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Die Baronin von Bötzow hatte sich hinausgestohlen, um dem drohenden Sturme zu entrinnen, denn ihr Gemahl konnte sehr heftig werden, ganz besonders aber, wenn die Rede auf seinen Schwiegersohn kam.

Hanna dagegen hielt tapfer dem Sturme stand. Soeben hatte man den Nachmittagskaffee eingenommen, das Gespräch kam auf den Intendanten, den Jugendfreund des Barons, welcher morgen in Berlin eintreffen sollte, um hier verschiedene Engagements für seine Bühne einzuleiten.

Mit unendlicher Vorsicht hatte Hanna das Gespräch auf Benno gebracht. Die Sache war sehr schwierig, denn der Vater wollte den Namen in seinem Hause gar nicht mehr nennen hören. Auf folgende Weise war der Konflikt zu dieser Höhe gediehen.

Nicht ohne Mühe war es Hanna gelungen, ihren Vater dazu zu bewegen, daß er sich zu Bennos Gunsten bemühe. Noch einmal hatte er sich dazu bereit erklärt, aber unter der Bedingung, daß bis zu einem bestimmten Termin, das heißt bis zur Ankunft des Intendanten in Berlin, wenigstens der erste Akt von Bennos Oper ganz fertig sei, und außerdem größere Bruchstücke von den folgenden Akten vollendet wären. Diese Bruchstücke lagen nun auch wirklich vor, aber der erste Akt harrte noch immer seiner Vollendung. Die ganze Sache war durch Hanna verhandelt worden. Benno war empört über die Zumutung, bis zu einem bestimmten Tage wie ein Handwerker oder Akkordarbeiter seinen ersten Akt fertig machen zu sollen. Hanna vermittelte, wie üblich, und es gelang ihr auch, für einige Tage ihn zu fleißiger Arbeit zu bewegen.

Aber auch diesmal war sein Fleiß nicht von Dauer gewesen, und zwar diesmal noch weniger, denn je zuvor. Er war seit einiger Zeit nervös aufgeregt, er schlief schlecht, verlor den Appetit, begann mehr zu trinken als sonst. Die offenbare Ursache davon war jener sein Gewissen belastende Selbstmord, obgleich Benno den Einfluß, den das tragische Ereignis auf sein Gemüt machte, gerne ableugnen wollte. Dennoch sah Hanna ein, daß es jetzt schwerer denn je sein würde, ihn zur Vollendung der gestellten Aufgabe zu bringen. Sie war in Verzweiflung. Sie konnte ihrem Gatten nicht einmal grollen, denn sie sah, wie die Gewissensbisse ihn verzehrten. Und sie ließen ihn auch gerade mit dem Finale des ersten Aktes nicht fertig werden. Anfangs war er über den Text entzückt gewesen, jetzt beklagte er sich darüber; er könne nichts daraus machen.

Hanna kannte die Ursache. In jenem Finale war die Rede von einem ähnlichen tragischen Ereignis, von einem Selbstmorde, und Benno wollte dieser Vorstellung um jeden Preis entrinnen, nicht sich darin noch mehr vertiefen.

Die Lage wurde immer trostloser. Der Termin nahte, an dem der Intendant eintreffen sollte, und Benno kam nicht vorwärts.

Schon längst herrschten wieder Not und Sorgen im Hause, denn die fünftausend Mark, die Benno damals im Spiel gewonnen, waren längst aufgezehrt, und gerade der Umstand, daß von dem Gelde nichts mehr vorhanden war, verhinderte auch Hanna und ihren Gatten, irgend welche Schritte zu tun, um wenigstens die Angehörigen des Selbstmörders zu versöhnen; woher hätten sie Geld nehmen sollen? – Bennos unglückliche Stimmung verhinderte ihn an Nebenverdiensten, mit seinem Verleger war er längst entzweit, und die Schulden drohten den jungen Hausstand zu erdrücken.

Eines Tages erschien ein Gerichtsvollzieher und versiegelte im Auftrage eines Gläubigers die eleganten Plüschmöbel des Salons. Hanna glaubte dies nicht überleben zu können. Der Beamte erschien ihr als ein Bote noch größeren künftigen Unheils, der sie um den Rest ihrer Fassung brachte. Dennoch erholte sie sich wieder und eilte zu Ihrem Vater; sie wollte das Aeußerste versuchen und die Summe, um die es sich handelte, von ihm erbitten. Ihr Vater wurde wütend, als sie das Geld von ihm verlangte: er erklärte helfen zu wollen, aber auf seine eigene Weise.

»Du bleibst hier,« sagte er, »denn Dein Mann kann Dich nicht mehr erhalten. Ich lasse auf der Stelle Deine Kinder holen, und die Sache ist abgeschlossen. Ich will Dir Deine törichte Eheschließung verzeihen, da ich sie ja leider nicht rechtzeitig verhindert habe; aber Du bleibst mit Deinen Kindern fortan in meinem Hause, wenigstens so lange, bis Dein Mann sich eine anständige Lebensstellung errungen hat.«

Hanna fügte sich, wiewohl mit blutendem Herzen. Was sollte sie auch tun? – Sie hatte wirklich mit ihren Kindern nichts mehr zu leben.

