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Was Karl Hilmar nun Paulinen noch an demselben Abend erzählte, in jener Kneipe, an dem Tische, wo sie ursprünglich Platz genommen hatte, während niemand mehr auf die beiden achtete, war ungefähr folgendes:

Ja, er hatte damals gespielt. Anfangs, da er – wie seine Angehörigen wußten – in Künstlerkreisen verkehrte, war er verführt worden. Niemals war er so recht zufrieden gewesen in dem Hause seiner Pflegeeltern und am allerwenigsten in dem Bronzewarengeschäft. Er suchte sich zu zerstreuen, zu betäuben.

Allerdings, als er sich damals in Josepha verliebt hatte, war ihm kurze Zeit zu Mute, als sei jetzt alles gut. Aber bald gärte wieder das heiße Blut in ihm. Die Ruhe, die Gleichförmigkeit in dem Hilmarschen Hause schien ihm unerträglich, und wieder suchte er heimlich allerlei Zerstreuungen auf, immer wieder reizte ihn das Spiel.

Einmal – er gestand es offen – war er leicht berauscht gewesen und hatte in diesem Zustande eine Spielschuld auf sich geladen. Ratlos und verzweifelt wollte er sich seiner stets gütigen Tante anvertrauen und ihre Hilfe erbitten: aber er fand dann doch nicht den Mut dazu, auch vermutete er bei ihren Gewohnheiten und ihrer Praxis, die er genau kannte, daß sie ihre Zinsen noch nicht behoben habe.

So nahte schon der Tag, der äußerste Termin, wo er seine Schuld zu begleichen hatte. Nun faßte er den Mut, sich seiner Tante anzuvertrauen. Aber gerade damals hatte die Tante das Haus für kurze Zeit verlassen. Er war allein im Comptoir, der Schlüssel zu ihrer Kasse steckte im Schloß.

Anfangs wollte er nur hineinblicken, ob die Tante bereits im Besitz ihrer Zinsen sei. Wider sein Erwarten lag das Geld in der kleinen Handkasse, und nun überkam ihn die teuflische Versuchung. Das Geld nehmen – seine Schuld bezahlen – mit dem Rest spielen – vielleicht gewinnen – und die Summe unvermerkt wieder in die Kasse zurücklegen – das wollte er.

Er war freilich nicht so töricht, sicher auf einen Gewinn zu rechnen, aber für den ungünstigen Fall wußte er einen Wucherer, von dem er das Geld geliehen erhalten würde, um es in die Kasse zurückzulegen, und es blieb ihm die peinliche Beschämung erspart, sich seiner Tante anzuvertrauen.

An den Wucherer hatte er vorher nicht gedacht; jetzt erst im letzten Augenblick erinnerte er sich, daß ein ihm befreundeter junger Musiker ihm die Adresse angegeben hatte. Er nahm das Geld aus der Kasse und machte sich auf den Weg, um zunächst einen Geschäftsgang für seinen Onkel zu besorgen. Nachdem er das getan hatte, begegnete er ganz zufällig jenem jungen Musiker, der ihm die Adresse des Wucherers angegeben. Der junge Komponist hatte bisweilen mit ihm gespielt und merkwürdigerweise bisher immer und immer ohne Ausnahme verloren. Alle Spieler sind Fatalisten. Der junge Mann schien wohlhabend: wie man erzählte, hatte er reiche Schwiegereltern. Und daher kam Karl auf den Gedanken, mit ihm zu spielen, auf der Stelle; er würde vielleicht gewinnen und seine Spielschuld von dem Gewinnste bezahlen, zugleich auch das Geld seiner Tante zurückerstatten können.

Es war nicht schwer, den Musiker zum Spielen zu verlocken. Sie begaben sich sofort in den ihnen bekannten Spielsalon und setzten sich an den grünen Tisch. Es war aber zu sonderbar, heute ging es gerade umgekehrt! Karl verlor und verlor immerzu, und sein Partner gewann unaufhörlich. Karl hatte früher schon gehört, in einem solchen Falle müsse man die Sache forcieren. Verzweiflung überkam ihn, eine unsinnige Angst, eine Art Betäubung. Er vermochte sich nachträglich gar nicht zu erklären, wie alles eigentlich gekommen sei. Genug, er verlor die ganze Summe.

