groll mein Wort zurück. Dieser hier hat mein Herz gewonnen, es ist meine eigentliche, meine erste Liebe. Niemals will ich von ihm lassen. Ohne jede Gewissensregung habe ich ihm meine Treue verpfändet, denn ich hielt mich für frei. Selbst wenn ich gewußt hätte, daß Du noch lebtest, ich hätte doch nicht anders gehandelt, denn Du hattest mich nicht geliebt; sonst wärest Du niemals in dieser Weise von mir gegangen.«

Mit glückstrahlender Miene trat Armin neben seine Braut.

»Besinnen Sie sich,« sagte er zu Karl, »daß Sie damals, als ich Sie im Tiergarten schwer verwundet fand, mir den Ring übergaben mit der kurzen, kaum verständlichen Bitte, ihn Josepha zu bringen. – Ich habe die mir anvertraute Mission erfüllt, nichts weiter. Josepha gab mir den Ring zurück als Unterpfand ihrer Treue. Wir lieben uns, und ich glaube, somit habe ich ein Recht, den Ring zu behalten.«

Karls bisher so finstere Miene machte einem freundlicheren Ausdruck Platz.

»Ich will und muß mich bescheiden,« sagte er, »ich habe es nicht anders verdient. Es ist wahr, ich habe nicht gut an Josepha gehandelt. Das wunderbare Schicksal, das mir geworden, treibt mich auch heute in andere Bahnen, die diesem Hause fern liegen. – Ja, Josepha, Du hast recht: Du bist frei. Du hattest ein Recht, Dich als frei zu betrachten.«

Er reichte Armin die Hand.

»Machen Sie Josepha glücklich! Sie ist ein reines Mädchenherz, wie es deren wohl wenige gibt. Vielleicht aber war sie gar nicht geartet für mein stürmisch bewegtes Leben, welches doch immer aus den engen Mauern dieses Hauses hinausgestrebt hätte.«

Dann wandte er sich zu dem alten Paare: »Ich will Euch schriftlich auseinandersetzen, wie sich alles so wunderbar gefügt hat. Nehmt meinen innigsten Dank für alles Gute, das Ihr mir erwiesen, und verzeiht mir das Böse, das ich Euch angetan. Bewahrt mir ein freundliches Andenken – ich gehe jetzt. Erst wenn Ihr alle ruhiger geworden seid, wenn die Verhältnisse, die sich jetzt für uns alle so glückverheißend gestalten, feste und geregelte Form angenommen haben werden, erst dann wollen wir für eine Weile scheiden und jedes Wort in seiner Art, in die neuen Lebensbahnen einlenken.« – –

Er war gegangen, verschwunden in eine unbekannte Ferne, in welche sie ihm nicht einmal mit Blicken zu folgen vermochten. Seine Existenz in diesem Hause war entwurzelt durch eine schreckliche Katastrophe. Aber sie konnten jetzt seiner ruhig und freudig gedenken; er weilte nicht mehr unter ihnen wie ein Gespenst, sondern wie ein lieber Freund, dessen Heimat eben in der Ferne ist.

*


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