So blieb sie denn, auch die Kleinen kamen ins Haus, und Benno wohnte jetzt allein. Wie Hanna vorher heimlich ihre Mutter besucht hatte, so besuchte sie jetzt heimlich ihren Mann, was dem Vater natürlich verschwiegen wurde.

Es war traurig um Benno bestellt. Düster und mutlos saß er vor dem Klavier in dem einstmals so eleganten Salon, wo nur noch Spuren an den Tapeten die Stelle verrieten, an denen früher die schönen Plüschmöbel gestanden halten. Das Dienstmädchen war gegangen, da man ihr keinen Lohn mehr bezahlen konnte; eine Aufwärterin kam täglich, um Benno zu bedienen. Er begann sich zu vernachlässigen, während er sonst auf sein Aeußeres sehr viel gehalten hatte. Er schien mit einem Worte ganz in Hoffnungslosigkeit unterzugehen.

Die kleine leichtlebige Hanna war jetzt eine wahre Heldin geworden. Sie hörte bei ihren Besuchen nicht auf, ihn zu ermutigen, zu bitten, seinen künstlerischen Ehrgeiz anzustacheln, seine und die Zukunft seiner Kinder ihm vorzustellen. Aber das half immer nur ganz vorübergehend; das Uebel saß an einer Stelle, wohin ihr Trost nicht zu reichen vermochte. Das Gespenst des Selbstmörders wandelte bei Benno in dem verödeten Salon und ließ sich nicht bannen. Dagegen war nichts zu tun. –

So hielt Hanna heute noch einmal dem drohenden Sturme Trotz und versuchte es noch einmal, den Vater für Benno zu interessieren. Da der alte Herr geneigt schien, sie ruhig sprechen zu lassen, stellte sie ihm vor, welch' großes Talent Benno sei, daß es nur einer Ermutigung bedürfe, um ihn zur Höhe zu führen, und daß ein Musikverständiger, ein Sachkundiger, aus den vorhandenen Bruchstücken der Oper sich sehr wohl ein Urteil bilden könne; es bedürfe dazu gar nicht des fertigen ersten Aktes.

Ganz wider ihre Vermutung wurde ihr Vater nicht heftig, nicht böse: spielte ruhig mit dem Enkelsöhnchen, welches vor ihm auf dem Teppich herumkroch, und tat beinahe, als höre er Hanna gar nicht. Endlich, da sie alles vorgebracht, was irgend zu sagen war, sagte er kurz und bündig:

»Du mühst Dich umsonst. Du könntest gar nichts Klügeres tun, als Deinen Mann aufzugeben, denn er ist zu nichts zu gebrauchen. Es ist außer Frage, daß es ihm sehr leicht möglich gewesen wäre, bei einigem guten Willen den ersten Akt zu vollenden, wie ich es wünschte; meinet- und Deinetwegen hätte er das tun müssen. Es fehlt ihm aber an gutem Willen, an ernstem Streben. Ich habe ihn aufgegeben; es ist das Beste, Du tust desgleichen.«

Hanna schwieg. Sie sah, daß ihr Vater heute viel unerschütterlicher war, als wenn er früher geschrieen und gedonnert hatte.

Als der alte Baron sich jetzt erhob, sagte sie schüchtern. »Also, lieber Vater, gestatte mir noch ein letztes Wort. Wenn ich den fertigen ersten Akt brächte?«

»So werde ich Wort halten,« versetzte der Baron kurz und ging.

Hanna machte sich sofort fertig, um zu ihrem Manne zu eilen. Sie fand ihn schlafend auf dem Sofa im Schlafzimmer. Ach, und jetzt war sonst seine beste Arbeitszeit gewesen! Wahrscheinlich hatte er die Nacht in irgend einer Künstlerkneipe verbracht und verschlief jetzt die Arbeitszeit.

Ach, und wie blaß und verfallen er aussah, wie unordentlich seine Wäsche, wie schlecht sein Rock? Wirklich, es war bis zum Aeußersten gekommen.

Sie weckte ihn sanft; sie war unbemerkt eingetreten, da sie noch eine eigenen Korridorschlüssel besaß.

»Ach, Du bist es. Hannchen?« sagte er erfreut.

Er freute sich also, daß sie kam; das war ein gutes Zeichen. Sie brachte ihre Sache vor; er hörte sehr nachdenklich zu.

»Ja, mein Kind, an dem Finale habe ich so gut wie gar nichts weiter gemacht. Aber wenn ich die ganze Nacht daran setzte, so stimmte die Sache bis morgen. Es wäre auch nicht das erste Mal, daß ich so arbeitete. Ich komponierte früher immer so stoßweise, bummelte mal eine Weile und arbeitete dann, wenn ich in die Stimmung kam, alles auf, was ich mir selber schuldig war. Könnte ich nur in den Zug kommen, gewiß, ich brächte den Akt bis morgen fertig!«

Sie bat und flehte und schmeichelte, und er versprach auch alles zu tun, was möglich sei.