Mit leeren Händen stand er da. Er vermochte weder seine Spielschuld zu bezahlen, noch die entwendete Summe in die Kasse seiner Tante zurückzulegen. Und diese furchtbare Wendung in seinem Geschick hatte sich sozusagen im Handumdrehen vollzogen. Die Schande war furchtbar, es schien ihm unmöglich, das alles zu überleben, seinen Pflegeeltern und seiner Braut wieder unter die Augen zu treten.

Ohne daß er getrunken, überkam ihn eine Art Rausch, der Rausch der Verzweiflung. Er verlor jede ruhige Besinnung. Er hatte nicht nur Geld eingesetzt, sondern seine ganze Existenz, und er hatte verloren.

Ihm blieb nichts übrig als der Tod. Unmöglich war es ihm, in das Haus seiner Braut zurückzukehren, und was sollte er sonst beginnen, ohne Geld, ohne Hilfsquellen? Seine ganze Existenz wurzelte ja in dem Hause Hilmar, und jetzt war alles zu Ende, alles verloren. –

Mit dem letzten Gelde, das er in einer Seitentasche seines Rockes fand, kaufte Karl sich einen Revolver. Ohne zu überlegen, ohne zu zaudern, wollte er ein Ende machen. Sein Leben war ohnehin verfehlt.

Wie ein Wahnsinniger rannte er in den Tiergarten hinaus, suchte eine einsame Stelle in der Nähe des Neuen Sees, hielt den Revolver gegen die Schläfe und feuerte ab.

Anfangs umfing ihn wohltuende Bewußtlosigkeit. Als er erwachte, war ihm wüst im Kopf, er empfand einen bohrenden Schmerz in der Schläfe und saß in einer ganz langsam im Schritt fahrenden eleganten Kutsche, während ein wildfremder alter Herr mit seinem Arm ihn stützte. Allerdings war ihm, als hätte sich schon vorher jemand über ihn gebeugt, mit ihm gesprochen: aber das alles erschien ihm nur wie ein wüster Traum. Erneute Bewußtlosigkeit überkam ihn.

Endlich kam wieder eine bestimmte Vorstellung. Eine fremde Stube, ein Arzt mit Instrumenten, eine Wärterin und derselbe alte Herr aus der Kutsche.

Es war Nacht – die Nacht nach jenem Unglücksabend – als er für eine Weile zu vollem Bewußtsein kam. Der fremde Herr saß an seinem Bette; Karl begriff, daß jener ihn gerettet, ihn fortgebracht hatte und ihm Hilfe angedeihen ließ. –

»Ich bitte, ich flehe Sie an,« stammelte er, »lassen Sie mich ruhig sterben. Ich habe mein Leben verwirkt, kann nicht mehr zu den Meinen zurückkehren und wüßte nicht, was ich mit dem neuen Leben beginnen sollte.«

»Was haben Sie getan? – Sagen Sie es kurz!« fragte der fremde Herr.

»Einen dummen Streich gemacht, Geld verspielt, welches nicht mein war – genug, es ist nicht gut zu machen,« stammelte Karl.

Der fremde Herr drang nicht weiter in ihn und bat ihn, sich zu beruhigen und einzuschlafen.

Karl war zu matt, um aus seinem Willen zu bestehen. Was sollte er jetzt auch tun, um zu sterben? Er konnte nur geduldig warten, bis der Tod Mitleid mit ihm hatte und ihn holte. So oft er zum Bewußtsein kam, bat er immer wieder von neuem, man möge ihn sterben lassen. Es war immer der fremde alte Herr da, oder eine Wärterin, oder auch ein weißhaariger alter Diener.

Immer wieder, so oft er zu sich kam, lag Karl in Sterbegedanken. Aber man ließ ihn nicht sterben, und er mußte sich's gefallen lassen, unter der sorgfältigsten Pflege langsam zu genesen. Nachdem die erste Erregung bei ihm verflogen war, als er die Vergeblichkeit seines Selbstmordversuches erkannte, überfiel ihn eine Art von apathischer Müdigkeit; er ließ mit sich geschehen, was man wollte.

Nach und nach kehrte ihm das volle Bewußtsein der Wirklichkeit zurück. Er bemerkte, daß jener alte Herr ihn auf eigene Rechnung und Gefahr gerettet und gepflegt und dem Leben wiedergegeben hatte; noch hatte er keine Ahnung, warum. – Seine Bitten um Aufklärung wies man zurück; er solle sich schonen.