»Ich werde mir alle Mühe geben, werde sehen. Geh' Du nur ruhig nach Hause zu den Kindern; ich werde mich gleich hinsetzen und arbeiten, und vielleicht wird's diesmal.«

Er war ein Fatalist oder ein schwacher Charakter. Sie hatte jetzt soviel geistige Reife gewonnen, um das genau beurteilen zu können.

Er begleitete sie jetzt nach Hause, und sie sann und dachte, was sie noch tun könnte, um ihn bei guter Laune zu erhalten. Bei ihm bleiben? Das konnte und durfte sie nicht; der Vater war zu Hause geblieben, würde sie vermissen, die Wahrheit ahnen und sich von neuem erzürnen.

»Laß Dir eine Flasche Wein holen,« sagte sie jetzt; »wenn Du mit dem Gelde knapp bist, so kann ich Dir eine Kleinigkeit dazu geben.«

Sie wußte, daß ein Glas guten, schweren Weines ihn bei der Arbeit animierte.

Er nahm das Geld, wiewohl zögernd; er schämte sich, aber er nahm es doch, und von neuem versprach er ihr: »Ja, Dir zuliebe, Hannchen, werde ich mir alle Mühe geben.«

Sie nahmen zärtlich Abschied von einander, ganz harmlos warf er hin: »Ich gehe noch eine Flasche Wein trinken, und dann mache ich mich direkt an die Arbeit.«

Sehr bekümmert sah sie ihn gehen. So hatte sie's nicht gemeint. Wenn er in die Kneipe ging, war wohl alles verloren. Sie hätte ihm den Wein bringen und seine Begleitung gar nicht annehmen sollen. Nun aber ließ sich nichts mehr ändern. Sie hatte ja alles versucht, um sein besseres Selbst zu wecken.–

Es war am folgenden Vormittag zwischen zehn und elf Uhr. Hanna hatte soeben einen Vorwand gefunden, sich vom Hause zu entfernen: sie wollte zu Benno eilen. Da auf einmal, wachte oder träumte sie? – hörte sie draußen im Korridor seine Stimme. Was hatte das zu bedeuten, war irgend ein Unglück geschehen? Er hatte ja doch geschworen, das Haus seines Schwiegervaters nicht zu betreten, und er wußte, daß man ihm hier feindlicher gesinnt war, denn je.

Auch Baron von Bötzow horchte auf. Er hatte sich soeben von seinem bequemen Platz im Speisezimmer erhoben, die Zeitungen weggelegt, um sich fertig zu machen und auszugehen. Zu Mittag sollte sein Jugendfreund, der Intendant, eintreffen, und er beabsichtigte, ihn auf dem Bahnhofe zu empfangen. Da wurde hastig geklopft, und Benno trat ein. Mit lächelnder Miene ging er geraden Wegs auf den Baron zu.

»Wenn ich es wage, Schwiegervater,« sagte er, »zu Ihnen zu kommen, so glaube ich gerade heute ein Anrecht darauf erworben zu haben. Ich habe nämlich meinen ersten Akt in dieser Nacht vollendet. Wie Hanna mir mitteilte, wären Sie in diesem Falle bereit, mir zu verzeihen, das heißt, Sie wollten die Güte haben, mich Ihrem Freunde zu empfehlen. Ich habe die äußerste Mühe angewendet, um die Arbeit nach Ihrem Wunsche zu vollenden; ich hoffe, sie wird mir Ehre machen, und Sie werden mein Erscheinen in diesem Hause so aufnehmen, wie ich es meine, als einen Beweis meines redlichsten und besten Willens, mir fernerhin Ihre Zufriedenheit zu erringen.«

Hanna traute ihren Ohren, ihren Augen nicht. Das war wieder ihr Benno von früher: sorgfältig gekleidet, stramm, Selbstbewußtsein und jugendliche Kraft in Wesen und Haltung zeigend.

Baron Bötzow war überrumpelt worden, aber er sagte: »Gewiß, ich halte mein Wort, das tut ein Bötzow immer.«

Und er nahm die dargereichte Hand Bennos.

*

Der junge Mann legte auf den Eßtisch eine dicke Rolle mit Noten.

»Das ist der erste Akt; natürlich noch keine Rede von Instrumentierung, aber er ist fertig, vollkommen fertig durchkomponiert. Es ging auf einmal, ich weiß gar nicht wie; es kam über mich wie eine Erleuchtung.«

»Hoffen wir, daß die Erleuchtung anhält, und daß wir noch alle gute Tage erleben,« sagte der Baron, noch ein wenig zurückhaltend, aber sichtlich erfreut. »Ich sehe ja, Sie sind in Besuchstoilette und können also gleich mitkommen, meinen Freund zu empfangen.«

»Herzlichsten Dank!« versetzte Benno erfreut. »Ich muß nur einen Augenblick mit meiner Frau sprechen.«

»Und ich will mich inzwischen fertig machen,« sagte der Baron und verließ das Zimmer.

Hanna fiel ihrem Gatten mit Freudentränen um den Hals: »Benno, Benno, ist es denn wahr? Ist es möglich? Wie hast Du das angestellt?«

»Ahnst Du es denn nicht, Hanna?« sagte er.

»Was soll ich ahnen?«

»Er lebt!« –

Mehr brauchte Benno nicht zu sagen, denn er – das war ja der vermeintliche Selbstmörder, das war sein Partner vom Spieltisch.

»Er lebt?« wiederholte sie grenzenlos erstaunt. »Ist das möglich? Wie konntest Du denn vorher Dich so täuschen?«

»Das weiß ich selbst nicht, wie es gekommen ist,« erzählte er. »Es ist mir nicht ganz klar, ob es ein anderer ist, der sich wirklich erschossen hat, so daß überhaupt ein Mißverständnis obgewaltet, oder ob der junge Mann einen Selbstmordversuch gemacht hat und gerettet wurde. Ich habe ihn ja nur im Klub gesprochen, ziemlich flüchtig. Also die Sache ist mir nicht ganz klar, aber – er lebt, das ist sicher. Ich komme gestern hin, um eine Flasche Wein da zu trinken, da tritt mir ein schwarzbärtiger, junger Mann entgegen und ruft freudig: »Welch' ein glücklicher Zufall! Ich komme eigens hierher, um Sie zu treffen, und da erscheinen Sie auch wie auf ein Stichwort.«

»Sie irren sich wohl in der Person, mein Herr,« versetzte ich. Zwar der junge Mann schien mir bekannt, aber an meinen Partner dachte ich nicht, ich hielt ihn ja doch für tot. –

»Ich habe vor ungefähr Jahresfrist fünftausend Mark an Sie verloren,« versetzte der andere, »und Sie erinnern sich meiner gar nicht mehr? – Sie sind undankbar!«

Ich prallte zurück und stotterte: »Ich wollte Ihnen Revanche geben, auf Ehre! Habe Sie monatelang schmerzlich gesucht – man hat mir gesagt, Sie seien –«

Er wehrte ab. »Ich weiß alles, was man gesagt hat, und ich kam hierher geflissentlich, um Sie über das alles zu beruhigen. Denn glauben Sie mir, ich bin Ihnen sozusagen zu Dank verpflichtet, daß Sie mir damals das Geld abgenommen haben.«

»Sie scherzen,« versetzte ich, »oder verzeihen Sie, Sie sind nicht ganz nüchtern.«

»Doch, doch,« entgegnete er, »es war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich bin ein anderer Mensch geworden in jedem Sinne.«

Ich schlug mich vor die Stirn. »Das will ich auch werden!« sagte ich zu mir selber. Auf der Stelle wollte ich umkehren: da fiel mir ein, daß ich ihm doch noch Revanche bieten müsse. Ich tat es.

»Kann ich nicht annehmen,« versetzte er. »Ich habe mir selbst gelobt, niemals mehr eine Karte zu berühren.«

»Sie haben recht,« entgegnete ich; »ich habe mir übrigens dasselbe gelobt. Nur Revanche wollte ich Ihnen geben.«

»Also die Sache ist erledigt!«

»Und weißt Du, Hannchen, in den Klub gehe ich im Leben nicht mehr. Ich habe mich nämlich dort sehr lächerlich gemacht.«

»Wieso?« meinte sie verwundert.

»Ich habe den Mann vor Freuden umarmt und geküßt. Ich glaube, sie werden mich dort für verrückt halten. Ich aber bin so vernünftig geworden. Ich ging nach Hause, arbeitete die ganze Nacht in einem Zuge durch bis zum Morgen, und hier bin ich. Mein erster Akt ist fertig und er ist gelungen. Das darf ich mit Selbstbewußtsein sagen!«

*

Pauline saß in einem Frauencoupe dritter Klasse. Wenn sie es sich richtig überlegte, so erschien sie sich selbst wie eine Wahnsinnige; zum mindesten war der Schritt, den sie unternommen, sehr unweiblich. Aber sie bereute ihn nicht, sie konnte ja nicht anders; sie hatte sich nun einmal von den normalen Verhältnissen losgemacht, sie trieb weiter, wie fortgerissen von einem wilden Strom. Ein einziger Augenblick war entscheidend gewesen für ihr Leben. Damals hatte sie den festen Boden unter ihren Füßen verlassen, den natürlichen Stützpunkt, auf dem ihre ganze Existenz ruhte; seither ließ sie sich von den Eingebungen ihres leidenschaftlichen Herzens bestimmen, ohne zu wissen, was aus ihr werden sollte. Sie ging eine Stelle suchen, aber wohin? Ja, eine Stelle; das hatte sie ihrer Mutter gesagt. Eine Stelle vielleicht im Starnberger See, wenn ihre Reise ganz fruchtlos blieb. Das schwebte ihr so vor, seit sie jüngst eine Zeitungsnotiz gelesen, derzufolge sich im Starnberger See eine Mutter mit ihrer Tochter ertränkt hatte, weil sie keinen Raum mehr fanden unter den anderen, den glücklicheren Menschen.

Vorläufig schwebte ihr nur das eine vor: sie wollte, sie mußte endlich Gewißheit haben, ob Karl lebe. – Jener Geldbrief war aus München gekommen, und auch der junge Brennus, der von Karl wissen sollte, lebte in München. Wenn irgendwo die ersehnte Gewißheit zu finden war, so war es dort, und das törichte Mädchen reiste in dieser Ueberzeugung in die fremde Stadt, in der sie nie gewesen war und in der sie keine Seele kannte.