Eines Tages erklärte ihn der Arzt für hergestellt. Neue Lebensfreudigkeit war trotz aller schrecklichen Erinnerungen in Karl wieder erwacht, jene halb unbewußte Lebensfreude, die jeder Rekonvaleszent kennt. Er bekam tüchtigen Hunger, er freute sich am Sonnenschein, an den noch immer grünen Bäumen des Gartens, an dem Duft der letzten herbstlichen Blumen, an der bloßen Empfindung, zu leben. Er war ja jung, das Leben in ihm siegte über den Tod.

An einem wunderschönen Herbsttage, draußen in dem reizenden Garten, ließ sich sein Gönner zu einer Erklärung herbei. Er hatte ganz zufällig auf einer Spazierfahrt durch den Tiergarten, auf das Geräusch des Schusses in das nahe Gebüsch eilend, den Sterbenden gefunden, ihn in seinen ganz in der Nähe haltenden Wagen geladen und, vorerst einem Gebote der Menschlichkeit folgend, den Verunglückten in sein Haus gebracht.

»Denn,« sagte Herr Brennus – so hieß Karls Wohltäter – »der Fall rief eine Erinnerung wach an ein Unglück in meiner eigenen Familie. Darum, lieber junger Freund, wollte ich Sie nicht dem ersten, besten Schutzmann, der ersten besten Sanitätsstation übergeben; formell hätte ich damit meine Menschenpflicht ja auch erfüllt gehabt.«

Er drang in Karl, ihm seine Geschichte zu erzählen; und dieser tat es. Unter diesen seltsamen Umständen, ganz und gar losgetrennt von seiner früheren Umgebung, legte Karl eine ausführliche und durch und durch aufrichtige Generalbeichte ab; er enthüllte sein Innerstes, verschwieg nichts, beschönigte nichts und legte sein ganzes inneres und äußeres bisheriges Leben dar.

»So jung hat man nicht das Recht, freiwillig zu sterben,« sagte Herr Brennus. »Man hat vorher die Pflicht, ein begangenes Unrecht, und sei es selbst ein Verbrechen, wieder gut zu machen, mit aller Kraft zu sühnen. Und das sollen Sie, ich will ihnen dazu behilflich sein. Aber natürlich, die Wiedergeburt muß aus Ihrem eigenen Innern erfolgen, Sie selbst müssen ein neuer, ein besserer Mensch werden. Wenn Sie das vermögen, wenn Sie meine Erwartungen erfüllen, so werden Sie mir, einem alten, einsamen, von schwerem Leid gebeugten Manne, eine wahrhaftige Herzensfreude bereitet haben.«

Und nun enthüllte Herr Brennus seinen Plan. Er legte seinem jungen Schützling ein volles Probejahr auf. Karl sollte, seinen ursprünglichen Leistungen entsprechend, sich künstlerisch ausbilden, aber nicht in Berlin, sondern in München. Das ganze Jahr hindurch sollte er seinen Angehörigen, seiner früheren Umgebung kein Lebenszeichen geben. Hatte er sich bis dahin musterhaft verhalten, Fleiß und redliches Streben an den Tag gelegt, so würde Herr Brennus ihm die fünftausend Mark vorstrecken, um das entwendete Geld zurückzustellen; Karl durfte seinen Angehörigen ohne zu erröten ins Auge sehen, und – dies deutete sein Beschützer nur flüchtig an – er würde alsdann sogar nicht abgeneigt sein, ihn zu adoptieren.

Was sollte Karl tun? Von neuem war die Lust zum Leben in ihm erwacht, ihm bot sich ganz unerwartet die Möglichkeit, nicht nur seine Schuld zu sühnen, sondern ein schöneres Leben, als das vergangene zu beginnen, ein Leben, welches seinen ursprünglichen Neigungen und Anlagen viel mehr entsprach. Er gelobte in die Hand seines Freundes, das Probejahr auf sich zu nehmen, und das nach bestem Wissen und Gewissen durchzuführen.

Am Abend desselben Tages, als Karl mit Herrn Brennus im Garten promenierte, gelangten sie an die offene Tür eines Gartensalons. Herr Brennus führte ihn hinein und enthüllte ihm das schwarz verhangene Bild eines schönen Knaben.

»Es ist mein einziger, früh verstorbener Sohn,« sagte er.