Aber verständig wie Pauline bei aller leidenschaftlichen Romantik ihres Herzens doch war, sagte sie sich auch selbst, daß dieser Schritt im höchsten Grade unpassend für ein junges Mädchen sei. Sie reiste einem Manne nach, dem nachzuforschen sie kein Recht hatte. Zu dem sie nie in einem innigeren Verhältnis gestanden. Wenn er noch am Leben war, so liebte er wahrscheinlich noch Josepha – oder irgend eine andere. Aber sie wollte ja auch nur das eine wissen, ob er überhaupt noch lebe – nichts weiter. Dann würde sie ihm schreiben, daß – – ja, was eigentlich? Sollte sie ihm Josephas Untreue verraten? Das wäre unwürdig gewesen. Was also hatte sie ihm überhaupt zu sagen?

Pauline war abends von Berlin abgereist. Ihre geschwätzigen Mitreisenden schliefen einer nach dem andern ein; nur sie wachte und starrte hinaus in die Nacht, in den gestirnten Himmel.

Sie war ein hübsches, liebenswertes Mädchen, das wußte sie. Warum jagte sie einem Phantom nach? Sie preßte die Hände auf das wildpochende Herz: wohin, wohin hatte es sie getrieben?

Beim grauenden Morgen entschlummerte sie ein wenig und wurde überrascht durch die Ankunft in München.

Mit ihrem kleinen Handköfferchen ging sie in den dem Centralbahnhof gerade gegenüber gelegenen »Deutschen Kaiser«, und ließ sich dort ein kleines, bescheidenes Zimmerchen, mehrere Treppen hoch aufschließen. Es ging nach einem düsteren Lichthof, aber was fragte sie danach? Sie wusch sich, machte etwas Toilette und stieg die drei Treppen wieder hinab.

Als praktische Berlinerin war sie sich vollkommen klar über den ersten Schritt, den sie zu unternehmen hatte. Sie mußte nach dem Polizeibureau. Nur dort konnte sie mit voller Gewißheit erfahren, ob Karl Hilmar in München sei. Achtlos und unaufmerksam für ihre Person, aber im übrigen genau, gab ihr der Portier den Weg an, den sie zu nehmen hatte, um nach dem Polizeigebäude zu gelangen.

Nach zwei- oder dreimaligem Fragen fand sie das große, imposante Polizeigebäude, einen Rohziegelbau mit mächtigem Portal. Man wies sie nach einem Bureau, worin über die Einwohnerschaft Münchens Buch geführt und jede nur wünschenswerte Auskunft erteilt wird.

Es war ein kleiner, halbdunkler Raum, den eine Gasflamme erhellte. Auf einem einfachen Schreibpulte lag ein ganzer Block Zettel, worauf die Fragesteller Namen, Charakter und sonstige Daten desjenigen zu schreiben hatten, dessen Wohnungsadresse sie zu erfahren wünschten. Mit einem Dutzend anderer Fremder drängte sich Pauline an das Pult und schrieb mit bebender Hand den Namen Karl Hilmar auf einen Zettel; die sonstigen Rubriken, den Namen ausgenommen, mußte sie offen lassen; sie wußte nicht, welchen Beruf er hier betrieb oder wo er vorher gewesen sei. Mit den andern gab sie den Zettel an einem Schalter ab und wartete nun auf Antwort.

Eine reichliche halbe Stunde verging, dann wurden an einem anderen Schalter die Zettel den Harrenden zurückgegeben; sie enthielten die gewünschten Antworten. Pauline, zaghaft, mutlos vor der zu erwartenden Entscheidung, war die letzte, die an den Schalter trat. Sie erhielt ihren Zettel zurück mit der Bemerkung: »Polizeilich nicht gemeldet.« –

Karl Hilmar war also nicht in München oder hielt sich nicht unter seinem wirklichen Namen auf. Sie stand bestürzt. Da sie die letzte der Auskunft Suchenden gewesen war, fand sie Gelegenheit, noch einmal an den Schalter heranzutreten, um den Beamten um Auskunft zu bitten, ob der Gesuchte überhaupt nicht im Laufe des letzten Jahres in München gewesen sei – wenn sich das feststellen lasse.

Es mochte etwas in ihrer zitternden Stimme, in ihren angstvollen Blicken liegen, was den Beamten rührte, denn er gab ihr den Rat, in ein anderes Bureau zu gehen, sich auf ihn zu berufen und dort die gewünschte Auskunft zu erbitten.

Pauline tat es. Was konnte ihr geschehen? Man konnte sie höchstens unfreundlich hinausweisen, daran lag ihr heute nichts.

Sie fand einen dicken, ältlichen Herrn, der sie freundlich anhörte.

Derlei Auskünfte lägen der Polizei nicht ob, meinte er; wohin sollte man kommen, wenn man sich auf derlei einließe? Aber das eine Mal mochte es denn sein.

»Uebrigens, mein liebes Kind,« fügte er hinzu, »wenn Sie Ihren Liebsten oder Bräutigam auf diesem Wege suchen, so ist die Sache schon schlimm. Das kann Ihnen nichts nützen. Tun Sie sich lieber nach einem Ersatz um, das wird Ihnen sicher nicht schwer werden.«

Pauline lächelte mit bleichen Lippen. Sie mußte sich derlei gefallen lassen, sie mußte froh sein, daß der dicke Herr ihren Wunsch zu erfüllen bereit war. Er schlug in verschiedenen Büchern und Registern nach und erklärte dann: »Ein Karl Hilmar ist auch im Verlauf des ganzen verflossenen Jahres in München nicht gemeldet worden.«

Das Mädchen stammelte einige Dankesworte und ging. Nun stand sie aus dem Max-Joseph-Platz dem Hoftheater gegenüber. Sie merkte gar nicht, wie die Tränen über ihre Wangen rannen; ein unsäglicher Jammer zerwühlte ihre Brust. Karl Hilmar war nicht hier, oder wenn er hier war, so vermochte sie ihn nicht zu finden. Sie war ohnmächtig, enttäuscht, vernichtet.

Und auf einmal kam ihr der Gedanke an den jungen Brennus, dessen sie in der ersten Erregung gänzlich vergessen. Er sollte ja etwas von Hilmar wissen. Den jungen Brennus mußte sie jetzt noch aufsuchen. Sie nahm die erste beste Droschke und ließ sich nach der königlichen Akademie der bildenden Künste beim Siegestor fahren.

Sie fuhr durch die stille, prächtige Ludwigstraße, an dem schönen Siegstor vorbei, und dann hielt der Wagen vor dem stattlichen Monumentalbau der Kunstakademie. Pauline stieg die breiten Marmorstufen empor.

Der elegante Pförtner maß sie mißtrauisch und hochmütig. Auch das mußte sie sich gefallen lassen, warum hatte sie sich auf das Abenteuer eingelassen?

Brennus, ja – Brennus – wer könne wohl sagen, wo Herr Brennus wohne, meinte der Mann.

Er ging in seine Loge und schlug ein Register auf. Dann nannte er eine Nummer in der Leopoldstraße, die nach der jetzt München einverleibten früheren Vorstadt Schwabing vom Siegestor hinausführt, und wandte ihr den Rücken.

Sie ging, das Haus konnte unmöglich weit vom Siegestor entfernt sein. Sie schickte die Droschke fort und suchte die angegebene Nummer. Es war eine kleine Villa mit Vorgarten. Der junge Brennus wohnte offenbar elegant und komfortabel, bei einer adeligen Witwe, wie man ihr sagte; dort solle sie ihn erfragen.

Sie stieg eine Treppe in dem fremden Hause empor und klingelte. Ein Dienstmädchen öffnete und blickte sie wieder sehr mißtrauisch an, als sie nach Herrn Brennus fragte. Wie schrecklich ihr das war, überall so angesehen zu werden! – Aber die Leute hatten ja im Grunde recht; ein ehrbares Mädchen forscht ja für gewöhnlich nicht in dieser Weise einem jungen Manne nach.

Ja, Herr Brennus wohne hier, erklärte das Dienstmädchen, aber ihre Madame stelle beim Vermieten der Zimmer die Bedingung, daß die jungen Herren niemals Damenbesuche empfingen. Das Fräulein wolle sich also gar nicht weiter bemühen. Und das Dienstmädchen wollte die Tür zuschlagen. Mit energischem Griff aber verhinderte Pauline ihr Vorhaben.

»Ich beschwöre Sie, mich mit Ihrer Herrin sprechen zu lassen,« rief sie; »ich kenne den Herrn Brennus gar nicht persönlich, es ist eine wichtige Auskunft, die ich von ihm zu erbitten habe.«

Ihr zuversichtlicher Ton stimmte das Mädchen um, und wie wohl zögernd, wandte sie sich doch, um die Dame vom Hause zu rufen.

Nach einer kleinen Weile erschien zwar nicht die Frau des Hauses, wohl aber ein junges, sehr excentrisch gekleidetes und sehr schönes Mädchen, welches Paulinen natürlich wieder sehr mißtrauisch musterte.

»Was wünschen Sie denn von Herrn Brennus?« fragte das Fräulein scharf.

Paulinen stieg das Blut in die Wangen. Es war gar zu schrecklich, immer so behandelt zu werden. Aber sie mußte sich bezwingen und standhalten. Ernst und würdig brachte sie ihre Bitte vor, den jungen Brennus einen Augenblick sprechen zu dürfen, um von ihm eine wichtige Auskunft zu erhalten.