Ueberrascht forschte Karl nach dem Datum und nach den Umständen jenes Todesfalles, und Herr Brennus erzählte nun, daß sein einziger Sohn, der auch Karl geheißen, sich mit zwanzig Jahren getötet habe, ebenfalls, weil er einen sogenannten dummen Streich begangen. Auch er hatte gespielt und eine große Summe verloren. Sein strenger Vater wollte die Schuld nicht gelten lassen, der junge Mann sollte nach und nach durch Sparsamkeit und zurückgezogenes Leben die Summe erübrigen und zurückstellen. Karl Brennus aber hatte sein Ehrenwort verpfändet, und in einem Augenblick der Verzweiflung machte er seinem Leben ein Ende, indem er sich erschoß.

Der unglückliche Vater erzählte Karl Hilmar jenen Vorgang in ganz kurz abgebrochenen Sätzen, mit rauher, gepreßter Stimme, anscheinend ohne innere Gemütsbewegung zu verraten. Karl aber begriff jetzt alles. Er sollte diesem Vater, der sich offenbar in Gewissensbissen verzehrte, den verlorenen Sohn ersetzen. Und in dieser Stunde gelobte sich der junge Mann im tiefsten Innern, diese schöne, ihm wie vom Himmel zugefallene Mission zu erfüllen.

»Und,« sagte er zu Paulinen, »ich habe mein Wort gehalten. Aber es war nicht so leicht, als ich an jenem Abend glaubte!«

Karl Hilmar war dann nach München gekommen, und unter dem Namen Brennus – wie vorläufig sein Künstlername lauten sollte – in das Atelier eines hervorragenden Professors der Kunstakademie eingetreten. Das neue Leben gefiel ihm. Natürlich regte sich anfangs wohl, wenn auch ganz leise, das Heimweh, die Sehnsucht nach seiner früheren, so plötzlich verlassenen Umgebung. Weshalb aber hätte er im übrigen nicht zufrieden sein sollen? Was vor ihm lag, war ja so verlockend schön: eine künstlerische Laufbahn, seinem Sinn entsprechend, möglicherweise ein großes Erbe. Was hinter ihm lag, war eine düstere, schreckliche Erinnerung.

Aber eines Tages kam doch ein Umschlag in seine Stimmung. Er saß im Cafe Maximilian und las ahnungslos Zeitungen: da fiel sein Blick ganz plötzlich und unvorbereitet auf seine eigene, amtliche Todeserklärung. Ein eigentümlicher Schauer durchrieselte ihn: Karl Hilmar war also jetzt tot für die bürgerliche Welt, er wandelte umher wie sein eigenes Gespenst!

Ja, unheimlich wurde ihm zu Mute. Er sah das Haus, welches ihm ein Elternhaus geworden, im Geiste vor sich, den strengen, aber doch so liebevollen Pflegevater und Onkel, die gütige Tante, die schöne Josepha, seine Braut. Sie alle betrauerten ihn als tot, aber nicht wie einen Toten, dessen frühes Hinscheiden alle Fehler und Mängel seiner Persönlichkeit verklärt, es war der Dieb, der aus dem Leben geflohen war, weil ihn die Schande nicht weiter leben ließ. Er hatte die Wohltaten, die man ihm erwiesen, mit abscheulichem Undank belohnt – er hatte gestohlen. Das schöne Mädchen, das sich ihm verlobt hatte, verachtete ihn jetzt. Laut oder leise sagten sie sich in jenem Hause: »Es ist ein wahres Glück, daß er tot ist!«

Sie suchten ihn zu vergessen, sie versöhnten sich mit seiner Abwesenheit, lebten fort ohne ihn, vielleicht heiter, zufrieden. Und diese Vorstellung, daß man sein Andenken verfluchte, peinigte ihn bis zum Wahnsinn. Mehr als einmal war er nahe daran, sein Ehrenwort zu brechen, abzureisen, zu fliehen, Herrn Brennus zu verlassen und zu seinen Angehörigen zurückzukehren.

Dennoch blieb er; denn wie sollte er bei näherer Ueberlegung der Familie Hilmar entgegentreten? Er konnte das gestohlene Geld nicht ersetzen, er hatte nichts gesühnt, nichts abgebüßt; was sollte er ihnen also sagen? – Würden sie ihn auch nur im Hause dulden? – Nein, er würde mit Schmach und Schande aus ihrem Kreise gejagt werden. Hier aber, wenn er ausharrte, bot sich ihm die Möglichkeit, alles gut zu machen, was er verbrochen. Die vernünftige Erwägung siegte, und er blieb.