»Herr Brennus ist nicht da,« versetzte das Fräulein. »Sagen Sie mir nur genau, was Sie von ihm wünschen.«

Pauline erklärte, dies nicht so kurz angeben zu können, und das Fräulein fuhr fort: »Sie sind wohl die verlassene Braut, von der er spricht?«

»Die bin ich nicht,« entgegnete Pauline energisch. »Ich wiederhole, was ich schon zu Ihrer Dienerin sagte, daß ich Herrn Brennus gar nicht kenne und nur eine Auskunft von ihm wünsche über einen seiner Freunde, der verschollen ist, und dessen Familie die betreffende Nachricht von Herrn Brennus zu erhalten hofft.«

Die junge Dame schien einigermaßen beruhigt. Pauline sah ja auch sehr anständig aus, drückte sich aus wie ein gebildetes Mädchen; und ihre Nachfrage galt ja auch eigentlich einem anderen. Das Fräulein ließ sich also herbei, zu erklären, daß Herr Brennus jetzt nicht da sei, aber im Laufe des Nachmittags wohl nach Hause kommen und dann zu sprechen sein würde.

Pauline ging mit dem Versprechen, wiederzukommen.

Sie begab sich in ihr Hotel, genoß in der Restauration desselben eine Kleinigkeit und legte sich dann auf ihr Bett, um ein wenig zu schlafen. Nachmittags vier Uhr begab sie sich von neuem auf den Weg nach der Leopoldstraße.

Nachdem sie in der kleinen Villa geklingelt hatte, erschien wieder das junge, schöne, auffällig gekleidete Fräulein und berichtete, Herr Brennus sei inzwischen zu Hause gewesen; man habe ihm mitgeteilt, daß eine fremde junge Dame ihn zu sprechen wünsche, und auch in welcher Angelegenheit. Die Sache schien ihn nicht überrascht zu haben, aber er habe auf der Stelle erklärt, daß er die gewünschte Auskunft weder erteilen wolle, noch könne. Er bitte recht sehr, ihn nicht weiter zu behelligen, ihn mit der Sache in Ruhe zu lassen.

Das schöne Mädchen erklärte das mit solcher Bestimmtheit, und mit solcher ersichtlichen Genugtuung, daß Pauline an der Wahrheit ihrer Worte nicht zweifelte. Sie ging, auf das tiefste entmutigt.

Ihr war doch sofort klar, sie müsse den jungen Brennus unter allen Umständen sprechen, auch gegen seinen Willen. Das war sicherlich schwer, aber doch nicht unmöglich.

Nochmals zu dem Pförtner der Akademie zu gehen, um ihn zu bitten, ihr den jungen Brennus zu zeigen, das ging nicht, das gewann sie nicht über sich. Der hochmütige Türsteher, der sie vorhin schon so mißtrauisch angesehen, würde auch ihren Wunsch wohl schwerlich erfüllt haben.

Vielleicht – mußte sie dann wieder denken – wäre es am besten für sie, die »Stelle« zu suchen, sogleich hinauszufahren nach Starnberg, an den berühmten See, wo auch der unglückliche König Ludwig II. geendet. Diese Vorstellung reizte Paulinens romantischen Sinn. Aber das blieb ihr noch immer als letzter Ausweg. Vorher mußte sie noch eine Unterredung mit jenem Brennus erzwingen.

Aber wie war das nur zu ermöglichen? –

Wieder stand sie ratlos vor der Kunstakademie, wo jüngere Herren aus- und eingingen. Den ersten besten von ihnen zu fragen, ob er ihr nicht seinen Kollegen Brennus zeigen könne? Das gewann sie nicht über sich; so oft sie es versuchte, einem der jungen Akademiker in den Weg zu treten, wurde sie von mädchenhafter Scham gelähmt. Es war zu zudringlich, es sah zu unweiblich aus.

Aber da sah sie einen ganz alten Herrn vorsichtig die breiten Marmorstufen heruntersteigen, den wollte sie fragen. Sie trat ihm in den Weg, mit erhobenen Händen, mit flehendem Blick stammelte sie: »Verzeihen Sie und halten Sie mich für keine Unwürdige, wenn ich es wage, Sie zu fragen, ob Sie keinen Akademiker namens Brennus kennen.«

Der alte Herr stutzte, schien einen Augenblick unangenehm berührt; aber es mochte in Paulinens Ton, in ihrem Blicke etwas liegen, was ihn rührte, und er sagte freundlich: »Ja, ich kenne einen jungen Akademiker dieses Namens.«

»Es ist keine frivole Absicht,« stammelte Pauline, »in der ich den jungen Herrn zu sprechen wünsche; es handelt sich um eine Angelegenheit auf Tod und Leben. Ich bitte, ich beschwöre Sie, mein Herr, geben Sie mir ein Mittel, einen Weg an, damit ich Herrn Brennus sprechen kann!«

Der alte Herr zögerte noch immer und musterte prüfend das junge Mädchen, aber diese Prüfung mußte wohl zu Paulinens Gunsten ausgefallen sein, denn er zog jetzt eine Brieftasche hervor und nahm eine Karte heraus, auf welcher er einige Worte kritzelte.

»Ich will es wagen, liebes Kind, obgleich Ihre Bitte sehr abenteuerlich klingt. Aber ich vertraue Ihnen, Sie scheinen ehrbar und anständig zu sein. Kommen Sie heute abend in die Künstlerkneipe »Atelier« in der Amalienstraße, und weisen Sie diese meine Karte vor. Darauf wird man Sie ohne weiteres einlassen. Es ist eine lustige aber anständige Gesellschaft, die Sie da finden werden; gerade heute ist Damenabend. Herr Brennus pflegt immer zu erscheinen, es wäre ganz merkwürdig, wenn er heute fehlen sollte.«

Pauline nahm dankend die Karte. »Aber ich kenne Herrn Brennus nicht,« sagte sie schüchtern, »habe ihn nie gesehen. Ich suche nur eine Auskunft von ihm zu erlangen über einen andern.«

Diese Worte schienen den alten Herrn noch mehr zu beruhigen. »Es wird Ihnen nicht schwer sein, zu erfahren, welcher von den jungen Herren Brennus ist; man wird ihn Ihnen zeigen. Seien Sie nur ganz ruhig. Meine Karte wird Ihnen unbedingt Einlaß verschaffen.«

Darauf ging er weiter. Pauline hatte noch einige Dankesworte gestammelt und dann erfreut und beruhigt das Kärtchen zu sich gesteckt. Sie begab sich in ihr Hotel zurück, um noch ein wenig zu ruhen, und dann ihre einfache Toilette, so gut es ging, zurechtzumachen. –

Es war acht Uhr geworden, die Stunde, welche der alte Herr – der Name, der auf der Karte stand, war Paulinen gänzlich fremd – genannt hatte. Sie nahm ihren Mantel und verließ das Zimmer, um unten eine Droschke zu suchen.

Als sie in den Wagen stieg und die Adresse der Kneipe nannte, war sie sich der Gefahr bewußt, in welche sie sich begab ...

Es war das reservierte Zimmer eines Bierrestaurants, in welches man Pauline wies. Der alte Herr hatte recht gehabt; man ließ sie aus Grund seiner Karte sofort in die geschlossene Gesellschaft ein.

Sie konnte sich kein rechtes Urteil bilden über diese Gesellschaft. Vielleicht waren es bessere, anständige Modelle, die hier verkehrten, vielleicht auch Frauen oder andere weibliche Angehörige der Künstler. – Man schwatzte, lachte, spielte Klavier. Es war eine ganze Menge junger Herren anwesend, die Pauline nicht weiter ins Auge faßte, denn, wie gesagt, sie kannte ja Herrn Brennus nicht.

Auch sie wurde von niemanden beachtet.

Inzwischen war ihr ein schönes, junges Mädchen aufgefallen, in sehr kleidsamer Toilette; es war eine Art griechisches Kostüm, das sie trug und das ihr wundervoll stand. Pauline erkannte die junge Dame, es war das Fräulein aus dem Hause, in dem Brennus wohnte. Höchstwahrscheinlich war nun der junge Mann auch nicht weit.

Man begann soeben auf dem Klavier eine Tarantella zu spielen. Ein junger Herr, den Pauline nur von rückwärts sah, faßte die Hand des schönen Mädchens im griechischen Kostüme und schien mit ihr tanzen zu wollen. Da sagte eine der älteren Damen neben Pauline: »Richtig, da tanzt Herr Brennus wieder mit seiner Ariadne.«

Ohne Rücksicht auf ihre Umgebung stieß Pauline plötzlich einen Schrei aus. Sie stürzte vor, mitten unter die fremden Menschen hinein, denn der junge Mann, der »Ariadne« zum Tanze führte, war – Karl Hilmar.

»Karl Hilmar!« schrie sie, sich selbst vergessend, in das Getöse hinein.

Er stutzte, horchte auf.

Auch Pauline stutzte einen Augenblick. Er trug jetzt einen Vollbart und schien ihr überhaupt sehr verändert. Aber Karl war es dennoch, auf den ersten Blick hatte sie ihn erkannt. Verwundert, aber ruhig wandte er sich nach jener Ecke, aus welcher sein Name erschollen war. Dann lächelte er und sagte: »So, so – es ist um mein Inkognito geschehen! Wie, Fräulein Norden, Sie sind es? Ja, um des Himmels willen, wie kommen Sie denn hierher? Sie sind doch nicht unter die Modelle gegangen? Und warum so aufgeregt?«

»Herr Karl Herr Karl –« stammelte sie, mühsam nach Fassung ringend. Beinahe wäre sie ihm zu Füßen gefallen; aber sie bezwang sich und stand ihm jetzt Aug' in Auge gegenüber.

»Ich heiße hier Brennus, Fräulein,« sagte er, »es ist mein Künstlername. Ich hatte mein Ehrenwort gegeben, mich für die Dauer eines Jahres bei meinen Angehörigen in Berlin nicht zu melden. Sie aber, Fräulein Pauline, wie – ja, ich fasse gar nicht –«

»Wir hielten Sie für tot,« stotterte das junge Mädchen, »und so kam es, daß mich Ihr Anblick so sehr überraschte.«

Pauline glaubte vor Scham in die Erde zu sinken, denn sie bemerkte jetzt, wie alle sie anstarrten, wie viele über sie lachten. Die schöne »Ariadne« fixierte sie höhnisch. Trotzdem empfand Pauline aber gleichzeitig auch etwas wie himmlische Seligkeit. Ja, der Himmel schien sich zu öffnen, und seine goldenen Glücksstrahlen über sie auszuschütten, denn Karl lebte!

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