Die ersten Monate lebte er in strenger Zurückgezogenheit, arbeitete mit eisernem Fleiß und errang sich die Zufriedenheit seines Lehrers. Ein Glücksfall kam ihm alsdann zu gute. Er bewarb sich um einen akademischen Schülerpreis und gewann denselben: er hatte eine »Ariadne« modelliert, wozu die Tochter seiner Wirtin, ein besonders schönes Mädchen, ihm Modell gesessen hatte, es war ein ganz modernes Mädchen, aber mit einem echt klassischen Profil; es war ihm gelungen, dieses Gesicht in der glücklichsten Weise festzuhalten und durch sein Werk einen Erfolg zu erringen, um welchen ihn sämtliche Akademiker beneideten.

Er kam bald darauf mit Erlaubnis seines Gönners für einige Tage nach Berlin, natürlich ganz heimlich. Zum ersten Male sah er einen Ausdruck innerer Zufriedenheit auf dem Gesichte des Herrn Brennus. Ach, wie wohl ihm das tat! – Er hatte für die erdrückenden Wohltaten, mit denen der Freund ihn überhäufte, ihm doch auch eine Freude bereitet, ihm Ehre gemacht.

Während der wenigen Tage, die er in Berlin weilte, ging er auch durch die Leipzigerstraße und schlenderte, einen großen Kalabreser tief in die Stirn gedrückt, wohl eine Stunde in der Nähe des Hilmarschen Geschäftes hin und her. Da war alles wie gewöhnlich, nichts und niemand schien zu fehlen: einen Augenblick lang glaubte er durch die großen Spiegelfenster der Eingangstür, welche in das Geschäftslokal führte, die schöne Josepha zu sehen, wie sie mit einem großen, blonden jungen Manne plauderte. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen; vielleicht gab sie sich Mühe, den schmachbedeckten Dieb so rasch als möglich zu vergessen.

Wieder war er in Versuchung gewesen, sein Gelöbnis zu brechen, hineinzustürzen, sich zu erkennen zu geben; aber er bezwang sich. Man konnte ihn ja ins Zuchthaus schicken, wenn man wollte. – Ruhig und gelassen die Zähne aufeinanderbeißend, ging er zu seinem Wohltäter zurück. Aber schrecklich war doch die Vorstellung, die furchtbare Schmach auf seinem Namen dulden zu müssen. Ach, wie er die Tage zählte bis zur Vollendung seines Probejahres! – Denn er zweifelte nicht, daß Herr Brennus Wort halten und ihm auf unbestimmte Zeit die fünftausend Mark vorstrecken würde; er hatte den Mann als schrankenlos großmütig bereits kennen gelernt. So lange bis jener Augenblick der Sühne eintrat, war es besser, er galt für tot; man würde den Toten immer noch milder beurteilen als den Lebenden.

Wieder kehrte er nach München zurück in sein Atelier, zu seiner Arbeit. Er durfte sich sagen, daß er das seltene Vertrauen, welches sein Gönner in ihn, den Dieb, den Verbrecher, setzte, nicht getäuscht hatte. Er verhielt sich musterhaft, er arbeitete so fleißig, daß er, seine Vorstudien eingerechnet, in einem Jahre so viel erreichte, als andere in dreien. Sein Pflegevater war auch in der Tat höchlichst mit ihm zufrieden.

Das Probejahr neigte sich seinem Ende zu. Karl begann des Lebens von neuem froh zu werden und wieder zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Eines Tages würde er Josepha wieder entgegentreten dürfen, ohne zu erröten.

Noch war die Probezeit nicht ganz abgelaufen, als sein Pflegevater ihm ganz freiwillig die fünftausend Mark einhändigte, mit dem Bedeuten, sie an Herrn Hilmar zurückzuschicken. Karl tat es anonym, denn er wollte sich alle Auseinandersetzungen aufsparen, bis er persönlich erscheinen durfte, d. h., bis das Probejahr vollständig abgelaufen war. Aber er jauchzte, er jubelte innerlich, als er das Geld auf die Post trug. Er hatte nun wenigstens den verursachten Schaden ersetzt. Hatte er das Geld auch nicht selbst verdient, so hatte er sich doch so betragen, daß man es ihm ohne weiteres anvertraute. Es war selbstverdientes Geld, wenn auch in einem besonderen Sinne, unter besonders glücklichen Umständen.

»Und« – schloß er jetzt seine Erzählung – »demnächst bin ich meines Gelöbnisses entbunden; ich werde mich bei meinen früheren Pflegeeltern vorstellen und – ich bin überzeugt, Josepha ist mir treu geblieben. Es war nur ein Augenblick der Eifersucht, der mich überkam; Josepha mit ihrem keuschen, beständigen Herzen konnte sich nicht so rasch einem anderen zuwenden. Ich werde es versuchen, sie für ihre Treue zu belohnen.«

Nun faßte sich Pauline ein Herz.

»Sie sind im Irrtum,« sagte sie. »Josepha hat sich wenige Wochen nach Ihrem Verschwinden wieder verlobt. Ein fremder junger Mann, ohne Zweifel derselbe, den Sie neben ihr gesehen, erschien im Hause und behauptete, Zeuge Ihres Todes gewesen zu sein; wie ich glaube, war er sogar im Besitze eines Ringes von Ihnen, doch das weiß ich nicht genau. Er gewann die Liebe Josephas, wurde ihr Bräutigam und auch Ihr Nachfolger in Ihrer früheren Geschäftsstellung.«

Karl fuhr entrüstet empor: »So war es keine Täuschung? Ich glaubte mich zu entsinnen, daß ich einem fremden Manne, der mich im Tiergarten fand, den Türkisenring Josephas gegeben hatte; aber ich war nur bei halbem Bewußtsein, ich wußte nicht, was ich tat. Zwar der Ring fehlte mir nachher, aber ich konnte mich nicht mehr deutlich erinnern, was ich mit demselben begonnen hatte. Das Ganze erschien mir als eine Vorspiegelung meines verwundeten und überreizten Gehirns, und ich dachte, daß ich den Ring verloren hätte, oder daß er mir entwendet worden sei. Es ist unglaublich! Der Mann hat sich meines Ringes bemächtigt und ist in das Haus gedrungen mit der Kunde von meinem Tode – mit der fälschlichen Kunde, denn ich lebe ja. Aber ich will seinem Spiel ein Ende machen. Nur wenige Wochen fehlen noch an der Vollendung meiner Probezeit; ich bin überzeugt, daß mein neuer Pflegevater sie mir erlassen wird. Ich reise morgen nach Berlin.«

Und Pauline sah, wie er, erfüllt von der Vorstellung an Josepha, aufsprang, um sofort nach Hause zu gehen und seine Vorbereitungen zur Reise zu treffen. Sie mußte auch diesen bitteren Kelch bis zur Neige leeren.–

Karl hatte sich rasch von ihr verabschiedet und sie in der Gesellschaft, sehr gegen ihren Willen, dem Schutze seiner Wirtin übergeben. Plötzlich erinnerte sich Pauline mit Schrecken der bedrohlichen Worte Waldenburgs, seiner Anspielungen auf eine Denunziation. Wer konnte wissen, welcher schrecklichen Gefahr Karl in Berlin entgegenging?

Rasch entschlossen riß sie ein Blatt aus ihrem Notizbuche und schrieb mit Bleistift einige Worte darauf. Sie warnte Karl und bat ihn, seine Abreise nach Berlin doch ja zu verzögern, bis sie selbst ihm noch weitere Aufklärungen, oder auch er persönlich sich solche verschafft habe. In der dringendsten Weise bat sie, bevor sie sich verabschiedete, Karls Wirtin und deren Tochter, ihm sofort nach seiner Heimkehr das Billet zu übergeben. Die beiden Damen versprachen es, denn sie hatten schon die Ueberzeugung gewonnen, daß es sich um eine wichtige Angelegenheit handelte.

Am folgenden Morgen, als Pauline sich zur Abreise rüstete, erschien ein Dienstmädchen bei ihr im Hotel und brachte ihr ihr eigenes Billet zurück. Sie berichtete im Auftrage ihrer Dienstgeberin, daß Herr Karl Brennus in der Nacht abgereist sei, bevor die beiden Damen ihn noch sprechen konnten.

Sofort sandte Pauline darauf noch ein kurzes anonymes Warnungstelegramm an den alten Hilmar.

*


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